Joerdis - Karin Ann Müller - E-Book

Joerdis E-Book

Karin Ann Müller

0,0

Beschreibung

*Was es bedeutet, wirklich zu lieben, habe ich nicht geahnt. Bis zu dem Augenblick, als ich sie sah. Plötzlich fühle ich wie ein Mensch. Ich möchte mit ihr Hand in Hand gehen und darüber sprechen, was wir abends kochen. Ich stelle mir vor, wie ich unseren Kindern einen Gutenachtkuss gebe und das Licht im Flur brennen lasse. Ich will mit ihr alt werden und sterben, wenn mein Körper müde und verbraucht ist. Aber all das wird niemals sein. Denn ich bin der Fürst der Winde. * Seit Wochen zerbricht sich Rieke den Kopf darüber, wie sie sich so hat irren können. Im Grunde ist sie noch immer davon überzeugt, dass sie füreinander bestimmt sind! Dennoch ist er gegangen, und sie hat keine Ahnung warum. Als Marla ihr den Vorschlag macht, sie nach Frankreich zu begleiten, nimmt sie dankbar an. An der rauen Küste der Bretagne begegnet ihr ein Fremder. Dieser sieht ihr nicht nur auffallend ähnlich, er scheint sie obendrein zu kennen. Kurz darauf erfährt sie von einem wohlgehüteten Familiengeheimnis, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Ab jetzt beschäftigt sie nur noch die eine Frage: Wer ist sie wirklich? Auch der zweite Teil der Windbrüder-Reihe ist ein in sich abgeschlossener Roman. Natürlich ist das Lesevergnügen größer, wenn man die Teile in Folge liest. Leserstimmen: "Auch Joerdis konnte mich wieder von Anfang bis Ende begeistern, fesseln und meine Gefühle Achterbahn fahren lassen. Besonders wunderbar finde ich die Tatsache, dass die Reihe mit den Geschwistern und Windbrüdern von Teil 1 weitergeht, aber dennoch in sich abgeschlossen ist, aber man auch die Entwicklung der Charaktere erfährt." "Hier passt einfach alles. Mystik, Fantasy, Liebe und Realität, alles super verpackt in Windbrüder 2." "Nachdem der erste Teil der Windbrüderreihe *Elaine* 2019 zu meinen Jahreshighlights gezählt hat, hatte ich doch recht hohe Erwartungen an *Joerdis*. Um es gleich vorweg zu nehmen, Karin Ann Müller hat sie sogar übertroffen. Der Schreibstil der Autorin ist einfach famos; absolut traumhaft, bezaubernd und ergreifend. Eine wunderschöne und traumhafte Reise durch die Zeilen. Ich liebe diese Reihe einfach! Schöner träumen ist kaum möglich."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 452

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine Eltern

In Liebe und Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Prolog

„Komm“, wisperte er und er hoffte, sein Anblick würde sie nicht allzu sehr abschrecken. „Du bist hier richtig. Im Grunde habe ich schon auf dich gewartet.“

Erleichtert sah er, dass sie einen zögernden Schritt nach vorne tat. Sie war klein und so zart, dass sie fast ätherisch wirkte. Das verhaltene Lächeln, das sie ihm plötzlich schenkte, traf ihn bis ins Mark. In seiner Brust rasselte es hässlich, als er nach Luft schnappte. Ein erbarmungsloser Hustenanfall folgte. Als sich sein Blick geklärt hatte, war sie fort.

„Joerdis!“, rief er – und erwachte.

Sein Kopf, heiß vom Husten, lag noch immer auf der Tischplatte. Vor ihm flackerte unruhig der letzte Rest der Kerze. Er richtete sich auf und rieb sich die schmerzenden Schultern. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er hatte geahnt, dass etwas passieren würde. Ihr Name war Joerdis. Soviel wusste er nun. Und sie war unterwegs zu ihm.

Grundgütiger! Er hatte nicht gewusst, dass etwas so Schönes existierte.

Kapitel 1

Draußen tobte wütend der Wind und klatschte Fetzen von welkem Laub gegen die Scheibe. Pralle Regentropfen, von Böen getrieben, zerbarsten vor ihren Augen in unzählige Teile. Fasziniert beobachtete Rieke dieses Schauspiel, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, weshalb sie im Winter geboren war und nicht im Herbst. Sie liebte den Herbst. Sie mochte den kristallklaren Morgen im Oktober, wenn der Himmel wie blankgeputzt war und die Sonne alles in schreiend rote und braune Farben tauchte. Auch durch den geheimnisvollen Novembernebel lief sie gerne, der beinahe alle Geräusche verschluckte und der einem das Gefühl gab, alleine auf der Welt zu sein. Vor allem aber liebte sie den Herbststurm, der die Wolken vor sich herjagte und die Kronen der Bäume zu einem wilden Tanz zwang. Wenn sie ihm dabei zusah, hatte sie das Gefühl, ein Teil dieses unbändigen Spiels zu sein. Und in ihr regte sich die unerklärliche Sehnsucht, sich aufzulösen und mit dem Wind davonzuziehen.

In diesem Jahr war der Herbst ganz plötzlich und mit unerwarteter Heftigkeit hereingebrochen. Keiner hatte eine Erklärung dafür, auch nicht der Wetterdienst. Es war nicht einmal Mitte Oktober, und schon jetzt hatten die Bäume einen Großteil ihres Laubs verloren. Der Wald, der hinter dem Haus begann, war übersät von abgebrochenen Zweigen und es schien, als wären die Herbststürme noch lange nicht erschöpft.

Sobald das Tosen für einen Augenblick nachließ, konnte Rieke das Klavierspiel aus dem Erdgeschoss hören. Henni, ihre jüngste Schwester, übte ein neues Stück und war kaum von dem Instrument wegzuholen. Es sei denn, es ging um Mathe oder um die Band, in der sie vor einigen Wochen als Sängerin und Keyboarderin aufgenommen worden war.

„Essen ist fertig!“, rief ihr Vater herauf. Rieke verzog das Gesicht und wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte weder Hunger noch Appetit. Ihr Blick fiel auf Rusty. Der kleine Hund, der sich auf ihrem Bett zusammengerollt hatte, hob den Kopf und sah sie mit seinen klugen Augen aufmerksam an. Das Wort Essen kannte er sehr gut, und er wusste, dass sie seinen Napf füllen würde, sobald sie unten waren. Am liebsten würde sie sich neben ihn legen, dem Sturm zuhören und darauf warten, dass sie einschlief. Sie wusste jedoch, dass ihre Familie sie zum Essen holen würde, ob sie nun wollte oder nicht. Das Klavierspiel hatte aufgehört, und jemand lief die Treppe herauf. Zaghaftes Klopfen an der Tür.

„Ich komme ja schon“, sagte sie. Rusty stand bereits an der Tür. Sie hatte mit Henni gerechnet, aber es war Marla, die eintrat.

„Alles in Ordnung?“

Sie nickte. „Ich habe zum Fenster rausgesehen. Es geht recht wild zu dort draußen. Der Herbst, er ist anders als sonst.“

Marla trat ans Fenster und blickte hinaus. „Du hast recht. Es ist anders.“ Als würde sie eher zu sich selbst sprechen als zu Rieke, murmelte sie: „Ich frage mich schon die ganze Zeit, was ihn so wütend gemacht hat.“

Wieder einmal stellte Rieke fest, dass ihre Schwester sich verändert hatte. Es hatte mit dem zu tun, was im Sommer passiert war. Damals, als – als er noch da war. Marla hatte Henni und ihr zwar erzählt, weshalb sie so oft in den Wald gegangen war, und dass es mit der alten Ruine auf dem Klagehügel zu tun hatte. Dennoch vermutete Rieke, dass mehr dahintersteckte, und dass Marla ihnen bis heute einige Dinge verschwieg. Nun, es war ihr gutes Recht, nur das zu erzählen, was sie erzählen wollte. Auf jeden Fall – und das wusste die ganze Familie – war Marla seit dieser Zeit glücklich verliebt. Vermutlich wäre sie auch niemals in der Lage, es zu verbergen. Die Leichtigkeit, mit der sie sich bewegte, das Leuchten, das auf ihrem Gesicht erschien, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, all dies sprach Bände. Rieke kannte die Anzeichen nur zu gut. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn man glücklich verliebt war.

„Riechst du es? Ich habe dein Lieblingsessen gekocht“, sagte ihre Schwester und drückte sich vom Fensterbrett ab.

„Das ist lieb von dir.“ Riekes Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hoffte, dass sie ein paar Happen würde essen können.

