Eisenkinder - Sabine Rennefanz - E-Book

Eisenkinder E-Book

Sabine Rennefanz

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Beschreibung

Ein bisher ungeschriebenes Kapitel der Nachwendezeit.

Im Herbst 2011 wurde bekannt, dass drei rechtsradikale Terroristen zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordeten. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe kamen aus Jena, sind etwa genauso alt wie Sabine Rennefanz, die in Eisenhüttenstadt ihr Abitur machte. Sie kommen aus gleichen Milieus und aus einer Generation: Sabine Rennefanz und die Mörder der Zwickauer Zelle. Ihre Leben könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch stellt sich Sabine Rennefanz die Frage: Ist da nicht etwas, was sie selbst mit Menschen wie Uwe Mundlos verbindet, ob sie es will oder nicht?

Dieser Frage spürt Sabine Rennefanz in ihrem Buch nach – ihrer Jugend in Eisenhüttenstadt, ihrem Leben nach der Wende in Hamburg, wo sie sich, wie sie heute sagt, »in eine seltsame Richtung« entwickelte und schließlich als Missionarin für eine evangelikale Sekte nach Russland ging. Ihre Spurensuche lässt Sabine Rennefanz entdecken, wie sehr sie damals von einem radikalen Gefühl beherrscht wurde, das in ihr gärte, das sie dazu brachte, in einen Kreuzzug gegen den Westen zu ziehen, das sie bleich werden ließ in Diskussionen mit West-Deutschen, das sie ihren Eltern entfremdete. Ein Dreibuchstabenwort: WUT. Eine unterschwellige, stille, heimliche Wut. Heute weiß Sabine Rennefanz: Es war nicht nur ihre Wut, sondern die Wut einer Generation. Sabine Rennefanz unternimmt eine Reise in die Nachwendezeit, die sich bis ins Heute spannt. Sie erzählt von einer jungen Frau, die damals den Halt verlor und anfällig wurde für radikale Ideen. Immerzu sucht sie dabei nach Verbindungen zu anderen, die abdrifteten. Sie will etwas über sich erfahren. Und über ihre Generation: die Eisenkinder.

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Seitenzahl: 316

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Sie kommen aus gleichen Milieus und aus einer Generation: Sabine Rennefanz und die Mörder der Zwickauer Zelle, Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Ihre Leben könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch: Ist da nicht etwas, was sie selbst mit Menschen wie Uwe Mundlos verbindet? Dieser Frage spürt Sabine Rennefanz in ihrem Buch nach – ihrer Jugend in Eisenhüttenstadt und ihrem Leben nach der Wende in Hamburg, wo sie sich, wie sie heute sagt, »in eine seltsame Richtung« entwickelte.Es ist ein Buch, das mit der Wut über die anhaltenden Klischees in der Ost-West-Debatte beginnt, und sich zu einer Suche nach Heimat und Identität entwickelt. Sabine Rennefanz entdeckt, dass die Ursachen ihres Unbehagens weit in die Vergangenheit zurückreichen. Es war ein Gefühl, das lange gärte, das sie dazu brachte, in einen Kreuzzug gegen den Westen zu ziehen, sie in Diskussionen mit West-Deutschen stumm werden ließ und von ihren Eltern entfremdete. Eine stille, unterschwellige, heimliche Wut. Die Wut einer Generation.

SABINE RENNEFANZ, 1974 in Beeskow geboren, wuchs in Eisenhüttenstadt auf und studierte nach der Wende Politikwissenschaften in Hamburg. Sie arbeitete als freie Journalis-tin für Die Zeit, die Financial Times Deutschland sowie den Berliner Tagesspiegel. Im Februar 2001 wurde sie Redakteurin bei der Berliner Zeitung; 2003 ging sie als Korrespondentin nach London. Anfang 2008 kehrte sie in die Zentralredaktion zurück und schreibt seitdem über Integration und Landespolitik. Sabine Rennefanz erhielt 2006 den Goldenen Prometheus, 2010 den Theodor-Wolff-Preis. Für ihren Essay »Uwe Mundlos und ich« wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

Sabine Rennefanz

Eisenkinder

Die stille Wutder Wendegeneration

1. Auflagebtb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenGenehmigte Taschenbuchausgabe Mai 2014© 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH© Sabine RennefanzUmschlaggestaltung: buxdesign, München unter Verwendung eines Composings von © Ruth BotzenhardtSK · Herstellung: scISBN 978-3-641-09223-8www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Inhalt

Prolog

Die Aktivisten

Die Prüfung

Das Haus der jungen Talente

Die Tränen des Cowboys

Jenseits von Eden

Die Kunst besteht im Warten

Temple of Love

Eisenhüttenstadt brennt

Homo Oeconomicus

Brüder und Schwestern

Dämonen

Jesus und die Moorsoldaten

Das Tribunal

In der Hölle

Das verbotene Date

Epilog

Nachwort zur Taschenbuchausgabe

Literatur

Dank

Prolog

Anfang Dezember 2011 saß ich mit Kollegen in einem Restaurant in Berlin-Kreuzberg, es gab Gans und Rotwein, wir diskutierten über die Zwickauer Terrorzelle. Doch es ging nicht nur um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, es ging um viel mehr. Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse man ja, dass im Osten der Rechtsextremismus Mainstream sei, eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend. Ich habe mehr Jahre meines Lebens in der Bundesrepublik als in der DDR verbracht, ich habe fünf Jahre im Ausland gelebt, aber auf einmal fühlte ich mich wieder wie in den Neunzigern, als ich mich schämte zu sagen, dass ich aus dem Osten komme. Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.

