Elaine - Karin Ann Müller - E-Book

Elaine E-Book

Karin Ann Müller

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Beschreibung

"Hallo, Elaine", flüsterte sie den Schatten zu, die im zuckenden Schein der Kerze durch den Raum huschten. Gab es etwas, das nach dem Tod kam? Marla musste an das Gerücht denken, das sich mit der Legende um diesen Ort rankte: Die junge Frau soll in den Nächten als Geist umher gehen und klagend nach ihrem Geliebten rufen. "Elaine! Bist du hier?" Ihre Stimme zitterte, und auf ihren Unterarmen stellten sich die Härchen. Fröstelnd zog sie das Tuch enger um sich. Elaines Tuch. Eine finstere Ruine, eine tragische Legende, und ein Mann, der behauptet, ein Windbruder zu sein. Die 18-jährige Marla ist weder so schön wie ihre ältere Schwester, noch so klug und witzig wie die jüngere. Sie findet sich ziemlich unscheinbar. Das ändert sich, als sie im Wald den geheimnisvollen Arvid kennenlernt. Er gibt ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Sie allerdings hält ihn für einen Sonderling. Dennoch fühlt sie sich auf unerklärliche Weise von ihm angezogen. Zudem ist ihre Neugier, von der sie reichlich besitzt, geweckt. Als sie ihn drängt, von sich zu erzählen, rückt er nach und nach mit seiner Geschichte heraus. Es dauert nicht lange und sie erkennt darin die Legende, die sich um den Klagehügel rankt - einer finsteren Ruine mitten im Wald. Dort soll sich vor vielen Jahren eine schreckliche Tragödie ereignet haben. Fasziniert taucht Marla in das Leben der jungen Elaine ein. Bald kann sie an nichts anderes mehr denken. Als Arvid eines Tages von dem außergewöhnlichen Geschenk erzählt, das er Elaine gemacht hat, besteht Marla darauf, es zu sehen. Von nun an nimmt das Schicksal seinen Lauf und sie hat Mühe zu unterscheiden, was real ist und was nicht.

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Für meinen Mann …

… der mir jeden Tag zeigt, dass er mich liebt. … der für jede meiner verrückten Ideen zu haben ist. … der Smileys in mein Manuskript malt, wenn eine Stelle ihn berührt. … der behauptet, er liebt kalte Küche über alles, wenn ich mal wieder nicht zum Kochen komme. … der mir immer den Rücken stärkt. … und der die Bretagne genauso sehr liebt wie ich.

Ich danke dir für deine Liebe!

Seine Hand streift ihr Gesicht. Sie spürt es. Doch sie sieht ihn nicht.

Er fährt durch ihr langes Haar. Sie lächelt. Das ist wunderbar.

Auf ihrer Haut sein warmer Hauch. Sie blickt auf. Fühlt ihr das auch?

Sein leises Flehen hört sie nicht, sein Seufzen, weil die Zeit verrinnt. Er ahnt, dass er daran zerbricht, bleibt er doch immer nur …

… der Wind.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Kapitel 1

Es war einer dieser traumhaft schönen Tage im Frühsommer. Schon am Morgen leuchtete der Himmel in tiefem Blau und die Sonne fraß sich mühelos durch die Feuchtigkeit, die die Nacht zurückgelassen hatte. Später würde Marla sich an diesen Tag erinnern. Denn es war jener, an dem alles begonnen hatte. Das konnte sie jetzt natürlich nicht ahnen. Vielleicht wäre es anders gekommen, hätte Mama an diesem Morgen nicht verschlafen. Hätte sie eine erholsame Nacht gehabt und diese nicht vor ihrer Staffelei verbracht. Sie wäre ausgeruht zur Arbeit gefahren, und das Malheur wäre ihr vielleicht nicht passiert. Marla hätte nicht mit Rusty spazieren gehen müssen und so weiter. Hätte, wäre und vielleicht, stehlen deine Lebenszeit, würde ihre jüngere Schwester Henni jetzt sagen.

Marla sprang gutgelaunt die breite Treppe hinunter und warf ihren Rucksack auf die alte Couch. Seit sie denken konnte, stand das rote Ungetüm neben der Haustür und wachte darüber, wer das Haus betrat.

Wie immer um diese Uhrzeit herrschte Chaos. Der riesige Raum, der zugleich Küche, Wohnzimmer und Flur war, hallte wider von den Stimmen ihrer Schwestern, von Hundegebell und Musik. Durch die geöffneten Fenster konnte man Vögel zwitschern hören, und ein leichter Duft nach Holz und feuchtem Laub zog ihr in die Nase. Sie liebte den Geruch des angrenzenden Waldes, weil er sie, egal wo sie war, an ihr Zuhause erinnerte.

„Gib das sofort her!“, fauchte Henni gerade und beugte sich über den Tisch, um nach dem Nutellaglas zu greifen, das ihre älteste Schwester entschlossen festhielt.

„Ich denke nicht daran! Du kannst nicht nur von Schokocreme leben!“

„Erstens kann ich das sehr wohl und zweitens geht dich das überhaupt nichts an! Nur weil du lieber gesund als lecker isst, brauchst du mir den Spaß am Essen nicht zu verderben. Außerdem bist du nicht meine Mutter!“ Hennis Augen blitzten, und mit einer schnellen Bewegung schnappte sie das Objekt der Begierde aus Riekes Hand.

„Apropos Mutter“, mischte sich Marla ein, während sie Kaffee aufsetzte. Dabei versuchte sie Rusty zu übertönen, der kläffend um den Tisch sprang. „Ist Mama schon weg?“

„Mama?“ Erschrocken wandte sich Rieke von Henni ab. „Mist, der Termin! Ich hab Mama heute noch nicht gesehen. Henni, du?“

Hennis blonde Zöpfe flogen, als sie den Kopf schüttelte. Marla stöhnte, hetzte die Treppen wieder hoch und riss die Tür zu Mamas Schlafzimmer auf. Das Bett war unberührt, aus dem Radiowecker dudelte Musik. Ausgerechnet heute! Sie lief ein weiteres Stockwerk hinauf und öffnete die Tür zu Mamas Atelier. Licht flutete ihr entgegen. Der große Raum unter den Dachschrägen war immer hell, auch dann, wenn trübes Wetter herrschte und Wolken den Tag verdunkelten. Nicht umsonst hatte Mama diesen Ort als ihr Atelier gewählt, als sie und Papa vor vielen Jahren hier eingezogen waren. Noch während seines Studiums hatte Papas einzige Großtante ihm dieses Haus vermacht. Früher war es das Gemeindehaus des Dorfes gewesen. Ein viereckiges Gebäude aus rötlichem Backstein mit riesigen Räumen und einem wilden Garten, in dem sich die Natur austoben durfte.

Mama lag tief schlafend auf dem Sofa. Das Tuch, das ihr beim Malen das Haar aus der Stirn hielt, war über ihre Augen gerutscht und schützte sie wohlwollend vor dem jungen Tag. Sie trug ihre Arbeitskleidung, die voller bunter Farbklekse war und ihr ein wenig das Aussehen eines exotischen Vogels gab. Auf der Staffelei mitten im Raum stand ein begonnenes Bild.

„Mama! Sollst du heute nicht um acht Uhr bei den Breuers sein und das Kinderzimmer streichen?“

„Was ist los?“ Ihre Mutter zog das Tuch aus dem Gesicht und blinzelte.

„Dein Termin bei den Breuers ist los!“, wiederholte Marla energisch und öffnete das große Fenster. Sofort strömte ein betörendes Duftgemisch von Wald und Blumen herein.

„Oh, Mist!“

„Ja, genau! Du könntest dir deinen Handywecker stellen, wenn du dich zum Schlafen auf die Couch legst.“

„Ich wollte nur ganz kurz die Augen schließen“, verteidigte ihre Mutter sich schuldbewusst und schielte auf Marlas Armbanduhr.

„Es ist kurz nach sieben.“

„Dann schaffe ich es ja noch!“ Erleichtert grinsend erhob sie sich und küsste Marla auf die Wange. „Danke, Schatz!“

Mit diesen Worten war sie verschwunden.

Als Marla sich mit Kaffee und Müsli an den Tisch setzte, war Ruhe eingekehrt. Henni kaute an ihrem Nutellabrot und hatte die Nase in ihrem geliebten Mathebuch vergraben, während Rieke ihre Teetasse in den Händen hielt und zum Fenster hinausblickte. Auf ihrem Schoß hatte sich Rusty zusammengerollt. Im Hof hörten sie Mama mit ihren Arbeitsgeräten hantieren, die sie mit Schwung auf den Pritschenwagen beförderte. Hin und wieder ertönte ein mit Mühe unterdrückter Fluch.

Es war ein Morgen wie jeder andere in ihrer kleinen, ein wenig verrückten Familie. Marla lächelte in ihren Kaffee. Es gab zwar Momente, da wünschte sie sich etwas mehr Ruhe in diesem Viermädelshaus, aber die Wahrheit war, dass sie es liebte, so wie es war. Leise summte sie das Lied aus dem Radio mit, als Riekes Handy vibrierte. Sofort blickte Henni von ihrem Buch auf.

„Na?“, stichelte sie, als Rieke das Gerät in die Hand nahm. „Nachrichten von Voldemort?“

„Er heißt Waldemar“, sagte Rieke gelassen und tippte eine Antwort.