„Habt ihr eure Mutter mitgebracht?“, fragte Lorenz, als sie den Wohnraum betraten.

„Ich hole sie! Sicher hat sie die Musik laut gestellt und nichts gehört.“ Schon stürmte Marla die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo Mama ihr Atelier besaß. Seit sie aus dem Himalaya heimgekehrt war – mit Papa im Schlepptau – war sie voller Inspiration, und wenn sie nicht gerade ihrer Arbeit als Malerin nachging, so fand man sie meistens vor ihrer Staffelei.

„Oh, riecht das gut“, stöhnte Henni, lunzte in den Ofen und half Rieke beim Tischdecken. „Echt eine coole Sache, dass Marla sich so konsequent im Kochen versucht. Ich finde, sie hat definitiv Talent. Aber sag ihr das bloß nicht. Sonst hört sie womöglich damit auf, und ich muss wieder Zwiebeln schälen.“

„Das habe ich gehört, Henni“, kam es trocken von Marla, die hinter Mama die Treppen herablief. „Und Zwiebeln schälen könntest du auch für mich.“

Henni grinste. „Ich füttere lieber die Hühner.“

„Hast du es dir durch den Kopf gehen lassen?“, fragte Lorenz, als sich alle aus der Auflaufform bedient hatten. Dabei sah er Rieke an. Vorher hatte Marla sichtlich geschmeichelt das Lob ihrer Familie entgegengenommen.

„Ja, das habe ich.“ Rieke schob sich eine gehäufte Gabel in den Mund und ließ sich Zeit. Du brauchst Urlaub, hatte ihr Vater vor einigen Tagen zu ihr gesagt, als sie, wie jetzt, beim Abendbrot saßen und sie lustlos an einem Stück Brot geknabbert hatte. Ihr Vater, der erst seit kurzer Zeit wieder bei ihnen lebte und von ihrem Gefühlsleben sicher nicht viel wusste, hatte intuitiv das vorgeschlagen, was am meisten Sinn machte. Genaugenommen war es sogar das Einzige, das Sinn machte. Sie brauchte Urlaub. Ablenkung, die sie bei der Arbeit nicht fand. Denn alles im Wildpark erinnerte sie an ihn. An den Mann, den sie liebte. An den Mann, der sie verlassen hatte. Ihr Hals wurde eng, wie immer, wenn sie an Waldemar dachte, und sie brachte den Bissen kaum herunter.

Die ganze Zeit schon hatte sie gewusst, dass Abstand die einzige Möglichkeit für sie war, zum normalen Leben zurückzufinden. Dennoch sehnte sie sich nach ihrem Arbeitsplatz, sobald sie ihn verlassen hatte. Hier hatten sie sich kennengelernt. Vom ersten Moment an hatten sie gewusst, dass sie zueinander gehörten. Gesprochen hatten sie darüber nie. Es hatte keiner Worte bedurft. Ihr Zusammensein hatte sich so – vollkommen angefühlt. Als könnte es niemals mehr anders sein. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte!

„Frederike?“ Ihre Mutter sah sie fragend an, das Haar wie immer dunkel und zerzaust um ihren Kopf stehend.

„Ich habe gemacht, was du vorgeschlagen hast, Papa. Ich habe heute gefragt, ob ich meinen Urlaub vorverlegen kann. Die nächsten zwei Wochen habe ich frei.“ Mit diesen Worten schob sie ihren Stuhl vom Tisch zurück. Rusty, der seinen Napf leergegessen hatte, sprang auf ihren Schoß und rollte sich ein.

Henni quietschte vor Freude. „Das ist ja prima! Dann bist du in den Herbstferien mit Marla und mir zuhause! Wir könnten mal wieder Monopoly spielen, oder Siedler, oder was anderes.“

„Ich bin nicht zuhause“, korrigierte Marla sie. Mit Mühe unterdrückte sie ein breites Grinsen.

„Oh, stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen! Du fährst zu deinem Lieblingsfranzosen. Wann bekommen wir ihn mal zu sehen?“

„Vielleicht in den Weihnachtsferien. Zwischen den Jahren oder so.“ Marla warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu.

„Ich habe nichts dagegen“, sagte Mama. „Auch ich würde Kelian gerne persönlich kennenlernen.“ Marla sprang auf, umarmte ihre Mutter stürmisch und setzte sich wieder.

„Dann eben du und ich“, sagte Henni zu Rieke. „Loreen ist mit ihren Eltern in Spanien. Somit könnten wir was unternehmen. Außer Dienstagabend, da ist Bandprobe.“

„Ich glaube nicht, dass ich zurzeit eine gute Gesellschafterin bin.“ Rieke strich Rusty über den Kopf. „Außerdem möchte ich lieber alleine sein. Ich werde zusammen mit Rusty lange Spaziergänge durch den Wald machen.“

„Allein zu sein macht die Sache bestimmt nicht besser, oder?“ Henni hatte missbilligend die Augenbrauen gehoben. „Wenn du alleine bist, passiert genau das, was du gerade gar nicht brauchst. Du denkst dann immerzu an ...“

„Ich habe eine Idee!“, unterbrach Marla die Jüngere, bevor diese einen Namen aussprechen konnte. „Rieke, was hältst du davon, wenn du mit mir zu Kelian fährst? Die Küste dort ist ein Traum. Du könntest stundenlang spazieren gehen und über die Klippen klettern. Und falls du doch Gesellschaft brauchst, so bin ich für dich da! Oder auch Estelle und Luc, Kelians Eltern. Sie sind sehr nett. Sie haben einen Garten, der dir gefallen würde. Er ist so groß, dass man sich darin verlaufen kann, und er ist sehr geheimnisvoll. Man rechnet jeden Moment damit, auf irgendein mystisches Wesen zu treffen. Einmal dachte ich, ein pelziges Etwas kreuzt meinen Weg, und ich habe mich total erschrocken. Es war aber nur Monsieur, Kelians Kater. Rieke“, endete Marla ein wenig atemlos und sah ihre Schwester bittend an. „Lass mich Kelian fragen. Er und seine Eltern würden sich freuen, dich kennenzulernen. Sie haben Platz genug. Die Saison ist rum und die Gästezimmer sind sicher größtenteils leer.“ Sie hatte Riekes Hand ergriffen.

„Ich weiß nicht so recht“, entgegnete Rieke zweifelnd und suchte nach einem vernünftigen Grund, den Vorschlag abzulehnen. „Ich würde dir mit meiner Schwermut die Zeit mit Kelian gründlich vermiesen. Außerdem brauchen mich die Hühner.“

Marla lachte. „Glaub mir, Rieke: Es ist unmöglich, mir etwas zu vermiesen, wenn ich mit Kelian zusammen bin. Dieses Argument lasse ich ganz bestimmt nicht gelten. Und die Hühner werden auch ohne dich versorgt sein, immerhin bist du nicht zum ersten Mal weg.“ Sie wandte sich an ihre Eltern. „Was haltet ihr davon?“

Mama, die dem Gespräch mit ausdrucksloser Miene gefolgt war, warf Lorenz einen langen Blick zu und schwieg.

„Ich finde die Idee gut“, sagte dieser, legte seine Hand auf die seiner Frau und drückte sie sanft. „Eine Ortsveränderung ist genau das, was du brauchst, Frederike. Weshalb also nicht die Bretagne?“

Schließlich nickte auch Mama. „Ja, warum nicht? Es klingt, als wäre es genau das Richtige.“ Trotz ihrer zustimmenden Worte schien sie nicht ganz überzeugt.

„Das finde ich auch!“, rief Henni und fügte im selben Atemzug hinzu: „Ich komme mit!“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

„Kommt nicht in Frage, Henriette!“ Mama hatte sich aufrecht hingesetzt und sehr energisch gesprochen. „Es reicht, wenn Magdalena und Frederike bei Kelians Familie auftauchen. Es gibt keinen Grund, dass ihr im Dreierpack kommt.“

„Keinen Grund? Ich soll als Einzige von uns hierbleiben und den ganzen Tag alleine sein? Ich werde mich zu Tode langweilen!“

„Du wirst nicht alleine sein“, versprach Lorenz. „Ich habe einige Vorträge vorzubereiten und bin daher zuhause.“

„Und abends könnten wir zusammen etwas spielen“, schlug Mama vor.

„Ach!“ Hennis Augen blitzten gefährlich, und mit unverhohlenem Sarkasmus meinte sie: „Wir spielen jetzt also Mutter, Vater, Kind? Besser spät als nie, oder was? Nein, danke! Darauf verzichte ich.“

„Sei nicht frech“, mahnte Mama in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Henni kniff die Lippen zusammen und schwieg, die Wangen vor Zorn gerötet.

