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Ein Roman um Liebe, Mut und Entschlossenheit. Aber auch um Verlust, Rache und Gewalt. Lilli steht eines Tages vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Hals über Kopf beschließt sie, in der Einsamkeit der Berge darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Schnell aber stellt sie fest, dass es dort längst nicht so einsam ist, wie sie erwartet hat. Als plötzlich ein Fremder auftaucht und behauptet, er müsse sie fortbringen um sie zu schützen, steht ihre Welt von einer Sekunde auf die andere auf dem Kopf - und das Abenteuer ihres Lebens beginnt. Auszug: Sie konnte sich kaum bewegen. Vom langen Knien war ihr Körper taub und sie zitterte vor Angst und Kälte. Die scharfen Kanten der Felsen schnitten ihr in die Knie und sie vermutete, dass die Wunde am Schienbein wieder aufgebrochen war. Warm und feucht sickerte das Blut in den Verband. Noch mehr aber schmerzte ihr Herz. Sie würde ihn verlieren. Sie würden ihn vor ihren Augen töten. Die erwartete Hilfe war nicht erschienen und sie selbst war zum Nichtstun verdammt. Sie hatten ihn vor dem Stein auf die Knie gezwungen. Den Kopf stolz erhoben, blickte er zu den Bergen hinauf, als würde ihn das alles nichts angehen. Was dachte er? Dass nun das geschehen würde, womit er seit Jahren gerechnet hatte? Bereute er letztendlich den Weg, den er gegangen war? Oder dachte er darüber nach, dass es niemals soweit gekommen wäre, wenn er sie nicht getroffen hätte? Es war so leicht gewesen, sich die Zukunft mit ihm vorzustellen. Es war ebenso dumm gewesen, an so viel Glück zu glauben. Sie bewegte lautlos die Lippen. Bitte, lieber Gott, bitte nicht ... Der Graugekleidete hob den Arm, ein grimmiges Lächeln im Gesicht. Stahl blitzte auf. Plötzlich ertönte ein langer, schriller Schrei. "Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, dramatisch und spannend bis zur letzten Minute in Szene gesetzt. Klare Kaufempfehlung." (Leserin) "Ich erwartete eine romantische Geschichte und wurde völlig überrascht. Eine Liebesgeschichte mit so viel Spannung habe ich selten gelesen." (Leserin) "Ein sehr spannender, hoffnungsvoller und wunderbarer Roman, der absolut lesenswert ist." (Leserin)
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Seitenzahl: 428
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Epilog
Sie konnte sich kaum bewegen. Vom langen Knien war ihr Körper taub und sie zitterte vor Angst und Kälte. Alles schmerzte. Die scharfen Kanten der Felsen schnitten ihr in die Knie und sie vermutete, dass die Wunde am Schienbein wieder aufgebrochen war. Warm und feucht sickerte das Blut in den Verband.
Noch mehr aber schmerzte ihr Herz. Sie würde ihn verlieren. Sie würden ihn vor ihren Augen töten. Die erwartete Hilfe war nicht erschienen und sie selbst war zum Nichtstun verdammt.
Sie hatten ihn vor dem Stein auf die Knie gezwungen. Den Kopf stolz erhoben blickte er zu den Bergen hinauf, als würde ihn das alles nichts angehen. Was dachte er? Dass nun das geschehen würde, womit er seit Jahren gerechnet hatte? Bereute er letztendlich den Weg, den er gegangen war? Oder dachte er darüber nach, dass es niemals soweit gekommen wäre, wenn er sie nicht getroffen hätte?
Es war so leicht gewesen, sich die Zukunft mit ihm vorzustellen. Es war ebenso dumm gewesen, an so viel Glück zu glauben. Lautlos bewegte sie die Lippen. Bitte, lieber Gott, bitte nicht …
Der Graugekleidete hob den Arm, ein grimmiges Lächeln im Gesicht. Stahl blitzte auf.
Plötzlich ertönte ein lauter, schriller Schrei.
Ein Schauder durchfuhr sie.
Sie blieb stehen und sah sich unbehaglich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war so intensiv, dass sich die Härchen in ihrem Nacken aufgestellt hatten. Sie bewegte sich vorsichtig, um auf dem Weg, der über ein Geröllfeld führte, den Halt nicht zu verlieren. Ihre Augen glitten über den schmalen Pfad, der vor ihr lag und sich in einiger Entfernung in engen Serpentinen den Berg hinaufschlängelte bis zu einer Scharte weit oben am Kamm. Als sie nirgendwo auch nur eine Spur von Leben entdecken konnte, suchte sie die Felsen ab, die grau und mächtig um sie herum in den Himmel ragten. Sie hatte nicht erwartet, etwas zu finden. Das Einzige, das sie überdeutlich wahrnahm, war ihr eigenes, schweres Atmen, das nicht in diese Umgebung zu passen schien. Auch als sie sich umwandte und den Weg absuchte, den sie heraufgestiegen war, sah sie weder Mensch noch Tier. Letzteres bedauerte sie ein wenig, denn seit Stunden hielt sie vergeblich Ausschau nach Gämsen, Steinböcken und Murmeltieren.
Als sie schließlich ihren Weg fortsetzte und nun doch über einen Stein strauchelte, wurde ihr bewusst, dass der Rucksack schwer auf ihren Schultern lastete und sich die Gurte tief und schmerzhaft eindrückten. Außerdem hatte sie Durst, und nicht nur das laute Keuchen, das ihrer Brust entfuhr, zeigte ihr, was sie sowieso wusste. Sie hatte nicht im Geringsten die körperliche Verfassung, die man eigentlich brauchte, um in den Bergen unterwegs zu sein. Vielleicht sollte sie kurz rasten und ihre müden Beine ausruhen.
Lilli öffnete den Schnappverschluss des Bauchgurtes und ließ den Rucksack zu Boden gleiten. Erleichtert streckte sie den Rücken, und als ihre Hände die brennenden Schultern abtasteten, stellte sie fest, dass ihr Baumwollshirt völlig durchgeschwitzt war. Aus der Wasserflasche, die sie aus einer Seitentasche des Rucksacks nahm, trank sie durstig ein paar tiefe Schlucke und setzte sich dann auf einen großen Steinbrocken, von denen hier unzählige herumlagen. Ihr Gesicht wandte sie mit geschlossenen Augen der Sonne zu und mit der Zeit verebbte das schwere Atmen. Ruhe legte sich über sie. Eine leichte Brise trocknete ihr die schweißnasse Stirn und strich kühlend über ihr Gesicht. Einen Augenblick war sie versucht, die Wanderschuhe auszuziehen und damit ihre schmerzenden Füße aus der Enge des Leders zu befreien, aber fast gleichzeitig entschied sie, dass sie zu keiner Bewegung mehr fähig war. Der Erschöpfung war es wohl auch zuzuschreiben, dass sie gedacht hatte, jemand würde sie beobachten. Hier oben war weit und breit kein Mensch. Nur Stille. Es war diese typische Stille, die es nur in den Bergen gab. Die gänzliche Abwesenheit von jeglichen Geräuschen. Eine Ruhe, die sich bis tief in den eigenen Körper senkte.
