Einsätze wirksam führen - Dominic Gißler - E-Book

Einsätze wirksam führen E-Book

Dominic Gißler

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Beschreibung

The critical importance and complexity of hazard prevention and crisis management operations mean that the managers responsible have to meet the highest standards. This book presents a universal management theory for the police, fire brigade, and emergency services as well as for administrative bodies and business enterprises. Operational management is understood theoretically as involving the cybernetic regulation of complex adaptive systems, and this is illustrated using many operational examples. Encouraging behaviour, skilful tools and a comprehensible decision-making model are explained that allow management steps to be effective. A practical algorithm sums up the education, training and implementation required. Possible courses of action are outlined that can ensure higher-level management capability and the maintenance of effective management systems. The book is intended not only for practitioners but also for training institutes and researchers.

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Dr. Dominic Gißler

[3]Einsätze wirksam führen

Eine universale Führungstheorie für die Gefahrenabwehr und das Krisenmanagement

Verlag W. Kohlhammer

[4]Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Der Kompass auf dem Titelbild ist ein Werkzeug eines Steuermannes. Er ist ein Symbol der Kybernetik, die diesem Buch als Theorie zugrunde liegt. Als universales Werkzeug kann man sich mit ihm in nahezu jeder Situation im Großen wie im Kleinen orientieren. Der Kompass steht damit auch als Anspruch an eine universale Einsatzführungstheorie. Die Bilder stammen – sofern nicht anders angegeben – vom Autor.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagbild: Adobe Stock, 224916057, peterschreiber.media

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039068-3

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-039070-6

epub: ISBN 978-3-17-039071-3

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

[5]Präambel

Mit diesem Buch wird eine universale Theorie zur Führung von Einsätzen in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement vorgestellt. Im Fokus steht das Herbeiführen von Wirkungen und die dazugehörigen Tätigkeiten der Führungsperson. Dabei geht es nicht um das Berufsbild des Einsatzleiters oder eine neue Variation der Personalführung. Es wird auch nicht bloß die gelebte Praxis beschrieben (»Theorie über Führung«). Vielmehr wird der Fokus geweitet und zusätzlich zum Führungsakt auch das Führungssystem und das Zielsystem mit betrachtet (»Einsatz-führungs-theorie«). Dabei geht es um die Ausrichtung der Führungsarbeit auf die Einsatzresultate. Dazu wird mit der Kybernetik ein systemorientierter Ansatz herangezogen, der an allgemeine Gesellschaftstheorien und Praktiken der Gefahrenabwehr anschließt. Das Buch verfolgt zwei Intentionen: Erstens sollen Führungspersonen jeder Profession und Professionalisierungsgrades praktikable Instrumente für den Einsatz zur Verfügung gestellt bekommen. Zweitens soll ein suffizienter, also ausreichend leistungsfähiger, Führungsakt ermöglicht werden. Summa summarum sollen mit der Einsatzführungstheorie die Voraussetzungen für das richtige Ausführen der richtigen Führungstätigkeiten geschaffen werden. Die Führungstätigkeiten im gegenwärtigen Einsatz stehen im Mittelpunkt des Buches. Dabei geht es darum, Steuerungsimpulse zu setzen, um den Ereignisverlauf zu beeinflussen. Führung im Alltag im Sinne eines strategischen Managements dient eher der vorbereitenden Herstellung der Rahmenbedingungen, um im Einsatz führen zu können. Diese Art der Führung wird nur am Rande betrachtet.

Dieses Buch will den Anstoß geben, um eine Leerstelle innerhalb der Organisations- und Sicherheitswissenschaften zu füllen, um zu einer widerstandsfähigen Gesellschaft beizutragen. Eventuell ist es zu weit gegriffen, von Einsatzführungswissenschaften zu sprechen. Der Begriff würde der Interdisziplinarität der Fragestellung allerdings gerecht werden. So würde der Wissensbereich dadurch in der Sicherheitstechnik als eigene Unterdisziplin ausgewiesen. Gleichzeitig würde er innerhalb der Führungswissenschaften der Organisationspsychologie und Betriebswirtschaftslehre als eigenes Themenfeld, zumindest aber als bestimmter Anwendungsfall markiert. Die vorhandenen Überlappungen mit den Militärwissenschaften bleiben ebenso erkennbar. Im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit soll dieses Buch eine herzliche Einladung an alle sein, die sich mit Führung und Einsätzen in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement beschäftigten, ihre Aktivitäten zu bündeln – vielleicht in der Klammer der Einsatzführungswissenschaften.

[6]Die Entwicklung der Einsatzführungstheorie wurde vor der COVID-19-Pandemie begonnen und währenddessen beendet. Rückblickend kann gesagt werden, dass die Pandemiebewältigung die Herausforderungen für die Einsatzführung nur deutlicher hervortreten ließen. Bekannt waren sie schon vorher. Das stimmt nachdenklich. Wagt man den Versuch, eine Schlüsselerkenntnis zu formulieren, dann könnte sie lauten, dass in Einsätzen fehlerhafte Richtungsentscheidungen viel schneller sichtbar werden als bei der strategischen Unternehmenslenkung oder in den langen Perioden der Politik. Einsatzführung ist unmittelbarer und erbarmungsloser als Führung in »normalen« Situationen. Der Ruf nach »strukturiertem Krisenmanagement« ist inhaltsarm, denn niemand arbeitet absichtlich unstrukturiert. Berechtigt ist die Frage, ob die vorgesehenen Strukturen genutzt wurden und ob die Strukturen geeignet waren bzw., ob Anstrengungen unternommen wurden, die Strukturen anzupassen. Wurde trotz ggf. vorhandener struktureller Unzulänglichkeiten im Rahmen der eigenen Möglichkeiten der Akteure danach gestrebt, möglichst wirksam zu sein (effizient und effektiv)? Dies zeigt, dass es in jedem Einsatz sowohl auf das System als auch auf den Akteur ankommt. Fehler liegen im System und Führungspersonen können das System umso stärker beeinflussen, desto weiter oben sie stehen (vgl. Reason & Grabowski, 1994). Weil die Führungspersonen den Rahmen setzen (das System designen) und gleichzeitig handelnde Akteure sind, verkörpern sie den Schlüssel für eine »gute Einsatzführung«. Ein Baustein im Streben nach gesellschaftlicher Resilienz ist sicherlich, dass in den Organisationen der Daseinsfürsorge dasFührungshandwerk für Einsätze beherrscht wird. Das ist nicht die bloße Forderung nach »mehr« Ausbildung, »regelmäßigen« Stabsübungen oder »wieder« Katastrophenschutzübungen. Es ist der Befund, dass Einsatzführung wirksam sein muss: Wir müssen die Kompetenz vermitteln, das Richtige richtig tunzu können.

In der Zeit der Schlussredaktion dieses Buches wurde Westdeutschland von einer Unwetterkatastrophe getroffen, deren Bewältigung den Katastrophenschutz an seine Grenzen und darüber hinaus brachte. Es wurde darauf verzichtet, mit der Veröffentlichung die Erkenntnisse aus dieser Katastrophe abzuwarten. Vielmehr möge das Buch bei der Aufarbeitung eine Hilfestellung geben.

Die Einsatzführungstheorie in dieser Form steht am Anfang ihrer Entwicklung. Sie wird überprüft werden, belegt und möglicherweise auch in Teilen widerlegt werden. Träger frischer Ideen werden sich ihrer mit neuen Methoden annehmen und sie neu interpretieren. Künftige Generationen werden das Wissen als selbstverständlich gegeben annehmen und es als Ausgangspunkt für ihre eigene Arbeit nutzen können. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Verfahrensweisen weiterentwickeln müssen, um mit Veränderungen in Gesellschaft, Umwelt und Technologie schritthalten zu können. So stammen die Dienstvorschriften zur Einsatzführung im öffentlichen [7]Bereich aus einer Zeit, die nur einen Bruchteil der heutigen Komplexität aufwies. Eine große Berufsfeuerwehr in Deutschland hat ihren Führungsstab während der Pandemie exemplarisch zu einem »Stab für komplexe Einsatzlagen« weiterentwickelt. Aus der Perspektive der Komplexitätsbewältigung (Malik, 2015) betrachtet kann so mancher Einsatz daher anachronistisch wirken. Es wäre vermessen, die vorliegende Theorie als »fertig« zu bezeichnen. Ihr Reifegrad geht allerdings auch weit über einen bloßen theoretischen Entwurf hinaus. Daher wird entwicklungsoffen von einer ersten Version gesprochen.

[9]Übersicht der Einsatzbeispiele

»Schiefgegangene« Einsätze bieten ein hohes Erkenntnispotenzial und sind daher für Lernen und Weiterentwicklung sehr wichtig. Allerdings sind solche Berichte kaum verfügbar. Wo es zugängliche Dokumentationen gibt, ist die Vollständigkeit manchmal fraglich und die Zusammenhänge sind nicht immer ganz eindeutig nachzuvollziehen. Bei erfolgreichen Einsätzen ist es ähnlich. In diesem Buch werden in unterschiedlicher Tiefe die Fallbeispiele in Tabelle 1 angesprochen. Sie illustrieren an manchen Stellen die vorgestellten Führungstätigkeiten und sind positive bzw. falsifizierende (Teil-)Belege für die entwickelte Einsatzführungstheorie. Weitere Beispiele, die in geringem Umfang eingebracht werden, sind in dieser Übersicht nicht aufgeführt.

Tabelle 1: Einsatzbeispiele im Buch [zurück]

Beschreibung

Seite

Polizeieinsatz in Rostock-Lichtenhagen, 1992

40

Vergebene Zeitvorteile in der Corona-Pandemie, 2020

57

Wintereinbruch in der DDR, 1978

57

Reaktorunglück von Tschernobyl, 1986

57

Antizipationsverhalten von Stäben

64

Krankenhausverteilung kontaminierter Patienten in einer Übung, 2017

65

Moorbrand im Emsland, 2018

70, 212, 249

Polizeieinsatz in Leipzig, 2020

76

Flugbetrieb in der Corona-Pandemie, 2020

84, 280

Gesundheitsämter in der Corona-Pandemie, 2020

86

Herunterfahren des Flugbetriebs einer Airline, 2020

121, 280

Simulierte IT-Großstörung bei einer Fluggesellschaft, 2017

124

G20-Gipfel in Hamburg, 2017

152

Waldbrandkatastrophe in Niedersachsen, 1975

163

Krisenkommunikation in der Corona-Pandemie, 2020

168

[10]Geiselnahme in einer Übung, 2019

189

Abreisechaos von Ischgl in der Corona-Pandemie, 2020

304

Über ein Dutzend weitere Beispiele sind im Online-Zusatzmaterial zu finden.