„Ich bleibe hier.“ Rieke schickte ein verständnisvolles Lächeln in Hennis Richtung. „Ich bin gerne zuhause, und es stimmt, wir könnten zusammen etwas unternehmen. Das ist eine gute Idee, Henni.“

„Nein“, stieß Henni reumütig hervor. „Das wollte ich nicht. Du solltest auf jeden Fall mit Marla in die Bretagne fahren. Aber“, dabei sah sie ihre Schwester bittend an, „vielleicht lässt du mir Rusty hier? Dann fühle ich mich nicht ganz so alleine und könnte mit ihm spazieren gehen. Er darf auch bei mir schlafen.“

Rieke antwortete nicht sofort. Rusty nicht bei sich zu haben würde ihr das Gefühl geben, nicht vollständig zu sein. Er würde ihr schrecklich fehlen. Der Hund hatte den Kopf gehoben, als sein Name gefallen war.

„Was ist mit Darius?“, wollte Marla wissen. „Ihr habt euch doch außerhalb der Bandproben öfter mal getroffen. Ist er auch im Urlaub?“

„Ich habe ihm gesagt, dass es keinen Sinn macht.“ Henni zog eine Grimasse.

„Was macht keinen Sinn? Du magst ihn doch, oder? Im Sommer sah es so aus, als ob du ziemlich …“

„Ja, ich mag ihn“, unterbrach Henni sie. „Aber mehr wird auch nicht draus. Ich finde es unangebracht, wenn man zusammen in einer Band spielt und gleichzeitig ein Paar ist. Falls dann nämlich Schluss ist, ist auch Schluss mit der Band. Und das wäre blöd. Die Musik ist mir wichtiger als irgendwelche Jungs!“

„Hm“, brummte Marla zweifelnd. Sie wusste, dass ihre Schwester für Darius geschwärmt hatte, bevor dieser sie gebeten hatte, Mitglied der Band zu werden. Er war ein feiner Kerl, und die Mädchen, die auf dem Schulhof um ihn herumschlichen, schien er nicht mal zu bemerken. Er hatte nur Augen für Henni. Und jetzt das! Nun, ihre Schwester war seit ein paar Tagen sechzehn Jahre alt und sollte wissen, was sie tat.

„Ist gut, ich lasse Rusty bei dir. Aber du kümmerst dich gut um ihn.“ So richtig glücklich sah Rieke nicht aus. Zu Marla gewandt sagte sie: „Ich komme gerne mit, aber nur für eine Woche.“

„Ich danke dir, Rieke!“, rief Henni. „Ich werde mich gut um Rusty kümmern, versprochen!“

„Um die Hühner kannst du dich während der Ferien auch gerne kümmern.“ Mama schmunzelte, als sie hinzufügte: „Außerdem hätte ich da noch ein paar andere Dinge, die seit Ewigkeiten darauf warten, erledigt zu werden. Du wirst dich also ganz sicher nicht langweilen.“

„Wenn du möchtest“, mischte sich Lorenz zögernd ein, wohl wissend, dass es ihn noch viel Mühe kosten würde, Hennis Vertrauen zu gewinnen, „könnte ich dir Klavierstunden geben.“

„Du kannst Klavier spielen?“ Sie sah ihn verblüfft an. Ihr Zorn schien vergessen.

Lorenz lächelte. „Recht gut sogar. Meine Großtante Henriette, nach der du benannt bist, war Klavierlehrerin und hat mich unterrichtet, so oft ich sie darum bat. Und das war ziemlich oft.“

„Auf diesem Klavier?“ Mit dem Kinn wies Henni zum Wohnzimmer, wo das alte Klavier stand, das im Sommer endlich gestimmt worden war und an dem sie seitdem viele Stunden verbracht hatte. Ihr Vater nickte.

„Ja, auf diesem betagten Klavier, das in diesem Haus steht, seit ich denken kann.“

„Warst du oft bei deiner Großtante?“

Rieke sah, dass Mama der Unterhaltung aufmerksam folgte. Es war das erste Mal, seit ihr Vater wieder nach Hause gekommen war, dass Henni sich offenkundig für ihn interessierte. Während der letzten Wochen hatte sie eher den Eindruck vermittelt, dass es ihr lieber wäre, Lorenz würde wieder dorthin verschwinden, woher er gekommen war. Rieke vermutete, dass es dafür zwei Gründe gab. Zum einen hatte er sich seit der Geburt seiner Töchter nur selten zuhause aufgehalten, was Henni für unverzeihlich hielt. Und jetzt, da er nach einem Urlaub mit Mama wieder heimgekehrt war, mussten die Mädchen ihre Mutter mit ihm teilen. Etwas, das sie nicht kannten und das zumindest Henni schwerzufallen schien.

„Bevor meine Eltern sich haben scheiden lassen“, erzählte er nun, „haben sie jahrelang schrecklich viel miteinander gestritten. Ich flüchtete oft zu Tante Henriette, die immer einen Platz für mich hatte. Auch meine Ferien verbrachte ich häufig hier, und ich liebte es, zuzuhören, wenn ihre Schüler zum Unterricht kamen.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich jemals Klavier spielen gehört zu haben“, sagte Henni, die Stirn gerunzelt.

„Wenn ich hier war, wollte ich die Zeit, die ich hatte, mit euch verbringen.“

„Aber ich kann mich daran erinnern“, meldete sich Rieke zu Wort. „Ich muss noch recht klein gewesen sein.“

„Ja, damals habe ich mich noch hin und wieder drangesetzt. Du bist immer auf meinen Schoß geklettert und hast meinen Händen zugesehen, wie sie über die Tasten gewandert sind.“

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen. Jeder von ihnen schien sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, ein ganz normales Familienleben zu führen. Mit einem Vater an ihrer Seite.

„Spielst du auch Bach?“, fragte Henni schließlich.

„Ja, ich spiele auch Bach.“ Er verzog ein wenig das Gesicht, bevor er fortfuhr. „Tante Henriette war großer Bach-Fan. So kam ich nicht umhin, einige seiner Stücke zu lernen. Anfangs mochte ich ihn nicht besonders. Später aber habe ich ihn lieben und schätzen gelernt.“

Henni sah ihn mit großen Augen an. „Kannst du etwas von ihm spielen?“

Lorenz wirkte ein wenig verlegen, als er sich erhob. „Es ist schon lange her. Bitte sieh mir meine Fehler nach.“ Mit federnden Schritten durchquerte er den großen Raum. Man sah ihm förmlich an, dass er hoffte, seine jüngste Tochter zu beeindrucken. Als er sich an das Instrument gesetzt hatte und sich sammelte, sprach niemand ein Wort. Endlich senkte er die Hände auf die Tasten und schlug die ersten Töne an.

„Das Präludium.“ Henni nickte anerkennend. Er spielte das bekannte Stück dynamisch und fehlerfrei bis zum Ende.

„Es ist das einzige Stück überhaupt, das ich bis heute auswendig kann“, sagte Lorenz entschuldigend, als er sich wieder an den Tisch setzte. „Allerdings“, fügte er an Henni gewandt hinzu, „müssten im Keller noch alte Notenbücher sein, darunter auch welche von Bach. Wenn du möchtest, sehen wir die Kisten zusammen durch. Vielleicht ist ja etwas Brauchbares dabei.“

Henni sprang auf. „Au ja! Lass uns nachsehen!“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Dafür haben wir ausreichend Zeit, wenn deine Schwestern in der Bretagne sind.“

„Wann fahrt ihr?“, wollte Henni von Marla wissen.

„Mein Zug geht Sonntag früh. Rieke, du brauchst noch eine Fahrkarte, wir können sie gleich buchen. Oder fährst du mit dem Auto?“

„Lieber nicht. Es macht seit ein paar Tagen Probleme beim Starten. Ich fahre auch mit der Bahn.“

Kapitel 2

Er hatte sich zurückgezogen. Weit weg vom menschlichen Treiben, in völlige Abgeschiedenheit. Normalerweise suchte er, wenn er Kraft schöpfen wollte, seinen Gefährten auf, der ihm mit seiner Güte und Sanftheit bedingungslos zur Seite stand. Der Windfürst stöhnte gequält auf. Gut und sanft, das war auch sie. Und sie war der Grund, weshalb er von jeder Normalität weit entfernt war. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel sie gemein hatten. Die Frau, die seinen Wesenskern zum Schmelzen gebracht hatte und sein Gefährte, der sein ruhiger Hafen war. Noch hoffte er, dass der Schmerz vergehen würde. Er brauchte nur ein wenig Zeit. Deshalb hatte er sich in die tiefen Wälder Nordeuropas geflüchtet. Dennoch war ihm, als würde seine Energie von Tag zu Tag schwinden. Das war nicht gut, denn er musste mit seinen Kräften haushalten. Es dauerte nicht mehr allzu lange, bis auf der Nordhälfte der Erde der Winter einzog. Das war seine Zeit. Die Zeit des Nordwinds, der klirrenden Kälte und des Frostes. Wochenlang würde er unterwegs sein, pausenlos. Bis zu dem Augenblick, da der Frühling seinen grünen Atem über das Land hauchte und er selbst sich erschöpft zurückziehen würde.