Sie hatte das schon einmal erlebt, als sie und Britt drei Wochen in den Bergen Urlaub gemacht hatten. Direkt nach dem Abi. Damals. Ja, das war eine schöne Zeit gewesen. Vielleicht die schönste ihres Lebens. Die Zukunft hatte so vielversprechend vor ihr gelegen. Nun lag vor ihr nur der Rucksack, alt, voller Flecken und mit Schlafsack und Isomatte bepackt ein Überbleibsel aus ihrem alten Leben. Ebenso ihre Wanderschuhe. Vor vierzehn Jahren eines der besseren Modelle. Jetzt wusste sie nicht, ob sie ihnen noch trauen konnte, so rissig wie das Leder nach jahrelangem Exil im Keller war.
Sie konnte gar nicht glauben, dass sie erst gestern früh bei der ersten Dämmerung die Tür hinter sich zugezogen und ihr Zuhause verlassen hatte. Zuvor hatte sie innerhalb von kürzester Zeit zusammengerafft, was sie brauchte. Eines ihrer größten Bedenken war gewesen, ob die Nähte des Rucksacks halten würden. So prall hatte sie ihn befüllt. Als sie schließlich Isomatte und Schlafsack daran befestigt hatte, interessierte sie nur noch, ob sie das Gewicht überhaupt tragen konnte.
Sie öffnete die Augen und betrachtete ihr Gepäck. Es war schwer, ja. Sie hatte sich von Beginn an ziemlich gequält, aber sie war schon bis hierher gekommen. Und es würde weitergehen. Der Schmerz gehörte dazu und zeigte, dass ihr Körper noch funktionierte. Sie rieb sich die Schultern und sah auf. Sie würde noch ein paar Stunden gehen können, bevor sie sich einen Platz zum Übernachten suchen musste. Noch stand die Sonne hoch am Himmel, der von beeindruckendem Blau war. Mit leisem Ächzen erhob sie sich. Als die Wasserflasche wieder an ihrem Platz war, wuchtete Lilli den Rucksack auf ihre Schultern und machte gar nicht erst den Versuch, das laute Stöhnen zu unterdrücken, das ihr entfuhr, als sich das Gewicht auf die wunde Haut legte. Auch ihre Beine protestierten, doch nachdem sie ein paar Schritte gelaufen war, gehorchte ihr Körper wieder.
Als sie Stunden später auf einen Unterstand aus Holz traf, beschloss sie sofort, die Nacht dort zu verbringen. Auch im Hochsommer sollte man Bergnächte nicht unterschätzen, so viel wusste sogar sie. Und erst recht dann nicht, wenn man körperlich völlig am Ende war, nassgeschwitzt und hungrig.
Irgendwo hörte sie Wasser plätschern, was also wollte sie mehr? Sie verließ den ausgetretenen Weg und lief über kniehohes Gestrüpp und Steine zu dem Schuppen, der relativ einfach aus Brettern zusammengezimmert war. Unter dem schützenden Vordach ließ sie den Rucksack auf den weichen Untergrund fallen und suchte dann, endlich vom Ballast befreit, nach dem Wasser. Nur wenige Meter entfernt sprang ein kleines Rinnsal aus den Felsen hervor und sammelte sich zu ihren Füßen zu einer Lache. Sie wusch sich Hände und Gesicht und trank gierig. Vorsichtig zog sie Wanderschuhe und Socken von den schmerzenden Füßen und schnappte nach Luft, als sie dicke Blasen entdeckte. Das Wasser kühlte die wunden Stellen angenehm und nahm vorerst den größten Schmerz; sie wusste jedoch, dass es am kommenden Morgen kein Vergnügen sein würde, wieder in die Schuhe zu schlüpfen.
Kurze Zeit später richtete sie ihren Schlafplatz unter dem Dachvorsprung und kramte in ihrem Rucksack nach etwas Essbarem. Sie hatte die letzte Möglichkeit zum Einkaufen genutzt und sich gestern Nachmittag in einem Hofladen in Oberstdorf mit Lebensmitteln eingedeckt. So zog sie nun eine Tüte hervor, die Brot, Käse und Salami enthielt. Sie begann an einem Stück Brot zu knabbern und spürte, wie ihr Körper sich entspannte und bleierne Müdigkeit sich ausbreitete. Sie biss ein Stück Bergkäse ab und trank frisch abgefülltes Wasser aus der Flasche.
An die Holzwand gelehnt sah sie der Sonne zu, die langsam hinter den Bergen versank und Hunderte Schatten über die kleine Ebene schickte. Die Luft wurde frisch und Lilli schlüpfte erst in ihren Pulli, anschließend in den Schlafsack.
Ein kleines Feuer wäre jetzt genau das Richtige, doch dazu hätte sie Holz oder Zweige zusammensuchen müssen. Vielleicht morgen. Sie würde noch eine Weile beobachten, wie die herankommende Nacht Sterne an den Himmel tupfte und dann einfach nur einschlafen.
Sie musste an das weiche Bett im Heu denken, das ihr die freundliche Besitzerin des Hofladens kurz hinter Oberstdorf gestern angeboten hatte. Die Frau hatte wissen wollen, wohin Lilli denn noch ging, da es schon ziemlich spät am Nachmittag war. Als sie der Frau die Wahrheit erzählte, dass sie nämlich noch ein Stück den Berg hinauf gehen und sich dann einen Platz zum Schlafen suchen wollte, schlug diese ihr vor, in der Scheune zu übernachten und am nächsten Morgen weiterzuwandern. Lilli hatte beinahe geweint vor Erleichterung. Nach einer durchwachten Nacht zuvor und der anschließenden Reise ins Allgäu fühlte sie sich alles andere als fit genug, um noch ein Stück zu laufen. Am Morgen hatte die Bäuerin ihr dann ein Frühstück aus frischem Brot, zwei hartgekochten Eiern und einer dampfenden Tasse Kaffee gebracht, das sie an einem Tisch in der Morgensonne zu sich nahm.