Hinweis zum Online-Zusatzmaterial:

Das Online-Zusatzmaterial kann unter folgendem Link abgerufen werden: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-039068-3

[11]Inhaltsverzeichnis

Präambel

Übersicht der Einsatzbeispiele

1 Einleitung

1.1   Problemzugang über den Führungsbegriff

1.2   Begriff der Einsatzführung

1.3   Fokussierung der Tätigkeit und Zentrierung der Wirkung als Lösungsansatz

1.4   Aufbau, Intention und Leitfragen dieses Buches

2 Erfolg der Stabsarbeit

2.1   Führungsleistungen

2.2   Einsatzresultate

2.3   Beurteilung des Erfolgs

2.4   Zeitvorteile als zentrale Führungsleistung

3 Wirkung der Führungsarbeit

3.1   Einsätze als komplex-adaptive Systeme

3.2   Einsatzführung als kybernetische Regelung

3.3   Einsatzschwere

3.4   Wirksamkeit von Führungsarbeit

3.5   Führungstätigkeiten als Mittel zur Wirkungszentrierung

3.6   Nutzen für die Führungsperson

4 Die Einsatzführungstheorie

4.1   Wirkungsmatrix

4.2   Einsatzführungsalgorithmus

5 Realisierungstätigkeiten Orientieren, Organisieren, Koordinieren

5.1   Orientieren – Chaos in Ordnung überführen

5.2   Funktionierende Führungssysteme organisieren

5.2.1   Organisieren nach den Grundsätzen lebensfähiger Systeme

5.2.2   Probleme in Einsatzführungssystemen und deren organisatorische Ursachen

5.2.3   Zielbild eines wirksamen, beweglichen und selbstorganisierenden Einsatzführungssystems

5.3   Organisieren von Elementen

5.4   Komplexität des Einsatzes beherrschen

5.5   Permanentes Reorganisieren mittels Stellschrauben für die Leistungsfähigkeit

5.5.1   Konstitutive Prinzipien

5.5.2   Skalierbarkeit

5.5.3   Reduzierung von Zeitnachteilen

5.5.4   Anschlussfähigkeit und Zusammenarbeit zwischen AAO und BAO

5.5.5   Segmentierung des Führungsvorgangs

5.5.6   Innere Zirkel und Mehrfachspitzen

5.5.7   Strukturelle Voraussetzungen aus dem Aufbau

5.5.8   Verantwortlichkeit

5.6   Abläufe koordinieren

5.6.1   Koordinieren als aktives Regeln innerhalb der Führungsunit

5.6.2   Verbinden von Organisationen und Keyplayern

5.6.3   Verfahrensspielräume als Führungsräume nutzen

5.6.4   Durch den Führungsrhythmus die Zeit organisieren

5.6.5   Remote-Einsatzführung in virtuellen Räumen

6 Kerntätigkeit Entscheiden

6.1   Schwierigkeiten beim rationalen Entscheiden

6.2   Wie Stäbe in der Praxis wirklich entscheiden

6.3   Begrenzt rationales Entscheiden in der Einsatzführung

6.3.1   Erfahrungsgeleitete Einsatzführung

6.3.1.1   Teil 1: Steuerungsmodell

6.3.1.2   Teil 2: Diagnose

6.3.1.3   Teil 3: Zustandsbehandlung

6.3.2   Prüf- und Übergangsphase

6.3.3   Analysegeleitete Einsatzführung

6.3.3.1   Teil 1: Herleitung des Wirkpfades

6.3.3.2   Teil 2: Herbeiführen von Entscheidungen

7 Schlussbetrachtung

7.1   Gesamtbeleg

7.2   Sicherstellung der künftigen Führungsfähigkeit

7.3   Praktischer Nutzen

7.4   Kritik der Genese

7.5   Das Maß für gute Einsatzführung

Epilog

Literaturverzeichnis

[15]1    Einleitung

Gefahrenabwehr und Krisenmanagement stehen im Dienst unserer Gesellschaft. Polizei, Feuerwehr, Rettungs- und Hilfsdienste sowie Betreiber kritischer Infrastrukturen leisten unverzichtbare Beiträge für das Gemeinwesen. Tragende Rollen kommen auch Ministerien, Verwaltung und Militär zu. Wirtschaftsorganisationen jeder Art sind um betriebliche Kontinuität bemüht. Der (Mehr-)Wert von Einsätzen kann nur schwer monetarisiert werden. So versagt die finanzielle Perspektive ein stückweit, wo es um ideelle Güter (Reputation), um das Überleben des Unternehmens, um nicht annähernd zu greifende Gemeinkosten oder verfassungsgemäß geschützte Güter geht (Gißler, 2019 a). Weil die Ereignisursachen potenziell den Fortbestand der Gesellschaft oder der Organisation bedrohen können, leistet die Einsatzführung eine Art daseinsmäßigen Beitrag und trägt über den Bevölkerungsschutz zu einem resilienten Gemeinwesen bei. Aus- und Weiterbildungsinstitute in diesem Bereich haben eine Schlüsselstellung, weil sie Führungspersonen und Führungsorgane auf Ernstfälle vorbereiten sowie Wissen zur Entwicklung und unterjährigen Unterhaltung von Einsatzführungssystemen vermitteln (Managementsystem).

Stäbe haben eine besondere Bedeutung. Sie bilden in der Regel die höchste Instanz von Führungssystemen. Nach ihnen gibt es kaum mehr eine Eskalationsmöglichkeit. Daraus resultiert der Anspruch, jegliche Situationen bewältigen zu können. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Stäbe sind das letzte und ultimative (Führungs-)Mittel, um Gefahren abzuwehren und Sicherheit und Kontinuität zu gewährleisten. Es ist daher geboten, jegliche vernünftige Möglichkeit zur Stärkung der Führungsfähigkeit wahrzunehmen. Stäbe haben eine gewisse Strahlkraft. Sie geben kleineren Führungsorganen Orientierung und setzen Maßstäbe. Aus ihrer herausragenden Stellung ergibt sich eine besondere Verantwortung in vielerlei Hinsicht. Stäbe sind deswegen der Ausgangs- und Fluchtpunkt dieses Buches. An wenigen Stellen werden speziell Stäbe angesprochen, was dann aber explizit deutlich gemacht wird. Wo von Einsatzführung, Führungssystemen oder Führungsorganen gesprochen wird, sind explizit jegliche Führungsunits gemeint.

Der Bedarf einer Einsatzführungstheorie ergibt sich im Wesentlichen aus drei Gründen. Erstens braucht es einen widerspruchsfreien Satz von zusammenhängenden Erklärungen. So ist aktuell das Begriffsgefüge zwischen Einsatz und Führung nicht überall kohärent. Dazu zählen die Definitionen dieser beiden Begriffe selbst wie auch der Bedeutungen von Führungsleistung und Einsatzschwere. Zudem bedarf es [16]der Klärung, was eigentlich das Zielsystem des Einsatzes ist, auf das sich die Mission bezieht. Eine Theorie über Führung »allein« ist nicht anschlussfähig. Sie wird sich immer ein stückweit um sich selbst drehen. Zweitens gibt keine aktuelle und universale Einsatzführungstheorie. Wie im Buch deutlich wird, ist Einsatzführung bei den unterschiedlichen Organisationen von Gefahrenabwehr und Krisenmanagement vergleichbar, auch wenn es kulturelle Unterschiede gibt. Zudem bedarf es der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Einsatzführung genauso wie sich die Einsätze weiterentwickeln. Drittens bedarf es einer Fokussierung der Ergebnisse der Einsatzführungsarbeit. Es ist problematisch, wenn in der Praxis lange über die Führungsperson (vermeintlich notwendige Voraussetzungen, Auftreten und Stil) oder das Informationsmanagement (wer wann was wissen müsste oder gerne wissen würde) gesprochen wird. Nicht selten rücken Human Factors vor lauter Softwareanwendungen (die vermeintlich alle Probleme lösen) in den Hintergrund und über die Lagedarstellung oder was man nun tun müsste wird ausgiebig diskutiert (gesagt ist aber noch nicht gemacht). Dabei wird dem, was herbeigeführt werden soll, aber kaum Beachtung geschenkt.

Eine Einsatzführungstheorie muss in Einsätzen zum Erfolg führen. Dieser Anspruch ist hoch, weswegen ihre Entwicklung ebenso hohen Ansprüchen unterliegt. Hierzu bedarf es eines Vorgehens, das für Dritte nachvollziehbar ist. Die dazugehörigen Grundüberlegungen werden in diesem Kapitel erläutert.

1.1   Problemzugang über den Führungsbegriff

Der Begriff der Führung wird in der Fach- und Alltagssprache vielfach und in unterschiedlichsten Ausprägungen verwendet: Eine Übersichtsarbeit listet über 130 relevante Definitionen aus nur minder wenigen Bereichen auf. Führung greift auf unterschiedliche Ansätze zurück, worüber folgende Auswahl einen Überblick gibt (Neuberger, 2002):

Bei der Person und somit bei deren Eigenschaften ansetzend: Grundannahme ist, dass für Führungsaufgaben bestimmte Charaktermerkmale förderlich sind. Diagnostiziert werden diese z.B. mit den sog. Big Five. Diese Ansätze benötigen Auswahlsysteme wie Assesment-Center.

Fokussierung der Interaktion zwischen Führendem und Geführten: So leben charismatische Führer überzeugend und mitreißend vor, wofür es zu arbeiten und zu leben gilt. Sie wecken höhere Motive und herausfordernde Ziele. Sie vertrauen den Geführten, wodurch deren Selbstachtung [17]und Vertrauen gesteigert wird – was wiederum zu erhöhter Motivation führt.

Stilkonzepte: Bekannt ist vor allem das eindimensionale Kontinuum »autoritär-kooperativ«.

Mittels Motivationstheorien: Dabei werden neben Bedürfnissen, Trieben und Motiven intrapsychische Beweggründe angesprochen, die Qualität, Richtung, Intensität und Dauer von Handlungen bestimmen.

Systemische Führung: Zugrunde liegt die Vorstellung, dass die Führungskraft in komplexen Systemen operiert, in denen niemand alles weiß und das Ganze kennt. Zusammenhänge sind nicht linear determiniert, sondern ein stückweit unvorhersehbar.

Die ersten vier Ansätze beziehen sich im weitesten Sinne auf die Akteure und dabei auch zumeist auf den Führenden. Es stehen also die Menschen und damit ihre Interaktionen im Fokus. Wie die meisten Theorien über Führung gehen sie von linearen Zusammenhängen zwischen Führungsaktionen und Reaktionen aus. Der systemische Ansatz unterscheidet sich davon, weil er vom System ausgeht, in dem operiert wird und angenommen wird, dass die Wechselwirkungen von Führung nicht vollständig abgesehen werden können. Ein Stückweit bedingt das Erkenntnisinteresse den zu wählenden Ansatz. Schon allein wegen des enormen Wissensumfangs erscheint eine isolierte Theorie nicht sinnvoll. Ein einzelner Erklärungsansatz wird immer Erklärungsdefizite produzieren.