Es war nicht etwa so, dass er den Rest des Jahres nichts zu tun hatte und nur ausruhen konnte. Sobald ihn der Hilferuf einer seiner Windbrüder ereilte, war er zur Stelle. Er schlichtete, wenn es Probleme gab und half, wenn um Rat gefragt wurde. Dafür musste er oft weite Strecken zurücklegen, immer hoch genug, um nicht aus manch lauer Sommernacht ein eisiges Erlebnis zu machen.

Zudem war es seine Aufgabe, sich zu vergewissern, dass jeder der Windbrüder zuverlässig seinen Job tat. Nachlässigkeiten wurden geahndet. Meist genügte eine kurze Unterredung in freundlichem Ton. Wenn jedoch einer der Windbrüder wiederholt sein Eingreifen erforderte, so war es an ihm, jenen Wind zu beobachten und gegebenenfalls zur Rechenschaft zu ziehen. Glücklicherweise geschah dies nicht allzu häufig.

Seit Anbeginn der Erde war er der Fürst der Winde und hatte so manchen seiner Brüder kommen und gehen gesehen. Er liebte diesen wunderschönen Planeten, der so einzigartig war. Hatte gestaunt über die unzähligen Wunder, die entstanden waren und ärgerte sich über die unbegreifliche Gedankenlosigkeit, mit der die Menschen deren Existenz aufs Spiel setzten.

Dennoch mochte er die Geschöpfe, die sich die Erde untertan gemacht hatten. Er wusste um das helle Zentrum ihrer Seelen und gab die Hoffnung nicht auf, dass dieses Licht, das in jedem Einzelnen von ihnen leuchtete, sie eines Tages auf den richtigen Pfad führen würde. Weg von Krieg, Zerstörung und Ausbeutung. Weg von Hass und Habgier. Nur so würde diese Spezies, die sich Mensch nannte, überleben. Sollten die Menschen es wider Erwarten nicht schaffen, so würde ihr geliebter Planet – versklavt und seiner Ressourcen beraubt – sie überdauern und sich von ihnen erholen. Soviel war gewiss.

Während der Vergangenheit war Borg mit Hingabe Herr der Windbrüder gewesen. Inzwischen aber verging kein Tag, ohne dass er sich wünschte, er wäre es nicht. Ohne zu zögern würde er alles riskieren, alles verlieren, um nur für kurze Zeit bei ihr zu sein. Von Angesicht zu Angesicht. Um ihr zu versichern, dass sie sich nicht geirrt hatte, als sie an seine Liebe glaubte. Um ihr zu sagen, dass er, wenn es möglich wäre, seine Existenz aufgeben würde, von einem Moment auf den anderen, um bei ihr zu bleiben. Zu sein wie sie. Ein Sterblicher, in dessen Brust ein Herz pulsierte. Warm, stark und menschlich.

Er, der das Gesetz verkörperte und es nicht verändern konnte, befand sich in einem Zustand der völligen Zerrissenheit. Die Weisheit, für die man ihn bewunderte und die ihm die Hochachtung seiner Windbrüder eingebracht hatte, hatte ihn in dem Moment, als es um ihn selbst ging, verlassen. Er hatte nicht einmal die leiseste Ahnung, wie das, was passiert war, überhaupt hatte geschehen können. Wie war es möglich gewesen, dass er sich in eine Frau verliebt hatte, die nicht für ihn bestimmt war? Schlimmer noch. In eine Frau, die ganz offensichtlich für einen seiner Windbrüder vorgesehen war. Eine Windbestimmte.

Das Wissen um seine Unzulänglichkeit bescherte ihm seit Wochen schlechte Laune. Viel zu oft schon hatte er den ein oder anderen seiner Windbrüder rau angefahren und Kleinigkeiten bemängelt. Dinge, über die er sonst großzügig hinweggesehen hätte. Dafür hasste er sich noch mehr, und das wiederum machte alles noch schlimmer.

Zu allem Überfluss hatte er sich vorgenommen, etwas zu tun, das ihn endgültig zu zerreißen drohte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dennoch würde er derjenige sein, der ihnen zu ihrem Glück verhalf. Wer so offensichtlich zusammengehörte, sollte zueinanderfinden. Erst dann war die Sache für ihn endgültig erledigt.

Borg stöhnte und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der seinen Wesenskern zu sprengen drohte. Halblaut rief er:

„Gawain!“

Er wartete. Die Entfernung von Deutschland bis zu den nördlichsten Wäldern Norwegens war nicht gerade gering, und sogar Gawain, der ein außergewöhnlicher Stürmer war, konnte nicht zaubern.

Endlich kam ein Luftzug auf, schwer vom Geruch nach Moos und feuchtem Waldboden.

„Hier bin ich!“, rief Gawain ein wenig außer Atem und sah sich neugierig um. „Stets zu Diensten, Euer Gnaden!“

„Gawain, bitte lass das! Du weißt, dass ich solche Anspielungen nicht mag.“

„Ja, weiß ich Chef! War nur Spaß! Norwegen also. Meine Güte, ist das kalt hier!“

Borg mochte Gawain. Mit seiner Heiterkeit, die ihm scheinbar nie abhandenkam, erhellte er jede noch so finstere Stimmung. So auch jetzt. Borgs Mundwinkel verzogen sich unwillkürlich zu einem Lächeln, wenn auch etwas schiefgeraten.

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er.

„Was soll ich tun?“ Gawain sah ihn erwartungsvoll an. „In die Bretagne stürmen wie zuletzt? Per Luftpost irgendwem eine Nachricht übermitteln?“

„Nichts in dieser Art.“ Borg zögerte. Gab es keine andere Möglichkeit? Musste er es wirklich seinem Windbruder überlassen? Die einzige Alternative war, dass er es selbst übernahm. Doch er hatte sich geschworen, nicht mehr in ihre Nähe zu gehen.

„Sondern?“, fragte Gawain behutsam, als sich der Blick seines Fürsten grübelnd in der Ferne verlor.

„Es ist – ein wenig heikel.“ Borg hatte seinen Blick wieder eingefangen und richtete ihn auf den Windbruder, der ihn interessiert musterte.

„Heikel?“

„Ja. Ich möchte erstens, dass keiner der Windbrüder davon erfährt, und zweitens wünsche ich, dass du nichts hinterfragst.“

„Versprochen. Der Wind wird schweigen, als wäre Flaute. Und keine Fragen stellen.“

„Gut. Ich verlasse mich auf dich.“ Bevor Borg weitersprach, atmete er tief durch. „Du kennst den großen Wald, in dessen Mitte sich der Klagehügel befindet?“

Gawain nickte verwundert. Natürlich kannte er den Wald. Er gehörte schließlich zu seinem Wirkungsfeld.

„Es geht um das bunte Haus am Waldrand.“

Wieder nickte er. Auch dieses Haus kannte er. Borg wusste genau, weshalb.