Als Lilli ihr beim Abschied Geld geben wollte, hatte sie abgewinkt und gesagt:
„Kindchen, ich habe Augen im Kopf und sehe, dass Sie nicht hier sind, um Urlaub zu machen. Ihr Rucksack ist nicht die eigentliche Last, die Sie mit sich schleppen. Wenn ich nur ein bisschen helfen konnte, so wird Gott es mir vergelten.“
Es war nur ein winziger Augenblick, in dem sie unvorsichtig war und an diese andere Last dachte, die sie mit sich trug und die viel schwerer wog. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und ihr wundes Herz schrie auf. Nur mit Mühe gelang es ihr, diese Tür wieder zu schließen und all das zu verdrängen, was sich dahinter befand.
Sie bewegte ihren Rücken an der Schuppenwand und spürte die geschundenen Schultern. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, den schweren Rucksack jemals wieder auf den Rücken zu heben.
Trotz der Schmerzen empfand sie ihre Erschöpfung jedoch als willkommene Ablenkung und sie konzentrierte sich auf ihren Körper, der sich vor Müdigkeit und Anstrengung fast taub anfühlte. Schließlich rollte sie sich auf die Seite und schlief ein, ohne einen einzigen Stern gesehen zu haben.
Als Lilli am nächsten Morgen erwachte, wünschte sie sich auf der Stelle die Gefühllosigkeit ihres Körpers vom vorigen Abend zurück. Egal wie sie sich bewegte, jeder Muskel schrie nach Erbarmen. Außerdem musste sie einen Sonnenbrand im Gesicht haben; ihre Haut spannte und fühlte sich rau an.
„Meine Güte“, sagte sie und stieß einen lauten Seufzer aus. „Mit achtzig Jahren kann man sich nicht schlimmer fühlen.“
Mit unsicheren Schritten tapste sie barfuß durch das taufeuchte Gras zum Bach und wusch sich. Es war kalt und sie fror. Nur nicht an eine heiße Dusche denken, sagte sie sich, doch genau daran dachte sie auch dann noch, als sie ein mageres Frühstück aus Brot, Käse und Wasser zu sich nahm. Ihren Schlafsack hatte sie um sich gewickelt. Und als nach und nach die Strahlen der aufgehenden Sonne über die Berge blinzelten, kam wieder Leben in ihren Körper. Schließlich rollte sie den Schlafsack in die Isomatte und holte aus dem Rucksack eine Karte, die sie auf dem Boden vor sich ausbreitete. Nach kurzem Suchen fand sie die ungefähre Stelle, an der sie sich befinden musste. Ihr Finger zog eine Linie bis zu dem Punkt auf der Karte, der ihr Ziel war. Hier, am Rande eines Tals, lag der Ferienhof der Familie Bernau. Dorthin wollte sie gehen und würde, wenn es lief wie sie geplant hatte, noch zwei oder drei Tage unterwegs sein. Sie schnaubte bitter durch die Nase. Von einem Plan konnte nicht die Rede sein. Sie hatte nach dem Lesen von Britts Brief nur gewusst, wohin sie wollte. Wie sie dorthin gelangen sollte, davon hatte sie keine Ahnung gehabt. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte sie in ihrem Gedächtnis gewühlt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie anfangs denselben Weg wandern wollte, den sie damals mit Britt gegangen war. Sie waren von Oberstdorf aus in die Berge gelaufen, ohne ein bestimmtes Ziel. Britt, die oft mit ihren Eltern in den Bergen Urlaub gemacht hatte, kannte sich ein wenig aus und wusste von den Häusern, die der Alpenverein in den Bergen betrieb. Dort konnte man essen und übernachten. Sie hatten geplant, drei Wochen von Haus zu Haus zu wandern auf den ausgeschilderten Routen, die nicht zu verfehlen waren. Wohin ihre Füße sie tragen würden und sie letztendlich ankamen, wollten sie nicht festlegen und jeden Tag aufs Neue entscheiden. So waren sie dann beinahe eine Woche unterwegs gewesen, hatten sich tagsüber die Füße wundgelaufen, an Bächen gerastet, hatten Gipfel erklommen und Gleichgesinnte kennengelernt. Abends hatten sie erschöpft aber glücklich die angestrebte Hütte erreicht, in der Stube ein herrliches und meist sehr reichliches Mahl genossen und mit vielen anderen, die ebenfalls stundenlang gewandert waren, in überfüllten Matratzenlagern geschlafen.
Als sie in ein Tal hinabstiegen, um Lebensmittel zu kaufen, hatten sie den Ferienhof entdeckt, der wunderschön am Rande eines Weilers lag und zum Bleiben einlud. Dass dort kein Zimmer mehr zur Verfügung stand, kümmerte die Wirtsleute nicht besonders. Sie boten ihnen kurzerhand ihre Berghütte auf der Alm an, die sich ein paar Hundert Meter weiter oben am Berg befand und mit allem Nötigen zum Leben ausgestattet war. Dort oben weideten die Rinder des Hofes. Jeden Tag mussten der Bauer oder dessen Frau hinaufgehen und nachsehen, ob alles in Ordnung war mit ihnen. Britt und Lilli hatten dort kostenlos übernachten dürfen und dafür nach den Tieren gesehen. Damals hatten sie gelernt, wie wenig man zum Leben tatsächlich brauchte. Es war ihr kleines Paradies auf Erden geworden und Lillis Herz pochte, wenn sie daran dachte, dass sie auf dem Weg dorthin war.
Die Karte, die sie sich am Abend ihrer Ankunft in Oberstdorf gekauft hatte, war für ihre finanziellen Verhältnisse teuer gewesen, dafür aber übersichtlich. Und sie zeigte alle vorhandenen Wanderwege und Übernachtungsmöglichkeiten sowie Gasthäuser und Einkaufsmöglichkeiten in den Tälern. Der junge Mann in einem überaus gut ausgestatteten Outdoorladen hatte sie beraten und ihr nahegelegt, sich außer einer guten Wanderkarte auch einen Kompass, ein kleines Fernglas und ein Erste-Hilfe-Täschchen zuzulegen. Sie hatte nur das Täschchen und einige Blasenpflaster genommen. Alles andere erschien ihr unnötiger Ballast für Geldbeutel und Rucksack. Der Anblick eines Taschenmessers mit vielen Funktionen ließ sie zögern, doch sie erinnerte sich an das kleine, alte Klappmesser, das in ihrem Gepäck steckte und verwarf den Gedanken.
Als der freundliche junge Mann ihr beim Abschied ein Kärtchen gab mit den wichtigsten Rufnummern für Bergwetter, Notfall usw. war sie kurz versucht, ihm zu erzählen, dass sie ohne Handy unterwegs war. Doch sie konnte sich auch so das Gesicht vorstellen, das er machen würde und ließ es bleiben.
