Ekstasen der Gegenwart - Paul-Philipp Hanske - E-Book

Ekstasen der Gegenwart E-Book

Paul-Philipp Hanske

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Beschreibung

Bis heute muss der griechische Gott Dionysos herhalten, wenn von ihnen die Rede ist: Ekstasen sind wild, ihnen wohnt eine Energie inne, die fühlen kann, wer gerade entrückt ist, die aber nur allzu schwer in Worte zu fassen ist. Schamanen bewegen sich in Ekstase in unsichtbaren Welten, mittelalterliche Mystikerinnen vereinigten sich in ihr mit Gott, und der Rausch war und ist ein fester Bestandteil jeder Gesellschaft. Weil sie schwer kontrollierbar sind, sind Ekstasen bis heute verpönt – völlig verschwunden sind sie jedoch nie. Und kehren mit aller Macht zurück: Überraschenderweise begegnen wir ihnen heute nicht nur beim Rave oder bei schamanistischen Ritualen, sondern auch in Yogaklassen, Achtsamkeitsseminaren und Workshops, die die Leistungsfähigkeit im Job verbessern sollen. Und nicht zuletzt zeigt sich der neue Boom der Ekstatik in Krisenphänomenen wie einer martialischen Männlichkeit, in Massenbewegungen wie dem gewaltsamen Sturm aufs Kapitol in Washington oder den Protesten gegen die Coronamaßnahmen. Woher aber kommt diese neue Lust an der Ekstase? Es ist höchste Zeit, mit historischer Tiefenschärfe, kritischer Neugier, einem analytischen Blick auf die Gegenwart und kulturellem Respekt in medizinischen Labors, bei Hexen-Ritualen, Ayahuasca-Zeremonien und in der Clubkultur diesem menschlichen Grundbedürfnis nach Selbstüberschreitung nachzuspüren – um so eine Ethik für die Ekstasen der Gegenwart zu finden.

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PAUL-PHILIPP HANSKEBENEDIKT SARREITER

Ekstasen der Gegenwart

Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie

Inhalt

Die Nacht wird zum Tag gemacht – Die Rückkehr der Ekstasen

Neugier auf drüben

Saubere Räusche

Engel und Räucherholz

Ekstasen als Universaltool

Der Gott der Ekstase – Dionysos

Ein seltsamer Gott

Rasende Frauen in den Bergen

Lösende Ekstase

Technik, Gegenwart, Vereinigung – Eine neue Definition der Ekstase

Lauter Schwierigkeiten

Blutige Anthropologie

»Das Wagnis, an der Zeit zu rütteln«

Nach innen angesetzte Handlungsreihen

Das tote Ich

Der Weg aus dem Tabu

Denken in Netzwerken

Die Ekstase als primärer Zustand

Ausnüchterung – Die Verdrängung der Ekstasen aus der westlichen Kultur

Die alten Lieder …

Der Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit

Der melancholische Blick nach vorn

Wohin verschwanden die Ekstasen?

Weniger Notwendigkeiten

Was blieb?

Tanzen – Von Rhythmus, Handelsreisen und den Freuden der Leere

Die ursprünglichste Ekstase

Augenrollende Gottheiten

Die Angst der Missionare

Tanzen bis zum Morgengrauen

Drehtanz, Sexmagie und Kokain

Beat, Bass, Ecstasy

Mit den Sternen, gegen den Uhrzeigersinn – Neuer Sakraltanz

Beten – Von der Begegnung mit höheren Mächten und dem Graben zu Wurzeln

Erfahrungen am Rande

Leer ohne jeden Rest

Meditation und Mantra

Lehre für alle versus Geheimlehre

Verschmelzungen

In Flammen

Alte, neue und ganz alte Riten

Eine Heilsperson und ihre Vorgeschichte

Ein lauter Trend

Im Taufbecken – Immersion

Auf der Suche nach der großen Mutter

Weiblichkeit und Ekstase

Fundamente aus Quallen – (Neo-)Schamanistische Spiritualität

Das Brausen des Heiligen Geistes – Pfingstkirchen

Biegen – Von Affektkontrolle, dem Kult des Moments und der Suche nach dem Wunder-Selbst

Zwei mächtige Gegnerinnen

Ein bisschen Seelenheil – Yoga im Westen

Sehnsuchtsland der Ekstatiker – Indien

Vipassana und die Wurzeln der Achtsamkeit

Verdünnte Ekstase und das Ich als Festung

Lean-Ecstasy in der Tech-Welt – Selbstqual und Doom-Scrolling

Microdosing, Flow und die Kontrolle des Samens

Schlucken – Von der Liebe zum Rausch, heilsamer Entäußerung und neuen Geschäftsmodellen

High sein

Psychedelic Business – Das Versprechen der Transformation Frei von Depression

Heilen ohne Rausch

Hierarchien der Ekstase

Auf Watte gebettet – Die stete Liebe zum Opiat

Befreiung der Massen oder archaisches Gesetz – Die Politik der Ekstasen

Scheut die Obrigkeit den Tanz?

Eine molekulare Revolution

Stahlgewitter reloaded und röhrende Alphamänner

Elitäre Ekstasen

Ein Ort für das Andere

Ein Kessel Buntes

Die Ekstase als existenzialer Zustand

Gern gesehene Ekstasen

Die alte Angst

Die Ethik der Ekstatik

Anmerkungen

Literatur

Sachregister

Personenregister

Das ist ein Klingen und Dröhnen,

Ein Pauken und ein Schalmei’n;

Dazwischen schluchzen und stöhnen

Die lieblichen Engelein.

Heinrich Heine / Robert Schumann (Dichterliebe)

Sometimes I want to leave my body.

Green Velvet

Die Nacht wird zum Tag gemacht – Die Rückkehr der Ekstasen

Neugier auf drüben

Wir interessieren uns für die andere Seite, und das schon immer. Das fing mit Frau Holle an, die einen von uns als Kind besonders in ihren Bann zog. Das lag an einer ganz bestimmten Szene: Die Protagonistin Goldmarie wird von ihrer bösen Stiefmutter dazu gezwungen, in den Brunnen zu springen, um die Spindel wieder heraufzuholen, die ihr zuvor hineingefallen war. Voller Angst gehorcht das Mädchen. Es fällt, landet aber nicht im dunklen Wasser, sondern verliert vorher die Besinnung. Im Märchen, wie es die Gebrüder Grimm niedergeschrieben haben, heißt es: »Als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne und waren viel tausend Blumen.«1 Das schien beim Zuhören ganz und gar nicht unmöglich: nach unten zu fallen, um oben wieder aufzuwachen – denn dass der Ort oben ist, wissen wir, Goldmarie muss die Betten von Frau Holle ausschütteln und sorgt so für den Schneefall auf der Erde. Dieser Ort schien nicht von dieser Welt, man war dort nicht bei »sich selber«.

Und auch der andere von uns versuchte schon als Kind, der spröden Realität zu entkommen. Er hatte entdeckt, dass bei langem, direktem Blick in die Sonne diese irgendwann zu vibrieren beginnt. Der Feuerball bewegt und dreht sich immer schneller, verdunkelt sich, nimmt andere Farben an – und wenn er die Augen dann abwendete, lag über der Wirklichkeit ein bunter Schleier, der in vielen Farben glühte.

Später dann, in dieser nebligen Phase zwischen zwölf und vierzehn, wenn man nicht mehr Kind ist, einem aber auch die Abenteuer der Jugend noch versperrt sind, gaben wir uns beide unabhängig voneinander, denn wir kannten uns noch nicht, einem gefährlichen Spiel hin: dem Wegdrücken oder Bewusstlosmachen, im Englischen Good Kid’s High oder Space Monkey genannt. Die Technik zirkulierte als Geheimwissen unter jenen Schülerinnen und Schülern, die im Klassenzimmer gern in der letzten Bank sitzen. Sie kam vor allem in den Toilettenräumen zum Einsatz. Erst musste man hyperventilieren, dann drückte einem jemand den Brustkorb gegen die Wand. Innerhalb weniger Sekunden verlor man das Bewusstsein, was oft zum Aufprall auf den Fliesen führte. Aber die Lust am Kontrollverlust und dem langsamen Emportreiben an die Oberfläche des Bewusstseins überwog dieses Risiko.

Als wir Musik für uns entdeckten, faszinierten uns vor allem jene Stile, die unmittelbar somatisch wirken: erst die Härte von Punk und Metal, dann – als große Leidenschaft, die uns bis heute begleitet – die Monotonie von Techno und House. Bei alldem konnten die Drogen nicht ausbleiben. Auf dem Dancefloor war das vor allem MDMA, besser bekannt unter dem treffenden Namen Ecstasy. Und mit LSD fanden wir jene Substanz, die uns auf radikale Weise aus dem Alltag und seiner Zeit riss und in diese andere Welt führte, die uns schon immer lockte, vor der wir aber auch immer Respekt hatten.