„Es gibt dort drei Schwestern. Mein Anliegen betrifft die Älteste von ihnen. Ich möchte wissen, ob sie zuhause ist und ob es ihr gut geht.“

„Okay“, sagte Gawain und zog das Wort in die Länge, genau so, wie er es bei jungen Leuten schon gehört hatte. Nachdenklich setzte er hinzu: „Bei allem Respekt, Fürst, ich bin mir sicher, dass es für dich unzählige Möglichkeiten gibt, das selbst herauszufinden. Bei deinen Fähigkeiten!“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, knurrte der Windfürst unwirsch. „Ich habe dich gebeten, keine Fragen zu stellen. Und Bemerkungen dazu brauche ich ebenso wenig. Finde heraus, wie es ihr geht. So schnell wie möglich.“

„Egal mit welchen Mitteln?“ Gawain grinste und fügte, als er den Ausdruck im Gesicht seines Fürsten sah, schnell hinzu: „War ein Scherz! Natürlich werde ich mich an die Regeln halten, Hoheit!“

„Gawain!“

„Sorry, Chef! Bin schon weg! Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.“

Schon hatte Gawain sich in die Lüfte geschwungen und eilte zurück. Im Vergleich zu den letzten Wochen war der Fürst erfreulich umgänglich gewesen, längst nicht so schlecht gelaunt und miesepetrig. Gawain kannte ihn schon lange, und es war überhaupt nicht Borgs Art, an allem etwas auszusetzen. Aber die ständige Nörgelei seines Fürsten – noch dazu meist völlig unberechtigt – hatte dafür gesorgt, dass Gawain hin und wieder richtig sauer auf ihn gewesen war. So sauer, dass er viel zu oft wütend durch den Wald gefegt war und Unmengen von Blättern von den Bäumen gezerrt hatte.

So schnell wie es ging würde er seinem Fürsten die Information bringen, nach der er verlangte. Vielleicht ging es ihm dann endlich besser.

Gawain selbst freute sich darauf, ein wenig Abwechslung in seine Tage zu bringen. Diese Aufgabe könnte interessant werden. Spannender, als tagein und tagaus Laub von den Bäumen zu reißen und Zapfen auf den Boden zu befördern. Überdies war es allerhöchste Zeit, mal wieder an diesem bunten Haus vorbeizuschauen. Seit Monaten schon plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Zumindest ein bisschen.

***

Die Landschaft flog an ihr vorüber. Weitläufige Flächen abgeernteter Felder. Hier und da ein kleiner Ort, ein Wäldchen. Ansonsten nur Weite unter einem trostlosen, herbstgrauen Himmel. Frankreich. Seit dem frühen Morgen waren sie unterwegs und fuhren nun im TGV von Paris nach Brest.

Neben ihr saß Marla, vertieft in ein Buch, und lernte Französisch. Rieke fand, dass ihre Schwester die Sprache schon recht gut beherrschte. Marla aber war anderer Meinung.

„Naja, es ist nur das Schulfranzösisch“, hatte sie gemeint. „Wenn ich Kelian im Lokal und in der Küche helfen möchte, dann will ich mich nicht blamieren. Außerdem spricht sein Vater kein Deutsch. Und Luc ist der Chefkoch.“

„Dafür blamierst du dich mit mir“, hatte Rieke geantwortet, denn sie selbst sprach kaum ein Wort dieser Sprache. Das bisschen, das sie bis zur mittleren Reife gelernt hatte, war längst vergessen.

„Ach, Rieke!“ Marla hatte sie stürmisch umarmt. „Niemals würdest du mich blamieren. Es funktioniert auch prima ohne Französisch, du wirst sehen.“

Rieke war aufgeregt. Nie zuvor war sie im Ausland gewesen. Die wenigen Urlaube, die sie mit Mama gemacht hatten, hatten sich auf die deutschen Mittelgebirge beschränkt und waren zudem selten gewesen. Rieke selbst hatte nie das Bedürfnis gehabt, zu verreisen. Sie liebte ihr familiäres Umfeld über alles und war am liebsten zuhause. Das Backsteinhaus, in dem sie lebten, war, seit sie denken konnte, mit Wärme und mit Leben gefüllt. Mit seinen bunten Fenstern und Türen wirkte es wie eine Einladung zum Glücklichsein. Es stand inmitten eines wilden Gartens voller alter Obstbäume und Rosensträuchern. Das Schönste aber war der Wald, der hinter dem Haus begann und direkt an den Garten grenzte. Schon als Kind hatte sie Stunden dort verbracht, umgeben von Buchen, Fichten und Tieren. Wie oft hatte ihre Mutter sie geschimpft, weil sie sich alleine im dunklen Unterholz herumtrieb, und hatte sie ermahnt, nicht ohne Begleitung in den Wald zu gehen. Trotzdem war Rieke immer wieder heimlich entwischt, denn irgendetwas in der Natur zog sie unwiderstehlich an. Es waren nicht nur die hohen Bäume, die sich sanft im Wind wiegten und ein grünes Blätterdach über ihr bildeten. Oder das Wild, das sich nicht vor ihr zu fürchten schien. Es gab dort auch allerlei geheimnisvolle Wesen, denen sie begegnete. Hohe Farne, die ihre fedrigen Arme nach ihr ausstreckten, um sie zu streicheln. Oder mächtige, von Moos überzogene Baumwurzeln, die wirkten, als wären sie verwunschene Gestalten, die zum Leben erweckt werden wollten. Sie alle schienen ihr Dinge zuzuflüstern, und schon als sie noch keine acht Jahre alt war, hatte sie das Gefühl, sie müsste verstehen, was sie ihr erzählten.

Dass es all jene Wesen nicht gab, war ihr sehr wohl bewusst, und sie hütete sich davor, Mama zu erzählen, dass sie mit Bäumen und Farnen sprach, als wären sie ihre Freunde. Dennoch war nicht zu bestreiten, dass sie sich im Wald genauso zuhause fühlte wie bei ihrer Familie.

Das war auch der Grund, weswegen sie im Tierpark arbeitete. Schon sehr früh hatte für sie festgestanden, dass sie Tierpflegerin werden wollte. Etwas anderes hätte sie sich niemals vorstellen können. Schon jetzt spürte sie leises Bedauern, weil sie die Tiere des Parks, die sie ins Herz geschlossen hatte, vierzehn lange Tage nicht sehen würde.

Da war das Rotwild, das von Natur aus so scheu war und doch ihre Nähe suchte, sobald es sie witterte. Die Sanftheit der Tiere berührte sie jeden Tag aufs Neue. Außerdem erkannte sie sich in ihnen wieder, denn auch sie selbst war Fremden gegenüber ausgesprochen scheu. Dann gab es die Wölfe. Eyota kam ihr in den Sinn, die junge, hochbeinige Wölfin, die im Frühjahr zum ersten Mal Junge geboren hatte. Wie stolz sie ihre Wolfskinder präsentierte, wenn Rieke sich näherte! Sie mochte Wölfe, und die Wölfe mochten sie. Es war wie mit den Hunden. Auch zu ihnen spürte sie eine tiefe Verbundenheit.

„Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass Henni und Papa ein bisschen Zeit miteinander verbringen müssen“, sagte Marla und klappte das Buch zu. Sie öffnete ihren Rucksack und reichte Rieke eine Brotdose. „Du kannst nicht neun Stunden lang nur von Nüssen und Sonnenblumenkernen leben“, mahnte sie, bevor Rieke ablehnen konnte. Also griff Rieke nach der Dose, nahm ein Käsebrot heraus und biss eine Ecke ab.

Marla schmunzelte. „Sie werden sich irgendwie zusammenraufen. Die beiden sind sich in vielem so ähnlich, sie würden sich gut verstehen. Mit dem Klavier kriegt er sie ganz bestimmt. Wer hätte gedacht, dass Henni ihr Talent für die Musik von Papa geerbt hat?“ Plötzlich wurde sie ernst. „Was meinst du: Wird er diesmal bleiben? Unsere Eltern sind so glücklich miteinander. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ihn wieder in die Ferne zieht. Aber was, wenn doch?“

Rieke wiegte nachdenklich den Kopf. „Nun ja, bisher ist ihre Liebe nicht daran zerbrochen. Vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer Beziehung, auch wenn es schwer nachvollziehbar ist. Zudem ist jemand, der Sehnsucht nach der Ferne hat, nicht aufzuhalten. Er wäre todunglücklich, wenn er nicht gehen könnte.“

„Wenn Papa tatsächlich wieder fortginge, wird er Henni endgültig verlieren. Soviel steht fest. Vielleicht sollte ihm das jemand sagen.“ Energisch öffnete Marla ihre Wasserflasche und trank ein paar Schlucke.

„Das weiß er, Marla. Das weiß er ganz sicher.“

***

Obwohl Rieke von der Reise und dem langen Tag erschöpft war, konnte sie nicht einschlafen. Eine seltsame Unruhe hatte sie erfasst, und es war ihr unmöglich, sie zu deuten. Das verwirrte sie, denn bisher war es selten geschehen, dass sie nicht wusste, was in ihr vorging.

Durch das geöffnete Fenster hörte sie den Wind seufzen, der nun, da es Nacht war, nicht mehr so kräftig blies wie bei ihrer Ankunft. Neben sich vernahm sie die tiefen Atemzüge ihrer Schwester. Im weißen Mondlicht, das von Zeit zu Zeit zwischen den Wolken hervorschimmerte, erkannte sie, dass das Glück, das sich auf Marlas Gesicht gestohlen hatte, seit sie in der Gesellschaft von Kelian war, sie noch im Schlaf lächeln ließ.