So war sie am Morgen darauf losgelaufen mit einem ungefähren Plan, einem konkreten Ziel und einem Rucksack, der nun so voll war, dass er ein ganzes Stück über ihren Kopf hinausragte.
Sorgfältig legte sie die Karte wieder zusammen und verstaute sie. Solange das Wetter so schön war, würde sie in keiner Alpenvereinshütte übernachten. Beim Verlassen von Oberstdorf am Tag zuvor waren so viele Menschen unterwegs gewesen, dass sie für kurze Zeit fürchtete, einen anderen, längeren Weg zum Bernauer Ferienhof nehmen zu müssen. Sie wollte Ruhe, Einsamkeit und Raum. Glücklicherweise wurden die Wanderer weniger, je höher sie gestiegen war, und irgendwann kam ihr nur noch selten jemand entgegen. Ein paar Mal wurde sie überholt, was sie nicht wunderte bei ihrer Geschwindigkeit.
Eine Übernachtung in einem Lager, neben sich fremde Körper und ständiges Gemurmel und Geschnarche, das würde sie nicht ertragen. Nicht solange es andere Möglichkeiten gab.
Ihr Rucksack stand gepackt an der Holzwand der Hütte. Zwei Dinge standen ihr nun bevor, über die sie bis eben noch nicht hatte nachdenken wollen. Das waren zum einen ihre Wanderschuhe, die darauf warteten, dass sie hineinschlüpfte mit Füßen, die von nichts außer einem warmen Fußbad träumten. Und anschließend musste sie ihr Gepäck schultern. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie rot und wundgescheuert die Stellen noch waren und bei jeder Berührung wie Feuer brannten.
Schließlich entschied sie, jeden Schmerz zu ignorieren oder wenigstens geduldig zu ertragen. Aus diesem Grund war sie hier. Sie würde jede Hürde nehmen und sich selbst beweisen, dass sie in der Lage war, das zu tun was sie wollte. Und wenn sie kämpfen musste, so war das in Ordnung. Sie konnte das. Auch wenn ihr jegliches Selbstbewusstsein in den letzten Wochen abhanden-gekommen war. Nein, das stimmte so nicht, musste sie zugeben. Sie wollte ehrlich sein zu sich selbst. Ab heute. Es waren die letzten Jahre. Seit mehr als zehn Jahren war sie selbst mehr und mehr verschwunden und zu einer Hülle auf zwei Beinen geworden.
Bis dann plötzlich und völlig unerwartet wieder ein Sinn da gewesen war. Sie würde kämpfen.
Sie japste nach Luft, als sie die Wanderschuhe anzog und fest verschnürte. Jacke und Pulli band sie am Rucksack fest, dann stemmte sie ihn mit einem leisen Schrei auf den Rücken. Ein kurzer Blick auf ihren Schlafplatz zeigte, dass nichts darauf hinwies, dass hier jemand übernachtet hatte. Sie lief mit anfangs unsicheren Schritten auf den offiziellen Wanderweg zurück und nahm dankbar zur Kenntnis, dass auch heute wieder ein wolkenloser Himmel über den Bergen lag.
Am frühen Nachmittag erreichte Lilli die Stelle, an der sie den Weg verlassen würde, den sie mit Britt gegangen war. Ihr Plan war, ohne Umwege und so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen. Deshalb würde sie an dieser Wegkreuzung eine andere Richtung einschlagen als damals.
Sie warf ihren Stock zu Boden, sank neben dem Wegweiser auf einen Stein und massierte ihre Oberschenkel. Ihr Magen knurrte, doch sie würde ganz sicher den Rucksack jetzt nicht abnehmen. Mit einer kleinen Verrenkung erreichte sie die Wasserflasche und zog sie aus der Halterung. Aufmerksam blickte sie sich um. Nur wenn sie sich anstrengte und ganz genau hinsah, konnte sie in weiter Ferne den einen oder anderen Punkt erkennen. Wanderer wie sie selbst. Die Sonne schien uneingeschränkt, nur an der hinteren Bergkette im Westen hingen dicke weiße Wolken, die sich nicht zu bewegen schienen. Wieder war es warm, deshalb hatte sie ihre Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt. Vereinzelt standen knorrige und windgebeugte Bäume jenseits der Wege, die von hier in alle Himmelsrichtungen führten. Hier und da leuchteten die rotweißen Markierungen der Wanderpfade auf. Was musste das für eine Arbeit sein, dieses Netz an Wegen und Schildern in Ordnung zu halten? Wie viele fleißige Hände waren wohl jedes Jahr wieder damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass Menschen wie sie nicht von den Wegen abkamen und sich hoffnungslos verirrten? Wenn sie je wieder finanziell auf die Beine kommen sollte, würde sie dem Alpenverein beitreten. Allein aus Dankbarkeit, dass sie sich hier weniger verloren fühlte als zu Hause.
Sie steckte die Flasche weg, stand auf und ging einen schmalen, steinigen Pfad entlang, der bergab führte und sie kurze Zeit später in einen kleinen, niedrigen Wald brachte. Die Strahlen der Sonne fielen durch die Kronen der kleingewachsenen Laub- und Nadelbäume auf einen mit Moos und Steinen bedeckten Boden. An einigen Stellen funkelten und glitzerten schmale Rinnsale, und so manches niedrige Gestrüpp sah im Spiel von Licht und Schatten aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Lilli blieb entzückt stehen und sah sich um. Alles hier erschien ihr geheimnisvoll und verwunschen. Das leise Gurgeln der Bäche, das sich beinahe anhörte wie menschliches Gemurmel, und das Zwitschern der vielen Vögel, die sie nicht sehen konnte, schienen sie zum Bleiben einzuladen. Verzaubert beschloss sie, das freundliche Angebot anzunehmen und suchte nach einem geeigneten Platz für die Nacht. Hier würde sie auch genügend Holz für ein kleines Feuer finden, dachte sie und ließ ihr Gepäck zu Boden plumpsen. Das Moos war hier einigermaßen trocken und würde mit der Isomatte ein weiches Bett sein. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus, balancierte vorsichtig über moosbewachsene Steine zum nächsten Wasserlauf und tauchte ihre Füße hinein. Beim Begutachten der geröteten Haut und der dicken, teilweise blutig aufgeriebenen Blasen überlegte sie, ob es sinnvoll gewesen war, die Blasenpflaster nicht zu benutzen und für schlimmere Zeiten aufzuheben. Vor dem Losgehen morgen früh würde sie endlich die Pflaster aufkleben. Bis dahin durften die Wunden an der Luft heilen.