Zu diesen Bewusstseinszuständen, die man durch Musik, Tanz, Verausgabung oder Substanzen erreicht oder sich ihnen damit zumindest annähern kann, hatten wir immer ein inniges Verhältnis – und haben es bis heute. So schrieben wir im Jahr 2015, da waren wir schon lange befreundet, ein Buch über die Wiederkehr der Psychedelik.2 Dieses Verhältnis war aber auch lange Zeit ein zum Teil unbewusstes. Wir bildeten uns auf diese Leidenschaft weder etwas ein, schämten uns dafür aber auch nicht. Das lag schlicht daran, dass wir uns in Szenen bewegten, in denen alle neugierig auf die »andere Seite« waren und Lust an der willentlichen und vorübergehenden Ausschaltung der Ratio hatten. Diese Szenen werden gelegentlich als »Subkultur« beschrieben, ein Begriff, mit dem wir uns nie wohl fühlten, weshalb wir lieber Teile des Kanons nennen, der für diese Bewegungen identitätsstiftend war: Krautrock von Can, aber auch der harte Industrial-Sound von Throbbing Gristle. Balearic Disco, Acid House und Minimal Techno, DJs wie Carl Craig aus Detroit, Ricardo Villalobos aus Berlin oder Harvey aus L. A. Autoren wie Thomas Pynchon und Autorinnen wie Ursula K. Le Guin. Filme wie Ridley Scotts Blade Runner oder Godfrey Reggios Koyaanisqatsi. Drogengelehrte wie Timothy Leary oder Claudia Müller-Ebeling. Wir könnten ewig weiter aufzählen, aber es dürfte schon klar geworden sein, worum es sich handelt: um so etwas wie die Nachtseite der Kultur. Diese Obskurität hing durchaus zusammen mit den Umständen des Konsums der meist illegalen Substanzen. Man musste sich um einen Zugang bemühen, musste sich einarbeiten – auch wenn Arbeit in diesem Zusammenhang der falsche Begriff ist. Denn es machte vor allem Spaß.

Saubere Räusche

Doch vor einiger Zeit änderte sich etwas. Nicht plötzlich, sondern schleichend, und in Wirklichkeit ist dieser Prozess auch schon viel älter, beschleunigt sich aber seit etwa fünf Jahren zunehmend, sodass man ihm – hat man ihn einmal bemerkt – nicht mehr auskommt. Es fand so etwas wie ein Mainstreaming vormals peripherer Praktiken statt. Das Dunkel des Undergrounds wurde ans Licht gezerrt.

Zuerst fiel uns auf, dass anspruchsvolle psychedelische Substanzen wie LSD, Psilocybin oder DMT plötzlich sehr sichtbar wurden. Den florierenden Ayahuasca-Tourismus nach Südamerika (samt dessen medialer Aufbereitung in Lifestyle-Magazinen) und die boomende Festival-Kultur hätte man noch als Ausweitung von Nischen sehen können, wie es sie gerade in vielen Bereichen der Popkultur gibt. Aber wenn Celebritys wie Gwyneth Paltrow, die für eine überirdische Perfektion der Normalität steht, plötzlich glühende Bekenntnisse zu Magic Mushrooms von sich geben und von »life-changing experiences« berichten, ist das etwas anderes. Und wenn Managerinnen und Manager der Tech-Branche von den positiven Auswirkungen psychedelischer Substanzen auf ihre Kreativität schwärmen, wenn es zahlreiche Start-ups gibt, die diese Stoffe oder Therapien mit ihnen vermarkten und am liebsten auch noch patentieren wollen, ist das eine neue Qualität. Relativ neu ist auch das sogenannte Microdosing, mit dem versucht wird, die angeblich positiven Effekte der genannten Mittel – Kreativität, Fokus und je nach Marketingversprechen entweder Entspannung oder Wachheit – ohne den für viele beängstigenden Rausch zu erhalten (Spoiler: Das aber wohl nicht mehr Effekte als ein Placebo bewirkt). Dass medizinische Therapien und hirnphysiologische Forschung in den letzten fünfzehn Jahren eine enorme Konjunktur haben, ist ein zentraler Bestandteil dieser Phänomene, denn diese Entwicklung wirkte nach Jahrzehnten der Kriminalisierung gewissermaßen als Rammbock der Enttabuisierung – und wird auch Einfluss auf die weitere Diskussion um eine Legalisierung jenseits der von Cannabis haben.

Psychedelik ist heute nicht mehr nur das Ding einer eingeschworenen, informierten Gemeinschaft, sondern auf mysteriöse Weise prominent geworden. Der Use findet nicht mehr nur heimlich auf Raves, in Wohngemeinschaften oder im Wald statt, sondern selbstbewusst bis marktschreierisch im taghellen Licht der (Medien-)Öffentlichkeit. Das ist ein Bruch, der radikaler nicht sein könnte: Der Rausch, der über Jahrhunderte hinweg als schädlich, im besten Fall als unnütz gedacht wurde, ist plötzlich ein Tool geworden. Damit kann sehr effektiv geheilt werden, viel häufiger wird dieses Tool jedoch zur Selbstoptimierung verwendet. Oder die Rauscherfahrung dient als interessantes Feature, mit dem das eigene Selbst im Sinn der Gesellschaft der Singularitäten kuratiert wird. Das weggetretene Subjekt steht nicht mehr am Rand, sondern wandert in die Mitte der Gesellschaft, es ist leistungswillig, gesundheitsbewusst, wellnessaffin – und hat eine interessante Geschichte vorzuweisen.

Engel und Räucherholz

Längst kann das Phänomen nicht mehr nur auf die Tatsache reduziert werden, dass immer mehr Menschen ihre Liebe zu psychedelischen Drogen entdecken. Seit einigen Jahren boomen alle denkbaren Formen von Spiritualität. Sie verbindet, dass über verschiedene Methoden – manchmal sind es Drogen, oft aber auch meditative Techniken oder andere Rituale – ebenfalls Kontakt mit einer anderen Seite aufgenommen wird, mit einer Sphäre der Transzendenz. Dort wird dann je nach Spielart ein nicht klerikal definierter »Gott« verortet, Engel, alte Muttergottheiten, die Natur, das Universum, buddhistische Konzepte, manchmal jedoch auch völlig private und nicht zu vergleichende Ideen des persönlichen Glaubens. Diese florierende Spiritualität wird heute in allen Potenzen praktiziert: etwa von Menschen, die sich ganz und gar Techniken wie Yoga oder Meditation verschrieben haben, von neoheidnischen Priesterinnen, die zu Sonnenwenden ihre Rituale feiern, oder Gläubigen, die die kontemplative Tradition der katholischen Mystik wiederentdecken. Sehr viel häufiger sind es jedoch verdünnte Phänomene wie Achtsamkeit, persönliche Rituale wie der Miracle Morning oder das Räuchern mit Salbei oder Palo Santo. Aber auch das spirituell informierte Ausmisten, wie es die enorm erfolgreiche Ordnungs-Influencerin Marie Kondo vorschlägt – sie verwendet Elemente aus der animistischen Tradition des Shintō, in der jedes Ding beseelt ist –, gehört zu diesem Formenkreis, ebenso wie das unglaubliche Boom-Segment der spirituellen Lebenshilfe- und Wohlfühlbücher, wie sie etwa Laura Malina Seiler verfasst. Es ist ein riesiger Markt entstanden, der auf dem Versprechen der geistigen Transformation fußt. In Ländern, wo etwa der Konsum von psychedelischen Magic Mushrooms (Costa Rica, Kanada oder Niederlande) erlaubt ist, laden Ressorts für meist enorme Summen zum inner healing via Jenseitsreise ein, aus dem dann ein neues Ich zutage treten soll. Achtsamkeits-Workshops sind heute Teil der Firmenkultur vieler Unternehmen, ein beliebtes Werkzeug zur Verbesserung der Performance und ein gutes Geschäft für Anti-Stress-Gurus gleichermaßen. Und der Dernier Cri im Kosmos der Superreichen ist der private Tempel (früher war es mal die Kapelle) im Garten, wo man sich im holotropen Atmen übt, um Unbewusstes zutage zu fördern, meditiert oder sich schamanistischen Zeremonien hingibt.

Der Rückzug in spirituelle und abgeschlossene Gegenwelten ist heute in allen westlichen Industrienationen zu beobachten. Es ist darin unschwer ein Symptom zu erkennen, und zwar einer Krise, die auch in einer veränderten Zeitwahrnehmung begründet ist. Ein Kontinuum scheint gestört zu sein: Die Zukunft ist nicht mehr auf gewohnte Weise gestaltbar, zu unsicher erscheint sie, verdüstert sich – ökologisch, politisch und sozial. Alte, zumindest gefühlte Gewissheiten lösen sich auf. Oder aber, als ein scheinbar gegenläufiger Prozess, der sich jedoch gut zu den schwindenden Gestaltungsmöglichkeiten fügt – die Zukunft rast der Gegenwart entgegen. Etwas Neues kommt, aber nicht so, wie man es sich gewünscht hat – man denke an Elon Musks elitäre Weltraumvisionen. Die Flucht nach innen mag nicht hilfreich sein, aber sie ist naheliegend.