Kelian, der darauf bestanden hatte, die Schwestern vom Bahnhof in Brest abzuholen, hatte Marla bei der Begrüßung in die Arme geschlossen und nicht wieder loslassen wollen. Während die beiden sich auf der Fahrt ausgelassen und fröhlich unterhalten hatten, betrachtete Rieke, die schweigsam im Heck des Wagens saß, die Umgebung. Mit jedem Kilometer wurde die Landschaft rauer, die Straßen schmaler, Dörfer seltener. Den letzten Teil der Strecke fuhren sie über einen engen asphaltierten Weg, der voller Schlaglöcher war, und obwohl Kelian den Wagen geschickt lenkte, konnte er nicht verhindern, dass seine Insassen ordentlich durchgeschüttelt waren, als sie das Ziel erreichten. Es nieselte noch immer.

Der Empfang war sehr herzlich. Kelians Familie lebte auf einem großen Anwesen mit einem weitläufigen Garten, zu welchem, wie Marla ihr erzählt hatte, ein kleiner Wald gehörte. Neben dem Wohngebäude befand sich das Fischlokal, das Kelian gemeinsam mit seinen Eltern führte. Es war nach einer Vorfahrin der Familie benannt und hieß Chez Louise.

Der junge Franzose hatte ein wundervolles Essen vorbereitet, und zusammen verbrachten sie einen geselligen Abend. Kelian und seine Mutter Estelle sprachen gutes Deutsch, dafür konnte Luc kaum eine Silbe. Trotzdem war es Kelians Vater, den Rieke sofort in ihr Herz schloss. Er war ebenso ruhig und zurückhaltend wie sie selbst, und obgleich sie kaum miteinander reden konnten, entwickelten sie innerhalb von wenigen Stunden eine besondere Zuneigung zueinander.

Nicht lange nach dem Essen waren die jungen Frauen in das Gästezimmer gegangen, das Estelle für sie hergerichtet hatte. Sie waren müde. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Rieke war hellwach. Daher erhob sie sich und tappte ans Fenster. Unter ihr lag der Garten, umgeben von Sträuchern und Bäumen. Weiter hinten begann, dunkel und geheimnisvoll, der kleine Wald. Marla hatte versprochen, ihr morgen die Umgebung zu zeigen. Vor allem das Meer und einen Felsenberg, der eine Höhle unter sich barg. Rieke hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie wollte nichts weniger, als Marla von Kelians Gesellschaft abzuhalten. Doch ihre Schwester hatte abgewinkt. Frühmorgens fuhr Kelian zum Fischen hinaus, und sie würde ihn nicht gleich am ersten Tag begleiten.

„Wenigstens einmal ausschlafen“, hatte sie mit einem schiefen Lächeln gemeint. „Immerhin habe ich Ferien. Dann aber fahre ich mit ihm raus, denn ich möchte ja das Fischen lernen.“

Eine plötzliche Windbö fegte durch das gekippte Fenster und bauschte den Vorhang. Der Geruch von Salz und Meer fuhr ihr in die Nase, vermischt mit der Kühle des Herbstes. Rieke versuchte, noch mehr dieser Luft einzufangen. Sie war prickelnd und belebend. Am liebsten würde sie nach draußen gehen. Vielleicht würde das diese unerklärliche Unruhe lindern. Wieder mogelte sich der Mond durch die Wolken. Wenige Tage, und er würde sich runden. Das Silber, das er über den Garten goss, machte aus dem Rasen einen schimmernden Teppich. Ein Schatten huschte darüber hinweg, und Rieke erkannte Monsieur, den Kater des Hauses. Er hatte während des Essens wiederholt versucht, auf ihren Schoß zu springen, bis Estelle ihn schließlich hinausbeförderte.

„Es macht mir nichts aus, wirklich“, hatte Rieke gesagt und dem Kater bedauernd hinterhergesehen. Sie vermisste Rusty. Wie gerne hätte sie das vertraute, warme Gefühl auf ihrem Schoß gehabt. Doch Estelle war unnachgiebig gewesen.

„Tut mir leid, chérie. Aber ich darf nicht zulassen, dass er unsere Gäste belästigt. Allerdings hat er es noch nie so hartnäckig versucht wie bei dir.“

„Bei Rieke ist das normal“, hatte Marla erklärt. „Egal ob Hunde oder Katzen, sie wollen immer zu ihr. Als wir Kinder waren, war das auch schon so. Sogar unsere Hühner lieben sie über alles und legen mehr Eier, wenn Rieke zuhause ist.“

Kelian sah vom Essen auf und grinste. „Wie war das? Molli, Polli, Dolli …“

„… Jolli und Holli“, ergänzte Marla vergnügt, als Kelian nicht weiterwusste.

„Naja, so ist das nun auch wieder nicht.“ Verlegen hatte Rieke nach ihrem Wasserglas gegriffen. Aber sie wusste, dass es die Wahrheit war. Und sie kannte nur einen einzigen Menschen, über den man dasselbe sagen konnte. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht an ihn zu denken. Ebenso hatte sie sich vorgenommen, sich nicht immer wieder dieselbe Frage zu stellen. Und irgendwie hatte es während der letzten Stunden ganz gut funktioniert. Sie vermutete, dass es mit diesem seltsamen Gefühl zusammenhing, das sich ihrer in dem Augenblick bemächtigt hatte, als sie aus dem Auto gestiegen war. Wieder fand der Wind den Fensterspalt und füllte ihre Nase mit Seeluft.

Entschlossen zog sie Pulli und Jeans an, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. Sie musste nach draußen, unbedingt. Sie wollte diese Luft um sich haben, sie spüren, sie einatmen, ihre Lungen damit füllen. Barfuß lief sie die Treppen hinab und hoffte, dass die Tür zum Innenhof nicht abgeschlossen war. Erleichtert trat sie vor das Gebäude. Es hatte zu nieseln aufgehört, und die Luft schmeckte nach Meer. Sie schmeckte nach Leben und nach – da war noch etwas, aber sie konnte es nicht benennen. Nachdem sie sich umgesehen hatte, lief sie zu einer Holzbank, die an der Hauswand stand, und setzte sich. Mit geschlossenen Augen lauschte sie der Nacht. Von irgendwo hinter dem Haus erklang ein feines Klirren. Weit in der Ferne heulte kurz darauf ein Hund. Es klang traurig und schön zugleich. War er einsam? Vermisste er jemanden? Wie ging es Rusty, der sich jede Nacht auf ihre Füße legte, sich dort geborgen fühlte und zugleich auf sie achtgab? Vermisste er sie so wie sie ihn? Es würde ihm hier gefallen.

Erst jetzt vernahm sie das leise Grollen. Es schien von überallher zu kommen. Konnte dies das Meer sein? Das Rauschen der Brandung? War sie dafür nicht zu weit weg vom Wasser? Plötzlich konnte sie es kaum erwarten, an die See zu kommen. Sich in den Wind zu stellen und das Gesicht von der Gischt benetzen zu lassen. Barfuß über die Klippen zu klettern, über ihr die Möwen, die ihr Spiel mit dem Wind trieben. Oder war es nicht eher so, dass der Wind sein Spiel mit ihnen trieb, wenn er sie gegen den Himmel schleuderte? Sie hatte keine Ahnung, woher all diese Bilder kamen, denn sie war nie am Meer gewesen. Dennoch wusste sie, dass es ihr vertraut sein würde.

Als der Kater plötzlich auf ihren Schoß sprang, erschrak sie kaum. Zufrieden schnurrend ließ er sich von ihr streicheln und drückte seinen Kopf an ihre Brust

„Na, Monsieur“, sagte sie mit kosender Stimme. „Da hast du aber Glück gehabt, dass ich Rusty nicht mitgebracht habe. Niemals hätte er zugelassen, dass mich eine Katze belagert.“

Monsieur gab ihr maunzend eine Antwort, legte sich hin und räkelte sich zufrieden. Er schien genau verstanden zu haben. Rieke lächelte. Sie griff in die Tasche ihrer Jeans und steckte sich einige Sonnenblumenkerne in den Mund. Es gefiel ihr hier, und sie war froh, dass sie sich von ihrer Familie hatte überreden lassen, Marla zu begleiten. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich so weit weg von zuhause wohlfühlen könnte. Sie mochte Kelian, den dunkelblonden jungen Mann, der Marla offensichtlich vergötterte. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass ihre Schwester nach dem Abitur ein Jahr lang hier leben würde, der Familie im Restaurant half und mit Kelian zum Fischen fahren würde.