Sie begann, kleinere Äste zu sammeln und schichtete sie für ein Feuer auf. Irgendwie musste es ihr gelingen, den kleinen Topf ihres Campinggeschirrs daraufzustellen, um Wasser zu kochen. Sie konnte den Duft des Kaffees schon beinahe riechen, so sehr sehnte sie sich danach. Mit den Streichhölzern, die sie aus dem Fach des Rucksacks holte, wo sie kleine, nützliche Dinge verstaut hatte, zündete sie das Reisig unter den Zweigen an. Sie sah zu, wie die Flämmchen hochzüngelten und nach und nach Besitz ergriffen von den größeren Ästen, die sie darauf gelegt hatte. Es prasselte fröhlich und eine kleine Spirale aus Rauch wand sich aufwärts durch das Blätterdach hindurch in den Himmel. Lilli stellte das Alugeschirr mit dem Wasser einfach darauf und sorgte für einigermaßen festen Stand.
Als sie aufstand und sich umwandte, um in ihrem Rucksack nach einem trockenen T-Shirt und der Tüte mit löslichem Kaffee zu suchen, war sie sich sicher, im Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sie hoffte immer noch darauf, Wild zu begegnen, und spähte zwischen die Bäume. Doch das einzige Leben, das sie entdeckte, waren die kleinen Vögel, die überall herumflatterten und sich lautstark unterhielten.
Mit dem frischen Kleidungsstück in der Hand lief sie zum Wasser und wusch sich.
Von den schwarzen Augen, die auf ihr ruhten, ahnte sie nichts.
Mit einem Streichholz entzündete Farid den kleinen Gaskocher. Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden, und die Wege konnte man in der Dämmerung schon jetzt kaum noch erkennen. Auch wenn er sich nirgendwo besser auskannte als in diesem Teil des Gebirges, so war es dennoch die richtige Entscheidung gewesen, sich für die Nacht hier niederzulassen. Es konnte kaum eine geeignetere Stelle geben als diesen alten Stall, den er von Zeit zu Zeit ausbesserte, damit er nicht völlig in sich zusammenfiel. Er übernachtete nicht zum ersten Mal hier. Ebenso hätte es einer der vielen anderen Unterschlüpfe sein können, die er je nach Umstand für sich nutzte.
Als das Wasser kochte, griff er in den Beutel, der an seinem Gürtel befestigt war und holte eine Handvoll Kräuter heraus, die er in den Topf warf. Sofort verbreitete sich der Geruch von Minze, den er gierig in die Nase sog. Viel weiter wäre er heute nicht gekommen, auch wenn er wusste, dass er sich beeilen musste. Er trank einen Schluck heißen Tee und spürte die wohlige Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete. Aus einer weiteren kleinen Tasche an seinem Gürtel nahm er ein paar Nüsse, die er sich nach und nach in den Mund steckte.
Seinen Auftrag hatte er erledigt. Als er vor einer Woche aufgebrochen war, hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schnell und reibungslos gehen würde. Das hatte gut in seine Pläne gepasst. Er lehnte sich an das verwitterte Holz und schlug die Beine übereinander. Die Stille war übermächtig und trieb seine Gedanken über die entfernten Gipfel hinaus weit fort an einen Ort, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Warum hatte die Nachricht ihn ausgerechnet jetzt erreichen müssen? Wo so viel auf dem Spiel stand. Aus genau diesem Grund hatte er damals alle Kontakte abgebrochen. Um den Kopf frei zu haben. Um keine Gefahr zu sein. Um nicht angreifbar zu sein.
Er fasste an den Stein, den er an einer Lederschnur um den Hals trug und sah in Gedanken seine Schwester vor sich, die Augen groß und dunkel. Sie musste diese Last jetzt alleine tragen. Es war genau das eingetreten, wovor sie sich gefürchtet hatten, seit ihr Vater nicht mehr lebte. Dass sie irgendwann auch um das Leben ihrer Mutter bangen mussten.
Er kniff die Augen zusammen und rieb sich die Stirn. Während er austrank, gelang es ihm, sich wieder auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Sie würden bereits auf ihn warten. Er legte seinen Rucksack unter den Kopf, warf den Schlafsack über seinen Körper und schlief ein.
Der Gesang der Vögel weckte sie zu einer Tageszeit, in der alles um sie herum noch die Farbe Grau zu haben schien. Lilli blinzelte verschlafen und entschied, noch liegen zu bleiben. Der kleine Wald war so hübsch und dieser Schlafplatz kaum zu übertreffen, sodass sie überlegte, ob sie nicht vielleicht bis morgen hier bleiben sollte. Ihr Körper hätte Zeit zum Ausruhen und sie könnte durch das Gehölz spazieren und sich verzaubern lassen. Wohin sie auch schaute, überall waren bizarre Figuren zu erkennen, die beim genaueren Hinsehen verformte Bäume waren, knorrige Wurzeln oder von Moos bewachsene Felsbrocken. Von manchen Zweigen hingen Flechten herab, die aussahen wie vergessene Schleier aus Lametta. Hüfthohe Farne bewegten sich im leichten Wind und wirkten gespenstig lebendig. Man wurde verleitet, nach Augen zu suchen, die vielleicht daraus hervorschauten.
Als eine Weile später die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Morgendunst aufleuchten ließen, setzte Lilli sich mit überwältigtem Staunen aufrecht. Nichts konnte die Schönheit übertreffen, die der Natur gegeben war. Sie hätte am liebsten ihr Tagebuch aus dem Rucksack geholt und hineingemalt, was sie gerade sah. Und doch war dieser Moment zu kostbar, um sich davon abzuwenden. So holte sie ihr Brot hervor, Wurst und Käse und aß, während sich das Bild vor ihren Augen ständig wandelte und die Sonne langsam den östlichen Himmel hinaufkletterte.
Schließlich verließ sie ihren warmen Schlafplatz und wusch sich am nächsten Wasserlauf. Nachdem sie nun schon die dritte Nacht im Freien verbracht hatte – die Nacht in der Scheune zählte sie dazu – begann sie, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. Mittlerweile empfand sie es nicht mehr als unangenehm, wenn sie sich mit kaltem Bergwasser wusch, und sie begann, seine Reinheit und Klarheit zu schätzen, wenn es ihren Durst löschte. Auch wenn ihre Muskeln immer noch schmerzten, so tat ihr die Bewegung doch gut. Sie war sich bewusst, dass sie ihren Körper seit Jahren nicht mehr so deutlich wahrgenommen hatte. Außerdem lenkte die Anstrengung sie von dem ab, weswegen sie hier war und worüber sie jetzt noch nicht nachdenken wollte. Ganz besonders überraschte sie die Entdeckung, dass sie, je länger sie unterwegs war, ein vages Gefühl von Freiheit verspürte. Sie erkannte darin das Gefühl wieder, das sie damals hatte, als sie das tat, was sie so leidenschaftlich liebte. Wäre da nicht die andere Sache, die sie so sehr bedrückte und bekümmerte, würden ihr vielleicht wieder die Flügel wachsen, die sie damals getragen hatten.