„Wie kann man nur Waldemar heißen in der heutigen Zeit?“

Rieke sah belustigt auf. „Wie kann man nur Henriette heißen in der heutigen Zeit?“

Henni verstummte auf der Stelle. Dass ihre Eltern ihnen diese altmodischen Namen gegeben hatten, konnte sie bis heute nicht verstehen. Bevor sie eine passende Antwort parat hatte, flog die Tür auf und Mama stürmte herein. Sie goss sich einen Kaffee ein und lehnte sich an den Küchenschrank.

„Frederike, Liebes, könntest du mit Rusty …?“

„Klar, Mama, ich hab Zeit. Ich fange heute erst um neun Uhr an.“

„Ich danke dir. Ich bin um die Mittagszeit wieder da und übernehme dafür den Hühnerstall.“

Rieke nickte und streichelte Rusty, der sie dafür mit einem anbetenden Blick bedachte. Hastig kippte Mama den Rest des Kaffees hinunter.

„Ich bin jetzt weg! Wir sehen uns später, Mädchen.“

Henni kicherte. „Hast du schon mal in den Spiegel gesehen? Das solltest du vielleicht tun, bevor du dich unter Menschen wagst.“

Mama lief zum Wandspiegel neben der Garderobe und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, das ihr dunkel und wirr vom Kopf abstand. Sie griff in die Tasche ihrer Latzhose, zog das Tuch heraus und band sich die Haare zurück.

„Übrigens“, sagte sie, während sie das Ergebnis begutachtete, „ich glaube, wir haben eine Maus im Keller. Wäre eine von euch so lieb und stellt die Mäusefalle auf?“

„Igitt! Zerquetschte Mäuse sind ekelhaft!“ Henni zog eine Grimasse.

„Ich kann vom Wildpark eine Lebendfalle ausleihen und stelle sie später auf.“

„Ich habe gehört, Mäuse stehen auf Schokocreme. Mach am besten einen Klecks Nutella hinein, Rieke.“

„Marla!“ Henni sah sie entgeistert an. „Nicht das Nutella! Käse tut es sicher auch.“

„Ist mir egal, mit was ihr sie fangt. So, aber jetzt!“, lachte Mama und warf eine Kusshand zum Küchentisch hinüber, bevor die Haustür mit einem lauten Schlag hinter ihr ins Schloss fiel. Kurz darauf heulte der Motor des verbeulten Wagens auf, und sie war verschwunden.

„Ob unsere Mutter jemals erwachsen wird?“, fragte Marla grinsend und löffelte ihr Müsli aus.

„Ich hoffe nicht.“ Henni klappte ihr Buch zu und verstaute es in der Schultasche. „Sonst wäre sie ja wie alle anderen Mütter. Ziemlich langweilig also.“

„Mama wird erst dann richtig erwachsen, wenn etwas Schreckliches geschieht. Und das sollte sowohl ihr als auch uns erspart bleiben“, meinte Rieke. Sie machte Anstalten aufzustehen, wurde aber von Rusty daran gehindert, der nicht von ihrem Schoß weichen wollte.

„Wann lernen wir denn deinen Voldemort – oh, Entschuldigung – Waldemar kennen?“, wechselte Henni das Thema.

Rieke schubste den kleinen Hund hinunter und stand auf. „Wer weiß, ob ich ihn dir jemals vorstellen werde“, entgegnete sie ungewohnt schnippisch und spülte ihre Tasse ab. Schließlich klatschte sie in die Hände. „Komm Rusty, wir gehen die Hühner füttern.“

„Meinst du, Rieke ist ernsthaft verliebt?“ Henni sah Marla mit großen Augen an. „Sie ist jetzt schon so alt, und bisher war sie noch nie verliebt.“

„Jetzt mach mal halblang“, widersprach Marla ihrer Schwester. „Mit 21 ist man nicht alt. Außerdem gibt es Menschen, die sich nicht schon im zarten Alter von 15 Jahren ständig in irgendwelche Jungs verlieben und ihnen sofort wieder den Laufpass geben. Vielleicht steht sie auch nicht auf langhaarige Typen mit Lederjacke, die eine große Klappe haben und denken, sie wären der Jackpot."

Henni errötete. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Schwärmerei für Darius so offensichtlich war.

„Wenn es zwischen Rieke und diesem Waldemar etwas Ernstes ist, werden wir ihn schon noch kennenlernen.“

„Sie spricht ständig von ihm.“

„Nun, er scheint ihr eben zu gefallen. Warten wir’s ab. Ich würde es ihr gönnen.“

„Hoffentlich findet er sie nicht langweilig“, seufzte Henni. Mit Schwung beförderte sie einen Apfel in ihren Ranzen. „Denn mal ehrlich, sie sieht zwar toll aus, aber eine Stimmungskanone ist sie gerade nicht.“

Marla, die soeben das Geschirr in die Spülmaschine räumte, stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. „Sei nicht unfair. Rieke ist nicht so vorlaut wie du, aber das ist auch keine große Kunst. Ich finde sie kein bisschen langweilig. Sie ist ruhiger als wir beide, aber sie ist immer gut drauf und hat nie schlechte Laune. Außerdem ist sie sehr verlässlich.“ Sie drückte Henni, die zwar die Jüngste, aber zugleich auch Größte von ihnen war, einen Krug in die Hand. „Auf den Schrank, bitte.“

„Erwachsen meinst du. Auf jeden Fall wirkt sie erwachsener und reifer als Mama“, meinte Henni, beförderte den Krug zu den anderen und sah Marla plötzlich verschwörerisch an. „Ich wette, Mama hat vergessen, dass heute Elternabend ist.“

„Das hoffst du wahrscheinlich.“

Henni antwortete nicht. Als von draußen eine Fahrradklingel zu hören war, schwang sie sich die Schultasche auf den Rücken. „Fährst du mit?“

Marla schüttelte den Kopf. „Amelie holt mich ab.“

***

„Ich würde was drum geben, in diesem Haus zu wohnen“, schwärmte Amelie ein paar Stunden später, als sie mit ihren Rädern vorm Zaun standen. Dabei ruhte ihr Blick voller Sehnsucht auf dem roten Backsteinhaus, dessen grellgrüne Klappläden in der Sonne leuchteten. „Manchmal beneide ich dich schon ein wenig.“

„Wegen dem Haus?“ Marla hatte die Brauen ungläubig hochgezogen.

„Nein, nicht nur wegen des Hauses.“ Amelie imitierte mit breitem Grinsen den Ton ihrer Deutschlehrerin. „Dein ganzes Leben ist so … unkonventionell. Bei euch ist nichts jemals spießig. Oder gewöhnlich. Und ja, das Haus ist großartig! Romantisch irgendwie. Sieh dir mal die Rosen an, die daran hochwachsen. Oder die uralten Bäume in eurem Garten. Es ist alles viel spannender als bei mir.“ Sie wandte sich wieder zu Marla, die sie überrascht ansah.

„Das meinst du nicht ernst, oder?“

Amelie nickte eifrig. „Doch, sehr ernst sogar. Ich habe noch nicht einmal Geschwister. Was meinst du, weshalb ich so gerne bei euch bin? Hier ist immer was los und es gibt immer was zu lachen.“

Marla atmete tief durch. „Ich sag dir jetzt mal was: Ich liebe mein Zuhause, das kannst du mir glauben. Aber manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass wir eine ganz stinknormale Familie wären. Keine durchgeknallte Mutter zu haben, die regelmäßig verschläft, weil sie Künstlerin ist und die ganze Nacht vor ihrer Staffelei verbringt. Ich könnte mir auch einen Vater vorstellen, der mich nach meinen Vorbereitungen fürs Abi fragt und mit der Zeitung auf dem Sofa sitzt. Aber nein, was macht der Herr?“ Marla holte weit mit dem Arm aus, bevor sie weitersprach. „Er gondelt irgendwo in der Welt rum, angeblich um sie zu verbessern, anstatt für seine Familie da zu sein. Wahrscheinlich würde ich ihn noch nicht einmal erkennen, wenn er direkt vor mir stünde. Wer weiß, vielleicht sehe ich ihn ja sowieso niemals wieder, weil er irgendwann vergessen hat, dass er eine Familie hat!“

Marla merkte erst jetzt, dass ihre beste Freundin sie betroffen anstarrte. „Ja“, meinte sie bekräftigend und streckte ein wenig trotzig das Kinn vor. „So ist das. Wir sind in diesem Dorf die Exoten. Du selbst hast mir damals gesagt, wie sie uns nennen. Die Mädchen aus dem bunten Haus! Was ja kein Wunder ist, da unser Haus Pippis Villa Kunterbunt locker in den Schatten stellt.“ Ihr Blick streifte den bunt lackierten Lattenzaun, die grünen Klappläden und die hellblau gestrichene Haustür. In spätestens einem Jahr würde alles in anderen Farben leuchten, je nach dem, wann Mama beschloss, es sei Zeit dafür. Das konnte morgen sein, nächsten Monat oder eben nächstes Jahr.

„Aber all das ist doch nicht schlimm“, sagte Amelie und erinnerte sich daran, dass sie sich zu Beginn des elften Schuljahres aus genau diesem Grund neben Marla gesetzt hatte. Sie hatte sie unbedingt kennenlernen wollen. Marla aus dem bunten Haus. „Sei froh, dass du in einem fröhlichen und bunten Haus wohnst. Immerhin hast du ja einen Vater, und deine Eltern sind nicht geschieden, wie so viele andere. Würdest du lieber in der Großstadt leben, wo alles grau ist? Wo ein Tag aussieht wie der andere und jeder gelangweilt seinem Job nachgeht?“

„Nein. Natürlich nicht“, räumte Marla ein.