Eine Einigung auf eine universale Bedeutung des Führungsbegriffs kann als unmöglich bezeichnet werden. Zu unterschiedlich scheint die Verwendung in Disziplinen, Sprachräumen, Situationen und Kontexten (Neuberger, 2002). Einer der wenigen Gemeinsamkeiten im Begriffsspektrum ist das Verständnis von Führung als Konstrukt: Sie ist ein soziales Phänomen, das nicht unabhängig existiert, sondern fortwährend unter sich ändernden Umständen neu erschaffen wird. Das wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass Führung gleichzeitig Produkt und Produzent des Redens über das Führen ist (Neuberger, 2002). Der Begriff ist an sich also selbstreferenziell. Zwei wesentliche Perspektiven können unterschieden werden: Aus institutioneller Sicht blickt Führung auf Organe und Instanzen, die sich mit Führung beschäftigen. Als Institution kann Führung anhand der Verantwortung von Leitung abgegrenzt werden. Damit wird die oberste Ebene bzw. die verantwortliche Instanz bezeichnet. Aus funktionaler Sicht betrachtet und beschreibt Führung eine Tätigkeit.

Für eine Einsatzführungstheorie haben diese grundlegenden Feststellungen drei Konsequenzen. Erstens muss von Entwicklern, Anwendern und deren Communitys [18]akzeptiert werden, dass das Ideal einer Fachdefinition, und sowieso das einer Einheitsdefinition, sehr wahrscheinlich nicht erreicht werden kann. Zweitens ist Einsatzführung ein Konstrukt genauso wie Führung auch. Eine Einsatzführungstheorie ist deswegen konstruktivistisch. Sie legt eine Bedeutung fest, die Verhalten erzeugt. Das Verhalten wiederum kann beobachtet und gedeutet werden. Einsatzführung nach dieser Theorie ist deswegen Erzeuger und Ergebnis zugleich. Drittens muss die Collage des allgemeinen Führungsbegriffs sowohl auf den konkreten Anwendungskontext bezogen als auch auf möglichst wenige Perspektiven verengt werden.

1.2   Begriff der Einsatzführung

Der Begriff der Einsatzführung erweitert die Bedeutung von der reinen Führung als Vorgang auf den Kontext als Zielraum. Der Begriff der Einsatzführung ist deswegen präziser als der bloße Führungsbegriff. Weil er mehrere Wissensbereiche vereint, verlangt er eine Multiperspektive.

Einsatzführung geht über den Bezug auf Menschen und Interaktionen hinaus. Die menschliche Perspektive ist unverzichtbar wichtig, gerade weil der Mensch das (derzeit) einzige intelligente, zur Konation fähige Element im Führungssystem ist. Allerdings stößt diese Perspektive aus systemischer Sicht rasch an Erklärungsgrenzen: Was ist, wenn alle Stabsmitglieder das passende mentale Modell haben, sämtliche Human Factors beachtet werden und Entscheidungen methodisch sauber getroffen werden? Vom Mensch aus gesehen ist Führung dann wohl »gut« – aber gilt das auch, wenn im Einsatz ein hoher Kollateralschaden entsteht, unverhältnismäßig gehandelt wird, das Vertrauen der Bürger schwindet und die operativen Mitarbeitenden chaotische Zustände beklagen? Einsatzführung muss schon allein vom Begriff her gesehen mehr umfassen als nur die menschliche Perspektive.

Einsatzführung bezieht sich auf Einsätze in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement. Aus diesem Anwendungsbereich ergibt sich die Typologie von Einsatz-Organisationen und Einsatz-Situationen (Gißler, 2019 a; Hofinger & Heimann, 2016; Kern, Richter, Müller & Voß, 2020 a). Stabsarbeit ist die etwas unscharfe Bezeichnung für die Einsatzführung mit einem Stab und hat drei Perspektiven: Erstens die der Führungsperson, die sich eines Stabes bedient (Arbeiten mit einem Stab). Zweitens die Perspektive der Geführten, die im Stab arbeiten. Drittens das Arbeiten des Stabes als Wertschöpfungsprozess im Sinne des Funktionierens. Stabsdienstordnungen intendierten ursprünglich, das Arbeiten in einem Stab zu regeln. Tatsächlich sollten [19]diese Regelungen heute aber viel weiter als Ablauflauforganisation bzw. als Funktionsbeschreibung des Führungssystems verstanden werden.

In Gefahrenabwehr und Krisenmanagement gibt es keine belastbare Erklärung dafür, was das Ziel der Einsatzführung ist. So versteht z.B. die FwDV 100 Führung als die »Einflussnahme auf Menschen mit dem Zweck zur Verwirklichung von Zielen« (Innenministerium Nordrhein-Westfalen, 1999). Was jedoch die genauen Führungsaufgaben sind und welche Ziele es im Einsatz als reales, verschachteltes und umweltoffenen System zu verwirklichen gilt, bleibt offen und kann auch nicht aus aktuellen Normen bzw. Normvorhaben (DIN ISO 22320 und DIN EN ISO 22361) reproduzierbar hergeleitet werden.

Im militärischen Bereich bieten sich zwar Erklärungen an, die auf den ersten Blick übertragbar scheinen. So wird Führung als »richtungsweisendes und steuerndes Einwirken auf Kommandanten, Truppen, Dienststellen und einzelne Soldaten verstanden, um eine Zielvorstellung zu verwirklichen.« Genauer werden das übergeordnete Ziel (politischer Erfolg), der Hebel bzw. der Wirkpfad (Soldaten zum Einsatz anleiten worüber der Gegner beeinflusst wird) und gewisse Gütekriterien (Zweckmäßigkeit, Ökonomie, Vertrauen) genannt (Meurers, 2004). Problematisch ist allerdings, dass Streitkräfte im Kern Mehrungsziele verfolgen, Gefahrenabwehr und Krisenmanagement allerdings Vermeidungsziele (Gißler, 2019 a). Zudem scheinen Militäreinsätze in einer Systemsprache eher weniger offen (geschlossener, abgegrenzter) zu sein. Das illustriert ein Polizeieinsatz, bei dem die räumlichen Grenzen bis zum Erreichen einer statischen Lage quasi unbekannt sind. Die gesellschaftlichen Grenzen von Polizeieinsätzen sind weit und diffus, wie das globale Mobilisierungspotenzial von Protestaktionen nicht erst seit der Gründung der Black Lives Matter Bewegung 2013 zeigt. Zudem scheint die Varietät (Zustandsmöglichkeiten) von Gesellschaftssystemen höher als die von Kampfeinsätzen. Humanitäre Einsätze, Wiederaufbau oder Entwicklungshilfe dürften nochmals anders gelagert sein. Weil die Zielrichtungen andere sind und sich die Zielsysteme unterscheiden, wird eine Näherung an die heutige, zivile Einsatzführung aus militärischer Richtung als ungeeignet beurteilt.

Wie zuvor konstatiert ist Einsatzführung Erzeuger und Ergebnis zugleich. Überbegriffe sind Realisierung (erzeugen) und Wirkung (Resultat). Ohne Zusatz bzw. Einschränkung bezeichnet Einsatzführung beides. Realisierung und Wirkung codieren den Einsatzführungsbegriff binär. Sie sind die stärkste begriffliche Verengung und beschreiben daher die Hauptbedeutungen. Dies ergibt sich aus dem Begriffscluster in Bild 1. Darin werden unterschiedliche, teils überlappende Sichtweisen induktiv zu fünf Hauptperspektiven gruppiert. Die Wirkung ist zugleich Hauptperspektive und Hauptbedeutung.

[21]Bild 1: Induktive Ableitung der Hauptbedeutungen der Einsatzführung aus ihrem Begriffscluster

[20]Die Einzelpunkte des Begriffsclusters büßen durch den induktiven Schluss auf die Oberbegriffe keine Bedeutung ein. Die Spezialfälle finden sich also im Allgemeinen wieder. Das untermauert die Gültigkeit von Realisierung und Wirkung als Hauptbedeutungen. Davon kann deduktiv mit ausreichender Aussagekraft wieder auf Spezialfälle geschlossen werden. Das belegt die Gültigkeit der Abstrahierung.

Im Begriffscluster tauchen personenzentrierende Gesichtspunkte zwar auf, aber sie überwiegen nicht. Es sind einige wenige systematische Aspekte zu erkennen. In allen fünf Hauptperspektiven sind zu mehr oder weniger großen Anteilen Tätigkeiten enthalten (kursiv). Sie werden als realisierendes Mittel verstanden (schematischer Pfeil). Die Tätigkeit weist der Einsatzführung ihre Richtung, indem sie auf Wirkungen abzielt (schematischer Pfeil von der Organisation über die verwirklichende Person mit den zugehörigen Prozessen über die Tangenten zur Wirkung hin). Diese Reihenfolge kann sicherlich auch anders geordnet werden. Die Logik zeigt aber klar an, dass sich Einsatzführung auf Wirkungen bezieht. Insgesamt wohnt die Tätigkeit also allen Blickwinkeln auf die Einsatzführung inne, sie ist ein realisierendes und richtungsweisendes Mittel. Wirkung, Tätigkeit und Realisierungstehen in einem unmittelbaren, zwangsläufigen Zusammenhang. Einsatzführung ist daher ein Tätigkeitskonstrukt. Die Tätigkeit hat zwischen Realisierung und Wirkung eine hohe Bedeutung als Zentralstellung.

Bei Theorien über Einsatzführung muss die logische Zwangsläufigkeit von Realisierung, Tätigkeit und Wirkung beachtet werden. Bleibt dies aus, ist die Integration der Multiperspektiven unzureichend. Ansätze, in denen die Logik aus Realisierung, Tätigkeit und Wirkung nicht ausreichend zu erkennen sind, müssen in ihrer Allgemeingültigkeit angezweifelt werden. Daraus ergeben sich Zweifel an der Eignung isolierter Erklärungen für die Einsatzführung, die kein ausreichendes Integral erkennen lassen (z.B. eigenschaftsorientierter oder motivationaler Ansatz, Zugang über Interaktion und Stil). In diesem Buch wird deswegen deduktiv von den beiden Hauptbedeutungen aus auf die konkreten Inhalte geschlossen, um darüber die verschiedenen Ansätze zu integrieren.

Management

Der Managementbegriff überschneidet sich mit dem Führungsbegriff und ist ähnlich vielfältig belegt. Management ist eher nicht-personell und strukturell (Neuberger, 2002). Es kann als Art Rahmen verstanden werden, in dem Führung stattfindet (Interaktion). Funktional gesehen umfasst Management Prozesse und Funktionen wie Planung, Organisation, Führung und Kontrolle, woraus sich ein Verständnis als Gestaltung, Lenkung und Entwicklung von soziotechnischen Systemen ergibt (Kirchhof, 2003). Diese funktionale Sicht erlaubt es nur teilweise, Einsatzführung als Management zu bezeichnen. Zwar umfasst Einsatzführung das Planen, Organisieren, Führen, Kontrollieren sowie die Lenkung. Die Systemgestaltung und -Entwicklung als wesentliche Teile sind allerdings eher keine Einsatzfunktionen. Malik (2014/2018) versteht Management als Beruf des Resultate-Erzielens oder Resultate-Erwirkens: Aufgaben sei es, für Ziele zu sorgen, zu organisieren, zu entscheiden, zu kontrollieren und Menschen zu entwickeln. Es gehe darum, die richtigen Dinge (Aufgaben) richtig zu tun wofür es Werkzeuge gebe. Mit dieser berufsständischen Sicht kann Einsatzführung gut als Management erklärt werden, wobei die Personalentwicklung eher nicht zutrifft.