Und auch in der Sphäre der kulturellen Produktion treten die Themen Spiritualität, Ritualität und veränderte Bewusstseinszustände offen zutage. Schon der Blockbuster Avatar aus dem Jahr 2009 konnte als Ayahuasca-Trip samt kolonialistischen Implikationen gelesen werden. Das alte Narrativ expansive Zivilisation vs. Naturvolk – Letzteres hat über »heilige Substanzen« Zugang zu tieferen Seinsschichten – und die Kolonisierung fremder Welten liegen auch dem Remake des Films Dune (2021) zugrunde oder der vierten Staffel der Science-Fiction-Serie The Expanse (2019). Im Pop ist nicht nur der Rausch ein Ding wie seit den 1970er-Jahren nicht mehr – auch die Thematisierung der spirituellen Dimension der anderen Seite ist plötzlich mainstreamtauglich, was sich etwa daran zeigt, dass ein stadionfüllender Sänger wie The Weeknd Rainer Maria Rilkes erste Duineser Elegie vertont, in der von der Begegnung mit einem übermächtigen »schrecklichen Engel« die Rede ist – ein klassischer Text in Sachen Alteritätserfahrung. Vor allem aber in der Gegenwartskunst haben Zustände jenseits der rationalen Selbstkontrolle eine enorme Sogwirkung. Das zeigt sich in verschiedenen Ausprägungen: etwa wenn Marina Abramović sich über schmerzhafte Rituale in Trance versetzt und ihre eigene Spiritualität zum Thema macht, wenn schamanistische Kultpraktiken in Museen ausgestellt werden oder Performances informieren. Oder aber, wenn über das enorm erfolgreiche Konzept der Immersion die Kunstrezipientinnen und -rezipienten selbst in einen dissoziierten Bewusstseinszustand versetzt werden.

Neben diesen kulturelle Großtrends gibt es zahlreiche andere Phänomene der Gegenwart, die damit mehr oder weniger lose assoziiert sind. Das Zurückfahren der Sozialkontakte in der Pandemie ließ den Wunsch nach dem Dionysischen wuchern, nach dem Aufgehen in der Masse und dem Vergessen von Zeit und Ich. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Begehren nach dem Verebben der Corona-Wellen Bahn brechen wird. Viele hoffen auf eine Neuauflage des Summer of Love. Und schließlich zeigt sich die neue, alte Macht von Enthemmung und archaischer Unvernunft auch in einem Phänomen, das die meisten bisher damit nicht in Verbindung gebracht haben: in politisch rechter Mobilisierung. Nicht nur beim Kapitol-Sturm von Trump-Anhängern, sondern auch bei zahlreichen Aufmärschen gegen die Corona-Maßnahmen liefen Personen mit, die sich offensichtlich in einer Art Rausch befanden.

Ekstasen als Universaltool

Es zeigt sich also ein Muster aus Psychedelik, Spiritualität und Ritualität, das in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat und immer noch gewinnt. Darin geht es um Selbstoptimierung, den Wunsch nach Heilung, um Flucht und Rückzug ins Archaische. Aber auch die alte, uns gut bekannte Lust am Rausch spielt noch immer eine Rolle darin. Man hat es mit einem wabernden und wachsenden Trend zu tun, der sich durch enorme Heterogenität auszeichnet. Trotz aller Unterschiede haben diese Praktiken jedoch eine Gemeinsamkeit: in allen geht es um Ekstasen. Dieser aufflammenden Ekstatik wollen wir auf den Grund gehen. Denn die Gegenwart ist geprägt von Ekstasen, genauso richtig ist aber, dass auch die Ekstasen geprägt sind von Gegenwart. Im ekstatischen Erleben und Handeln schmilzt das Zeitkontinuum auf einen absoluten Augenblick zusammen, auf das Gefühl reiner Präsenz und höchster Intensität. Während also das Zeitgefühl in den Ekstasen reduziert wird und damit das Ich, wie es sich im Alltag bewähren muss, schwindet, eröffnet sich dem Subjekt eine neue Möglichkeit. Es kann sich verbinden: mit spirituellen Konzepten, mit Rauschgebilden, mit Einsichten, die ihm bisher verschlossen waren, mit der Masse der Gleichgesinnten oder aber auch mit archaischen Ideen. Die Ekstase ist also auch ein Tool, eine Art Universalwerkzeug, das an ganz viele Probleme der Gegenwart angelegt wird, um diese individuell zu bearbeiten: den Zusammenbruch der großen Zukunftserzählungen, ökologische und soziale Angst, den so wahrgenommenen Verlust von Sinn und Perspektiven. Dieses Krisenphänomen ist aber nur die eine Seite und man würde es sich zu leicht machen, alle Ekstasen in diesem Sinn als faulen Zauber abzutun. Denn genauso wahr ist, dass das Bedürfnis nach Auflösung ein existenziales ist. Und dass das Verdrängte zwangsläufig zurückkehrt – was im Augenblick geschieht.

Von unseren eigenen Ekstase-Erlebnissen, die wir oben angedeutet haben, werden wir schweigen. Durchschnittliche Trip-Anekdoten, Storys anderer Einheitserlebnisse oder Berichte wilder Nächte sind für Außenstehende etwa so spannend wie nacherzählte Träume – und das nicht zufällig. Auf diesem Gebiet machen alle Menschen ihre persönlichen Erfahrungen. Mit unseren müssen wir nicht langweilen.

Ekstasen sind auch deshalb so schwer in Worte zu fassen, weil die Erfahrungen darin außerkognitiv oder zumindest am Rande des Denkbaren stattfinden. Gleichwohl ist eine Beschreibung möglich – aber eben nur einkreisend oder metaphorisch. Sehr viel leichter lassen sich der Kontext der Ekstase, die Techniken ihrer Herstellung und ihre Einbettung in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge beschreiben.

Und schließlich geht es uns darum, diesen seltsamen, diversen und widersprüchlichen Komplex nicht nur zu erklären, sondern auch zu bewerten. Das ist notwendig, denn Ekstasen, die im Westen lange Zeit nur im Verborgenen oder in Entstellung gelebt wurden, werden sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Sie sind Bestandteil der menschlichen Natur und brauchen als solche einen Platz in der Gesellschaft. Wo der sein könnte, wird sich zeigen. In diesem Sinn hat unser Buch auch ein ganz praktisches Anliegen – eines, über das wir uns in unserer Jugend, als wir den Rausch als spaßiges Wagnis außerhalb der Gesellschaft sahen, mit Sicherheit lustig gemacht hätten: eine Antwort auf die Frage, wie ein sinnvoller Umgang mit Ekstasen aussehen könnte.

Der Gott der Ekstase – Dionysos

Ein seltsamer Gott

Als im Sommer 2021 die Corona-Pandemie für einen Moment abebbte und die Lebenslust zurückkehrte – und zwar nicht allmählich und vernünftig, sondern impulsiv und rauschhaft, oft begleitet von Alkoholexzessen und nächtlichen Krawallen Jugendlicher –, wurden diese Ereignisse natürlich im Feuilleton reflektiert. In der Welt am Sonntag stand etwa ein sehr wohlwollender Text (die kritischen überwogen bei Weitem), der unter dem Titel »Hedonismus für Einsteiger« für eine Absolution der »kommenden Ekstase« plädierte. Den Text zierte ein Bild des französischen Akademie-Malers William-Adolphe Bouguereau: Die Jugend des Bacchus (1884). Darauf sieht man den jungen Gott Bacchus, der auf Griechisch Dionysos heißt (beide sind nicht völlig identisch, denn in den römischen Bacchus geht auch die Tradition eines italischen Fruchtbarkeitsgottes ein), wie er mit seiner Schar durch Bergwälder streift. Um ihn tanzen nackte Frauen und Männer, offensichtlich bahnt sich eine Orgie an.

Es ist interessant, dass auch heute noch das Bild eines antiken Gottes bemüht wird, wenn es darum geht, Ekstasen zu illustrieren. Während andere Götter des Olymps – mal abgesehen vom blitzeschleudernden Zeus und von Poseidon, dem Namensgeber üppiger Fischplatten in griechischen Restaurants – heute denkbar fremd sind, ist Dionysos bis in die Gegenwart greifbar. Seine Figur steht für all das, was etwa während der Corona-Krise prekär war: Ausschweifung, Sexualität, Auflösung in der Masse. Er ist nicht nur der Gott des Rausches (woraus dann etwas verniedlichend Bacchus, der Gott des Weines wurde), sondern auch der des Wahnsinns. Und er verkörpert auch eine archaische, ganz und gar vorzivilisatorische Welt. Kurz: Dionysos war ein durch und durch seltsamer Gott und trotz seiner fröhlichen, hedonistischen Erscheinung gefährlicher als alle anderen Götter. Aber, so die Überzeugung im antiken Griechenland, man musste eben mit ihm auskommen – und von diesem komplexen Verhältnis zeugen die Kulte und Mythen um Dionysos.