„Jetzt kennen wir uns bald zwei Jahre, aber dass du so empfindest, das hab ich nicht gewusst.“

„Alles in allem ist es ja auch in Ordnung, so wie es ist.“ Marla zog eine Grimasse und warf ihr Haar hinter die Schultern. „Weiß nicht, was in mich gefahren ist, sorry.“ Sie beugte sich zu Amelie und umarmte sie versöhnlich. „Darf ich dich auf einen gemütlichen Abend ins Bunte Haus einladen? Sagen wir um halb acht? Wenn du magst, können wir für die Englischklausur lernen.“

„Ja, klar! Wenn ich an Englisch denke, bekomme ich Bauchschmerzen. Daher nehme ich dein Angebot gerne an.“

Hennis Fahrrad lehnte an der Hauswand, als Marla den gepflasterten Hof betrat. Ihr eigenes stellte sie in den Schuppen. Von Mamas Wagen allerdings war weit und breit nichts zu sehen. Sie schloss die Haustür auf und begrüßte Rusty, der begeistert an ihr emporsprang. Klaviergeklimper klang ihr entgegen, und Marla durchquerte den Raum. Vor den Bogenfenstern, die zum Garten hinausgingen, standen ein Ecksofa und ein großes Bücherregal aus Holz. Das Klavier diente als Raumteiler zum übrigen Wohnbereich und war nicht nur ziemlich verstimmt, sondern mit Sicherheit auch älter als die verstorbene Großtante, der es einmal gehört hatte.

„Hallo Henni. Ist Mama noch nicht da?“

„Nee.“ Henni hörte zu spielen auf. „Ich hab schon versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht dran.“

„Hast du etwas zu Mittag gegessen?“ Marla sah zur Wanduhr über dem Fernseher. Es war fast drei und ihr Magen knurrte, wie immer nach dem Nachmittagsunterricht.

„Ich hab mir den Rest von gestern warm gemacht. Sagte Mama nicht, sie wollte pünktlich hier sein?“

„Ja, eigentlich schon. Vielleicht hat es bei den Breuers länger gedauert.“ Sie ging zur Küche. Ein Brot wäre nicht schlecht.

„Dann hätte sie doch Bescheid gesagt“, meinte Henni und lief hinter Marla her. „Schon wegen Rusty. Der muss ja noch Gassi gehen.“

„Stimmt. Aber du weißt auch, dass Mama hin und wieder mal vergisst, was verabredet war.“ Marla schmierte sich großzügig Butter aufs Brot und biss hinein. Gleichzeitig nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und tippte auf Mamas Namen.

„Hallo, hier ist Grit Wiedemann. Leider kann ich diesen Anruf nicht persönlich entgegennehmen, meine Mailbox aber schon. Ich rufe sobald wie möglich zurück.“

„Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen“, sagte sie kauend, steckte das Handy weg und setzte sich an den Tisch. „Gehst du eine Runde mit Rusty?“

„Oh, das geht leider nicht. Wir haben heute Probe mit der Schulband. Du weißt schon, unser Auftritt am Schulfest und so.“

„Schon gut“, seufzte Marla und dachte an den Berg Hausaufgaben, der noch vor ihr lag. „Ich mach das.“ Sie stand mit dem Brot in der Hand auf, schnappte ihren Rucksack und ging zur Treppe.

„Marla?“

„Was, Henni?“

„Meinst du, Mama würde mal das Klavier stimmen lassen? Es klingt mittlerweile so schräg, dass ich kaum noch darauf spielen kann. Als Keyboarderin der Band wäre es gut, wenn ich einigermaßen anständig üben könnte.“

„Meinst du wirklich, dass das nötig ist?“

„Definitiv! Wir nehmen in Musik gerade Bach durch. Eigentlich dachte ich immer, dass klassische Musik total nervig ist. Aber die Art, wie Bach komponiert hat, ist der absolute Hammer. Seine Inventionen klingen richtig logisch und geradlinig. Manchmal denke ich, ich weiß schon vorher, wie es weitergeht. Unser Lehrer sagt, es hat ein bisschen mit Mathematik zu tun. Ich will versuchen, etwas davon bei uns in die Bandproben mit reinzubringen. Das würde sich sicher sehr cool anhören. Aber dazu müsste das Klavier auch klingen wie eines, sonst ist es irgendwie verfälscht.“ Hennis Augen leuchteten vor Begeisterung.

„Kein Wunder, dass du seine Musik magst.“ Marla verdrehte die Augen. Mathe war nicht ihr Ding. „Ich schätze, das ist der entscheidende Grund, weshalb ich mit Bach nicht so viel anfangen kann.“

„Wie ist das jetzt mit dem Klavierstimmen?“

„Keine Ahnung. Ein Klavier zu stimmen kostet einiges, denke ich. Wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann frag doch Mama danach, wenn mal wieder eine Überweisung von Lorenz kommt.“

„Ich find’s echt blöd, dass wir immer so knapp bei Kasse sind“, maulte Henni und verzog das Gesicht. „Papa könnte ruhig öfter was schicken, wenn er selbst schon nie hier ist.“

„Ach, hör auf, Henni. Es war schon immer so, und wir kommen auch ohne ihn ganz gut zurecht. Wir haben ein eigenes Haus, viel Platz und einen großen Garten. Das hat längst nicht jeder.“ Noch während sie redete, fiel ihr das Gespräch mit Amelie ein. Es war keine 15 Minuten her, da hatte auch sie sich darüber beschwert, dass ihr Vater nicht bei ihnen lebte. Es sah ganz danach aus, als würde sich jede von ihnen hin und wieder Gedanken über ihr außergewöhnliches Familienleben machen. Sie lief die Stufen hinauf, ging in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Den letzten Bissen im Mund, zog sie ein Top und ihre Lieblingsjeans an, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Marla wartete einen Moment, doch Henni schien nicht da zu sein. Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte sie hinunter und riss den Hörer von der Station. Es war Mamas Nummer.

„Mama!“ Sie warf sich aufs Sofa. „Wo steckst du denn?“

„Magdalena, Schatz“, sagte Mama mit verhaltener Stimme und klang sonderbar fremd. „Entschuldige bitte, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Es ging nicht.“

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Ja, es ist nichts Schlimmes. Es ist nur … Ich bin heute Morgen von der Leiter gefallen, und die Breuers haben den Krankenwagen gerufen.“

„Du bist was?“, rief Marla ungläubig. Sie war aufgesprungen und durchmaß den Raum mit großen Schritten, wobei Rusty ihr dicht auf den Fersen folgte. Mama war von der Leiter gefallen? Das konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Mama mochte nicht unbedingt super durchorganisiert sein, aber sie kletterte wie ein Wiesel die Bäume hinauf und bewegte sich dort, als wäre sie eine Katze. Das war so, seit Marla denken konnte, und bis heute hatte sich nichts daran geändert.

„Geht’s dir gut? Hast du dir was gebrochen? Wo bist du?“

„Ich bin im Krankenhaus. Sie wollen mich über Nacht hierbehalten wegen Verdacht auf Gehirnerschütterung. Morgen früh untersuchen sie mich noch einmal. Ich wollte nicht bleiben, aber sie bestehen darauf. Sonst hab ich mir nichts getan.“

„Ich komme zu dir!“

„Nein, Liebes, du kommst nicht!“ Ihre Mutter klang sehr bestimmt. „Es geht mir wirklich nicht schlecht, und morgen bin ich wieder daheim. Es wäre sehr lieb, wenn du den Wagen bei den Breuers abholen würdest. Ich melde mich wieder. Am besten fährst du morgen mit dem Auto zur Schule und holst mich anschließend in der Stadt ab. Und der Hühnerstall muss unbedingt noch …“

„Ja, Mama, mach ich alles. Mach dir keine Gedanken.“

„Danke, Schatz! Ihr seid tolle Mädchen und auf euch kann ich mich verlassen. Das ist andersrum nicht immer so.“

Bevor Marla etwas einwenden konnte, sprach Mama schon weiter. „Magdalena, sei so lieb und ruf nicht gleich Frederike an. Sie soll in Ruhe arbeiten. Es reicht, wenn sie es heute Abend erfährt. Versprochen?“

„Ja gut, versprochen. Aber sie wird’s blöd finden.“

„Das macht nichts. Wir sehen uns morgen. Ich muss mich jetzt ausruhen; die Schwester hat schon zwei Mal reingeschaut und das Gesicht verzogen. Macht euch keine Sorgen, Liebes.“

„Gute Besserung, Mama“, sagte Marla und zögerte, bevor sie dann doch fragte: „Warum bist du überhaupt von der Leiter gefallen? Gerade du!“

„Das erzähle ich euch morgen“, antwortete Mama, und Marla hörte an ihrer Stimme, dass sie grinste.