In großen Organisationen gibt es i.d.R. drei Managementebenen (Topmanagement, mittleres und unteres Management (Springer Gabler Verlag, 2018 b), die als normativ, strategisch und operativ bezeichnet werden können (Kirchhof, 2003). [22]Einsätze lassen sich diesen drei Ebenen nicht genau zuordnen. Weit ausgelegt kann »Krisenmanagement« von der operativen bis zur strategischen Ebene reichen. Eng ausgelegt wäre Krisenmanagement eher Sache des Top- und Mittleren Managements. Bei Gefahrenabwehrorganisationen sind Einsätze auf strategische und operative (taktische) Aufgaben begrenzt. Einsätze haben keine normative Ebene im engeren Sinn. Es ist deswegen schwierig, Einsatzführung in das hierarchische Managementverständnis einzuordnen. Wohl aber sind die drei Managementebenen in Einsatzführungssystemen wiederzufinden wie im Verlauf gezeigt wird.

Insgesamt ist der Managementbegriff für die Funktion der Einsatzführung nicht voll zutreffend. Zwar gibt es Entsprechungen und als Lenkung ist Einsatzführung eine wesentliche Managementfunktion. Daher könnte eine Führungsperson institutionell als strategisch-operativer Einsatzmanager verstanden werden. Management umfasst aber auch normative Aspekte und ist langfristig gedacht. Die »Lebensdauer« von Einsätzen ist jedoch auf eine bestimmte Zweckerfüllung begrenzt. Einsatzführung ist relativ direktes, steuerndes Einwirken (Regeln) und Management ist eher das Schaffen von Rahmenbedingungen (Steuern über eine Metaebene). Daher wird davon abgesehen, Einsatzführung als Einsatzmanagement zu bezeichnen. Das hat Konsequenzen für den verbreiteten Terminus »Notfall- und Krisenmanagement.« Der Begriff ist im Kontext von Managementsystemen zur Lenkung von Organisationen durchaus passend, weil er sich auf normative, systemgestaltende Punkte bezieht. Beim Krisenmanagement in »echt krisenhaften« Situationen wird tatsächlich der langfristige Fortbestand der Organisation forciert. Der Begriff ist deswegen eine Spezifizierung der Einsatzführung bei gewisser Einsatzschwere. Notfälle und Einsätze umfassen aber allgemein eine eher kurze Frist. Deswegen ist der Begriff »Notfall- und Krisenmanagement« teilweise ungenau und wird in diesem Buch nicht verwendet.

Organisieren

Führung wird oft in Verbindung mit Organisieren genannt. Diese Tätigkeit bezeichnet allgemein das systematische Aufbauen von etwas (Dudenredaktion, o.J.d). Ziel ist es, eine institutionelle Organisation als System zu erschaffen. Damit dieses System seine vorgesehene Funktion erfüllt, muss eine funktionale Organisation als Architektur oder Struktur aufgebaut werden und zum Funktionieren gebracht werden. Der Wissensbereich der Organisationstheorie blickt aus psychologischer, betriebswirtschaftlicher, systemtheoretischer (hier wird Organisieren als das Schaffen von Ordnung [Malik, 2015] verstanden) oder auch politischer Perspektive auf das Organisieren. Führung als Aufbauen eines funktionierenden Einsatzes kann als Organisationsarbeit erklärt werden.

[23]Die Organisation als Funktion ist das formale »Regelwerk eines arbeitsteiligen Systems« und hat zwei Zielrichtungen (Springer Gabler Verlag, 2018 f). Organisieren ist auf der einen Seite die Spezialisierung als sinnvolle Zerlegung einer Gesamtaufgabe in Teilaufgaben. Dies wird im Kontext der vorliegenden Einsatzführungstheorie als Aufbauen und Strukturieren von Elementen verstanden, dessen Ergebnis die Aufbauorganisation ist. Dieser Vorgang ist eher entwickelnd. Auf der anderen Seite ist Organisieren die Tätigkeit des Koordinierens als effiziente Strukturierung arbeitsteiliger Prozesse. Deren Ergebnis ist die Ablauforganisation als vorbereiteter Plan. Durch Verwirklichung ergibt sich daraus die Funktion. Koordinieren wird daher auf die Funktionen bezogen. Dieser Vorgang ist eher realisierend. In der Einsatzführungstheorie hat das Organisieren mit der Struktur (Aufbau, Tätigkeitsbezeichnung »organisieren«) und der Funktion (Ablauf, Tätigkeitsbezeichnung »koordinieren«) somit zwei Zielrichtungen.

Schlussfolgerung: Zugang zur Begriffsproblematik

Der Führungsbegriff ist allgemein uneindeutig. Seine Bedeutung ergibt sich aus der Verwendung im jeweiligen Kontext. Auch dabei ist der Begriff multiperspektifisch und kann noch Unschärfen haben. Das umreißt die Problemlage: Der Einsatzführungsbegriff bedarf einer integrierten Theorie im konkreten Anwendungskontext. Dabei wird eine funktionale Perspektive eingenommen. Danach ist Einsatzführung die funktionale Beschreibung der Tätigkeit einer Institution, die sich strategisch oder operativ mit der Führung von Einsätzen von Gefahrenabwehr und Krisenmanagement beschäftigt.

Eine Einsatzführungstheorie ist konstruktivistisch. Sie legt eine Bedeutung der Führung im Kontext von Einsätzen in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement fest, die ein Verhalten erzeugt. Die fünf erkannten Hauptblickrichtungen des Einsatzführungsbegriffs eröffnen jeweils einzelne, spezielle Zugänge. Die beiden Hauptbedeutungen der Einsatzführung (Realisierung, Wirkung) bieten den universellsten Zugang, weil sie den gesamten Begriff abdecken. Weitere Zugänge sind über die Akteure mit ihren Eigenschaften und Interaktionen untereinander (Personenzentrierung) und über Organisationstheorien möglich. Im Verlauf dieses Buches werden zudem System- bzw. Komplexitätstheorien herangezogen.

Die beschriebene Vieldeutigkeit des Führungsbegriffs ist problematisch. Um dem universellen Anspruch gerecht zu werden, muss eine Einsatzführungstheorie bei den Hauptbedeutungen ansetzen. Sie muss zudem der Zwangsläufigkeit von Realisierung, Tätigkeit und Wirkung folgen und der Zentralstellung der Tätigkeit gerecht werden, um sich ins vorhandene Theoriespektrum zu integrieren. Zudem ist klar geworden, dass sich Einsatzführung auf Wirkungen bezieht und eine Theorie darüber [24]ein Konstrukt der Tätigkeiten ist. Kurz gesagt müssen mindestens Realisierung, Tätigkeit und Wirkung (begriffliche Hauptbedeutungen) der Inhalt einer allgemeinen Theorie über Führung in Einsätzen sein.

1.3   Fokussierung der Tätigkeit und Zentrierung der Wirkung als Lösungsansatz

Im vorherigen Absatz wurde klar, dass Realisierung, Tätigkeit und Wirkung Inhalte einer Einsatzführungstheorie sein müssen. Die Begriffe stehen in einem zwangsläufigen, logischen Zusammenhang und die Tätigkeit hat eine Zentralstellung inne. Aus dieser sprachlich-theoretischen Sicht resultieren drei Konsequenzen woraus sich der folgende Lösungsansatz für eine Einsatzführungstheorie ergibt.

Die Realisierung vollzieht sich in der Tätigkeit. Die Gestehung der Wirkung liegt im Tun, was der Tätigkeit gleichkommt. Sie umfasst große Teile der Realisierung. Daher deckt sie einen weiten Teil der ersten Hauptbedeutung der Einsatzführung ab. Von der Wirkung als zweite Hauptbedeutung deckt die Tätigkeit einen kleineren semantischen Teil ab. Sie umfasst aber den wichtigen Teil der Gestehung, was so viel bedeutet wie, dass die Wirkung durch das Tun entsteht. Das belegt, dass die Tätigkeit bei der Einsatzführung zentral ist. Die Tätigkeit steht (logisch und sprachlich) als gemeinsamer Nenner in der Mitte zwischen den Hauptbedeutungen. Daraus folgt für eine Einsatzführungstheorie erstens, dassdie Tätigkeit fokussiert werden muss. Weil die Tätigkeiten den unterschiedlichen Perspektiven (vgl. Bild 1) innewohnen, werden diese Blickwinkel im weitesten Sinne miteinbezogen. Durch die Fokussierung werden Ressourcen in der Gemeinsamkeit aller Aspekte des Führens gebündelt – eben in der Tätigkeit. Anders ausgedrückt muss eine Theorie das Tun erklären, weil dies das Realisieren von Wirkungen beschreibt. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Fragen nach dem Wer und mit welchen persönlichen Eigenschaften, das Warum, mit welchem Stil, mit welchen Mitteln oder aus welchem Antrieb jeweils in den Hintergrund rücken.

Zweitens muss bei einer Einsatzführungstheorie die Wirkung zentriert werden. Das Realisieren und die Tätigkeiten laufen gezwungenermaßen auf Ergebnisse (herbeigeführte bzw. erwirkte Resultate) hinaus. Jede der unterschiedlichen Perspektiven in Bild 1 hat auch ein Ergebnis. Dieses ist zwar sehr blickwinkelspeziell, aber trotzdem sind die Ergebnisse ein gemeinsames Merkmal aller Perspektiven. Die Wirkungen sind die Richtung, in die es gehen muss. Alle Tätigkeiten müssen sich darauf ausrichten. Letzten Endes bezieht sich Einsatzführung also auf Wirkungen. [25]Dieser Bezugspunkt muss der Fluchtpunkt sein, auf den alles Handeln zuläuft und in dem sich Kräfte und Ressourcen bündeln. Die sprachliche Logik zeigt also an, dass die Wirkung ins Zentrum des Führens gestellt werden muss.

Zusammengenommen ergeben die beiden Schlussfolgerungen eine dritte Konsequenz: Eine Einsatzführungstheorie muss, um der Bedeutung ihrer selbst gerecht zu werden, durch die Fokussierung der Tätigkeiten die zu realisierenden Wirkungen ins Zentrum des Tuns stellen. Dieser Schluss ist die prinzipielle Grundlage, das Paradigma einer Einsatzführungstheorie. Es ist der Grundsatz der Theoriekonstruktion über Einsatzführung. Der Aufbau der Theorie muss also so erfolgen, dass sich die Führungstätigkeiten unmittelbar auf die Ergebnisse des Einsatzes beziehen.

Das Paradigma basiert auf der sprachlich-theoretischen Analyse des Einsatzführungsbegriffs. Es wird durch eine Vielzahl weiterer Punkte gestützt.