Sie zog ihr T-Shirt wieder über und lief barfuß zu der Stelle, wo sie gestern ihr anderes nach dem Waschen über einen Ast gehängt hatte. Es würde noch ein paar warme Sonnenstrahlen brauchen. Ein lautes Knacken ließ sie zusammenfahren. Lilli wandte sich erschrocken um und erstarrte. Keine fünf Meter von ihr entfernt stand ein Mann, gekleidet in dunkelgraue Stoffe und schwarze Stiefel. Sein Kopf war bedeckt von einer Art Turban, wobei eine Stoffbahn über den unteren Teil des Gesichts geschlungen war und Mund und Nase bedeckte. Schwarze Augen blickten sie kalt an. Flieh! Ihr Instinkt schrie. Doch sie war außerstande, sich zu rühren und starrte nur zurück. Mit einer Bewegung, die sie kaum wahrgenommen hatte, stand er plötzlich vor ihr und zischte etwas in einer Sprache, die sie nicht kannte. Ging er davon aus, dass sie ihn verstand? Und was wollte er? Nichts Gutes, das konnte sie spüren. Er hatte sich breitbeinig vor ihr aufgebaut und sah sie verächtlich an, die Augen unter den schwarzen Augenbrauen zu Schlitzen verengt. Eine Aura von Fremdheit umgab ihn und es ging definitiv etwas Bedrohliches von ihm aus.
Innerhalb eines Atemzuges drehte er sich von Lilli weg und sprang lautlos mit weichen Bewegungen fort. Sekunden später sah sie ihn nicht mehr. Erst im letzten Moment hatte sie den Dolch gesehen, der seitlich in seinem Gürtel steckte und in der Sonne kurz aufblitzte.
Sie sank zu Boden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie steckte ihre Hände unter die Achseln, um das Zittern zu kontrollieren. Atme, Lilli. Atme, befahl sie sich. Als sie wieder fähig war, sich zu bewegen wie sie selbst wollte, erhob sie sich aus ihrer kauernden Stellung und suchte den Wald nach allen Richtungen ab. Es regte sich nichts. Alles schien so friedlich, als wäre die Erscheinung von eben nicht wirklich gewesen. Nur das Beben ihres Körpers und die gezischten Laute, die immer noch nachklangen in ihren Ohren, zeugten davon, dass etwas passiert war.
Mit zitternden Knien ging sie die wenigen Schritte zu ihrem Schlafplatz und begann mit fahrigen Bewegungen, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Hier würde sie nicht bleiben. Nicht länger als unbedingt nötig. Noch hatte er ihr nichts getan, aber er konnte jederzeit wiederkommen. Allein der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, ohne die verletzten Füße zu bemerken, holte das zum Trocknen aufgehängte Kleidungsstück und stopfte es in ihr Gepäck.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ sie diese Stelle und lief auf den Wanderpfad. Die verzaubernde Schönheit des Waldes sah sie nicht mehr. Nur hier und da Bewegungen, wenn der säuselnde Wind durch das Unterholz strich und die Pflanzen zum Schaukeln brachte. Dabei zermarterte sie sich das Gehirn auf der Suche nach dem Grund für diesen Besuch. Wer war dieser Mann gewesen? Hätte er sie umbringen wollen oder angreifen, so hätte er es in aller Ruhe tun können, ohne dass jemand ihn daran gehindert hätte. Niemand würde so schnell merken, wenn eine einsame Wanderin von der Bildfläche verschwand. Er hatte ausgesehen wie eine Figur aus Tausendundeiner Nacht, in weiche Pluderhosen und ein Hemd gehüllt. Im Gürtel ein Säbel oder was auch immer das für eine Waffe war. Sie dachte an die Darstellung der Mauren in den Mittelalterfilmen, die sie so gerne sah. Sie dachte aber auch, und das war nicht ganz so romantisch, an die vielen Nachrichtensendungen mit Bildern aus dem Nahen Osten und den Gruppen, die schwerbewaffnet Kriege führten und mit Bomben und Selbstmordanschlägen die Welt terrorisierten. Aber was würden die hier wollen?
Sie schob den Gedanken von sich und trat erleichtert aus dem Wald heraus. Von hier aus wand sich der Pfad durch riesige Felsbrocken hindurch, und sie musste sich mit den Händen abstützen, um höhere Absätze hinaufzuklettern. Irgendwann konnte sie den kleinen, verwunschenen Wald nur noch aus der Ferne erkennen. Sie hatte bis dahin in der ganzen Gegend keinen Menschen gesehen. Ihre innere Anspannung begann zu weichen, womit sich gleichzeitig die Schmerzen an ihren gepeinigten Füßen und den Schultern zurückmeldeten.
Bald darauf machte sie eine Pause an einer gut übersichtlichen Stelle. Niemand konnte sich hier nähern, ohne dass sie es merkte. Sie setzte ihr Gepäck ab und zog die Karte heraus. Am liebsten würde sie für die kommende Nacht eine der Vereinshütten aufsuchen, wenn es keine Hoffnung gab, den Hof heute noch zu erreichen. Menschen hin oder her, sie musste sich nicht unterhalten, wenn sie nicht wollte. Aber sie hätte die Sicherheit, dass sie nicht noch einmal ein Erlebnis hatte wie heute Morgen. Sie beugte sich über die Karte und suchte ihren ungefähren Aufenthaltsort. Sie fand den Wald und die zwei kleineren Gipfel, die sie auf ihrem Weg laut Hinweisschildern seitlich hatte liegenlassen. Bei genauerem Studieren erkannte sie, dass es unmöglich war, heute noch zum Ferienhof zu kommen. So hatte sie keine andere Wahl, als noch einmal zu übernachten. Schweren Herzens verwarf sie schließlich das Ansteuern einer Hütte. Sie lagen alle zu weit ab von ihrem Weg. Lilli seufzte und blickte auf. So musste sie eben weiterlaufen soweit ihre Füße sie heute trugen und nach einer geeigneten Stelle suchen. Vor zwei Tagen war ihr das ja auch gelungen. Mit einem letzten Blick auf die Karte prägte sie sich die Namen der Orte ein, denen sie den Schildern entsprechend folgen musste. Dann packte sie die Karte weg, suchte nach den Haferkeksen und trank aus der Wasserflasche. Ihre Vorräte gingen langsam zur Neige, und schon jetzt freute sie sich darauf, auf dem Bernauer Hof frische Lebensmittel einzukaufen für die Tage auf der Berghütte.