„Rusty, wir gehen spazieren!“ Marla hängte sich für alle Fälle die Leine über die Schultern und trat vor die Tür. Der kleine Hund stürmte an ihr vorbei und war im nächsten Augenblick um die Ecke verschwunden. Von Henni war nichts zu sehen. Dann würde sie ihr eben später von Mamas Unfall erzählen. Eilig lief sie hinter Rusty her, der bereits den kleinen Pfad erreicht hatte, der hinter dem Garten direkt in den Wald führte. Die aufgescheuchten Hühner stoben gackernd aus dem Weg und flüchteten in ihr Gehege, das sie daraufhin verschloss.

„Rusty, warte!“

Der Wald empfing sie mit wunderbarer Kühle. Die Birken und Buchen wuchsen hoch und bildeten mit ihren Kronen aus jungem Laub ein hellgrünes Gewölbe über ihr. Irgendwo rief ein Kuckuck. Während sie Rusty folgte, dessen Geräusche sie hin und wieder vernehmen konnte, stellte sie wieder einmal fest, wie schön es hier war. Als Kind hatte sie ein wenig Angst vor dem riesigen Wald gehabt, der nicht überall so freundlich und licht war wie hier. Es gab auch düstere Ecken. Jene, die mit dichtem Nadelgehölz bewachsen waren, und wo es schon am frühen Nachmittag so finster war, dass man ungewollt zu frösteln begann. Außerdem war da noch das verfallene Haus auf dem Hügel. Der Ort besaß etwas Schauriges und es wurden eigenartige Dinge über ihn erzählt.

Rieke hatte sie oft ausgelacht. Für ihre ältere Schwester war der Wald ein riesiges Naturwunder, das es zu erkunden galt. Düstere Stellen? Rieke nannte sie spannend und interessant und hatte schon früh jeden Winkel des Waldes gekannt. Noch heute stand sie manchmal vor der ersten Dämmerung auf, schlich sich zu einem der Hochsitze und beobachtete das Treiben der Tiere. Zur Ruine aber hatte auch sie sich nie gewagt. Nicht, weil sie sich gruselte, wie sie behauptete, sondern weil sie nicht von herabfallenden Steinen erschlagen werden wollte.

Natürlich hatte Marla heute keine Angst mehr vor dem Wald. Sie kannte sich inzwischen aus und wusste, wohin die meisten der Trampelpfade führten. Man konnte sich kaum verlaufen, denn wo man auch landete: Man gelangte immer wieder auf einen der breiten Wege und fand von dort aus mühelos nach Hause.

Während sie versuchte, mit Rusty Schritt zu halten, musste sie an ihre Mutter denken. Sie stellte sich vor, wie Mama das Kinderzimmer der Breuers mit den fröhlichen Motiven aus dem Dschungelbuch bemalte, als sie von der Leiter stürzte. Wie von selbst wanderten Marlas Gedanken zu ihrem eigenen Zimmer, das Mama vor vielen Jahren mit den Figuren ihrer Lieblingsmärchen geschmückt hatte. Bei Rieke waren es Tiere gewesen. Ihre jüngere Schwester allerdings war ein spezieller Fall.

Henni weigerte sich nämlich bis heute, ihre Wände umzustreichen. Ihre eigenartige Vorliebe für Zahlen in jeder Form hatte sich schon früh gezeigt. Mit drei Jahren hatte sie beschlossen, dass Mond und Sterne entfernt und durch Zahlen ersetzt werden sollten. Als sie kurze Zeit später verstanden hatte, was es mit dem Datum auf sich hatte, musste Mama ihr Geburtsdatum auf die Wand malen. Es folgten alle Geburtstage der Familie und irgendwann sogar die Namenstage, obwohl die keinen Menschen jemals interessiert hatten. Noch heute schrieb Henni jedes für sie wichtige Datum an die Wand. Bemerkenswert war, dass sie ohne zu zögern erklären konnte, was es mit diesen Tagen auf sich hatte. Eine Art Tagebuch ohne Text. Marla war gespannt darauf, was Henni tun würde, wenn kein freier Fleck mehr vorhanden war.

Als eine Baumwurzel sie beinahe zu Fall brachte, schob sie ihre Gedanken beiseite und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den unebenen Pfad, der sich durchs Dickicht schlängelte. Von Rusty war weit und breit nichts zu sehen.

„Rusty! Rusty, komm her!“, rief sie und lauschte dem Hall ihrer Stimme nach. Nichts geschah. Sie hatte nicht die geringste Lust, auch noch nach dem kleinen Hund zu suchen. Nicht heute, wo sowieso alles nicht so lief, wie sie es gerne hätte.

„Rusty! Das ist nicht lustig, hörst du?“

Ärger regte sich in ihr, und sie begann zu laufen. Eigentlich hörte er ganz gut auf sie. Nicht immer, musste sie zugeben, aber meistens schon. Klar, bei Rieke würde er so etwas nicht tun. Ihr gehorchte er aufs Wort. Das war sicher der Dank dafür, weil sie ihn vor ein paar Jahren auf einem schrecklich verwahrlosten Bauernhof gefunden und mit nach Hause genommen hatte. Damals ging Rieke noch zur Schule und radelte jeden Nachmittag zum Helfen ins Tierheim. Das lag immerhin drei Orte weiter. Der bunt gescheckte Welpe, der halbverhungert und in einem schlimmen Zustand gewesen war, hatte ihre Herzen im Sturm erobert. Rieke musste nicht einmal darum betteln, dass er bleiben durfte. Er war sofort Mitglied der Familie gewesen.

Marla begann zu schwitzen und strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass der Nachmittag voranschritt. Sie musste noch Hausaufgaben machen und Mamas Auto holen. Außerdem sollte heute Abend etwas zum Essen auf dem Tisch stehen, und später würde Amelie kommen. Ach ja, der Hühnerstall …

Jäh schoss Rusty neben ihr aus dem Gebüsch, fiel über ihre Füße und überschlug sich. Marla erschrak fürchterlich. Sofort war der Hund wieder auf den Beinen, schüttelte sich und setzte sich vor sie, die blanken Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet. Seine Nase war erdverkrustet und an seinem Fell klebten Laubreste. Marla hätte schwören können, dass er sie angrinste. Sie versuchte ernst zu bleiben.

„Wie? Du erwartest doch jetzt keine Belohnung, oder? Wo kommst du überhaupt her?“ Zärtlich strich sie ihm übers Fell, nahm die Leine von der Schulter und band ihn an. „Das hast du jetzt davon, du Streuner!“

Als sie sich aufgerichtet hatte, sah sie sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Nicht weit von ihr war eine Lichtung. Der Baum, der dort stand, war außerordentlich imposant. Es war eine Eiche. Eine knorrige, ziemlich eigenwillig gewachsene Eiche, der man ihre Jahre ansah. Hätte Marla diesen Baum schon einmal gesehen, so könnte sie sich mit Sicherheit daran erinnern. Er hatte einen mächtigen Stamm, der von gefurchter Rinde bedeckt und vom Alter gezeichnet war. Der Anblick erinnerte sie an das faltige Gesicht einer alten Frau. Teile der Wurzeln, die aus dem Boden ragten, bildeten mit Laub gefüllte Mulden, die weich und heimelig aussahen. Es war der perfekte Platz zum Ausruhen.

Marla überlegte nicht lange. Sie lief hinüber und setzte sich unter den Baum. Noch immer außer Atem lehnte sie ihren Kopf an das alte Holz und sah hinauf in das beeindruckende, dichte Geäst. Der leichte Wind ließ die Blätter tanzen und entlockte ihnen ein feines Säuseln. Hin und wieder gaben sie ein Stück vom Himmel frei. Blaue Flecken, die mit dem jungen Grün um die Wette leuchteten.

Als Rusty sich mit einem Seufzer neben sie legte und seinen warmen Körper an ihren Oberschenkel schmiegte, schloss sie die Augen. Träge kraulte sie den Hund hinter den Ohren und lauschte der Musik des Baumes. Die Eile, die sie eben noch gespürt hatte, fiel von ihr ab. Ihre Gedanken lösten sich auf und bewegten sich von ihr fort, weit hinaus nach oben, zwischen den Blättern hindurch ins Unendliche des Himmels.

Wozu beeilen, wenn es hier doch so schön war? Nichts von dem, was sie noch zu tun hatte, lief ihr davon. Es würde auf sie warten. Nur hier sitzen und horchen. Auf das fröhliche Gezwitscher der vielen Vögel. Auf die Blätter, die gemeinsam mit dem Wind ihr Lied sangen.

Dann hörte sie noch etwas anderes. Vielmehr spürte sie es. Anfangs ganz zart. Doch es wurde zunehmend deutlicher.

Es war, als würde der Baum hinter ihr leise summen. War sein Stamm hohl und voller Bienen? Oder eine Art Puls vielleicht? Hatten Bäume einen Puls, und die Menschen wussten es nur nicht? Das Summen wurde intensiver und sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass es sich auf sie übertrug. Ein sanftes Vibrieren zog durch ihren Körper. Auf ihren Unterarmen stellten sich die Härchen.

Mit einem Mal sprang Rusty knurrend auf die Beine. Marla zuckte vor Schreck zusammen und riss die Augen auf. Benommen rieb sie sich die Arme und ließ ihren Blick umherschweifen. „Da ist nichts, Kleiner“, wisperte sie. Sie glättete sein gesträubtes Fell und fragte sich, warum sie geflüstert hatte. Schließlich erhob sie sich schwerfällig und pflückte ein paar trockene Blätter von ihren Jeans.