Es war Friedrich Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) Dionysos zu allgemeiner Popularität in der Moderne verhalf. Er stilisierte ihn als Antipoden zu Apollon: Dieser stehe für die Ordnung, für das Maß, für die Begrifflichkeit und Vernunft. Dionysos hingegen für den Rausch, die Schaffenskraft und die Überwältigung, für die Zerreißung des »principium individuationis«, also des Daseins radikal voneinander getrennter Individuen und Wesenheiten. Nietzsche wollte damit sowohl zwei grundsätzlich verschiedene Eigenschaften des menschlichen Daseins beschreiben als auch die Mechanik des ästhetischen Schaffensprozesses und nicht zuletzt ein Kräfteverhältnis in Kunstwerken. Die von ihm dramatisierte Opposition ist jedoch mehr an den Opern Richard Wagners interessiert als am historischen Dionysos-Kult oder an dessen Mythos. Betrachtet man die griechische Götterwelt, fällt auf, dass Dionysos eine seltsame Randstellung hat. So gibt es einen alten Streit darüber, ob er zum engeren Kreis der zwölf olympischen Götter, also zu den »Hauptgöttern« zu zählen ist. Das hat vor allem einen Grund: Dionysos hat eine sterbliche Mutter, Semele. Die Berliner Religionswissenschaftlerin Susanne Gödde hat viel zu Dionysos geforscht, sie urteilt im Interview: »Einen göttlichen Vater und eine sterbliche Mutter zu haben, bedeutet ja eigentlich, dass man ein Heros ist, ein Halbgott, wie Achill. Dionysos jedoch wird als Gott verehrt, aber er ist dadurch natürlich ein ›angeknackster‹ Gott. Ihm fehlen fünfzig Prozent Unsterblichkeit. Und das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Er ist der Einzige unter den griechischen Göttern, der die volle Göttlichkeit nicht erfüllt.« Diese Sonderstellung zeigt sich in einzelnen Mythen. Während sich andere Götter stets auf ihre übernatürliche Stärke verlassen und alles Irdische zerschmettern können, ist Dionysos manchmal schwach. Er zeigt dann typisch menschliche Eigenschaften wie Angst, er wird verfolgt und muss fliehen. In einem späten Mythos stirbt er sogar – eine absolute Ausnahme in der Götterwelt.

Aber Dionysos ist auch ein mächtiger Gott. Dargestellt wird er meist als zarter, fast femininer Jüngling, er ist kein muskelbepackter Alphamann wie Zeus oder Poseidon. Doch er besitzt eine ganz besondere Macht: Er kann Menschen in den Wahnsinn treiben. In dieser Eigenschaft wird er von den Griechen als »epidemisch« bezeichnet. Er fällt von außen ein, als das denkbar Fremde, verbreitet sich wie eine Krankheit – und »verrückt« die Menschen. Lange Zeit wurden diese seltsamen Eigenschaften so gedeutet, dass Dionysos ein »importierter Gott« sei, der aus dem Orient oder gar dem barbarischen Norden in die patriarchal geordnete Götterwelt Griechenlands »eingewandert« sei, woraus seine »Outlaw-Position« folge. Als Argument dafür galt immer, dass Dionysos bei Homer, der das frühe Griechentum repräsentiert wie kein Zweiter, so gut wie nicht vorkommt. Susanne Gödde widerspricht dieser Darstellung, indem sie darauf hinweist, dass Dionysos schon auf den Linear-B-Tafeln der Mykenischen Kultur, also im 15. bis 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, erwähnt wird. Gödde: »Ich glaube, diese Fremdheitszuschreibung – sei es in der Antike, sei es in der Moderne – hat etwas damit zu tun, dass er die Menschen in einen Zustand versetzt, der etwas fundamental Fremdes ist: nämlich in den Rausch oder die Ekstase. Dionysos ist ein fremder Gott, aber nicht geografisch fremd, sondern hinsichtlich der Wirklichkeit, die er bei den an seinem Kult Teilnehmenden erzeugt.«

Die bedeutendste griechische Quelle, die wir über Dionysos haben, ist das Stück Die Bakchen des Dramatikers Euripides aus dem Jahr 406 vor unserer Zeitrechnung. Es ist eine der unheimlichsten griechischen Tragödien und eine, die bis heute bewegt, was die zahlreichen Adaptionen zeigen. Die Geschichte ist für griechische Verhältnisse vergleichsweise einfach: Der Gott Dionysos kommt aus Asien, das er seinem Kult unterworfen hat, nach Theben, wo seine Mutter begraben liegt. In der Stadt erscheint er als attraktiver Jüngling, was König Pentheus argwöhnisch bemerkt: »Dem Aussehen nach bist du, Fremdling, nicht übel, so nach Weibsgeschmack, wozu du ja nach Theben kamst. Denn deine Locke, lang, nicht wie’s zum Ringplatz passt, ergießt sich über deine Wange, schmachtend, süß. Weiß hältst du dir die Haut, sie sorgsam pflegend, fern den Sonnenstrahlen, ständig in des Schattens Schutz, um Liebe zu erjagen, durch der Schönheit Reiz.«1 Der König, ein Vertreter der Ordnung, weiß nicht, wer vor ihm steht, vor allem aber erkennt er Dionysos nicht als Gott an. Dessen toter Mutter unterstellt er, Unzucht getrieben und die Liaison mit Zeus nur erfunden zu haben. Dionysos aber hat seine Macht längst geltend gemacht. Unter den Frauen Thebens verbreitet er den göttlichen Wahnsinn, er lässt sie in Ekstase verfallen: Sie werden zu »Bakchen«. Bakchos, auf den auch der römische Name des Gottes, Bacchus, zurückgeht, ist ein Beiname des Dionysos. Er bezieht sich auf das Verb bakcheuein, schwärmen (und zwar im räumlichen Sinne, also umherschweifen). Dionysos ist Bakchos, weil er seine Anhängerinnen (es sind nur Frauen) zum ekstatischen Schwärmen in den Wäldern anstiftet.

Dieses »Schwärmen« ist keine harmlose Landpartie, sondern vielmehr Urbild der Ausschweifung. Ein weiterer Beiname des Dionysos ist »Bromios«, der Lärmende. Seine Anhängerinnen machen eine Menge Lärm, vor allem mit dem Tympanon, der Handpauke. Dazu schwingen sie den Thyrsos, den Stängel des Riesenfenchels, an dessen Spitze ein Pinienzapfen befestigt ist. Schlagen sie mit diesem auffallend phallischen Kultstab gegen Felsen, sprudelt Wein hervor, berichten die Boten des Königs Pentheus. Aber sie erzählen noch Ärgeres: Die Bakchen werden in der Ekstase selbst zu wilden Bestien. Mit bloßen Händen erlegen und zerreißen sie im Wald Tiere. Damit ist das Ende des Königs vorweggenommen. Immer noch an der Macht des Gottes zweifelnd, will er das wilde Schwärmen der Frauen dann doch beobachten, die Neugier treibt ihn in den Wald. Doch die Frauen entdecken den Spanner, schütteln ihn vom Baum – und zerreißen ihn so, wie sie es mit den Wildtieren tun. Seine eigene Mutter, Agaue, steckt Pentheus’ Kopf auf den Thyrsos und marschiert so mit den übrigen Bakchen in Theben ein.

Auch heute noch befremdet die Drastik des Stücks. Was wollte Euripides den Athenern damit sagen? Dass die Macht des Gottes unbedingt anzuerkennen ist? Dass es keinen Sinn hat, sich dessen Aufforderung zur Ekstase zu widersetzen, dass diese sonst nur blutig wird? Interessant ist, wie diese Ekstase dargestellt ist. Vielleicht nicht ganz zufällig erscheint Dionysos hier mit Attributen, die auch in schamanistischen Kontexten auftauchen. Die Pauke, die Flöten, der Lärm, all das deutet darauf hin, dass die Ekstase durch eine Technik hergestellt wird. Dann Dionysos selbst: Er wird nicht nur als junger, femininer Mann dargestellt, sondern ist auch in ein Leopardenfell gehüllt – eine Besonderheit in der griechischen Götterwelt, in der sonst strikt Hüftschurz angesagt ist. Dazu passt auch, dass Dionysos oft von gefährlichen wilden Tieren umgeben ist, die in seiner Gegenwart jedoch zahm wie Schoßhündchen sind. Wieder muss man an schamanistische Mischwesen aus Mensch und Tier denken, genauso wie bei der Tatsache, dass die Jagd und der Fleischverzehr der Bakchen eine so zentrale Rolle spielen – laut der Ethnologie entstand der Schamanismus ja als eine Art Jagdzauber.

Fraglich ist, welche Rolle die sexuelle Komponente spielt. Sexualität ist eine Art Grundierung des Stücks. König Pentheus beschuldigt den viril-jungenhaften Dionysos nicht nur, ein Schürzenjäger zu sein. Es ist sein eigener Voyeurismus, der ihn schließlich in den Tod reißt. Bleibt die Frage, wieso es nur Frauen sind, die Dionysos in Ekstase versetzt, wieso im Wald keine gemischtgeschlechtlichen Orgien stattfinden. Geht es darum, dass der Potenz des Gottes nicht die eines irdischen Mannes in die Quere kommen soll? Vermutlich muss man das Verhältnis eher strukturell denken: Der Wald der Ekstase wird als Gegenpol zur zivilisierten Stadt stilisiert. In dieser herrscht die männliche Macht, verkörpert durch König Pentheus. Da ist es konsistent, dass der Wald der Ort der Frauen ist. In der Ekstase stehen sie zwar unter der ungezähmten Macht des Dionysos – aber nicht mehr unter der des Patriarchats. Diesem, und damit der gesamten Ordnung in der Polis, wird der Kopf abgerissen – und auf einen Phallus gesteckt.