Erst vier Wochen vorher war das Trio aufgeflogen. Jahrelang hatte sich kaum jemand groß drum gekümmert, dass neun Einwanderer und eine Polizistin in Deutschland hingerichtet wurden. Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken untereinander meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen. Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete ich darauf, und mir fiel ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen Reflex: Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum »typisch ostdeutschen« Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.

Uwe Mundlos war 16, als die Mauer fiel, nur wenig älter als ich. Wir sind in der DDR groß geworden. Als er in Jena eine Ausbildung anfangen sollte, ging ich zur Schule in Eisenhüttenstadt. Beide Städte sind ähnlich groß, beides Industriezentren, die nach der Wende viele Arbeitsplätze verloren. Wir gehören zu einer Generation, die während der Pubertät zwischen zwei Ländern hing. Wissenschaftler sprechen gar von der »verlorenen Generation«.

Ich begann alles über ihn zu lesen, was es gab. Doch das, was mich interessierte, stand nirgendwo. Wie wurde er zum Nazi? Was hat ihn zum Mörder gemacht, die DDR oder die Nachwendezeit? Erinnerungen an die neunziger Jahre kamen hoch, die Leere, die Orientierungslosigkeit. Auch ich driftete damals ab, nicht in die rechte Szene, sondern zu christlichen Fundamentalisten. Ich wollte sogar Missionarin werden. Hatte nicht auch ich Sehnsucht nach Radikalität, nach einfachen Wahrheiten gehabt wie Mundlos?

Warum rutschte Mundlos ab, warum kam ich in der Bundesrepublik an? Was ist das für ein Land?

Die Mauer war weg, aber es kam mir so vor, als wäre die Einheit nicht passiert, als würde der Osten nicht dazugehören. Jetzt kamen sie wieder, die Artikel über die rote Diktatur, den Töpfchen-Terror in den Krippen, über die Berufstätigkeit der Mütter, die autoritäre Erziehung. Forschungen widerlegen die These, dass es einen Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit der Mutter und der Gewaltneigung gibt. Männlichen rechtsextremen Gewalttätern habe es eher an männlichen Vorbildern gefehlt, schreibt die Arbeitsstelle für Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit am Deutschen Jugendinstitut in Halle. Ob das im traditionellen westdeutschen Alleinverdiener-Modell gegeben war, sei fraglich. Je länger die DDR zurückliegt, desto holzschnittartiger wird die Wahrnehmung.

Drei Wochen nachdem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 in einem Wohnwagen in Eisenach tot aufgefunden wurden, lese ich in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter der Überschrift »Das Gift der Diktatur«. Darin wird behauptet, die Terrorserie sei ein Rachefeldzug der postsozialistisch erzogenen Jugendlichen gegen die pluralistische Gesellschaft im Westen.

Schon nach den ersten Sätzen fällt es mir schwer, weiterzulesen. Schuld seien die Eltern, so die These, weil sie den Kindern kein Mitgefühl und keine Emotionen vermittelt haben. »Wer diese Welt im Rückblick betrachtet, stößt bisweilen auf eine erstaunlich niedrige Betriebstemperatur bei der Aufzucht des Nachwuchses.« Wieder so ein vernichtender Satz. Er klingt so eisig.

Ähnlich klingt das bei Klaus Schroeder, einem Historiker und Politikwissenschaftler, der an der FU Berlin lehrt. »Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik«, schreibt er in einem Beitrag für den Tagesspiegel. Auch er führt das Neonazi-Potenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die Einbindung in »staatliche Institutionen« zurück. Staatliche Institutionen, das klingt, als wären Kinderkrippen Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Ostens.

In einem Artikel der taz, in dem darüber geschrieben wurde, dass das Jenaer Trio auch im Westen Unterstützer hatte, ist von westdeutschen und ostdeutschen Nazis die Rede, als ob es einen großen Unterschied gäbe.

Eine Zeit lang gab es die neuen Länder, jetzt gibt es nur noch Ostdeutschland, und dieses Land ist für viele Westdeutsche ein fremder Planet. Was ist dieses Ostdeutschland? Ist es ein Krisengebiet, wie Spiegel Online titelte? Ostdeutscher zu sein ist ein Label, das an einem klebt, das man nicht loswird, selbst wenn man nur einen Bruchteil seines Lebens dort verbracht hat, selbst wenn man sich bemüht. Man ist immer Ostdeutscher, auch wenn man nach Hannover zieht, wie einer der Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds von Uwe Mundlos. Er ist vor vielen Jahren aus Jena in den Westen gezogen, bleibt in den Medien aber der »ostdeutsche Neonazi«.