„So etwas Verrücktes habe ich ja noch nie erlebt“, murmelte sie verwirrt. Noch immer spürte sie den Nachhall des Summens in ihrem Bauch. Wahrscheinlich wurde es Zeit, dass sie etwas Anständiges in den Magen bekam. Bevor sie sich zum Gehen wandte, betrachtete sie den Baum etwas genauer. Die Eiche musste in der Tat sehr alt sein. Nicht weit über Marlas Kopf wuchsen dicke Äste wie ausgebreitete Arme aus dem Stamm und bildeten ein ausladendes Blätterwerk. Auch weiter oben ragten kräftige Zweige bis weit hinaus. Der Baum schien das Gewicht seiner Arme kaum tragen zu können, denn der Stamm neigte sich trotz seines Umfangs deutlich zur Seite. Es würde nicht mehr allzuviel Zeit vergehen, und er würde sich mit einem seiner Äste auf dem Waldboden abstützen.

„Wir gehen ja schon!“, sagte sie, als Rusty bellte und ungeduldig an der Leine zerrte. Sie trat in den Wald und blickte erst nach rechts, dann nach links. Der Weg, auf dem sie normalerweise spazierte, war weit und breit nicht zu sehen. Doch das war kein Problem, denn Rusty war ja bei ihr.

„Rusty, wir gehen heim! Heim zu Rieke!“

Das verstand er sofort. Aufgeregt wedelte er mit seinem kleinen Schwanz und zog Marla zielstrebig durch das Dickicht.

Bevor ich sie sehe, höre ich ihre Stimme. Hell und aufgeregt. Obwohl sie in meinen Ohren zu laut klingt an diesem sonst so stillen Ort, kann ich mich ihrer Wirkung kaum entziehen. Irritiert verschmelze ich erst im letzten Moment mit dem Baum und kann gerade noch verhindern, dass mich die Besitzerin der Stimme sieht.

Eine junge Frau erscheint. Sie läuft so schnell, dass das lange Haar hinter ihr herweht. Einem dunklen Schleier gleich. Ihr Gesicht glänzt vor Schweiß, kleine Perlen funkeln auf ihrer Oberlippe. Ich kann sie nur bestürzt anstarren. Viel Zeit dafür bleibt mir nicht, denn einen Augenblick später setzt sie sich zu Füßen des Baumes. Fassungslos und völlig überrumpelt versuche ich, meiner Gefühle Herr zu werden. Sie ist es nicht, versucht mein Verstand mir zu versichern. Natürlich ist sie es nicht. Sie kann es nicht sein. Und doch …

Wie nah sie mir ist. Ihr Duft raubt mir für einen Augenblick die Sinne, und mein Herz pocht wie wild. Pass auf, befehle ich mir selbst. Reiß dich zusammen!

Wie lange ist es her, dass mir ein Mensch so nah war? Wie lange lebe ich nun schon in diesem verhassten Körper? Irgendwann habe ich aufgehört, die Jahre zu zählen. Die Geburt dieses Mädchens lag damals noch in weiter Ferne.

Viel zu deutlich spüre ich ihren Rücken. Er drückt sich an den Stamm des Baumes, der mir Heimat und Zuflucht ist. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Ich höre, wie die Luft in ihre Lungen strömt. Ihr Herz schlägt kraftvoll und gleichmäßig. Ich kann nicht verhindern, dass meines noch immer rast. Leise und beinahe heimlich winden sich Erinnerungen wie Schlangen durch meine Eingeweide. Ich dachte, sie wären längst vergessen. Für immer. Doch ich mache mir was vor. Es vergeht kein Tag, ohne dass sie mich quälen. Jetzt aber treffen sie mich mit ihrer vollen Grausamkeit.

Die Stille ist zurückgekehrt und die Frau kommt zur Ruhe. Schlagartig jedoch schärfen sich ihre Sinne. Ihre Körperspannung verrät es mir. Ich könnte schwören, dass sie etwas spürt. Meine Anwesenheit? Unwahrscheinlich zwar, aber nicht undenkbar. Das habe ich bereits vor langer Zeit gelernt. Ein Schauder durchfährt sie. In diesem Augenblick wittert mich der Hund.

Bevor sie geht, ruht ihr Blick für eine Weile auf der alten Eiche. Interessiert und argwöhnisch zugleich. Ich wage kaum zu atmen und verharre regungslos, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht sehen kann. Endlich dreht sie sich weg und verlässt diesen Ort. Weit öffne ich meine Nasenflügel, um den letzten Rest ihres Duftes einzufangen.

Ich hatte vergessen, wie Hoffnung sich anfühlt. Plötzlich ist sie da. Weshalb, das weiß ich nicht.

Marla lag im Bett, war zum Umfallen müde und konnte dennoch nicht einschlafen. Der Tag war aufregend gewesen. Und anstrengend. Nachdem sie von dem unerwartet langen Spaziergang heimgekommen war, hatte sie schnell und nicht sonderlich gewissenhaft ihre Hausaufgaben gemacht, den Hühnerstall gereinigt und war anschließend mit dem Fahrrad zu den Breuers gefahren. Der hochschwangeren Frau Breuer stand der Schreck von heute Morgen noch immer ins Gesicht geschrieben, und besorgt erkundigte sie sich nach Marlas Mutter. Ihr Mann hatte die Unglücksleiter bereits auf den Pritschenwagen gelegt, und auch Marlas Fahrrad hob er zuvorkommend hinauf.

„Grit soll sich richtig auskurieren“, sagte er beim Abschied. „Die Wand kann sie nach der Geburt der Kleinen noch fertig malen. Es sieht jetzt schon toll aus. Sag ihr das bitte.“ Das fand Marla sehr freundlich von ihm.

Während sie kurze Zeit später gemeinsam mit Henni ein schnelles Essen kochte, rätselten sie über den geheimnisvollen Grund des Unfalls, den Mama noch nicht hatte verraten wollen. Wie Marla erwartet hatte, war Rieke nicht gerade begeistert, erst jetzt davon zu erfahren. Sie stürzte sofort ans Telefon und rief ihre Mutter an, die ihr versicherte, dass sie gut versorgt wurde und am kommenden Tag nach Hause kommen würde.

Am liebsten hätte Marla ihrer Freundin abgesagt, aber da sie Amelie versprochen hatte, mit ihr für die Englischklausur zu lernen, hatte sie es nicht übers Herz gebracht. Später war sie froh darüber, denn der Abend war noch richtig lustig geworden. Nach dem Lernen hatten sie sich zusammen mit Rieke an den großen Küchentisch gesetzt, Salzstangen geknabbert und Brettspiele gespielt. Henni hatten sie dazu nicht überreden können.

„Ich muss Bach üben“, hatte sie wichtigtuerisch geantwortet und den restlichen Abend verschiedene Melodien auf dem Klavier hoch und runter gespielt. Marla musste anerkennend zugeben, dass es gar nicht so übel gewesen war, obwohl sich das Instrument wirklich sehr verstimmt anhörte. Ihre Schwester hatte zweifellos Talent. Marla wusste nicht, ob es gut sein würde, ihr das zu sagen, denn Henni besaß bereits ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Und das machte das Zusammenleben mit ihr nicht immer ganz einfach.

Seufzend stand sie auf und öffnete beide Fensterflügel, um die duftende Frühlingsnacht hereinzulassen. Sofort strömte kühle Luft ins Zimmer. Wieder im Bett, zog sie sich die Decke unters Kinn und schloss die Augen. Sie dachte an das merkwürdige Summen in der alten Eiche. Morgen würde sie dasselbe bei einem anderen Baum ausprobieren. Sie hatte bereits ein Exemplar herausgesucht. Keine Eiche zwar, aber hinter dem Garten stand direkt am Waldrand eine große Erle. Sie bot sich geradezu dafür an.

Marla lauschte dem Wind, der die Vorhänge bauschte und ihr sanft übers Gesicht strich. Als Kind waren es die Finger ihrer Mutter gewesen, die ihr die Wangen gestreichelt hatten. Tröstend. Voller Liebe. Wie es Mama wohl gehen mochte? Ihre schmächtige Mutter in einem unpersönlichen Krankenhausbett, das Haar wie immer zerrupft, bunte Farbkleckse auf den Armen, in einen sterilen Krankenhauskittel gesteckt. Die Vorstellung schmerzte sie. Zum Glück war Mama morgen wieder da. Ohne sie war das Haus nicht so wie immer. Es fehlte etwas. Es war ein wenig so, als hätte es sein Herz verloren.

Ob Marla selbst auch mal das Herz eines Heims sein würde? Was mochte das für ein Gefühl sein? Familie. Kinder zum Versorgen. Ein Mann, mit dem sie ihr Leben teilte. Nun, von all dem war sie weit entfernt. Sie hatte bisher erst einmal einen Freund gehabt, aber das war schon eine Weile her. Mit Mika hatte sie sich wirklich gut verstanden. Sie waren immerhin ein halbes Jahr zusammen gewesen. Noch heute sprachen sie jedes Mal ein paar Worte miteinander, wenn sie sich in der Schule trafen. Das gehörte aber der Vergangenheit an, denn Mika hatte jetzt Abi gemacht und würde studieren.