Rasende Frauen in den Bergen

Im Mythos – denn es ist davon auszugehen, dass Euripides in seinen Bakchen allgemeines Wissen dramatisierte – war Dionysos also tatsächlich der gefährliche Outlaw-Gott. Umso erstaunlicher ist es, dass er im religiösen Leben der Antike einen festen Platz hatte. Und zwar einen, der im kultischen Kalender quasi bürokratisch verzeichnet war, was dem Bild des »epidemischen Gottes«, der unkontrolliert einfällt und eine ganze Stadt oder gar ein ganzes Land in taumelnde Ekstase versetzt, deutlich widerspricht. Im antiken Griechenland gab es mehrere Feiern oder Kulte, die explizit Dionysos und der Ekstase gewidmet waren. Bei den sogenannten Großen Dionysien handelte es sich um eine Art Theaterfestival, Ekstase spielte hier nur insofern eine Rolle, als der Schauspieler auf der Bühne ja auch »außer sich« ist. Noch deutlicher wurde die Rolle der wilden Frauen jedoch bei der Oreibasie – wörtlich übersetzt heißt das so viel wie »Rennen in den Bergen«. Sie fand zweijährlich in Theben und auf dem Parnass bei Delphi statt und war ein Ritual zu Ehren des Dionysos, das dem von Euripides beschriebenen wilden Schwärmen erstaunlich ähnelte – und dann doch etwas komplett anderes war. Die Gemeinsamkeiten sind schnell erzählt: Eine Gruppe von Frauen rannte bis zur Erschöpfung durch den Bergwald. Umstritten ist die Frage, wie viele Teilnehmerinnen es waren. Susanne Gödde zitiert einen Forscher, der etwas pointiert formuliert, es sei nicht klar, ob ihre Zahl 30 oder 30 000 betrug. Der genaue Ablauf der Oreibasie liegt im Dunkeln. Gödde denkt, dass der Kult durchaus ekstatisch war. »Es war wohl eine Art Prozession, in der Tanz und Gesang zum Einsatz kamen. Vermutlich wurden noch Fackeln geschwungen, die Frauen haben sich ausgelassen bewegt und sind gerannt, so dass man durchaus von Rausch und Kontrollverlust sprechen kann. Das ewige Vergleichsbeispiel ist unser Karneval.«2 Denkbar ist auch, eine Inschrift deutet darauf hin, dass Omophagie – der Verzehr von rohem Fleisch – eine Rolle spielte. Wie im Euripides-Stück werden im Kult mehrfache Differenzen aufgemacht: Stadt vs. Wald, Zivilisation vs. Wildheit, patriarchale Ordnung vs. Schwärmen der Frauen.

In krassem Widerspruch zur Inszenierung von ungezügelter Ekstase stand jedoch, dass diese akribisch geplant war. Bei den Teilnehmerinnen handelte es sich nicht etwa, wie Euripides es erzählt, um alle Frauen der Polis, sondern um eine Art gewählter Abordnung. Die Teilnehmerinnen der Oreibasie kamen aus der privilegierten Bürgerschicht und waren vorzugsweise verheiratet – das schien dann doch sicherer zu sein, als wenn ungebundene Frauen an so einer ekstatischen Veranstaltung teilnähmen. Sollte das freie Schweifen in den Bergen eine Art Kompensation für die tatsächlich sehr beschränkten Bewegungsmöglichkeiten von Frauen in der Polis gewesen sein, was die Forschung gelegentlich behauptet, wäre das ein ziemlich dünnes Substitut gewesen: Alle zwei Jahre dürfen einige Frauen für ein paar Stunden wild sein, danach geht es schnell wieder zurück in die häusliche Abgeschiedenheit. Susanne Gödde spricht davon, dass diese Deutung eines gewissen Zynismus nicht entbehrt.

Man hat es bei Dionysos mit einem sehr komplexen Verhältnis zu tun. Auf der einen Seite gibt es das, was Gödde einen »Widerstandsmythos« nennt. Der Gott der Ekstase wird als Gefahr für die Ordnung dargestellt und deshalb von Repräsentanten dieser Ordnung – am prominentesten vom mythischen König Pentheus – bekämpft. Diese Widerstandsmythen, die es nur bei Dionysos gibt, haben eine seltsame Struktur. Denn die von Dionysos verhängte Strafe ist identisch mit der ordentlichen Kultausübung: zum Wahnsinn gesteigerte Ekstase. Gödde: »Es ist auffällig, dass in den Widerstandsmythen immer die Gegnerschaft des Dionysos stark gemacht wird. In der Realität wissen wir von solchen Gegnern nichts – abgesehen von einem Ereignis, dem römischen Bacchanalien-Skandal aus dem Jahr 186 vor unserer Zeitrechnung, bei dem es zu staatlichen Maßnahmen gegen den Dionysos-Kult kam. Aber das scheint eine strikte Ausnahme zu sein. Daher gehen wir davon aus, dass der Kult unwidersprochen ausgeübt wurde und sicherlich weniger gewaltsam als in den Erzählungen. Er gehörte zum Kultkalender wie jedes andere Götterfest auch.«

Lösende Ekstase

Dieser Widerspruch zwischen Mythos und Praxis ist jedoch nicht die einzige Besonderheit des Ekstasegottes. In der griechischen Kultur herrschte eine besondere Vorstellung sowohl vom Leben als auch vom Tod. Helden wie Schufte erwartete dasselbe trübe Schicksal. Sie gingen, wie alle Sterblichen, nach ihrem Tod in den Hades ein, einen Ort des Nebels und der Kälte, wo sie ein trostloses Dasein als schweigende Schatten fristeten. Oft wird diese düstere Zukunftsvision als Erklärung für den Schaffensdrang der Griechen herangezogen, den man wiederum als Zeichen eines heroischen Lebenswillens interpretiert. Erst das Christentum mit seinem Hoffen auf ein glückliches Leben nach dem Tod habe, so etwa Nietzsche, die diesseitigen Menschen schwach, ängstlich und klein gemacht. Das ist nicht uninteressant, gerade im Blick auf das Verhältnis von Zukunft und Gegenwart – strahlt diese wirklich zwangsläufig, wenn jene düster ist?

Diese Konstruktion der griechischen Jenseitsvorstellung ist jedoch etwas zu einfach, genauer: Auch hier klaffen Mythos und Praxis auseinander. Zwar überwiegt in den literarischen Quellen die Version des Hades als eines auf Dauer gestellten Novembers. Im religiösen Alltag jedoch gab es auch eine andere Option namens Mysterienkulte. Diese entstanden im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und man kann sie sich als einen exklusiven Club vorstellen. Interessierte – und das waren nicht nur Reiche; Mysterien standen sogar Sklaven offen – konnten sich einweihen lassen, erhielten Zugang zu geheimem Wissen und die Aussicht auf Glück, sowohl im Diesseits wie auch im Jenseits. Die berühmtesten Mysterien waren die in Eleusis zu Ehren der Korn- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. In Bezug auf Ekstasen sind sie relevant, denn es gibt die von LSD-Entdecker Albert Hofmann mit guten Argumenten und mythologischem Sachverstand vorgetragene These, in Eleusis seien Halluzinogene zum Einsatz gekommen. Aber es gab noch einen zweiten Gott, in dessen Geheimnisse man sich einweihen lassen konnte, und das war Dionysos. Ihn und Demeter verbindet eine Eigenschaft, die beide wiederum mit dem Leben nach dem Tod assoziiert: Sowohl Demeter als auch Dionysos kennen das Leiden, die Angst und die Trauer. Demeter muss diese typisch menschlichen Gefühle kennenlernen, als ihre geliebte Tochter Persephone vom Gott der Unterwelt geraubt wird. Und Dionysos ist manchmal ein »schwacher Gott«, der verfolgt wird, fliehen muss, Angst hat und in einem Mythos sogar zerrissen wird – eine seltsame Spiegelung der Strafe, mit der er seinen Widersacher Pentheus belegt. Während die Mysterien zu Ehren der Demeter an einem festen Ort, Eleusis bei Athen, und zu vorgeschriebenen Zeiten stattfanden, scheinen die Dionysos-Mysterien unregelmäßiger gewesen zu sein. Als Zeugnis wurde den Eingeweihten aber ein kleines Goldplättchen übergeben, das diesen als »Totenpass« mit ins Grab gelegt wurde: als eine Art Dokument für das Jenseits. Auf vielen dieser archäologischen Fundstücke finden sich winzige Gravuren, die besagen, dass Dionysos die eingeführte Person »gelöst« habe. Der Gott taucht in diesem Zusammenhang deshalb gelegentlich auch mit dem Beinamen »Dionysos Lysios« auf, der lösende Dionysos.