Sie stemmte den Rucksack auf den Rücken und versuchte beim Losgehen, die Schreie ihrer geschundenen Füße zu ignorieren.
Leichtfüßig sprang er den Berg hinauf und achtete kaum auf die fünfköpfige Wandergruppe, die ihm dabei entgegenkam und auswich. Sie würden ihn zweifellos für einen der Bergläufer halten, die seit einigen Jahren immer häufiger im Gebirge unterwegs waren und deren Bestreben es war, innerhalb kürzester Zeit ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dazu gehörten meistens auch Gipfel, die im Laufschritt erklommen wurden, oft ohne jegliche Sicherung, was enorme Geschicklichkeit und Konzentration erforderte. Vielleicht gehörte er tatsächlich zu diesen Sportlern, denn so, wie er sich seit Jahren hier bewegte, war kein Unterschied festzustellen. Würde man allerdings nach der inneren Triebfeder dafür suchen, so läge genau hier der entscheidende Unterschied: Für die einen waren es Freizeitbeschäftigung und Sport, ihn dagegen trieb etwas anderes. Rache. Er versuchte, die aufkeimende Wut zu unterdrücken und doch war es genau diese, die ihn noch schneller den Anstieg hinauftrieb.
Er war seit dem ersten Tageslicht unterwegs und verweilte nur dann, wenn er an einem Wasserlauf seinen Durst stillen wollte. Die Sonne stand hoch am Himmel; es war ein ungewöhnlich klarer Tag mit beeindruckendem Fernblick. Auch hoch oben im Gebirge war es heute warm und er war froh, nur leichtes Gepäck bei sich zu haben. In wenigen Stunden hätte er die erste Etappe für heute erreicht. Dann lagen noch etwa fünf Stunden vor ihm. Er würde das Lager noch vor Dunkelheit erreichen.
Seit dem Losgehen heute früh spürte er überdeutlich das Amulett im Takt seiner Schritte an der Brust schaukeln. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es ihm jemals vorher aufgefallen war. So waren seine Gedanken immer wieder bei seiner Schwester, die alleine bei ihrer Mutter war und keine Ahnung hatte, wo er sich befand. Ob er noch lebte. Und bei seiner Mutter, deren Geist sich mehr und mehr zurückgezogen hatte und deren Seele seit vielen Jahren nur noch ein Schatten ihrer Selbst war. Ob sie immer noch die Frage plagte, wo er war und warum er gegangen war? Er hatte keine Erklärung gegeben. Er hatte die Frauen nur darum gebeten, niemals zu versuchen, ihn zu finden. Da er eine Aufgabe hatte und damit rechnen musste, dass er sterben würde. Das hatte er ihnen so nicht gesagt. Aber sie hatten gespürt, dass sie ihn gehen lassen mussten und hatten keine Fragen gestellt. Wenn seine Mutter vor ihm starb, so würde sie sehen, was er nun tat. Was für ein Mensch er war. Mitunter hatte er sich vorgestellt, sie wäre vielleicht stolz auf das, was ihr Sohn tat. Doch in seinem Herzen wusste er, dass sie von Rache nichts hielt. Diese weise Frau, die ihn und seine Schwester gelehrt hatte, was im Leben wirklich wichtig war. Doch das alles war vorher gewesen. Das, was geschehen war, hatte alles verändert. Hatte alles zerstört, was ihnen wichtig gewesen war. Mochte sein, dass seine Mutter, wenn sie könnte, ihm sagen würde, dass Verzeihen möglich war und Gewalt und Rache keine Lösung. Aber er war ein Mann. Vielleicht war das der ausschlaggebende Unterschied.
Er griff mit der Rechten nach dem Amulett, führte es kurz an den Mund und steckte es unter das T-Shirt. Ich bin bei euch, dachte er, auch wenn wir uns nicht wiedersehen werden.
Bei Dunkelheit musste er am Ziel sein. Er hoffte, dass das Wetter hielt und schickte einen prüfenden Blick zum westlichen Horizont. Leichter Dunst begann sich kaum erkennbar über die letzten Berggipfel zu wälzen.
Keuchend erreichte Lilli das Ende des steilen Aufstiegs und hatte von hier aus einen einzigartigen Ausblick auf mehrere Täler weit unter sich. Ehrfürchtig blickte sie über die unzähligen Gipfel und Bergketten, die ein Panorama boten, das einem den Atem verschlug. Schneebedeckte, schroffe Felsen weit über der Baumgrenze und alle Nuancen von Grau und Grün erschienen ihr greifbar nah. Selten hatte sie ein Anblick mehr beeindruckt.
Der Abstieg von hier oben würde nicht einfach sein. Ebenso steil wie es eben noch hinaufgegangen war, ging es nun hinab, wobei das obere Stück größtenteils aus Geröll bestand. Suchend sah sie sich um. Ein guter Wanderstock wäre jetzt sehr hilfreich und würde das Hinunterlaufen erleichtern. Doch ohne jeglichen Baumwuchs in dieser Höhe konnte sie nur hoffen, einen Stock zu finden, den jemand anders abgestellt und vergessen hatte. So wie sie ihren Stock am Tag zuvor unabsichtlich hatte liegenlassen. Doch hier oben lag keiner und so machte sie sich auf den beschwerlichen Weg hinunter, vorsichtig, um nicht auszurutschen. Ihr graute davor, später am Tag ihre Schuhe auszuziehen. Sie konnte gar nicht mehr sagen, wo genau es schmerzte. Es tat überall weh, an beiden Füßen. Und waren bis eben noch die Fersen mehr betroffen gewesen, so verlagerte sich nach den ersten Schritten bergab alles Leiden auf die Fußballen und Zehen.
„Ein bisschen noch, Lilli“, spornte sie sich laut an und rutschte im selben Moment über einen lockeren Stein. Es zog ihr die Füße unter dem Körper weg und sie ging zu Boden. Auf dem Hintern rutschte sie mehrere Meter den steilen Abhang hinunter, wobei sie versuchte, mit den Füßen abzubremsen. Was ihr schließlich gelang. Erschrocken blieb sie sitzen, während um sie herum Steine und Erde wie kleine Lawinen den Steilhang hinabrollten.