Bei Henni war das anders. Seit dem Kindergarten liefen ihr die Jungs hinterher. Sie war hübsch, witzig und klug. Ein paar kindliche Tändeleien hatte sie mit ihren 15 Jahren schon hinter sich, jedoch nichts Ernstes. Unter ihren Verehrern war bisher keiner gewesen, der sie nicht nach kurzer Zeit schon gelangweilt hatte. Sie war schrecklich intelligent, womit die meisten der Jungs hoffnungslos überfordert waren.

Rieke wiederum hatte noch nie einen Freund gehabt. Sie war sehr zurückhaltend und Fremden gegenüber sogar etwas scheu, liebte vor allem Pflanzen und Tiere und konnte sich stundenlang in der Natur aufhalten. Mama sagte immer, Rieke genügte sich selbst.

Wenn sie jemanden finden würde, der zu ihr passte, so würde das für die Ewigkeit sein, davon war Marla überzeugt. Es konnte nur jemand sein, der ihre Neigungen teilte, alles andere war unvorstellbar. Daher wäre dieser Waldemar, ihr neuer Arbeitskollege im Wildpark, ein ziemlich geeigneter Kandidat, fand sie.

Wie auch immer, sie alle waren noch sehr jung. Marla gähnte. Mama und Lorenz waren erst 22 Jahre alt gewesen, als Rieke geboren wurde. Ein wenig mehr Reife war für eine Beziehung, die dauerhaft sein sollte, sicher nicht übel.

***

„Der Schokopudding schmeckt göttlich!“

„Ich hab ihn gleich nach der Schule für dich gemacht.“ Stolz beobachtete Henni, wie Mama genussvoll seufzend einen gehäuften Löffel in den Mund schob.

Sie saßen alle vier auf dem großen Ecksofa, Rusty mitten unter ihnen. Für Mama hatten sie dicke Kissen geholt, damit sie es bequem und gemütlich hatte. Sie war ein wenig blass um die Nase und sollte sich in den nächsten Tagen noch schonen.

„Wie schön, Frederike, dass du deinen Dienst geändert hast“, sagte Mama und strich ihrer Ältesten über den Arm. „Das wäre nicht nötig gewesen, aber ich freue mich sehr darüber.“

„Das war kein Problem. Waldemar hat sich sofort bereiterklärt, mit mir zu tauschen. Ich habe ihn gestern Abend noch angerufen.“ Leichte Röte flog über Riekes Wangen, und als Henni den Mund öffnete, um einen Kommentar abzugeben, stieß Marla sie verstohlen mit dem Fuß an und rief:

„Heute Abend gibt’s Pizza! Couchpizza mit Film! Mama darf wählen.“

„Oh, cool!“, jubelte Henni. „Mama, welchen Film sehen wir an?“

Auf der Couch sitzen, Pizza essen und einen Film anschauen war immer ein ganz besonderes Erlebnis, das es nur in Ausnahmesituationen gab. Heute war definitiv solch ein Tag.

„Das ehrt mich aber, Mädchen“, lachte Mama und überlegte einen Moment. „Ich entscheide mich für – Sieben Jahre Tibet.“

Ihre Töchter sahen sie überrascht an. Sie hatten mit Pretty Woman gerechnet oder mit einem Jane Austen-Film. Das waren üblicherweise Mamas Wunsch-DVDs. Ihre Wahl fiel somit anders aus als erwartet.

„Du wolltest uns erzählen, warum du von der Leiter gefallen bist“, erinnerte Marla sie. Sie war schon aufgesprungen und hatte die große Schublade unter dem Fernseher rausgezogen, um zwischen unzähligen Filmen den richtigen herauszusuchen.

„Ja, allerdings.“ Mama machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Nach dem Film.“

„So“, sagte Mama, als der Film fertig, die Pizza restlos vertilgt und der Fernseher abgeschaltet war. Erwartungsvoll blickten die Mädchen sie an. Sie holte tief Luft.

„Als ich auf der Leiter stand, klingelte mein Handy. Es war euer Vater.“

„Was?“

„Was wollte er denn?“

„Papa?“

Sie sprachen alle gleichzeitig, bis ihre Mutter eine Hand hob. Sofort verstummten sie. „Er ist seit einigen Monaten im Himalaya und hat gefragt, ob ich ihn besuchen möchte. Ich war so perplex, dass mir das Handy aus der Hand rutschte und ich beim Versuch, es aufzufangen, von der Leiter fiel.“

Schweigen. Mama sah sie reihum an.

„So ist es passiert“, bekräftigte sie, als ihre Töchter sie noch immer anstarrten und keine Worte fanden. Immerhin wussten sie jetzt, weshalb Mama ausgerechnet diesen Film ansehen wollte.

„Der spinnt doch!“ Das war natürlich Henni.

„Sprich nicht so über deinen Vater“, sagte Mama streng.

„Und?“ Riekes Blick lag gespannt auf ihrer Mutter. Marla schwieg weiterhin.

„Das wollte ich mit euch besprechen. Ich würde sehr gerne nach Nepal fliegen und ein paar Wochen mit Lorenz verbringen. Allerdings fliege ich nur dann, wenn ihr alle drei einverstanden seid.“

Bevor Rieke oder Marla sich äußern konnten, war es wieder Henni, die mit aufgeregter Stimme sprach.

„Ein paar Wochen? Und dann? Kriegen wir dann wieder eine Schwester? Seid ihr nicht inzwischen aus dem Alter raus?“

Ihre Mutter warf ihr einen verblüfften Blick zu.

„Naja, so war es doch fast immer, oder? Das hast du uns erzählt. Kaum warst du damals mit Rieke schwanger, hat er dich sitzengelassen. Als ihr euch nach Ewigkeiten wiedergesehen habt, wurde neun Monate später Marla geboren, und einer der nächsten Besuche von ihm endete mit mir. Vielleicht hofft er ja jetzt auf einen Sohn!“ Ihr Gesicht glühte vor Zorn.

„Euer Vater hat mich nicht sitzengelassen, Henriette“, versuchte Grit ihre Jüngste zu beschwichtigen. „Dass er ins Ausland gehen würde, hatte schon lange festgestanden. Wir konnten ja nicht ahnen, dass ich nach unserem Urlaub schwanger sein würde. Er wäre geblieben. Ich aber habe darauf bestanden, dass er ging. Ich wusste von seinem Fernweh. Er wäre hier nicht glücklich gewesen, egal, wie sehr wir uns darum bemüht hätten. Die Art unserer Beziehung, die zugegebenermaßen außergewöhnlich ist, war für uns beide immer in Ordnung. Lorenz ist die Liebe meines Lebens. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie er ist. Ich wollte ihn nicht anders haben. Und ja, es hat Abschiede gegeben. Es wird sie auch wieder geben, und sie werden wieder wehtun. Aber wahre Liebe kennt keinen Abschied, mein Schatz.“ Sie strich zärtlich über Hennis Wange und nahm ihre Hand. „Wenn du irgendwann den Mann findest, den du wirklich liebst, wirst du mich verstehen.“ Dann gluckste sie amüsiert. „Obwohl ich mit 43 Jahren noch nicht zu alt für ein weiteres Kind wäre, so habe ich nicht vor, noch einmal schwanger zu werden.“

Aber Henni war noch nicht fertig. „Vielleicht hat er ja noch andere Kinder überall auf der Welt verstreut. Wer kann das schon wissen? Offene Beziehung und so.“

„Ach, du Süße.“ Mama küsste Hennis Hand und hielt sie umschlungen. „Du bist deinem Vater so unglaublich ähnlich, auch wenn du es – zumindest jetzt gerade – nicht gerne hörst. Nicht nur äußerlich siehst du aus wie er. Du hast auch sein Temperament.“ Sie musste über Hennis böse Miene lächeln. „Als wir vor vielen Jahren beschlossen haben, dieses Leben zu führen, war uns bewusst, dass wir uns gegenseitig viel Freiheit zugestanden. Ohne jede Kontrolle. Was wir daraus machen, ist unsere Sache. Ich weiß, dass er mich von ganzem Herzen liebt. Wenn ich von Kindern erfahren würde, die er noch hat, so würde es an meiner Liebe zu ihm nichts ändern.“

„Warum habt ihr denn überhaupt geheiratet, wenn ihr doch frei sein wolltet?“ Henni war nachdenklich geworden.

„Wäre es nach mir gegangen, so wäre ich auch ohne Trauschein glücklich gewesen. Aber als ich schwanger wurde, hat er darauf bestanden. Lorenz wollte, dass wir abgesichert sind, falls ihm etwas zustoßen würde. Kurz vorher waren wir in das Haus eingezogen, das er geerbt hatte. Es würde dann mir gehören.“

„Ich finde es in Ordnung, wenn du zu Papa fliegst“, verkündete Marla und lehnte sich nach vorne, die Ellenbogen auf die Knie gestützt.

„Ich auch“, schloss sich Rieke an und zögerte, bevor sie weitersprach. „Wir können schauen, ob wir einen günstigen Standby-Flug für dich bekommen.“

Ihre Mutter klatschte vergnügt in die Hände. „Lorenz bezahlt die Reise. Außerdem hat er Geld überwiesen, somit sollten wir fürs Erste versorgt sein.“

„Ich werde dich vermissen, Mama. Aber es ist okay.“

Grit schloss ihre Jüngste in die Arme. „Ich danke dir, mein Schatz. Ich weiß, dass es dir schwerfällt. Es sind nur drei Wochen, die gehen schneller rum, als du glaubst. Und lasst euch gesagt sein: Ich werde euch auch vermissen. Jeden Tag.“

***

Die Zeit bis zu Mamas Abreise verging wie im Flug. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass es das Beste war, wenn Mama zu Beginn der Sommerferien in ihr großes Abenteuer starten würde. So konnte sie noch das Schulfest besuchen und Hennis Auftritt mit der Band erleben. Während der Ferien lief ohnehin nichts wie im Alltag, daher würde etwas mehr Chaos als sonst kaum auffallen.