Wie bei vielen anderen antiken Kultpraktiken, so stellt sich auch bei den dionysischen Weihe-Riten das Problem, das über den genauen Ablauf so gut wie nichts bekannt ist. Aber es gibt Indizien. Gödde schreibt: »Im ›Phaidros‹ lässt Platon Sokrates kurz über den dionysischen Rausch sprechen. Dem dionysischen Wahnsinn wird hier weder in erster Linie eine beseligende oder entgrenzende, noch eine zerstörerische Wirkung nachgesagt, sondern eine heilende und lösende, also therapeutische. Objekt dieser Heilung sind Leid, Not, aber auch alte Flüche, und es hat ganz den Anschein, als dächte Platon hier an herumziehende Wanderprediger, die, vermutlich gegen Geld, Weihen und Riten vollzogen und ihren Kunden dafür die Befreiung von ihrer physischen oder moralischen Pein versprachen.«3 Eine entscheidende Frage ist nun, welche Rolle die Ekstase im Vollzug dieses »Lösens« gespielt haben könnte. Gödde, als universitäre Wissenschaftlerin vorsichtig in der Spekulation, schreibt: »Die Initianden, denen die oben erwähnten Goldplättchen im Jenseits eine Stimme verleihen, sprechen davon, dass Dionysos sie ›gelöst‹ habe. Das wird gelegentlich auf die Erlösung aus dem irdischen Leben oder auf die Vergebung von Schuld bezogen. Doch könnte es nicht auch auf die befreiende ekstatische Erfahrung anspielen? Das Lösen der Haare und der Kleider etwa – vergleichbar mit dem des Gürtels als Hinweis auf einen erotisch-sexuellen Akt – begegnet auch in Euripides’ Bakchen als Indiz der beginnenden Ekstase.«4 Gut denkbar ist also, dass ekstatische Rituale – vergleichbar der Oreibasie, dem »Rennen in den Bergen« – nicht nur bei öffentlichen Kultfesten zum Einsatz kamen, sondern auch »privat«, in einer proto-therapeutischen Einweihung, in der von einer Last entbunden wurde. Ein Ereignis, das als so bedeutsam galt, dass es sogar noch nach dem Tod wirkte. Vielleicht ist aber die vermutlich nicht mehr zu beantwortende Frage, ob im dionysischen Mysterienkult die Initianden tatsächlich ekstatisch getanzt, geschrien oder sich gewälzt haben, auch gar nicht wichtig. Entscheidend ist dass diese Art der »lösenden Einweihung« eben mit dem Ekstasegott Dionysos verbunden war – und mit keinem anderen.

Das führt zu der Frage, wer oder was Dionysos eigentlich war – und bis heute ist. Man darf sich einen Gott sicher nicht als präzise konstruiertes Konzept vorstellen, das verschiedene Eigenschaften widerspruchsfrei vereint. Was Gottheiten jedoch aufweisen, ist eine konzise Erzählung. In der kann es durchaus Merkwürdigkeiten oder dunkle Aspekte geben, nicht anders verhält es sich übrigens bei Jesus. Aus der Tatsache aber, dass diese spezielle Gottheit sich evolutionär durchsetzte und hielt, kann man schließen, dass sie eine Funktion erfüllte. Dass sie den Menschen als plausible Persönlichkeit erschien, die – und das ist ein wesentlicher Punkt – etwas mit ihnen zu tun hatte. Oder wie Susanne Gödde es im Interview ausdrückt: »Natürlich bedienen die Mythen und Kulte, und vor allem deren Verknüpfung, immer auch etwas Psychologisches. Sie betreffen, auch affektiv, sehr grundlegende Dimensionen des Menschseins.«

Der »seltsame Gott« Dionysos vereinigt offensichtlich Elemente, die den Menschen vertraut waren – als Aspekte der Ekstase. Seine Randstellung im Olymp, seine vermeintliche Herkunft aus dem Osten, sein infektiöses »Einfallen«, seine plötzliche Erscheinung, auch Epiphanie genannt: All das verweist auf Fremdheit der Ekstase, in der das Subjekt eben nicht mehr »Herr im eigenen Haus« ist. Davon, dass diese Überwältigung brutal ist und man sich ihr fügen muss, erzählt Euripides. Dass es verschiedene Spielarten der Ekstase gibt – sexuelle, berauschte, kultische – ist ebenfalls in Dionysos’ Persönlichkeit angelegt. Er verweist darauf, dass die unterschiedlichen Ekstasen leicht ineinander überführt werden können, sich stützen und letztlich ein und dieselbe sind. Seine Attribute – Leopardenfell, phallischer Kultstab und Pauke – stehen sowohl für die Herstellung der Ekstase durch Musik und Tanz als auch für deren frühzivilisatorische, auf jeden Fall sehr alte Herkunft. Und all die weichen Attribute – seine nicht ganz olympische Abstammung, seine Schwäche und Angst – stehen zu seiner Macht nur in scheinbarem Widerspruch. Als gebrochener Gott ist Dionysos sicher menschlicher als die anderen Olympier. Seine Lektion lautet, dass die Ekstase, gerade in ihren niederen, unappetitlichen Aspekten, fester Teil des Menschseins ist. Dass sie aber auch »göttlicher Wahnsinn« ist, und zwar in doppeltem Sinn, dass sie einen auf übermenschliche Weise überwältigt, jedoch auch transzendiert. In der Ekstase öffnet sich der Mensch einer Instanz, die er als göttlich beschreibt.

In der Antike mögen all diese Aspekte den am Kult Teilnehmenden präsent gewesen sein, vielleicht nicht bewusst und zergliedert, aber sie füllten die Figur Dionysos mit Leben. Diese Tradition brach mit der Christianisierung ab und Dionysos wurde zu einer rein literarischen Figur – allerdings zu einer, die wegen ihrer rauschhaften »Plötzlichkeit« seit dem Beginn der Moderne eine enorme Anziehungskraft hatte, was der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer an der Bedeutung des Dionysos für avantgardistische Dichter wie Hölderlin, Valéry, Pound und Rilke zeigt. Für uns ist ein anderer Punkt von Interesse: dass im Dionysos-Mythos erstmals Aspekte der Ekstase angesprochen wurden, die bis heute den Diskurs über sie bestimmen, die Nähe von Ekstase und Gewalt etwa. Der Rausch erscheint an sich schon als gefährlich, die Gefahr wird jedoch dadurch potenziert, dass er mit Gewalt assoziiert wird. In der Geschichte der Drogengesetzgebung etwa wird weniger der Rausch an sich skandalisiert (eine private Erlebensform zu kriminalisieren ist nicht so einfach) als vielmehr dessen Auswirkungen. Etwa in den USA der 1920er-Jahre, als argumentiert wurde, dass Marihuana dessen (natürlich nur Schwarze und hispanische) User zu vermeintlichen Mördern und Vergewaltigern mache. Auch scheinen Dionysos-Orgien bis heute als Blaupause für jede Party zu dienen, die irgendwie aus dem Ruder läuft. Aber auch in anderer Hinsicht nahmen die Dionysos-Kulte einen Trend der Gegenwart vorweg, oder eher: Sie bearbeiten erstmals ein Problem, das bleiben wird. Wenn in zeitgenössischen Therapien etwa Sterbenden mit ekstatischen Techniken die Angst vor dem Tod oder dem Nichts nach dem Tod genommen wird, steht das natürlich nicht in einer direkten Traditionslinie zu den dionysischen Mysterien. Aber in beiden Fällen kommt dasselbe Werkzeug zum Einsatz: Die Ekstase wird als Bollwerk gegen den Tod errichtet, im hellen Licht der absoluten Gegenwart soll das Dunkle der Zukunft weichen.

Technik, Gegenwart, Vereinigung – Eine neue Definition der Ekstase

Lauter Schwierigkeiten

Wenn wir von Ekstase sprechen, begeben wir uns auf dünnes Eis. Der Begriff macht Schwierigkeiten. Zum einen bezeichnet er Dinge, die nicht gerade verwandt sind. Niederes und Hohes, Friedliches und Blutiges, Erhabenes und Banales, Schönes und Trauriges: Überall können Ekstasen oder ekstatische Momente entstehen. Im archaischen Schamanismus genauso wie im modernen Lifestyle, beim Geschlechtsakt, beim Gebet und während der Meditation, im Flow-Zustand beim Sport oder bei extremer Konzentration, in eingeübter Achtsamkeit, beim Tagträumen, im Tanz, in der blinden Wut des Kampfes, beim Jubel im Stadion, spontan im Alltag und im Drogenrausch. Das alles ereignet sich an verschiedenen Orten, in verschiedenen Gemeinschaften, mit verschiedenen Regeln und zu verschiedenen Zwecken. Das Erlebte wird zum Teil mit anderen Namen beschrieben, wie Trance, Raserei oder Verzückung. Sie sind ähnlich unscharf wie die Ekstase, aber überlappen mit ihr. Doch es verbindet sie eine Art des Erlebens, die noch aus einem zweiten Grund schwierig zu definieren ist. Der Begriff der Ekstase bezeichnet einen Zustand, der quer steht zu den Grundfesten unseres Denkens und unserer Selbsterkenntnis und damit zur Sprache, mit der wir im nüchternen Zustand die Welt erfassen. Man hat es mit einer paradoxen Situation zu tun: In der Ekstase greifen Begriffe nicht mehr gut oder spielen keine Rolle mehr. Die ekstatische Erfahrung kann also nur schief in Sprache übersetzt werden. Man muss sich der Sache also näherungsweise widmen, und dabei helfen Literatur, Philosophie, Anthropologie und Neurologie.