Wenn sie tatsächlich eine Ausbildung zur Köchin machte und sich für Kelian und dieses Leben entschied, so hatte Marla ihre Bestimmung und ihr eigenes kleines Paradies gefunden. Rieke gönnte es ihr von ganzem Herzen, auch wenn sie sie jeden Tag vermissen würde. Es gab keinen Menschen, dem Rieke so nah war wie ihrer Schwester. Man musste sie einfach mögen. Sie war lebhaft und liebenswert. Und neugierig obendrein. Ihre Neugier hatte sie letzten Sommer in eine ziemlich missliche Lage gebracht.

Energisch schob Rieke diesen Gedanken beiseite, zog die Beine auf die Bank und streckte sich aus. Manchmal war es von Vorteil, wenn man nur anderthalb Meter maß wie sie. Der Kater lag auf ihrem Bauch und gab ein glückliches Seufzen von sich.

Kapitel 3

Sie erwachte, als jemand sie am Arm schüttelte.

„Rieke! Wach auf! Was, um Gottes Willen, machst du hier draußen? Es ist eiskalt! Du holst dir noch den Tod!“ Marla hörte sich ernsthaft besorgt an. Als Rieke sich aufsetzte, sprang der Kater zu Boden und suchte das Weite. Sie blickte zum Himmel. Es war noch nicht richtig hell.

„Ich konnte nicht einschlafen und hatte das Bedürfnis, nach draußen zu gehen.“

„Es ist saukalt draußen! Du hast nicht einmal Strümpfe an, geschweige denn Schuhe an den Füßen!“

„Mir geht es gut“, sagte Rieke heiter. Sie streckte sich. „Du weißt, dass mir nie kalt ist. Außerdem hatte ich Monsieur auf mir. Katzen haben eine höhere Körpertemperatur als wir Menschen, daher war er wie ein Heizkissen.“

Marla brummte eine unverständliche Erwiderung. Dann meinte sie: „Ich gehe in die Küche und mache uns Frühstück. Kommst du mit?“

Rieke erhob sich. „Ich kämme mir noch die Haare und putze meine Zähne.“ Mit diesen Worten lief sie ins Haus.

Als sie mit der Bürste durch ihr Haar fuhr, warf sie einen Blick in den Spiegel und entdeckte einen rosa Schimmer auf ihren Wangen. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie so etwas wie Hoffnung. Sie band ihr Haar zu einem dicken Knoten, schlüpfte in ihre Turnschuhe und lief zum Gasthaus.

„Zuerst zeige ich dir den Garten“, sagte Marla eifrig, als sie nach dem Frühstück ihre Jacken angezogen hatten und durch den Innenhof liefen. „Danach gehen wir zum Strand. Wie schön, dass es aufgehört hat zu regnen!“

Als sie wenig später auf dem Weg zum Meer waren, den Rucksack gefüllt mit Proviant, war Rieke mit ihren Gedanken noch immer in dem herrlichen Garten von Kelians Familie. Er war geheimnisvoll, verwunschen und voller Überraschungen. Sie hatte die Ursache für das zarte Klirren entdeckt, das sie in der Nacht gehört hatte. Es waren Muscheln, auf Kordeln gefädelt wie Perlen auf eine Kette. Sie schlugen im leichtesten Luftzug aneinander und sangen ihr Lied von Meer und Wind. Es klang wunderschön, und am liebsten hätte sich Rieke unter einen der efeubewachsenen Bäume gelegt, um der zauberhaften Musik zu lauschen. Doch es gab hier noch mehr zu entdecken. In dem feuchten Dunst, der sich über dem Boden gesammelt hatte, vermutete man unwillkürlich unsichtbare Wesen, die die Menschen beobachteten und sich wispernd über sie unterhielten. Mehrere Male hatte sich Rieke umgeblickt. Gesehen hatte sie jedoch nichts. Wahrscheinlich hätte Monsieur, der ihnen auf den Fersen folgte, Alarm geschlagen, wenn er etwas Außergewöhnliches gewittert hätte.

Marla hatte ihr den Seerosenteich gezeigt, der in der Nähe des Hauses lag, und sie hatte bei Kelians Großmutter an den Wintergarten geklopft. In bewundernswertem Französisch hatte sie ihr Rieke vorgestellt. Die Dame hatte sie lange mit weisen Augen angesehen und sie dann, genau wie Marla, zur Begrüßung auf die Wangen geküsst. Bevor sie gegangen waren, hatte sie etwas zu Marla gesagt.

„Justine meinte vorhin, wüsste sie es nicht besser, so würde sie schwören, du seist eine Fee aus ihrem Garten“, erzählte Marla jetzt. „Sie habe zwar noch nie eine gesehen, sei sich aber sicher, sie müsste aussehen wie du. Klein, zart und so schön wie der Tag selbst.“

„Die Menschen hier glauben wirklich daran, dass es eine Welt außerhalb der unseren gibt, nicht wahr?“

„Ja. Diese andere Welt ist ein fester Bestandteil ihres Lebens. Es liegt an den keltischen Wurzeln der bretonischen Bevölkerung. Kelian hat mir davon erzählt.“

„Ich bin auch davon überzeugt, dass es Dinge gibt, die wir nicht sehen können“, bekannte Rieke ernst. „In der letzten Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, als ob um mich herum etwas ist. Manchmal denke ich, es würde sich mir gerne zeigen. Aber ich bin unfähig, es zu sehen. Ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst. Du bist genauso bodenständig wie Henni, die jeden auslachen würde, der so etwas behauptet.“

Marla gab darauf keine Antwort. Schweigend liefen sie über Pfade, die durch struppiges Dünengras führten. Kurze Zeit später deutete Marla mit der Hand nach vorne und rief:

„Dort können wir auf das Meer sehen! Lass uns laufen!“ Sie rannte los, Rieke hinterher. Lachend und völlig außer Atem erreichten sie den Rand der Düne. Der Wind zerrte wild an ihren Jacken und schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Rieke starrte auf das Bild, das sich ihr bot. Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Brust. Es war schwer zu sagen, ob es aus Anstrengung war oder wegen des Anblicks, der vor ihr lag.

Sie hatte keine Worte für das, was sie empfand. Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet. Es war wie … heimkommen. Das Wort füllte ihren Kopf aus, gleichzeitig überzog eine Gänsehaut ihren Körper. Ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht sein konnte, denn sie war hier nie gewesen.

„Wunderschön, nicht wahr?“, hörte sie Marlas Stimme neben sich. Sie nickte mechanisch.

„Das ist es“, flüsterte sie und sie spürte, wie ihr der Wind das Gesprochene von den Lippen riss und mit sich forttrug.

„Du müsstest diesen breiten Sandstrand im Sommer sehen, wenn die Sonne scheint und das Meer türkis leuchtet. Jetzt wirkt das Wasser schwarz. Man könnte meinen, es sei ein großes, dunkles Ungeheuer“, plapperte Marla weiter und deutete auf eine kleine Bucht unweit von ihnen. Kleine Fischerboote wiegten sich dort gemächlich auf den Wellen. „Da hinten liegt die Louise, Kelians Boot. Wenn er nicht gerade ausgefahren ist.“ Ihre Augen glitten suchend übers Wasser. Scheinbar ohne Ergebnis, denn sie packte Rieke am Ärmel und zog sie zu einer Treppe, die zum Strand hinabführte. Am Wasser angekommen, blieb sie stehen und krempelte ihre Jeans hoch.

„Was hast du vor?“

„Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus“, erklärte Marla und tat, während sie sprach, genau dies. Anschließend tauchte sie vorsichtig einen Fuß ins Wasser und quietschte entsetzt auf. Aber sie war fest entschlossen. Mit zusammengebissenen Zähnen lief sie bis zu den Waden ins Meer.

„Wer eine richtige Bretonin sein will, muss von März bis November durchs Meer laufen können, ohne mit der Wimper zu zucken!“

„Und du hast vor, eine richtige Bretonin zu werden?“

„Aber ja! Wie Elaine!“ Marla platschte vergnügt durch die Wellen.