Ausschlag für den Einsatzerfolg

Durch die Untersuchung des »Erfolgs der Stabsarbeit« wurde sichtbar gemacht, was als Arbeit und Leistung von Stäben gilt und was eigentlich das Ergebnis von Führungsarbeit ist: Die Erkenntnisse legen es dringend nahe, die Führungsarbeit auf die Wirkungen auszurichten (Gißler, 2019 a). Zudem zeigt die Analyse der künftigen Führungsfähigkeit (vgl. Online-Zusatzmaterial) folgende Gründe auf, weswegen die Wirkung in die Mitte der Führungsarbeit gestellt werden sollte.

Führungsleistungen werden künftig wohl schwieriger zu erbringen sein. Worum es am Ende geht, kann am Anfang kaum zu erkennen sein. Es ist deswegen unerlässlich, die notwendigen Führungstätigkeiten (»das Handwerkszeug«) zu beherrschen. Die Wirkungszentrierung leitet auf das Einsatzresultat hin und hilft dabei, effektiver zu arbeiten.

Der Umfang der Informationslage hat zugenommen und die Umsatzgeschwindigkeit von Informationen ist deutlich höher geworden. Man kann es sich in Einsätzen schlicht nicht (mehr) erlauben, sich mit zusätzlichen Dingen zu beschäftigen, die über das wirklich Relevante hinausgehen. Wirkungszentrierung führt dazu, Unrelevantes niedriger zu priorisieren und effizienter zu arbeiten.

Die Personalsituation ist chronisch knapp. Ressourcen für Ausbildung und Training sind beschränkt. Die Wirkungszentrierung als Fokussierung des wirklich Notwendigen ist deswegen auch ein Mittel, mit ungünstigen Rahmenbedingungen geschickt umzugehen.

[26]Zusammengenommen sollten zur Sicherstellung der künftigen Führungsfähigkeit in Ausbildung und Einsatz die erwarteten Einsatzergebnisse und die dafür relevanten Tätigkeiten fokussiert werden.

Problematik personenzentrierter Ansätze

Ein gewichtiger Punkt, der für eine stärkere Betrachtung von Tätigkeit und Wirkungen spricht, sind die Schwächen personenzentrierter Ansätze (Annäherung an eine Führungstheorie über die Führungsperson). Im Fokus stehen dabei Persönlichkeit, (soziales) Verhalten sowie menschliche Interaktionen (Handlungsweise). Weil sie von einer Korrelation zwischen beobachtbaren Handlungsweisen und bestimmten Persönlichkeitsstrukturen ausgehen, definieren personenzentrierende Theorien gewisse Charaktertypen als »besonders geeignet«. Solche Theorien sind somit selektiv und normativ, weil sie bestimmte Handlungsweisen als erwünscht definieren. Die Normierung von Führungspersonen ist allerdings problematisch. So werden nicht selten das Tun und die Person vermischt. Oft wird vom Verhalten der Führungsperson darauf geschlossen, was hinreichend günstig für die Situation sein kann und dieses Tun als notwendig festgelegt (Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine). Dabei ist nicht immer klar, was überhaupt betrachtet wird. In einem ersten Problemfeld sind Führungsstile stark vom Charakter abhängig. Der Stil bedingt, wie eine Führungsperson von den Geführten wahrgenommen wird. Gerade bei Führungspersonen, die »gut ankommen,« kann diese Wahrnehmung eine differenzierte Betrachtung ihrer Tätigkeiten verhindern. Führungsstile beschreiben kein konkretes Verhalten, sondern nur eine gewisse Art von Verhalten (Malik, 2015). Der Führungsstil ist zwar ein wichtiger Kohäsionsfaktor für das Team, aber er vermag das Tun für eine erfolgreiche Einsatzführung kaum allgemeingültig zu erklären. Verstärkt wird dies durch selbsterfüllende Prophezeiungen, die das Unterscheiden zwischen Sein und Zuschreibung erschweren. Charismatischen, sympathischen Personen dürfte tendenziell eine bessere Eignung als Führungsperson unterstellt werden. Charisma kann wahrscheinlich durch bestimmte Verhaltensweisen im Rahmen der jeweiligen Umfeldbedingungen bewusst erzeugt werden (Antonakis, d’Adda, Weber & Zehnder, 2019), was für den Umgang mit Geführten positive Wirkungen haben kann. Aus dem Trainingsbereich ist jedoch allgemein bekannt wie schwierig es ist, Verhaltensweisen nachhaltig zu verändern. Insgesamt ist Stil kein Erfolgsgarant.

In einem zweiten Problemfeld werden Handlungen oft mit Erfahrung erklärt. Es ist ein naheliegendes Argument, dass schwierige Einsätze von erfahrenen Experten gut gelöst würden. Allerdings bleibt meist unscharf, ob mit Erfahrung konkrete Prozeduren aus bereits erlebten Ereignissen (Pläne) oder universale generische Methoden (Problemlösen) gemeint sind. Pläne sind Erfahrungswissen und sehr wichtig für [27]schnelle Entscheidungen. Sie haben aber wenig mit den Tätigkeiten der Führungsperson zu tun und stehen nicht für ein »Problemlösetalent«. Erfahrung ist zweifellos ein wichtiger Faktor. Ob eine Führungsperson durch Erfahrung »herausragt« oder nur »durchschnittlich« ist, genügt allerdings nicht als alleinige Erklärung für Einsatzerfolge.

Wo drittens eine Führungsperson in enger Verbindung mit ihrer Handlungsweise gesehen wird, geht es weniger um die Tätigkeit, die erledigt wird (Aufgaben verrichten, Instrumente anwenden, Beschäftigen mit etwas, Wirkung herbeiführen), sondern eben um die Weise, wie es getan wird (Stil, Zuschreibung von Erfolg durch Eigenschaften wie dem Habitus, mit welchem Erfahrungsgrad). Das vordergründige »Wie« lenkt vom Handlungsergebnis ab.

Zusammengefasst ist die Differenzierung zwischen Person und Tätigkeit bzw. zwischen Persönlichkeit und objektiviertem Beitrag zum Einsatz bei personenzentrierten Ansätzen problematisch. Das Empirische hat dabei das grundsätzliche Problem, dass es sicher nur für das Vergangene gilt. Zwar sind empirisch gewonnene, eigenschaftsbasierte Führungstheorien mittlerweile gut gesichert, genießen gewisse Anerkennung und werden in Assesment-Centern verbreitet angewendet. Dennoch bleiben Unsicherheiten, ob sich eine normierte Persönlichkeitsstruktur für die Einsatzführung in Zukunft so auswirkt wie auf Basis der Vergangenheit angenommen. Es führt deswegen in die Irre, wie im nächsten Absatz gezeigt wird, wenn man sich zur Erklärung der Einsatzführung alleinig auf die Führungsperson und ihre Interaktion mit den Geführten konzentriert.

Irreführung durch die Konzentration auf Personen

Führungspersonen oder ganze Stäbe können auf Beobachter stark beschäftigt wirken. Sie entwickeln beispielsweise große Lagekarten, führen lange Besprechungen und scheinen während dieser Handlungen mit sich selbst zufrieden. Am Ende schlägt die Zufriedenheit mit den eigenen Handlungen gelegentlich um – weil Einsatzaufträge nicht richtig verstanden werden, das Communiqué uneindeutig ist oder der Bereitstellungsraum nicht reibungslos funktioniert. Das Erstaunen kann dann groß sein, »weil man doch gut zusammengearbeitet habe.« Diese Indizien deuten auf Handlungen hin, deren Zweck fraglich oder gar unbeabsichtigt ist. Es wird »einfach gehandelt« ohne zu überlegen, was mit der Tätigkeit »bewirkt« werden soll. Dieser Fall beschreibt eine geringe Wirksamkeit (Insuffizienz) und zeigt, was es bedeutet, von der Person auszugehen: Es ist nie mit letztendlicher Sicherheit zu sagen, ob die Person so handelt wie es die Situation erfordert.

Das Ausgehen von der Führungsperson ist ein logischer Akt. Schließlich sind die Personen ja tatsächlich »gegeben.« Für die Personalauswahl benötigt man bestimm[28]te Kriterien: Von dieser Norm muss man annehmen, dass sie »passend« ist – sonst würde man ja am eigenen Auswahlverfahren zweifeln. Zudem ist plausibel, dass gewisse Eigenschaften das Herbeiführen ausreichender Führungsleistungen befördern, weil sie z.B. dem Funktionieren als Team zuträglich sind. Diese Ansicht ist anerkannt, wenngleich eine stichhaltige Beweisführung stets schwerfällt. Der personenzentrierte Ansatz hat also sehr wohl seine Berechtigung. Er hat allerdings auch eine entscheidende Schwäche: Bei der Fokussierung der Führungsperson und ihren Handlungen läuft man Gefahr, das Zielsystem aus den Augen zu verlieren. Man kann gut und bequem über Führung sprechen ohne genau sagen zu müssen, was man am Ende eigentlich herbeigeführt haben möchte.

Bei Führung ist ausgerechnet das Kernelement »problematisch«– nämlich der Mensch. Er ist schlicht nicht normierbar und kann aufgrund letzter Unwägbarkeiten nicht als Konstante in eine Theorie eingebaut werden. Wenn man von der Person ausgeht, führt es deswegen in die Irre, lenkt ab von den eigentlichen Wirkungen und bindet Ressourcen durch die Suche nach Antworten, die wenig beitragen. Für eine Einsatzführungstheorie hat das zwei Konsequenzen:

Die Führungsperson kann in einer Einsatzführungstheorie nicht als gegeben angenommen werden. Die Person kann zwar normiert werden, aber es kann nicht erwartet werden, dass die Normierung eingehalten wird. Ein Ansatz, der sich der Führungsperson normativ nähert, kann deswegen nicht zuverlässig sein.

In Summe hat der personenzentrierte Ansatz entscheidende Schwächen, die ihn als Ausgangspunkt für die Einwicklung einer Einsatzführungstheorie ungeeignet machen.

Wenn man sich der Einsatzführung wegen der Kontingenz nicht über die Führungsperson nähern kann, muss es einen anderen geeigneten Weg geben. Das führt zu einer weiteren, letztendlichen Konsequenz:

3.

In einer Einsatzführungstheorie müssen diejenigen Tätigkeiten als gegeben angenommen werden, die in Folge zum Führungsergebnis führen.

Es ist nicht gewährleistet, dass (dieselbe oder andere) Führungspersonen in derselben Situation gleich handeln. Das kann zu Abweichungen vom erwarteten Einsatzresultat führen. In Einsätzen ist ein einheitliches, zumindest aber vergleichbares Arbeiten unbedingt notwendig. Ein universales Instrumentarium, das den Weg in Richtung Einsatzergebnisse weist, kann Unsicherheiten reduzieren, die in der Führungsperson begründet liegen. Die Tätigkeiten sind die Determinanten der Wirkung. Das bedeutet, dass bei einer verlässlichen Einsatzführungstheorie zuerst von den Wirkungen her [29]gedacht werden muss. Erst im zweiten Schritt kann die Menschenführung als Teiltheorie intergiert werden.