Das Wort Ekstase stammt vom Griechischen Ekstasis, was für »herausragen«, »herausstehen« oder »aus sich herausgehen« steht. Ekstasis bezeichnete schon in der Antike einen Zustand des »außer sich seins«, der zwei Ausprägungen hatte: das pathologische »nicht bei Trost sein«, und das erhabene »in Verzückung sein«. Die griechische Antike kannte zahlreiche »herausgetretene« Zustände, die auch von Philosophen, etwa von Platon, diskutiert wurden. So wurde von Letzterem die Möglichkeit erkannt, dass ein Heraustreten aus dem Alltagsverstand, der immer auch als ein befangener erachtet wurde, eine Schau ewiger Ideen oder des Göttlichen ermögliche. Aber jener Zustand wurde weder einheitlich auf einen Begriff gebracht noch systematisiert. Er blieb ein Nebenaspekt. Gefüllt, und zwar im Übermaß, wurde das Konzept der Ekstase von der christlichen Mystik im Mittelalter. In unendlich komplizierten und verschlungenen Gedankengängen wurde erörtert, wieso man in der Verzückung nicht bei sich, sondern bei oder gar in Gott sei. Allerdings war das ein schwieriges Unterfangen, denn stets drohte der Teufel, die Weggetretenen zu sich zu locken. Dass die auf Rationalität erpichte Aufklärung Zustände außerhalb oder jenseits der Vernunft entweder als Krankheit oder – das galt gewissermaßen als dasselbe – als Wesensmerkmal von Wilden abqualifizierte, überrascht wenig. Die Überzeugung, dass Ekstasen Ausdruck einer unreifen Kulturstufe seien, leitete auch noch die frühe Soziologie und Ethnologie. So äußert sich der französische Soziologe Émile Durkheim 1912 in seiner Studie Die elementaren Formen des religiösen Lebens ziemlich abschätzig über das ekstatische Erleben archaischer Völker: »Weil die Empfindungen und Leidenschaften des Primitiven nur unzulänglich seiner Vernunft und seinem Willen unterworfen sind, verliert er leicht die Selbstbeherrschung. […] Man kann sich leicht vorstellen, dass sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln.«1 Es ist offensichtlich, dass dieses Urteil Ausdruck kolonialen Hochmuts ist – das Zitat stammt aus einer Studie Durkheims über australische Indigene. Die zugrunde liegende Erkenntnis aber, dass in archaischen Gesellschaften Ekstasen eine wichtige Rolle spielen, ist nicht von der Hand zu weisen. Ebenso wenig die Tatsache, dass im Prozess der Modernisierung Ekstasen keinen Platz mehr haben, dass sie im rationalen Gefüge der Gesellschaft weder funktional noch erwünscht sind.

Blutige Anthropologie

Tödlich gelangweilt von der Rationalität der modernen, westlichen Gesellschaften war ein Landsmann Émile Durkheims: der Schriftsteller und Philosoph Georges Bataille. Bis heute ist er einer der wichtigsten, wenn nicht der Theoretiker der Ekstasen. Bataille war ein Störenfried und Außenseiter der Philosophie. Eigentlich war er ein Surrealist, der sich aufs Theoretisieren verlegte, eng verstrickt mit Jacques Lacan, dem radikalen Neu-Denker der Psychoanalyse. Batailles erratisches Denken, seine drastischen Themen und seine oft kryptische Sprache waren einflussreich für den Poststrukturalismus in Frankreich, für Philosophen wie Michel Foucault und Roland Barthes. Aber im universitären Betrieb kam Bataille nie unter, auch spielen seine Schriften in der akademischen Philosophie heute keine große Rolle. Bataille beschäftigte sich mit Ökonomie, mit Kunst, Religion und vor allem mit Sexualität. Sein Werk ist komplex und wild, kreist aber immer wieder um ein Thema: Er denkt den Menschen und die Gesellschaft von Extrempunkten her. Nicht die Ordnung interessiert ihn, sondern der Exzess, nicht das Haushalten, sondern die Verschwendung, nicht Gerechtigkeit, sondern Gewalt. Und vor allem nicht das nüchterne Urteilen und Handeln, sondern jene Zustände, in denen das Individuum nicht bei sich ist, sondern von einer Macht ergriffen wird, die stärker ist als es selbst.

In seinem Buch Die innere Erfahrung aus dem Jahr 1953 versucht Bataille, die Ekstase zu greifen. Sein Anliegen ist es, sie aus dem strengen religiösen Rahmen der christlichen Mystik zu lösen und in ihr eine allgemeine Form der Grenzüberschreitung zu sehen. Batailles Programm: »Ich verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung. Aber ich denke weniger an die konfessionelle Erfahrung, an die man sich bisher halten musste, als an eine entblößte Erfahrung, die selbst ihrer Herkunft nach von Bindungen an einen beliebigen Glauben frei ist.«2 Bataille nähert sich der inneren Erfahrung zum einen von einer ziemlich banalen, alltäglichen Situation. Er beschreibt, wie er zufällig in eine Träumerei verfällt. Als er nachts auf einer Veranda sitzt, greift die Ruhe der Umgebung auf sein Bewusstsein über: »Ich verspürte ihre Gegenwart im Inneren des Kopfes wie ein undeutliches Rieseln, das schwer zu greifen war, jedoch an der Ruhe des Draußen partizipierte.«3 Ein anderes Mal fährt er durch eine Frühlingslandschaft: »Ich erinnere mich, dass ich eine Glückseligkeit gleicher Art mit großer Klarheit im Auto kennengelernt hatte, während es regnete und die Hecken und Bäume, noch kaum mit zartem Laub bedeckt, aus dem Frühlingsnebel auftauchten und langsam auf mich zukamen. Ich ergriff Besitz von jedem nassen Baum und verließ ihn nur betrübt um eines anderen Willen.«4 Das sind Situationen, die vielen vertraut sind: Der innere Monolog stoppt, die Selbstbeobachtung pausiert – man ist ganz und gar ergriffen von etwas anderem, und seien das so banale Dinge wie nasse Bäume im Nebel. Bataille betont aber, dass diese spontane, zufällig sich einstellende »innere Erfahrung« immer äußerst fragil ist und nur für Augenblicke Macht über einen hat.

Die andere Seite, von der aus Bataille sich den Ekstasen nähert, ist das denkbare Gegenteil: der blutige Exzess. Bataille meint in den verzerrten Gesichtern zu Tode Gemarterter eine Verzückung zu erkennen, den Ausdruck eines sich selbst transzendierenden Bewusstseins. Er ist nicht der Erste, der Ekstasen so verstehen will – als ein Jenseits des Schmerzes, das man aber nur erreicht, wenn man die äußersten Qualen durchlebt. Das frühe Christentum mit seiner wahnhaften Verehrung von Märtyrerinnen und Märtyrern – keine Todesart war exzentrisch genug, um nicht lustvoll ausgemalt zu werden – stand dafür offensichtlich Pate. Hier muss man Bataille nicht folgen, diese Sichtweise ist Ausdruck einer fiebrigen Anthropologie, die in blutigen Menschenopfern auf bunt imaginierten Aztekentempeln die höchste menschliche Kulturstufe zu erkennen glaubt. Neben diesen beiden Extremformen der Ekstase – dem Träumen und der Marter – nennt Bataille noch andere, gewissermaßen dazwischen liegende Phänomene: etwa die religiöse Mystik, vor allem aber die Erotik.

Uns interessieren daran zwei Aspekte. Zum einen beschäftigt sich Bataille mit der Frage, wer oder was in der Ekstase eigentlich anwesend ist. Das gewöhnliche Ich, das im Alltag die Kontrolle innehat, ist es offensichtlich nicht. Die Ekstase ist ja gerade von dessen Verschwinden gekennzeichnet. Gleichzeitig ist aber immer noch eine Instanz vorhanden, die all das erlebt und die zum Ich in einem derartig engen Verhältnis steht, dass dieses im Nachhinein eine zumindest bruchstückhafte Erzählung der inneren Erfahrung äußern kann. Bataille behilft sich mit einem Kunstgriff. Neben dem nüchternen Alltags-Ich, das vor allem dadurch bestimmt ist, dass es dem »Diskurs« unterworfen ist, einer sprachlich organisierten Geschäftigkeit, behauptet er noch die Existenz des »Ipse«. Mit dem lateinischen Wort für »Selbst« bezeichnet Bataille eine Art unbewusstes, unmittelbares und nicht-reflektierendes Erleben. Etwas romantisierend spricht er von der »Wildheit« des Ipse, das dem »unterwürfigen Ich« stolz entgegensteht. Gerade aber die Formlosigkeit und Irrationalität erlauben es dem Ipse, sich in einem größeren anderen aufzulösen, zu dem die diskursive Vernunft des Ichs keinen Zugang hat. Bataille nennt es »das Ganze«, und es ist klar, dass er damit strukturell das meint, was die mittelalterlichen Mystikerinnen und Mystiker mit »Gott« bezeichnet haben. In der ihm eigenen, dunklen Sprache meditiert Bataille über diese unio mystica: »In der Verschmelzung besteht weder das Ipse noch das Ganze fort, sie ist die Vernichtung all dessen, was nicht das letzte ›Unbekannte‹ ist, der Abgrund, in dem man versunken ist.«5 Wer schon einmal eine profunde ekstatische Erfahrung gemacht hat, wird Batailles Überlegungen zum sprachlosen Ipse und dessen Vereinigung mit einer anderen, größeren Instanz durchaus einleuchtend finden. Überraschend ähnlich, und sich ebenfalls auf eine gottähnliche Totalität beziehend, schreibt 150 Jahre vor Bataille der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin: »Es gibt ein Vergessen alles Daseins, ein Verstummen unseres Wesens, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden.«6