Mama beendete ihre Malerei für Breuers Nachwuchs und erledigte einige weitere kleinere Aufträge. Das Bild, das sie in der Nacht vor ihrem Unfall begonnen hatte, hatte sie nicht wieder angerührt.

Marla und Henni mussten nicht nur für die letzten Klassenarbeiten lernen, sie halfen auch dabei, die reifen Früchte im Garten zu ernten und zu verarbeiten. So roch das bunte Haus tagelang nach süßer Marmelade und sauer eingelegtem Gemüse.

Zu aller Überraschung wurde Henni von Loreen und deren Eltern eingeladen, für eine Woche mit ihnen nach Griechenland zu fliegen. Darüber freute sie sich so sehr, dass mit ihr kaum noch ein vernünftiges Wort zu reden war.

Als wenige Tage vor dem Schulfest auch noch die Sängerin der Schulband erkrankte und Henni für sie einspringen sollte, war sie dermaßen aufgeregt, dass ihre Schwestern sie von allen Hausarbeiten entbanden, damit sie üben konnte.

So gesellten sich zu den betörenden Düften oft Hennis Klavierspiel und Gesang.

Kapitel 2

Endlich war es soweit.

Gemeinsam brachten die Mädchen zwei Tage vor Beginn der Sommerferien ihre Mutter zum Flughafen. Sogar Rusty hatten sie mitgenommen. Der kleine Hund war den ganzen Nachmittag über so außer sich gewesen, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatten, ihn allein zu lassen. Seit Mamas Gepäck aufeinandergetürmt auf der alten Couch neben der Haustür stand, hatte er es mitunter böse angeknurrt und machte im nächsten Moment einen ängstlichen Bogen darum. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, sie alle würden ihn für immer verlassen.

„Richte Papa liebe Grüße von mir aus“, sagte Rieke, die den Hund an der Leine hielt und Mama mit ihrem freien Arm an sich drückte. „Und pass auf dich auf. Melde dich zwischendurch mal.“

„Ich versuche es ganz bestimmt.“ In Jeans, Turnschuhe und Hemd gekleidet, mit einem Rucksack auf dem Rücken und dem bunten Tuch im Haar sah Mama aus wie eine Studentin. „Lorenz erzählt immer, dass es in den Gegenden, wo er sich aufhält, selten Internet gibt. Ich melde mich auf jeden Fall, sobald ich die Möglichkeit dazu habe. Ich muss ja wissen, dass es euch gut geht.“ Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Mach dir keine Sorgen um uns, Mama.“ Marla legte ihre Arme um sie und küsste sie auf die Wangen. „Du weißt, dass wir zurechtkommen. Genieße einfach die Zeit mit Lorenz. Grüße ihn auch von mir ganz herzlich. Ich würde mich freuen, wenn er mal wieder zu Besuch kommt. Es ist schon so lange her, seit wir ihn gesehen haben.“

Mama blinzelte tapfer ihre Tränen weg und wandte sich zu Henni, die sie fast um einen Kopf überragte.

„Meine Kleine.“

Henni warf sich in ihre Arme. „Mama!“, schluchzte sie. „Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, nicht zu heulen. Aber jetzt …“

„Ist schon gut, mein Schatz, mir geht es genauso. Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Abschied traurig macht.“ Sie drückte Henni fest an sich. „Ich werde deinem Vater die Bilder von deinem Auftritt zeigen. Er wird sehr stolz auf dich sein und sich wünschen, er wäre dabei gewesen.“

Henni schniefte und nahm das Taschentuch, das Rieke ihr reichte.

„Meinst du wirklich?“, fragte sie mit belegter Stimme, während sie sich die Nase schnäuzte. Ihre Mutter nickte überzeugt.

„Ja, du warst echt toll. Das fanden nicht nur wir, sondern alle, die euren Auftritt miterlebt haben.“

Rieke und Marla nickten eifrig. Was Mama sagte, war die Wahrheit, und Henni war sich dessen durchaus bewusst.

„Meinetwegen kannst du ihn auch von mir grüßen“, meinte sie und hörte sich schon etwas munterer an.

„Das mach ich, Kleines.“ Mama schloss die Arme um ihre Töchter. „Ich hab euch lieb, meine Mädchen. Ruft mich sofort an, wenn irgendetwas ist. Versprecht ihr mir das?“

Alle drei nickten.

„Klar, Mama.“

„Versprochen.“

„Das machen wir.“

Ein paar Minuten blieben ihnen noch, dann war Grit nach vielem Winken und Handküssen hinter den Sicherheitskontrollen verschwunden.

„Und jetzt?“

Henni stand etwas verloren in der Küche und sah sich um.

„Lasst uns Siedler spielen“, schlug Marla vor und holte den Marmorkuchen, den Mama gestern noch gebacken hatte. Rieke kochte Tee.

„Oh, wie cool. Kuchen zum Abendessen?“

„Es gibt Situationen, die Ausnahmen erfordern“, meinte Rieke und lächelte, als Henni freiwillig den Tisch deckte und an den Schrank lief, um das Spiel hervorzukramen.

„Wie sieht eure Planung für die nächsten Tage aus? Erst mal Zeugnisse und dann?“

„Gleich am Montag kommt die Klavierstimmerin“, strahlte Henni, die bereits am Tisch saß und das Spiel aufbaute. „Ich kann’s kaum erwarten. Ich habe so viele Ideen für neue Lieder, mein Kopf ist total voll davon.“

„Vielleicht könntest du dir zum Geburtstag ein Keyboard wünschen, dann wäre das mit dem Proben noch viel einfacher.“ Mit diesen Worten setzte Marla sich zu ihr und legte sich ein Stück Kuchen auf den Teller.

„Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Das dauert zwar noch vier Monate, aber es wäre genial. Wenn ihr alle zusammenlegen würdet und ich das Geburtstagsgeld von den Großeltern beisteuere, dann könnte es sogar reichen.“

„Und außer Klavierstimmen?“, lenkte Rieke auf ihre ursprüngliche Frage zurück.

„Naja, Loreen und ich müssen unseren Griechenlandurlaub vorbereiten. Nur noch etwas mehr als eine Woche!“, jubelte Henni und stieß gegen das Spielbrett. „Klamotten raussuchen, coole Musik aufs Handy laden, packen – da geht eine Menge Zeit drauf.“ Sie schob die verrutschten Spielfiguren auf ihren Platz zurück.

„Hühner füttern, Hund Gassi führen, abwaschen, Wäsche waschen – da geht auch eine Menge Zeit drauf. Ich mach ganz sicher nicht alles alleine“, warf Marla ein.

„Nee, musst du nicht“, versicherte Henni.

„Wenn ich zwischendurch ein wenig Luft habe, übernehme ich gerne was davon. Zumindest Rusty werde ich hin und wieder mitnehmen. Das Einkaufen kann ich auch erledigen.“

„Wieso sind deine Schichten eigentlich in den nächsten Wochen so lang?“ Die Jüngste runzelte die Stirn.

„Naja, es sind Sommerferien, also ist auch bei uns Urlaubszeit. Außerdem sind zwei Mitarbeiter krank geworden, dadurch müssen die, die übrig sind, eben länger arbeiten.“

„Und wann machst du Urlaub?“, wollte Marla wissen, die sich gerade die Krümel von den Händen strich.

„So wie es aussieht, im frühen Herbst. Wir wollen vielleicht für einige Tage in den Norden fahren.“

„Na, super.“ Henni verzog spöttisch das Gesicht. „Im Herbst in den Norden fahren. Das hört sich nach tollen Ferien an. Herbststürme und Regen. War das Voldemorts Idee?“

„Ich mag Herbststürme und Regen“, entgegnete Rieke sanft. „Du kannst dir kaum vorstellen, wie froh ich bin, dass auch Waldemar dieses Wetter liebt.“

„Ich weiß ja, dass du den windigen Herbst liebst. So war es schon immer, und ich konnte das noch nie verstehen. In dieser Hinsicht sind wir beide sehr verschieden.“

„Nur in dieser Hinsicht?“, mischte sich Marla ein. „Ich finde, ihr unterscheidet euch in so ziemlich allen Dingen. Ich selbst bin dabei die goldene Mitte. Sagen wir, eher Mitte als golden“, setzte sie hinzu. Bevor sie über ihren letzten Satz nachdenken konnte, der ohne zu überlegen hinterhergerutscht war, sprach Rieke.