Zustand der Domäne

Die Domäne bezeichnet das Wissensgebiet der Einsatzführung im weitesten Sinne. In diesem Themenbereich gibt es drei Gründe, die für die Entwicklung einer Einsatzführungstheorie überhaupt sprechen und weswegen dabei die Tätigkeit und Wirkungen in den Blick genommen werden sollten.

Um organisationsübergreifend zusammenarbeiten zu können, ist eine in den Kernpunkten übereinstimmende Vorgehensweise erforderlich. Grundsätzlich braucht es erstens einen gemeinsamen Rahmen für Einsatzorganisationen (Einsatzführungstheorie), der dieselbe Intention hat (Wirkungen erzeugen). Das sorgt für ein konsistentes Vorgehen.

Eine jede Praxis dreht sich ohne theoretische (wissenschaftliche) Impulse ein stückweit im Kreis und Weiterentwicklungen werden langsamer in Gang gesetzt. Gefahrenabwehr, Krisenmanagement und damit auch die Einsatzführung sind eher weniger im Fokus der Wissenschaft. Das Management der Unternehmensführung ist vergleichsweise sehr umfassend untersucht. Eine Einsatzführungstheorie kann vermeiden, dass es zu Wissensdefiziten kommt und Weiterentwicklungen beschleunigen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Organisationen von sich aus auf neue Anforderungen einstellen (z.B. haben Polizeien die Sozialen Medien in die Einsatzarbeit integriert). Über die gesamte Domäne gesehen scheinen die im Online-Zusatzmaterial umrissenen künftigen Anforderungen jedoch zu mächtig, als dass sich jede Organisation aus eigener Kraft darauf vorbereiten könnte.

Insgesamt müssen die unterschiedlichen Teilbereiche der Domäne im Einsatz gemeinsam funktionieren – auch und gerade unter künftig steigenden Anforderungen. Das macht eine gemeinsame Vorgehensweise notwendig.

Schlussfolgerung: Tätigkeit fokussieren und Wirkung zentrieren

Aus den beleuchteten Themenfeldern wurde klar, warum bei der Einsatzführung die Tätigkeiten fokussiert und wie Wirkungen ins Zentrum der Betrachtungen gestellt werden müssen. Im Folgenden werden die Kernpunkte zusammengefasst und daraus die Schlussforderungen für eine Einsatzführungstheorie gezogen.

[30]Grundlegend ist es wegen entscheidender Schwächen von personenzentrierten Ansätzen nicht möglich, einen Zugang zur Einsatzführung über die Führungsperson zu schaffen:

Wenn man die Handlungen betrachtet, ist es schwierig zu differenzieren, was in der Persönlichkeit und was im Tun der Führungsperson begründet liegt.

Bei der Konzentration auf die Führungsperson besteht die Gefahr, dass die Einsatzergebnisse und das Zielsystem in den Hintergrund rücken.

Der Mensch ist nicht normierbar und ist deswegen keine Konstante. Eine Führungstheorie kann den Menschen nicht als gegeben annehmen, weil er Unwägbarkeiten hat.

Das bedeutet, dass eine verlässliche Einsatzführungstheorie statt von den Führungspersonen rückwärts von den Wirkungen ausgehen muss. Diese werden wiederum von den Tätigkeiten determiniert. Das stützt das aus sprachlich-theoretischer Sicht erkannte grundlegende Paradigma einer Einsatzführungstheorie: Eine Einsatzführungstheorie muss, um der Bedeutung ihrer selbst gerecht zu werden, durch die Fokussierung der Tätigkeiten die zu realisierenden Wirkungen ins Zentrum des Tuns stellen. Dazu kommt, dass die Anforderungen an die heterogene Domäne eine gemeinsame Basis notwendig machen, um im Einsatz zusammen funktionieren zu können. Eine Einsatzführungstheorie nach einem universalen Grundsatz ist dafür eine Lösung.

Praxistipp:

Eine universale Einsatzführungstheorie muss die Tätigkeiten fokussieren und die Wirkungen ins Zentrum stellen.

Die Wirkung vom Ende her denken

Das Denken vom Ende her wird als wirkungszentrierter Ansatz bezeichnet: Es wird gefragt, welche generischen Tätigkeiten eines Aktors in einer Führungsunit (z.B. Führungsperson) notwendig sind, um die erwünschten Wirkungen herbeizuführen. Durch diesen Ansatz werden die Tätigkeiten fokussiert und die Wirkungen ins Zentrum gestellt.

Die Wirkungszentrierung ist ein aussagekräftiger Oberbegriff. Die Wirkungen benötigen das Herbeiführen als kreierenden und realisierenden Schritt zwischen Zielsystem und Führungsperson. Zum Herbeiführen werden sämtliche Führungstätigkeiten gezählt. Die Tätigkeiten beschreiben, welche Instrumente angewendet werden, um Maßnahmen entwickeln und veranlassen zu können. Diese Heran[31]gehensweise ist deskriptiv statt normativ. Erst durch Festschreibung in einer Theorie werden die Tätigkeiten im weitesten Sinne genormt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu einer personenzentrierten Herangehensweise, bei der durch die Fortschreibung des Empirischen in die Zukunft heraus bereits genormt wird. Bei der Wirkungszentrierung wird nicht gefragt, was die Führungsperson aufgrund ihrer Persönlichkeit dem Ereignis gegenüberstellen kann. Der wirkungszentrierte Ansatz ist daher ein stückweit ein Gegenentwurf zum personenzentrierten Ansatz (Eigenschaften und Interaktion).

Leitgedanke ist die Frage, welche Wirkungen im Zielsystem durch die Führungsunit herbeigeführt werden müssen. Dieses Verständnis unterscheidet sich vom personen- und handlungszentrierten Ansatz, indem vom Resultat über die Tätigkeiten auf die Führungsperson geschlossen wird, statt von der Person auf die Möglichkeiten. Es wird also das Führungs- bzw. Einsatzresultat als gegeben und die Führungstätigkeit kontingent gesetzt. Unsicherheiten, die in Person und Persönlichkeit begründet sind, sollen minimiert werden, indem persönlichkeitsgebundenes Handeln in erlernbare Tätigkeiten überführt wird. Dadurch soll die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass die Führungsperson die notwendige Wirkung herbeiführt. Eine solche Führungstheorie löst sich ein stückweit von der Strahlkraft, von subtiler Einzigartigkeit und Überzeugungskraft von Persönlichkeiten. Wirkungszentrierung geht vom »Verhalten« aus, das die Führungsperson zeigt. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass keine Personalauswahl erfolgen soll. Diese ist (weiterhin) unbedingt notwendig, um Führungspersonen einzusetzen, die gute individuelle Voraussetzungen mitbringen, die in anspruchsvollen Situationen hilfreich sind.

Der wirkungszentrierte Ansatz hat gewisse Grenzen wie andere Ansätze auch. Die Wirkungszentrierung bleibt in manchen Teilen auch eine Idealvorstellung. Auch eine wirkungszentrierte Führungstheorie kommt nicht ohne den Menschen (oder andere Aktoren) aus, was letztlich wieder Unbestimmtheiten bedeutet. So bleiben auch bei vorgegebenen Tätigkeiten Ausführungsspielräume. Insgesamt betrachtet wird die Kontingenz des Führungsakts durch die Forcierung von Tätigkeit und Wirkung jedoch deutlich reduziert als wenn man im Vergleich dazu von Persönlichkeitsmerkmalen ausgeht.

Erklärungsschwäche menschbezogener Aspekte und Vollständigkeit der Führungssysteme

Aspekte zum Menschen sind in normierten Führungssystemen unterrepräsentiert, wie im Folgenden gezeigt wird. Führungssysteme bestehen in der DACH-Region nach gängigem Verständnis aus drei wesentlichen Elementen. Nach der deutschen, zivilen FwDV 100 ist ein Führungssystem die Gesamtheit aus Führungsorganisation [32](Aufbau), Führungsvorgang (Ablauf) und Führungsmitteln (Ausstattung) (Innenministerium Nordrhein-Westfalen, 1999). Im österreichischen Militär umfasst ein Führungssystem Verfahren, Organisation und Mittel (Meurers, 2004). Die schweizerische, militärische FSO 17, die den zivilen Bereich stark mitprägt, nennt das Führungssystem zwar nicht ausdrücklich, aber gliedert Führung in Führungstätigkeiten, Führungsorganisation, Prozesse, Produkte und Führungsunterstützung (Schweizer Armee, 2014). Sinngemäß haben die Führungssysteme folgende Elemente gemeinsam:

Aufbauorganisation,

Ablauforganisation,

Mittel.

Diese vergleichende Zusammenfassung ist nur grob. So kann beispielsweise der Führungsvorgang nach FwDV 100 nicht ganz genau mit den Verfahren des österreichischen Militärs verglichen werden. Die Übersicht zeigt jedoch, dass der Mensch bzw. die Führungsperson nach gängigem Verständnis zum Führungssystem im engsten Verständnis nicht dazugezählt wird. Diese Feststellung relativiert sich in den drei Vorschriften zwar nahezu gänzlich, weil u.a. deutlich gemacht wird, dass und wie Führende und Geführte miteinander umgehen. Allerdings, und das ist kritisch zu sehen, wird nach dem gängigen Verständnis über Mensch-Maschine-Umwelt-Systemen (MMU-Systemen) der Mensch mit zu den grundlegenden Systemelementen gezählt. So kann ein Stabs als sozio-technisches System mit vier bzw. ggf. fünf Elementen dargestellt werden:

Selbstgesteuerte menschliche Intelligenz (Kernelement für Initiative und Konation, Inhaltstransmitter),

Techniken (Realisierung der Führungsprozesse),

Technologien (Transmitter der Inhalte),

Inhalte (Informationen als Güter),

ggf. Organisation (Aufbau und Ablauf) (Gißler, 2019 a).

Mit diesem Schema können die Konfiguration eines Führungssystems und das Zusammenwirken der Elemente erklärt werden. Diese Erklärungen sind die Voraussetzung für jegliche weiteren Erklärungen wie zu Arbeit, Leistung und Erfolg. Der Mensch ist an jedem Prozess in einem Führungssystem beteiligt. Das zeigt ein Blick auf das folgende Prozessbündel, das in einer Führungsunit abläuft:

Entscheidungsprozesse,

Führungsprozesse,

Informationsmanagementprozesse,

[33]Kommunikationsprozesse,

Organisationsprozesse,

Teamprozesse,

Wahrnehmungsprozesse,

Wissens- und Lernprozesse (Gißler, 2019 a).

Es ist ohne weitere Erläuterung zu erkennen, dass aktuell keiner dieser Vorgänge ohne menschliche Beteiligung auskommt. Das widerspricht dem Befund, dass der Mensch in den drei Vorschriften zum Führungssystem im engsten Verständnis nicht dazugezählt wird. Dass sich dies im Verlauf relativiert, kann nicht darüber hinwegführen, dass dem Menschen allgemein in MMU-Systemen wie auch konkret in der Prozesslandschaft einer Führungsunit eine hohe Bedeutung zukommt. Eine zur Konation fähige Intelligenz, menschlich oder in welcher Form auch immer, kommt nicht in dem Stellenwert vor, wie es die Bedeutung erfordern würde. Das bedeutet, dass die drei exemplarischen Vorschriften eine Erklärungsschwäche bezüglich mensch- oder (weiter gefasst) intelligenzbezogener Aspekte haben. Fragen zum Führungsakt, an denen der Mensch beteiligt ist, können bei einer stringenten Auslegung damit nicht erklärt werden.