»Das Wagnis, an der Zeit zu rütteln«

Der zweite Punkt, der uns an Bataille interessiert, hängt unmittelbar damit zusammen. Er betrifft die Art des Erlebens von Ipse. Bataille spricht von »glückliche(r) Monotonie«, von »leerer Unendlichkeit«, vor allem aber fällt immer wieder der Ausdruck »Vergegenwärtigung« oder »Gegenwart«.7 Das sind alles Begriffe, die sich auf das Zeitempfinden beziehen. In der ekstatischen Erfahrung scheint es irgendwie aus dem Leim zu gehen. Das beschreiben auch Autoren, die sich mit einer besonderen Form der Ekstase beschäftigen, mit dem Rausch. In seinem im Jahr 1970 erschienenen Drogen-Buch Annäherungen schreibt Ernst Jünger: »Das Wagnis, das wir mit der Droge eingehen, besteht darin, dass wir an einer Grundmacht des Daseins rütteln, nämlich an der Zeit. Das freilich auf verschiedene Weise: je nachdem, ob wir uns betäuben oder stimulieren, dehnen oder komprimieren wir die Zeit. Damit hängt wieder die Begehung des Raumes zusammen: hier das Bestreben, die Bewegung in ihm zu steigern, dort die Starre der magischen Welt.«8 Mit »Betäubung« ist hier weniger das Ausschalten des Bewusstseins in der Narkose gemeint, sondern eher der Rausch, mit dem man sich auf eine innere Reise begibt, etwa ausgelöst durch psychedelische Substanzen oder Opiate: Morpheus, der Namensgeber des Morphiums, ist in der griechischen Mythologie der Traumgott; sein Name geht zurück auf das griechische Wort für »Form« – morphé, er kann dem Schlafenden im Traum jede Gestalt erscheinen lassen. Das nüchterne Wachbewusstsein ist geprägt vom Gleichmaß der Zeit. Sie ist ein stetig fließender Strom. Im Rausch ändere sich das, so Jünger: »Die Ufer treten zurück. Mit der beginnenden Betäubung treibt das Bewusstsein wie in einem Boot auf einem See, dessen Grenzen es nicht mehr erblickt. Die Zeit wird uferlos, sie wird zum Meer.«9 Zeit aber, die nicht mehr fließt, die jedoch trotzdem erlebt wird, ist ausgedehnte Gegenwart.

An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs zum Zeitempfinden nötig. Offensichtlich gibt es drei verschiedene Zeiten, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Sie sind vermeintlich sauber voneinander getrennt: Gestern (oder die vorige Stunde, Minute oder Sekunde) ist nicht mehr, morgen (oder die nächste Stunde, Minute oder Sekunde) noch nicht. Betrachtet man die Sache jedoch genauer, wird es verworren, und das liegt an der Gegenwart. Auf der einen Seite ist sie fast ein Nichts: die Schnittstelle zwischen zwei Ewigkeiten, der sehr langen Vergangenheit und der vermutlich noch viel längeren Zukunft. Die Philosophie war seit dem Kirchenvater Augustinus im 4. Jahrhundert sehr fasziniert von der »Zeitlosigkeit« der Gegenwart. Die moderne Neurologie fuhr ihr etwas in die Parade. Sie fand heraus, dass die Gegenwart so zeitlos nicht ist – zumindest, was das Bewusstsein davon anbelangt. Die Zeitspanne, die das menschliche Gehirn als Gegenwart wahrnimmt, wenn man so will als »Augenblick«, als »Jetzt«, dauert knappe drei Sekunden. Die wiederum sind »gequantelt« in hundert Einheiten (also zu je dreißig Millisekunden), die die Schwelle der Wahrnehmbarkeit darstellen. Diese Erkenntnis ändert freilich wenig daran, dass die Gegenwart gewissermaßen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwindet – was sind drei Sekunden verglichen mit der Dauer eines gesamten Lebens oder gar den unvorstellbaren Äonen der geologischen oder kosmischen Zeit?

Andererseits: Das einzig Vorhandene, Präsente, ist die Gegenwart. Oder wie Augustinus es ausdrückt: »Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft.«10 Diese Zeilen lesen Sie in der Gegenwart. Wenn Sie den morgigen Tag planen oder sich an gestern erinnern, machen Sie es in der Gegenwart. Das Bewusstsein operiert immer in der Gegenwart. Allerdings muss es dabei auf die Vergangenheit zurückgreifen und die Zukunft vorwegnehmen. Der Philosoph Edmund Husserl nennt diese beiden Ausleger des Gegenwartsbewusstseins Retention und Protention. Ohne dieses simultane Erinnern und Vorgreifen könnten wir weder Sprache verstehen noch Melodien hören – wir würden immer nur ein einzelnes Geräusch vernehmen. Husserl beschreibt in seiner Phänomenologie die Mechanik der Wahrnehmung. Man kann aber auch die Perspektive weiten. Dann kommt man zu dem Ergebnis, dass das Zeitbewusstsein des modernen, erwachsenen, gesunden Menschen eine spezifische Signatur aufweist. Obwohl zwangsläufig in der Gegenwart lebend, denkend und agierend, spielen für diesen Menschen Vergangenheit und Zukunft eine übermächtige Rolle. Jene determiniert ihn, auf diese aber richtet er sein ganzes Handeln aus. Der moderne, erwachsene, gesunde und nüchterne Mensch lebt also in einem unbewussten Verhältnis zu seiner Gegenwart. Die wichtigen Dinge fanden entweder in der Vergangenheit statt oder sie drohen oder locken in der Zukunft. Die Gegenwart passiert einfach irgendwie. Und kaum macht man sie sich bewusst, ist sie schon wieder Vergangenheit.

In der Ekstase hingegen ist die Zeit aufgehoben. Die so schwer zu verbalisierende Erfahrung von Batailles Ipse ist in erster Linie durch eine übermächtige Präsenz gekennzeichnet. Man kann alles vergessen, was jedoch bleibt, ist das Erleben des Hier und Jetzt. Das bedeutet nicht notwendigerweise ein Bewusstsein der Gegenwart – dieses würde ja schon wieder die Instanz »Ich« voraussetzen, die sich der ekstatischen Erfahrung bewusst wird. Dieses Ich aber gibt es kurzfristig nicht. Man hat es also mit einer ziemlich paradoxen Situation zu tun: Ich erlebe etwas, ohne wirklich dabei zu sein. Auf der anderen Seite bin ich übermäßig anwesend, bin reine Präsenz. Auf diese Weise erscheint auch der Begriff Ekstase überaus sinnvoll. Das wörtliche »Heraustreten« lässt sich präzisieren: Man tritt aus der klassisch aufgespreizten Zeitstruktur des nüchternen Bewusstseins – determiniert von der Vergangenheit, ausgerichtet auf die Zukunft – in eine ausgedehnte Gegenwart. Oder wie es der Psychiater Torsten Passie, einer der profundesten Kenner ekstatischer Zustände in Deutschland, beschreibt: In der Ekstase komme es zu einem »Verschwinden der Zeitempfindung, beschrieben häufig als Empfindung der ›Ewigkeit‹. […] Vergangenheit und Zukunft scheinen nicht mehr von Bedeutung zu sein, es kommt zum Empfinden des absoluten Augenblicks‹.«11

Nun stellt sich natürlich sofort die Frage, wie es um die andere »Form der Anschauung« bestellt ist, die neben der Zeit bekanntlich die Kategorie Raum ist. Natürlich gibt es ekstatische Erfahrungen, in denen auch der Raum plötzlich irrelevant wird – oder man sich plötzlich in komplett neuen Räumen befindet, die mit der Realität nichts zu tun haben. Mittelalterliche Mystikerinnen haben das erfahren. Sie berichten, dass sie tatsächlich bei oder auch in Gott waren und ganz und gar von seinem Licht oder seiner Dunkelheit durchdrungen wurden. Ähnlich ergeht es Personen, die hochdosiert psychedelische Substanzen eingenommen haben. Der DMT-Rausch führt in eine als völlig real erlebte, bunte Alternativwelt, in der man es mit scheinbar völlig autonom agierenden »Wesen« zu tun hat, die dort »wohnen«. Der