Selbst wenn man deutsche Bundeskanzlerin wird, bleibt das Label. Wenn Angela Merkel etwas falsch macht, wenn sie zögert, Risiken scheut, dann ist sie ganz schnell wieder die angepasste Ostdeutsche. Es ist immer der gleiche Reflex: Sobald ein Problem in Ostdeutschland auftritt, wird es zu einem »ostdeutschen« Thema. Man stelle sich das umgekehrt vor: Die großen Kindesmissbrauchsskandale wurden in Hessen und in Westberlin aufgedeckt, trotzdem gilt die Pädophilie nicht als westdeutsches Phänomen. Der Ostdeutsche wird wie der Türke zum Fremden gemacht. Beide machen den Westdeutschen nur Ärger, stören die Idylle. Der Ostler verprügelt Türken, und der Türke verprügelt seine Frau und seine Töchter. Die Westdeutschen schauen jeweils aus der Distanz zu. Sie müssen nicht über sich selbst nachdenken.

Mit der Debatte um die Zwickauer Terrorzelle wurden die Gräben zwischen Ost und West wieder aufgerissen. Dieses Buch soll einen anderen Blick liefern. Es soll um die Wendegeneration gehen, die letzten Kinder der DDR, die zum Mauerfall zwischen 8 und 16 Jahre alt waren, eine Generation, zu der Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehören – und zu der ich gehöre.

Wenn es etwas gibt, das diese Generation gemeinsam hat, dann ist es ein Unbehagen, eine tiefe Verunsicherung, eine stille, unterschwellige Wut.

Woher kommt dieses Unbehagen? Wie war es, in den neunziger Jahren aufzuwachsen? In diesem grauen Jahrzehnt, in dem die DDR noch nicht verschwunden und ein neues Deutschland noch nicht entstanden war? In dem Behörden nicht funktionierten und Arbeitslosigkeit grassierte? Was bedeutete es, mitten in der Pubertät von überforderten Eltern und Lehrern alleingelassen zu werden? Seine Jugend mit einem Schlag zu verlieren? Wie viel DDR steckt in der Generation? Was hat sie mehr geprägt, die DDR oder das vereinigte Deutschland? Warum kam ich in der Bundesrepublik an – und andere nicht?

Ich will mich auf eine Reise in die Vergangenheit machen und nach Spuren suchen, nach Verbindungen und Mustern. Ich lese alte Briefe und Tagebücher, ich fahre nach Eisenhüttenstadt und Jena, ich treffe alte Weggefährten, Mitschüler, Lehrer. Ich will etwas über mich und meine Generation erfahren – die Eisenkinder.

Die Aktivisten

Ich verlasse die Autobahn vor der polnischen Grenze und biege auf eine Landstraße. Sie führt durch Dörfer, vorbei an endlosen Feldern und Kiefernwäldern. Es gibt schönere Bäume als Kiefern, aber sie wachsen gut auf den Sandböden, sie sind anspruchslos, widerstandsfähig, so wie man sein muss, um es hier auszuhalten. Das gilt auch für die Menschen. Die Natur ist sparsam in dem, was sie gibt. Vierzig, fünfzig Meter schießen sie hoch, dürre Stangen, von denen man meint, der Wind müsste sie umreißen.

Schneller als erwartet finde ich mich mitten in der Stadt wieder, die vor vielen Jahren aus den Sandböden gestampft wurde. Eine Vorzeigestadt des neuen Staats. Hier sollte nach dem Krieg der neue Mensch geformt werden, der siegessicher und stolz in eine bessere Zukunft marschiert, in der Ausbeutung und Unterdrückung überwunden sind. Die erste sozialistische Stadt, so nannten sie Eisenhüttenstadt.

Ich passiere einen Betonklotz, der auch in Bukarest oder Warschau stehen könnte, davor informiert ein Schild, dass es sich um ein Hotel mit dem Namen »Berlin« handelt. Früher hieß das beste Hotel in Eisenhüttenstadt »Lunik«, nach der Mondsonde. Jetzt begnügt man sich mit der Hauptstadt. Auf der anderen Straßenseite steht eine Reihe schmuckloser Wohnblöcke, sie sehen so aus, wie man sich heute die ganze DDR vorstellt. Grau und verwittert, sozialistische Tristesse. Ein Fenster steht offen, daraus hängt eine Deutschlandfahne mit einem Adler. Ich überlege, wofür das Gebäude des »Hotel Berlin« früher genutzt wurde. Ein Arbeiterwohnheim? Eine Berufsschule? Es ist lange her, dass ich in Eisenhüttenstadt gelebt habe. Ich habe die Stadt 1993 verlassen und wollte nie wieder zurück. Eigentlich.

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