Diese Erklärungsschwäche zeigt sich in der Praxis sehr deutlich. So wird oft konstatiert, dass Human Factors, also menschliche Faktoren, noch viel zu wenig Berücksichtigung finden. Das Wissen über Human Factors ist seit spätestens den 2000er-Jahren in der breiteren Praxis verfügbar. Selbst wenn man diesen Zeitraum »großzügig« zu Clausewitz’ Vom Kriege als zeitgenössisches Führungssystem von 1832 ins Verhältnis setzt, fällt es schwer zu argumentieren, dass Human Factors »neu« seien. Ob die mangelnde Berücksichtigung von Human Factors nun im geringeren Stellenwert des Aktors im Führungssystem begründet liegt, kann so oder so gesehen werden. Plausibel scheint es jedenfalls. Genauso logisch scheint die Erklärung, dass der Mensch oft noch idealisiert als rationales Wesen verstanden wird und deswegen rationale Entscheidungsmodelle zugrunde gelegt werden. Zudem wird in den Vorschriften nirgends maßgeblich darauf eingegangen, dass der Aktor als »treibende Kraft« im Führungssystem einmal nicht »wie vorgesehen« funktionieren könnte. Es liegt jedoch auf der Hand, dass der Mensch als Teil eines Führungsorgans größere Beachtung braucht als ein Computer in einer Fabrik. Der Mensch »fehlt« bislang als Element im Führungssystem, obwohl er systemrelevant ist.

Generell muss eine Theorie einen Sachverhalt umfassend erklären. Dazu kann sie sich anderer Theorien bedienen (Anschluss), aber wesentliche Punkte sollte sie unbedingt selbst erklären. Im konkreten Fall von Führungssystemen ist ein Element, das implizit oder explizit als notwendig (voraus-)gesetzt wird, systemrelevant. [34]Führungstheorien, die vom Mensch ausgehen, setzen diesen in einer inneren Zwangsläufigkeit als relevant. Ein »vollständiges« Führungssystem bzw. eine »umfassende Theorie« liegt erst dann vor, wenn alle seine Komponenten erklärt sind. Das führt zu einer weiteren Anforderung an eine Einsatzführungstheorie: Entweder sie muss über notwendige Elemente alle Erklärungen mitliefern bzw. darauf verweisen. Das kann zu einer hohen Komplexität führen. Oder sie ist so konstruiert, dass sie mit wenigen notwendigen Elementen auskommt und diese selbst zu erklären vermag. Anders ausgedrückt heißt das, dass eine Führungstheorie entweder ausdrücklich an menschbezogene Punkte anknüpfen muss – oder sie muss so konstruiert sein, dass sie auch alleine eine umfassende Erklärung liefert. In diesem Buch wird überwiegend nach der zweiten Möglichkeit verfahren: Der Führungsakt wird so einfach wie möglich, aber gleichzeitig so umfassend wie möglich beschrieben.

Schlussfolgerung: Wirkungszentrierung als Lösungsansatz

Der sprachlich-theoretische Zugang zum Begriff der Einsatzführung hat aufgezeigt, dass eine Theorie über Einsatzführung die Realisierung, Tätigkeit und Wirkung beinhalten muss. Eine universale Einsatzführungstheorie muss die Tätigkeiten fokussieren und die Wirkungen ins Zentrum stellen. Sie muss das Tun erklären, weil dies das Realisieren von Wirkungen beschreibt. Zur Konstruktion wird das Einsatzergebnis als gegeben gesetzt. Die Wirkungszentrierung ist ein Lösungsansatz bei dem gefragt wird, welche generischen Tätigkeiten eines Aktors in einer Führungsunit notwendig sind, um die erwünschten Wirkungen herbeizuführen. Dieser Ansatz vermeidet Schwächen personenzentrierter Ansätze und integriert Erklärungen u.a. aus den Organisations-, System- und Komplexitätstheorien. Es wurde erkannt, dass eine Einsatzführungstheorie Universalitätsansprüche erfüllen, spezielle Erklärungen aus anderen Theorien integrieren, anschlussfähig an übergeordnete Theorien sein sowie bezüglich systemrelevanter Elemente vollständig sein muss. Diesen Anforderungen kann konstruktiv begegnet werden. Insgesamt wird die Wirkungszentrierung als geeigneter Lösungsansatz befunden, um eine Einsatzführungstheorie gemäß den erkannten Ansprüchen entwickeln zu können.

1.4   Aufbau, Intention und Leitfragen dieses Buches

In diesem Fachbuch wechseln sich praktische und theoretische Teile ab. Weil ausdrücklich auch Ausbilder, Trainer, Wissenschaftler und Studierende angesprochen sind, ist es wichtig, Hintergründe sichtbar zu halten. Deswegen ist dieses erste Kapitel wissenschaftlich gehalten. Einleitend wurde der Begriff der Einsatzführung [35]herausgearbeitet und damit ein theoretischer Zugang geschaffen und daraus im Folgenden eine Fragestellung formuliert, die durch das Buch leitet. Im zweiten Kapitel wird anschaulich dargelegt, was die Leistung von Führung ist und wie deren Güte bemessen werden kann. Durch die Untersuchung des Gestehungsprozesses des Einsatzresultates werden erste Aspekte der Wirkung sichtbar. Das führt zum zentralen Argument – nämlich die Führungsarbeit vom Ergebnis her zu denken. Das dritte Kapitel ist in der ersten Hälfe wissenschaftlich gehalten und liefert für Ausbilder und Trainer die Hintergrundinformationen, um Lerneinheiten und Werkzeuge fundiert aufbauen zu können. Einsätze und die dazugehörige Führungsarbeit werden mit der Systemtheorie und der Kybernetik erklärt. Durch die Untersuchung von Effizienz und Effektivität wird herausgestellt, welche Facetten die Wirksamkeit von Einsatzführung hat. Die zweite Kapitelhälfte schlägt den Bogen zur Praxis. Darin werden Führungsleistung, Wirkung und Wirksamkeit den Führungstätigkeiten gegenübergestellt. Vorschläge zur Implementierung runden das Kapitel ab.

Im vierten Kapitel entsteht die eigentliche Einsatzführungstheorie. Es verbindet die Theorieentwicklung mit der praktischen Anwendung. In der Wirkungsmatrix werden wirksame Instrumente zur Verfügung gestellt. Der Einsatzführungsalgorithmus ist schließlich die größtmögliche Abstraktion der Einsatzführung. Er ist eine Merk- und Erinnerungshilfe für Ausbildung, Training und Einsatz. Die Kapitel fünf und sechs haben zwei Funktionen. Sie erklären konkret, wie die einzelnen Führungstätigkeiten vollzogen werden können und was damit bewirkt werden kann. Zudem liefern sie die Belege für das Theorem auf das im vierten Kapitel vorgegriffen wurde. Im fünften Kapitel steht das Organisieren des Aufbaus und der Abläufe von Führungsunits im Fokus. Im sechsten Kapitel wird das Entscheiden behandelt. Weil diese Tätigkeit so zentral für die Führungsarbeit ist, werden zuerst Schwierigkeiten beim Entscheiden in der Praxis untersucht. Auf dieser Basis wird ein praxisnahes Entscheidungsmodell vorgeschlagen. Im siebten Kapitel wird ein Gesamtbeleg erbracht und aus wissenschaftlicher Sicht der Entstehungsprozess und die Aussagekraft reflektiert. Abschließend wird ein Fazit gezogen. Im Online-Zusatzmaterial werden Herausforderungen für die allgemeine Führungsfähigkeit von Gefahrenabwehr und Krisenmanagement untersucht. Die Ergebnisse dieser Exploration sind in die Theorieentwicklung eingeflossen. Darüber hinaus werden Lösungsansätze aufgezeigt, wie die Leistungsfähigkeit von Führungssystemen sichergestellt werden kann.

[36]Intention

Die Einsatzführungstheorie will Führung in Einsätzen von Gefahrenabwehr und Krisenmanagement universal und widerspruchsfrei erklären. Dazu zählen folgende Punkte:

Die Einsatzführungstheorie ist universal. Dazu bleibt sie ein stückweit generisch und stellt Aussagesätze bereit, aus denen individuelle Lösungen abgeleitet werden können.

Der Ansatz ist ganzheitlich und wird den Multiperspektiven und dem Wissensspektrum gerecht.

Die Theorie integriert unterschiedliche Perspektiven und Erklärungen, vermeidet ihre eigene Isolation und fügt sich selbst in z.B. übergeordnete Führungstheorien ein (Integrierbarkeit).

Die Theorie schließt an andere Theorien wie z.B. über soziale Systeme an und vermag dadurch die Führungsaufgabe entsprechend dem übergeordneten Sinn des Einsatzes zu erklären (Anschlussfähigkeit).

Ihr Inhalt sind Realisierung, Tätigkeit und Wirkung der Einsatzführung. Der erkannten Zwangsläufigkeit zwischen diesen Punkten sowie der Zentralstellung der Tätigkeit wird damit entsprochen.

Sinn und Zweck

Die Einsatzführungstheorie intendiert, den Führungsakt zu erklären. Ihr eigentlicher Zweck ist die praktische Anwendung. Ihr Sinn liegt darin, die Einsatzergebnisse (beabsichtigte Wirkungen) zu ermöglichen, die dem gestellten Anspruch genügen. Dazu muss sie einen suffizienten Führungsakt ermöglichen. Als Suffizienz der Einsatzführung wird die Erbringung der notwendigen Führungstätigkeiten in einem Maß verstanden, dass eine ausreichende oder herausragende Führungsleistung ermöglicht wird. Dieser Punkt wird im Kapitel 3.5 beleuchtet. Zu diesem praktischen Anspruch zählen folgende weiteren Aspekte:

Die Einsatzführungstheorie ist ein gedankliches Konstrukt, um die gegebene Komplexität der Praxis erfassen zu können. Dazu strebt sie an, den optimalen Punkt zwischen Komplexität und Einfachheit zu treffen – zwischen notwendigem Umfang und größtmöglicher Reduktion, ohne dabei wesentliche Aspekte weg-zu-vereinfachen.

Die Theorie ist konstruktivistisch und kann dadurch künftige Vorgehensweisen von Führungspersonen durch Ausbildung formen. Sie beabsichtigt, förderliches Verhalten zu erzeugen. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung.

[37]Sie ordnet und rahmt unterschiedliche Blickwinkel wie die Organisation, Personen, Mittel, Handeln, tangierte Elemente und Ergebnisse.

Sie ist aus Anwender- und Beobachtersicht funktional, praktikabel und nachvollziehbar. Sie dient dem Erlernen (Praktiker) und dem Verstehen (Wissenschaftler).