„Du weißt, dass du nicht die ganze Hausarbeit machen musst, wenn Henni weg ist. Einen Teil davon erledige ich natürlich auch.“

„Kein Problem, wir müssen es damit ja sowieso nicht übertreiben“, meinte Marla. „Wenn Amelie aus dem Urlaub zurück ist, werden wir jeden Tag ins Schwimmbad fahren. Ich hab Mamas Wagen, damit können wir außerdem Ausflüge machen und Rusty mitnehmen. Und sonst …“, sie streckte sich genüsslich. „Sonst werde ich mich hauptsächlich der Entspannung widmen. Lesen, auf der Hängematte zwischen den Bäumen schaukeln, vor mich hinträumen … mehr brauche ich nicht.“

Marla hatte kaum das Wort Bäume ausgesprochen, als ihr einfiel, dass sie immer noch nicht ausprobiert hatte, ob sich das Erlebnis vom Wald an einem anderen Baum wiederholen ließ. Die letzten Wochen waren so turbulent gewesen, dass der eigenartige Spaziergang mit Rusty vollkommen in Vergessenheit geraten war. Sie beschloss auf der Stelle, dass sie genau das tun würde, sobald sich der Moment dazu bot.

Doch das sollte noch dauern.

***

Nach den beiden letzten Schultagen, denen die Zeugnisausgabe folgte, kam der Samstagmorgen, den die Schwestern bei schönstem Sonnenschein im Garten verbrachten. Nachmittags wurde Marmelade gemacht, und anschließend kochten sie gemeinsam überbackene Maultaschen mit Tomatensoße.

Erst am Sonntag kehrte Ruhe ein. Es war zehn Uhr und Marla war allein. Ganz allein. Henni hatte bei Loreen übernachtet und Rieke war schon früh morgens zur Arbeit aufgebrochen. Marla sah zu Rusty, der unterm Tisch lag und sie aufmerksam beäugte. Er wartete auf den Moment, da sie aufstand und mit ihm spazieren ging.

Der richtige Zeitpunkt war gekommen, beschloss sie. Gleich nach dem Frühstück würde sie ihren Versuch starten. Alles passte. Sie war allein, es war warm und trocken, und sie hatte nichts zu erledigen.

„Kannst ja mitgehen“, sagte sie zu dem kleinen Hund und lauschte dem Klang ihrer Stimme nach. „Damals warst du auch dabei. Du musst nur still sein, sonst kann ich nichts hören.“

Rusty betrachtete sie mit schiefgelegtem Kopf. Sein Schwänzchen schwang fröhlich auf den Holzdielen hin und her und machte dabei ein Geräusch, das sie noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Ssst, ssst, ssst. Der Grund dafür war die Stille. Eine Stille, die es in diesem Haus üblicherweise nicht gab. Sonst hörte man meist irgendwo ein Radio, die Bässe von Hennis Musik oder Mamas Trällern, wenn sie in ihrem Atelier war und malte. Sogar von draußen drang heute Morgen kein Geräusch. Im Dorf war scheinbar noch niemand unterwegs, und auch die Vögel waren nach ihrem Frühkonzert bemerkenswert ruhig.

Immerhin waren die Hühner so normal gewesen wie immer, als Marla sie vor dem Frühstück gefüttert und die Eier eingesammelt hatte. Sie waren gackernd um sie hergelaufen und später, als sie ihnen die Tür geöffnet hatte, aus dem Gehege gestürmt.

Sie hatte sich auf das Alleinsein während der Ferien gefreut. Wenn Henni für eine Woche nach Griechenland verschwand, würde das Haus in eine himmlische Ruhe sinken. Wie oft hatte sie sich in der Vergangenheit danach gesehnt. Sie würde sich erst einmal daran gewöhnen müssen, aber sie würde die Zeit genießen. Sie erhob sich vom Stuhl und stellte das Geschirr zusammen. Sofort sprang Rusty auf die Beine und rannte zur Tür.

„Erst der Versuch, dann unser Spaziergang“, sagte sie zu ihm. Eine kleine Melodie summend räumte sie das Frühstück ab und hängte sich die Hundeleine um.

Kurz darauf stand sie vor der Erle. Der Baum war zwar nicht so alt und knorrig wie die mächtige Eiche im Wald, aber sie war stattlich, und der Umfang ihres Stammes durchaus beachtenswert. Der kleine Wassergraben, an dessen Rand sie gewachsen war, war während der heißen Jahreszeit meistens ausgetrocknet. So auch jetzt.

Marla setzte sich an den Fuß der Erle, den Rücken an den Stamm gelehnt, und klopfte auf den Boden neben sich. Ohne zu zögern legte sich Rusty an ihre Seite. Sie streichelte mit geschlossenen Augen seinen Rücken und schob alle Gedanken weit von sich. Das Holz hinter ihr war warm und angenehm, und dieses Gefühl auskostend ließ sie einige Minuten verstreichen. Vor ein paar Wochen war es wie von selbst passiert. Jetzt aber geschah nichts.

Sie konzentrierte sich auf all ihre Sinne und versuchte, jede Empfindung wahrzunehmen, auch wenn sie noch so gering war. Ihren Rücken drückte sie ein wenig fester an die Rinde, und schließlich drehte sie sogar den Kopf zur Seite, damit sie ihr Ohr daran legen konnte.

Nichts. Kein Summen. Nur Stille. Wie vorhin im Haus. Noch wollte sie nicht aufgeben und blieb reglos eine Weile sitzen. Vergeblich. Enttäuscht stand sie auf.

„Komm, Rusty. Wir gehen in den Wald.“

Aus Erfahrung klug geworden, leinte sie ihn an. Auf seinen vorwurfsvollen Blick bemerkte sie achselzuckend: „Du bist selbst daran schuld. Vielleicht erinnerst du dich.“

Es stand außer Frage, welchen Weg sie einschlagen würde. So enttäuscht sie auch war, so sehr hoffte sie nun auf eine Wiederholung am Original selbst. Sie musste es nur finden. Das jedoch sollte kein Problem sein. Sie hatte Zeit, die Sonne schien warm vom Himmel herab, und sie war frei. Weit über ihr zogen luftige Wolken über das Blau, getrieben von einer unsichtbaren Kraft. Ein leichter Wind fuhr ihr durchs Haar, streifte die bloße Haut ihrer Arme und Beine. Es war ein wunderbares Gefühl. Marla breitete die Arme aus, während sie lief und genoss die Gewissheit, dass sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Den ganzen Tag lang. Ach was! Den ganzen Sommer lang!

Beinahe wie von selbst gelangte sie schließlich zu der alten Eiche. Nur ganz am Ende musste sie ein wenig nach dem richtigen Pfad suchen. Dann hatte sie den Ort erreicht, den sie letztes Mal durch Zufall entdeckt hatte. Sie erkannte die Stelle sofort wieder und ließ ihren Blick aufmerksam über diesen Flecken Erde gleiten. Wie beim vorigen Mal spielte der Wind in den Laubkronen der Bäume, als wären sie Instrumente. Auf dem Boden hüpften Licht und Schatten umeinander, und die vertrockneten Blätter des Vorjahres, die den Waldboden bedeckten, flammten feuerrot auf, wenn Sonnenstrahlen sie trafen.

Marla empfand diesen Ort als ziemlich idyllisch. Als seelenwarm. Dieses Wort hatte sie vor einiger Zeit in einer Deutschklausur benutzt, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es überhaupt im Duden stand. Sie mochte es. Und für diese besondere Stelle mitten im Wald traf es zu.

Rusty bellte und sprang ungeduldig an ihren Beinen hoch, in der Hoffnung, sie würde ihn endlich laufen lassen. Doch damit würde er heute keinen Erfolg haben. Marla lief zur Eiche und legte vorsichtig ihre Rechte auf die Rinde. Es dauerte keine Sekunde.

Es begann als zartes Prickeln auf ihrer Handfläche. Wie ein feiner Strom zog dieses Kribbeln weiter, über ihr Handgelenk und den Unterarm bis hinauf zur Schulter.

Mehr überrascht als erschrocken zog sie ihre Hand zurück. Abwechselnd starrte sie auf den knorrigen Stamm und auf ihre Handfläche. Sie konnte nicht sagen, was sie erwartet hatte. Ob sie überhaupt etwas erwartet hatte. Mit Sicherheit aber hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so jäh geschehen würde. Und so heftig.

Betroffen legte sie den Kopf in den Nacken und versuchte, die Spitze des Baumes zu sehen. Durch die kräftigen Äste und das dichte Laub war sie kaum zu erkennen. Was passierte hier? Konnte man sich Dinge so sehr einbilden, dass sie real schienen? Sie bückte sich zu Rusty, der gänzlich unbeteiligt neben ihr das Laub nach Käfern durchwühlte, und strich ihm übers Fell. Er hob den Kopf, leckte sich über die erdverkrustete Schnauze, und als Marla nichts sagte, schnüffelte er unbeeindruckt weiter. Er hatte demnach nichts Außergewöhnliches gewittert.

Marla trat dicht an den Baum heran. Während sie sich zu Boden sinken ließ, pochte ihr Herz aufgeregt. Ein Zurück gab es nicht, denn dafür war sie gekommen. Sie bedeutete dem Hund, sich zu ihr zu legen und schloss die Augen. Die Mulde zwischen den Wurzelarmen war sonnenwarm und weich. Sie überlegte nicht lange, lehnte sich an den Stamm und spürte, wie sich die Rinde in ihre Haut drückte.

Ohne Überraschung nahm sie das Vibrieren wahr. Ihr Rückgrat nahm es wie selbstverständlich auf und leitete es weiter, bis diese Empfindung sich über ihren gesamten Körper ausgebreitet hatte. Wie gebannt wartete sie, was geschehen würde. Doch es geschah nichts. Es änderte sich nur etwas. Anfangs war ihr das, was in ihrem Körper passierte, eigenartig erschienen. Nach einer Weile aber fühlte es sich