„Die Frau vom Klagehügel?“

„Genau! Sie kam von hier, und das Schicksal hat sie nach Deutschland verschlagen. Bei mir wird es genau umgekehrt sein! Ich komme aus Deutschland, und das Schicksal verschlägt mich nach hier!“ Lachend drehte sich Marla ein paarmal um ihre eigene Achse. Sie sah unglaublich hübsch aus: Das offene Haar vom Wind zerzaust, die Wangen gerötet, und ihre Augen sprühend vor Leben. Keine zwei Minuten später verließ sie das kalte Nass, setzte sich auf einen Felsen und zog sich wieder an. „Das muss ich noch üben. Himmel, ist das kalt!“

Während sie an der kleinen Bucht vorüberliefen, entgingen Rieke die Blicke nicht, die ihre Schwester immer wieder verstohlen aufs Meer warf. Aber es war noch zu früh. Erst am späten Vormittag würde Kelian mit seinem Fang zurückkehren.

Hinter der Bucht mit den Booten erhob sich ein Felsmassiv, das sich bis zum Strand erstreckte. Auf dem Hügel, eingebettet zwischen Steinen und Felsen, stand ein kleines Haus.

„Dort klettern wir nachher hinauf“, bemerkte Marla, die ihren Augen gefolgt war. „Vorher aber zeige ich dir das alte Fischerdorf, das direkt hinter dem Berg liegt. Das ist der Ort, wo an den Sonntagen im Sommer das Tanzfest stattfindet, von dem ich erzählt habe.“

Bald darauf spazierten sie an niedrigen, mit Reet bedeckten Häusern vorbei, die um einen Dorfplatz gruppiert waren. Hier war es genauso einsam wie am Strand. Nicht ein einziger Mensch war zu sehen.

„In diesem Dorf haben bis vor hundert Jahren noch Algenfischer gelebt“, erläuterte Marla. „Im Krieg wurden die Häuser vom Militär genutzt, und vor einiger Zeit hat man diesen Ort zu einem Freilichtmuseum hergerichtet. Während der Feste ist es hier sehr hübsch. In den Häusern, die aus winzigen Räumen bestehen, sind Künstlerateliers, die man sich ansehen kann. Und am Ende des Dorfes, wo die Holztische und Bänke stehen, ist ein Gasthaus. Wenn Fest ist, ist es hier voll von Menschen, und die Plätze vor dem Lokal sind alle besetzt. Einige Musiker spielen traditionelle bretonische Musik, und viele der Besucher kommen nur zum Tanzen her.“

Es fiel Rieke nicht schwer, sich das Treiben vorzustellen. Es war schön hier und auch ein wenig geheimnisvoll. Jetzt allerdings, da der Himmel trüb und grau war, kalte Windböen zwischen den verwitterten Häusern hindurchfegten und sich das Grün der Gräser und Sträucher in Braun verwandelt hatte, sah der Ort nicht sonderlich einladend aus. Allerdings war sie froh, dass es Herbst war und nicht Sommer. Sie fühlte sich zwischen vielen Menschen nicht besonders wohl.

Als sie Marla zu dem Felsenhügel folgte, stieg ihre Schwester nicht, wie Rieke erwartet hatte, den Pfad hinauf, der sich zwischen den Steinen emporschlängelte, sondern führte sie über einen sandigen Weg an seinem Fuß entlang. Plötzlich standen sie vor der Öffnung zu einer Höhle. Rieke versuchte hineinzuspähen, doch das spärliche Tageslicht reichte nicht aus, um mehr als den Eingangsbereich zu sehen.

„Dort drinnen befindet sich ein Labyrinth aus hohen Steinen“, sagte Marla in andächtigem Ton und legte ihre Hände auf den Felsen neben dem Höhleneingang. Es war ein wenig, als würde sie ihn begrüßen.

„Sicher scheint in den nächsten Tagen mal die Sonne, dann kommen wir wieder.“ Sie verharrte einen Augenblick. Schließlich wandte sie sich ab und begann, die Felsen hinaufzuklettern. Rieke folgte ihr leichtfüßig, und kurze Zeit später betraten sie das kleine Haus aus Stein, das zwischen den Felsen thronte und aufs Meer hinabschaute. Marla nahm den Rucksack von den Schultern und legte ihn auf eine der Bänke, die an der Wand standen.

„Hier machen wir unser Picknick“, verkündete sie fröhlich und ging zu einer der beiden Luken. „Noch immer nichts zu sehen.“ Ein wenig enttäuscht setzte sie sich und räumte den Proviant aus.

Rieke lehnte sich über die steinerne Brüstung und sah hinaus. Vor ihr lag schwarzglänzend der mächtige Atlantik. Der Wind drückte gewaltige Wellen an Land, die Muscheln und Steine auf den Sand spuckten und brausend zurückrollten.

Die Kraft der Natur wirkte berauschend, und unwillkürlich hatte Rieke das Gefühl, als fegte die Energie durch ihre Adern wie ein reißender Strom. Als Marla sie zum Essen rief, verließ sie nur ungern den Platz, von wo aus sie diesem mitreißenden Spektakel zusehen konnte.

„Gefällt es dir hier?“, fragte Marla kauend, als Rieke neben ihr Platz genommen hatte.

„Ich finde kaum Worte, um zu beschreiben, wie schön es ist. Die Naturgewalten sind so allgegenwärtig, dass man zu einem Teil davon wird. Zumindest fühlt es sich so an.“ Sie steckte sich ein Stück Gurke in den Mund und brach ein Stück von dem Baguette ab, das Marla ihr reichte. „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich mitgenommen hast.“

„Und ich bin froh, dass du dabei bist. So kann ich endlich mit jemandem meine Begeisterung teilen, wenn wir wieder zuhause sind.“ Marla grinste. „Ich habe mir schon gedacht, dass du dieses raue Klima magst. Wahrscheinlich brauche ich dir gar nicht erst vorzuschwärmen, wie schön es hier im Sommer ist, da du ja eher auf Wind und Regen stehst.“

„Ja, Regen und Sturm liebe ich. Ich bin froh, dass es Herbst ist.“

„Es ist dir hier also nicht zu düster?“

Rieke schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich so lebendig, wie schon seit Wochen nicht mehr.“

Marla musterte sie skeptisch, als wollte sie ergründen, ob das, was Rieke behauptete, der Wahrheit entsprach.

„Es ist tatsächlich so“, versicherte Rieke lachend und stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. Marlas Miene entspannte sich. Erleichtert meinte sie:

„Dann habe ich ja alles richtig gemacht.“

„Ja, das hast du.“ Rieke stand auf und stellte sich abermals ans Fenster. Die Weite zog sie wie magisch an. „Marla, sieh mal!“

Ihre Schwester sprang auf und trat an ihre Seite. Es dauerte keine Sekunde. „Da ist Kelian! Komm, lass uns einpacken und ihn begrüßen! Ich bin neugierig, was er gefangen hat!“ Sie wollte die Reste ihres Essens in den Rucksack packen, als Rieke ihren Arm ergriff und sie daran hinderte.

„Lauf zu ihm, Marla! Sag ihm, wie sehr du dich freust, dass er wieder da ist und fahr mit ihm nach Hause. Genießt eure gemeinsamen Stunden.“

„Aber …“

„Kein aber“, sagte Rieke ungewohnt energisch und schob ihre Schwester zum Ausgang. „Ich packe die Sachen in den Rucksack und erkunde Strand und Klippen. Und jetzt erzähle mir nicht, dass ich auf die Flut achtgeben soll und beim Klettern aufpasse, dass ich nicht abrutsche. Das alles weiß ich, mach dir keine Sorgen. Ich bin zwar traurig, aber ich liebe mein Leben und habe nicht vor, es aufs Spiel zu setzen. Wir sehen uns später.“

Marla warf ihr einen verblüfften Blick zu. Selten sprach Rieke so viel an einem Stück, noch dazu mit so viel Nachdruck. „Und du findest den Weg zurück?“, fragte sie dennoch.

Rieke lächelte amüsiert. „Habe ich mich jemals verlaufen?“

„Stimmt. Du bist als Kind schon stundenlang im Wald verschwunden und hast nie ein Problem damit gehabt, zurückzufinden“, räumte Marla ein. „Anders als ich.“

„Na, bitte! Zum Abendessen bin ich wieder da. Im Rucksack ist noch ausreichend Wasser, verdursten werde ich also auch nicht. Und jetzt ab mit dir!“

Marla umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Daraufhin stürmte sie aus dem Gebäude, und Rieke beobachtete, wie sie eilig die Felsen hinabkletterte. Sie stand noch immer an den Eingang gelehnt, als ihre Schwester die kleine Bucht erreichte und Kelian zuwinkte, der das Fischerboot geschickt zwischen den anderen Booten hindurchmanövrierte.