Sie stellt die passenden Instrumente für die Tätigkeiten der Führungsperson (des Akteurs) bereit, um die Absichten optimal zur Realisierung zu bringen.

Die Einsatzführungstheorie hat den Anspruch, bei Wiederholung von Einsätzen unter gleichen Bedingungen die gleichen Resultate hervorzubringen (Reproduzierbarkeit).

Letztlich muss die Theorie bei den Anwendern auf Akzeptanz stoßen. Dazu strebt sie nach Verhaltensökonomie und will den Menschen aus sich heraus dazu anleiten sie zu befolgen. Dass verbreitete, rationale Entscheidungsmodelle nicht angewendet werden, dürfte im Wesentlichen auch daran liegen, dass sie bei den Entscheidern unbewusst nicht auf Akzeptanz stoßen. Das liegt sicherlich zu einem gewissen Teil an Ausbildung und Routine, aber bestimmt zu einem Großteil daran, dass der Mensch von Natur aus eben kein rationaler Entscheider ist. Die Theorie will deswegen zum menschlichen Naturell passen. Hierzu soll der Anwender in seiner natürlichen Handlungstendenz unterstützt werden und sein Verhalten geformt und nicht überformt werden.

Leitfrage

Eine leistungsfähige institutionelle Führung sichert den Erfolg von Einsätzen von Gefahrenabwehr und Krisenmanagement. Das Mittel dazu ist eine Einsatzführungstheorie, die bei Führungspersonen förderliches Verhalten erzeugt. Dementsprechend ist es das Ziel eine Einsatzführungstheorie zu konstruieren, die zu einem suffizienten Führungsakt führt. Dazu werden drei Leitfragen verfolgt:

Wie kann die Wirkung eines Einsatzes allgemeingültig erklärt werden? (Kapitel 2 und 3)

Wie kann der Führungsakt universal, integriert ins Führungstheoriespektrum und anschlussfähig an periphere Theorien erklärt werden? (Kapitel 3.2, 5 und 6)

Was sind künftige Anforderungen und Bedingungen für Einsätze bzw. Organisationen in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement und wie kann diesen begegnet werden? (Online-Zusatzmaterial)

[38]2    Erfolg der Stabsarbeit

Wann ist ein Einsatz eigentlich ein erfolgreicher Einsatz? Und was trägt ein Stab als Führungsorgan genau zu einem Einsatz bei? In einer Forschungsarbeit des Autors wurden diese und weitere Fragestellungen an Stäben aus Gefahrenabwehr und Krisenmanagement untersucht (Gißler, 2019 a). Die darin gewonnenen Erkenntnisse sind der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für eine weitergehende Theorie über die wirksame Führung jeder Art von Führungssystem.

Das Forschungsprojekt

In der Studie wurden 45 Fälle aus Wirtschaft, Polizei, Feuerwehr und Verwaltung aus der Schweiz, Deutschland und Österreich untersucht. Ein militärischer Stab ergänzte das Spektrum. Es wurden Ereignisse analysiert, Experten interviewt und Stäbe bei Übungen und Einsätzen beobachtet. Auf Basis qualitativer Inhaltsanalysen des erhobenen Materials wurde ein Beurteilungsverfahren zum Erfolg der Stabsarbeit entwickelt und dieses einmal an einem zu diesem Zeitpunkt hochaktuellen Fall getestet und als funktionierend bestätigt. Bis dahin gab es dazu weder in der Literatur noch in Vorschriften eine Aussage oder Methode, die einen objektiven Vergleich von Stabsarbeit mit einer allgemeingültigen Referenz erlaubte. Insgesamt wurde die Arbeit als methodisch robust gegen Fehler beurteilt. Sie ergibt einen sehr guten Überblick über die Stabsarbeit. Die Kernaussagen sind auf andere Führungsunits wie Führungsgruppen, Notfallteams oder auch auf Cluster aus mehreren Stäben in Gefahrenabwehr und Krisenmanagement übertragbar.

Kurz zusammengefasst wird als erfolgreiche Stabsarbeit eine Führungsleistung dann befunden, wenn sie ausreichend war. Das bedeutet, dass ein Stab mittels stabstypischer Aufgaben die Voraussetzungen für operative Einheiten geschaffen hat, um für die Situation das bestmögliche Ergebnis herbeizuführen. Eine nicht erfolgsreiche Stabsarbeit ist eine geminderte Führungsleistung mit Defiziten bei erbrachten stabstypischen Aufgaben, die sich in erfolgskritischem Maß auf das Führungssystem, die operativen Einheiten oder auf die Ergebnisse des Einsatzes hätten auswirken können. Stäbe können auch eine erhöhte Führungsleistung erbringen. Als eine besonders erfolgreiche Stabsarbeit gilt die Herbeiführung eines für die Situation herausragenden Ergebnisses mittels stabstypischer Aufgaben, welches das vernünftigerweise zu erwartende Ergebnis in besonderem Maße übertroffen hat. Nach diesem kurzen Abriss der Schlüsselergebnisse der Studie wird im nächsten Abschnitt grundlegend erläutert, was als Führungsleistung gilt.

[39]2.1   Führungsleistungen

Die Führungsleistung des Stabes, die Ausführungsleistung nachgeordneter Einheiten und der schlussendliche Systemzustand als Ergebnis am Ende eines Einsatzes sind jeweils eigene Konstrukte. Die Führungsleistung ist immateriell. Die Ausführungsleistung ist dahingegen materiell. Entlang der Grenze, an der die Wirkung entsteht, können die beiden Leistungsarten voneinander abgegrenzt werden. Vereinfacht ist die Leistung eines Stabes eigentlich nur Kommunikation zur Reproduktion des Sinns im Luhmannschen Sinne. Die Ergebnisse sind die letztendlich erzeugten Wirkungen, die durch Führungs- und Ausführungsleistungen entstehen.

Arbeit und Leistung sind verschiedene Aspekte. Die Arbeit ist der Prozess der Leistungserbringung. Darin realisiert sich das Wirken des Stabes. Die Durchführung stabstypischer Aufgaben (führungstypisch bzw. ggf. fachlich-organisationstypisch) ist das eigentliche, unmittelbare Ziel der Stabsarbeit. Die Wirkung im Zielsystem entsteht erst mittelbar durch Operationalisierung – also bei der Ausführung durch operative Einheiten. Wenn der Stab (idealisiert) eine reine Beratungsaufgabe erbringt, dann entsteht die Bedeutung bei der beratenen Instanz. Die Wirkung bzw. Bedeutung kann auch als Impact bezeichnet werden. Die Führungsleistung des Stabes ist der Beitrag zum Resultat des gesamten Einsatzes als der Weg, wie das Resultat im konkreten Fall herbeigeführt wurde. Dies verdeutlicht die semantische Nähe zwischen den Begriffen »Führung« und »Weg«: Ein »aus-führender« Aktor wird zur Erbringung von Wirkungen »auf den Weg gebracht«.

Der Stab schafft somit die Voraussetzungen für die Ausführungsleistung von operativen Einheiten. Dabei gilt, dass Führungsleistung und Ausführungsleistung hinreichend und notwendig für das Einsatzergebnis sind. Beide Leistungsarten sind erforderlich, um das Resultat zu erwirken. Ein Einsatz funktioniert nicht ohne Führung und auch nicht ohne Ausführung. Die Führungsleistungen eines Stabes (alternativ: Produkt, Outcome) werden vierfach unterschieden:

Grundlegend als Stab zu funktionieren. Die Funktionen im Innern eines Stabes können mit folgendem Prozessbündel erklärt werden: Entscheidungs-, Führungs-, Informationsmanagement-, Kommunikations-, Organisations-, Team-, Wahrnehmungs-, Wissens- und Lernprozesse. Diese Punkte können größtenteils als nicht-technische Fähigkeiten mittels Verhaltensmarkern aus dem CRM-Bereich sichtbar gemacht werden.

Einsätze führbar zu machen. Dazu zählen die Organisation der Maßnahmen, Vorbereitung, Anzahl und Kompetenzen der Stabsmitglieder, die Universalität des Führungssystems sowie die Fähigkeit zur Absorption [40]der Einsatzkomplexität u.a. durch eine geeignete Führungsspanne, durch die Vorhaltung erforderlicher Fachkompetenzen und durch den Einsatz geeigneter Kommunikationsmittel und IT- bzw. Kollaborationssysteme.

Zeitvorteile gegenüber dem natürlichen Ereignisverlauf zu erarbeiten. Diese hängen von der Leistungsfähigkeit der vor- und nachgeordneten Teile des Führungssystems ab, werden durch die Handlungsspielräume des Stabes sowie von der Vorwärts- und Rückwärtswirkung des Stabsablaufs bedingt. Stabsarbeit ist immer ein Arbeiten gegen die Zeit. Die zu erarbeitenden Zeitvorteile sind daher ein erfolgskritischer Punkt.

Den Ereignisfortgang zu beeinflussen. Dazu zählen das Informationsmanagement, das Erkennen der Problemstellung, die Entscheidungsarbeit als eigentliche Lenkung des Geschehens, das Erledigen organisationstypischer Aufgaben sowie die inter-/intra-organisationale Zusammenarbeit. Diese vierte Führungsleistung basiert ein stückweit auf den vorhergehenden drei Punkten.

Das (quantitative) Verhältnis der vier Leistungen zueinander kann auf Basis der Befundlage nicht benannt werden. Inwiefern sich eine gute oder schlechte Führungsleistung als Voraussetzung für die Ausführungsleistung auf das Einsatzresultat auswirkt, wurde nicht näher untersucht. Es scheint jedoch grob klar, dass eine gute bzw. schlechte Führungsleistung nicht auch zwangsläufig zu guten bzw. schlechten Einsatzresultaten führt. So ist denkbar, dass ausführenden Einheiten unzureichende Führungsleistungen kompensieren können oder auch selbst von sich aus schlechte Ausführungsleistungen erbringen können. Zu den Forschungsergebnissen kann mittlerweile das Argument ergänzt werden, dass die Ausführung aus der Führungsperspektive jedenfalls kontingent ist. Vereinfacht gesagt spielen gewisse Zufälligkeiten mit, ob die Ausführung so erfolgt wie sie vom Führungsorgan intendiert wurden. In der Praxis kann man sich daher nicht sicher darauf verlassen, dass die beabsichtige Maßnahme genau das Ergebnis hervorbringt, welches man sich vorgestellt hat. Da Stabsarbeit zu einem überwiegenden Teil aus koordinierenden Aufgaben besteht wurde geschlussfolgert, dass die Steuerung eines Einsatzes eher einen koordinierenden Charakter hat.

Einsatzbeispiel: Polizeieinsatz bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen

In den Jahren nach der Wiedervereinigung wurde in der deutschen Politik und Öffentlichkeit eine teils harsche Asylrechtsdebatte geführt. Seit etwa 1991 kam es im ganzen Land zunehmend zu fremdenfeindlichen Gewaltaktionen. In diese Zeit fiel [41]der folgende Polizeieinsatz. Die Analyse verdeutlicht, wie mangelhafte Führungsleistungen entstehen können.