Erleichtert atmete sie auf. „Glück gehabt!“, keuchte sie und begann Staub und Erde von ihrer Jeans zu klopfen. Vorsichtig stand sie auf, was ihr mit dem Gewicht auf dem Rücken einige Schwierigkeiten bereitete, und betastete ihre Kehrseite. Der Po brannte ihr, die Hose jedoch schien heilgeblieben zu sein. Unentschlossen blieb sie stehen und suchte das vor ihr liegende Gelände ab. Wo würde der Weg sie hinführen und welches von den Tälern, die sie in der Ferne erkennen konnte, war jenes, in das sie gehen wollte? Ihr Blick fiel plötzlich auf eine Herde Gämse. Als sie aufmerksam die Gegend nach weiteren Tieren absuchte, sah sie durch Zufall eine kleine, von Felsen und dichten Sträuchern beinahe verborgene Hütte, die am Fuße einer steilaufragenden Felswand stand. Im ersten Moment war sie gar nicht sicher, ob es tatsächlich eine kleine Scheune war oder eher eine Ansammlung von altem Holz. Doch je länger sie hinsah, umso mehr war sie davon überzeugt, dass sie dort etwas vorfinden würde, wo sie die kommende Nacht verbringen konnte. Sie prägte sich die Formation der dahinterliegenden Felsen ein, um auf dem Weg dorthin einen Anhaltspunkt für die ungefähre Richtung zu haben. In ein oder zwei Stunden sollte sie es geschafft haben. Dann setzte sie langsam ihren Abstieg fort.
Das Auffinden dieser Stelle weit ab des Weges verlief weniger einfach, als sie erwartet hatte. Obwohl sie die Richtung einigermaßen kannte, deutete doch nichts auf einen Pfad hin, der sie dorthin führen würde. Der Schuppen oder was auch immer sie gesehen hatte, schien wie vom Erdboden verschluckt. Doch sie gab nicht auf, und als sie nach langem Suchen zwischen zwei Felsen hindurchtrat, lag das kleine Holzhaus plötzlich vor ihr.
„Hallo?“, rief sie vorsichtshalber und lief einmal um das Gebäude herum.
Als sie vorsichtig die Klinke der rohgezimmerten Tür hinabdrückte, öffnete diese sich überraschend geräuschlos. Lilli spähte hinein und fand einen rechteckigen Raum vor, der nur spärlich eingerichtet war. Auf der Stirnseite links von ihr befand sich ein kleiner gemauerter Kamin, an dessen Seite Feuerholz gestapelt war. Die beiden Fenster, die sich ihr gegenüber auf der talzugewandten Seite befanden, waren von außen durch Holzläden verschlossen und ließen nur dürftig das helle Tageslicht durchschimmern. Rechts von ihr stand an der Wand ein einfacher Holztisch, davor ein Stuhl. An der Decke hingen vereinzelt Haken, von denen zum Bund geschnürte Kräuter zum Trocknen baumelten. Ihr zartes Aroma erfüllte den Raum. Der Bretterboden schien sauber, und insgesamt machte dieser Unterschlupf einen unerwartet gepflegten, wenn auch unbenutzten Eindruck. Mit einem Seufzer ließ Lilli ihren Rucksack zu Boden fallen und band die Schlafsachen los.
Besser konnte man es nicht treffen, dachte sie froh. Außerdem lag diese Hütte so abseits der Pfade, dass kaum jemand den Weg hierher finden würde, wenn er nicht davon wusste. Wer auch immer das hier instand hielt: Er besaß ein wundervolles Versteck und würde wohl nicht ausgerechnet heute vorbeikommen.
Sie trat hinaus ins Licht und schirmte die Augen ab. Die Sonne war bereits auf dem Weg zu den Bergen am Horizont. Die jedoch waren kaum noch zu erkennen, da sich ein Schleier aus dickem Dunst vor sie gelegt hatte. Lilli setzte sich auf einen großen Stein in die Sonne und begann vorsichtig, Schuhe und Socken von den Füßen zu schälen. Als erstes würde sie zu dem kleinen Wasserfall gehen und ihre Füße kühlen. Sie könnte dort sogar duschen, überlegte sie und erschauerte bei dem Gedanken an das eiskalte Wasser. Außerdem würde sie sich ein richtiges Feuer machen. Trockene Äste lagen ausreichend herum, und da gab es ja noch das Holz in der Hütte. Ja gut, meldete sich ihr Gewissen, sie musste nicht an das gestapelte Holz gehen, wenn genügend davon überall zu finden war.
Schmerzgeplagt stöhnte sie auf, als sie nach dem linken auch den rechten Fuß befreite. Schon der Anblick der blutdurchtränkten Strümpfe verhieß nichts Gutes. Sie hielt den Atem an und pellte sie herunter. Das sah nicht gut aus! Blasen konnte sie keine mehr erkennen, stattdessen offene und blutig geriebene Stellen.
Sie erhob sich und tappte über das raue Gras hinüber zu dem Wasser, das von einem etwa drei Meter hohen Felsen hinunter zu Boden fiel und sich dann als kleiner Bach auf den Weg bergab machte. Sie japste nach Luft, als sie in das kühle Nass trat und die Kälte auf ihre Haut traf. Sekunden später spürte sie kein Brennen mehr. Duschen? Das hatte sie noch nicht entschieden.
Sie trat aus dem Wasser heraus, bevor ihre Füße ganz taub waren und sammelte umherliegende Äste und Holzreste. Kurze Zeit später prasselte ein stattliches Feuer vor der Hütte, während auf einem sonnenwarmen Stein ihre gewaschenen Socken zum Trocknen lagen. Mit einem nahezu heimeligen Gefühl ging Lilli in die kleine Hütte und packte ihren Rucksack aus. Ihre wenige Kleidung hängte sie über die Lehne des Stuhles und an einen der dicken Nägel, die in die Wand geschlagen waren. Alles andere legte sie auf den Tisch. Sie brauchte einen Überblick, was sie eventuell morgen im Tal würde einkaufen müssen für die nächsten Tage.
Schließlich bereitete sie ihr Bett vor und legte Isomatte und Schlafsack so, dass sie die Tür im Blick hatte. Hier könnte ich es aushalten, dachte sie und öffnete die Fenster, die aus einfachem Glas waren und hier und da einen Sprung hatten. Die Holzläden hatte sie bereits von außen zurückgeschlagen, sodass sich ihr nun ein Blick bot, der überwältigend schön war. Man konnte die Menschen erahnen, die weit unten in den Tälern wohnten. Es war ein erhabenes Gefühl, alleine in dieser ursprünglichen Einsamkeit zu sein. Und der Gedanke, dass kein Mensch wusste, wo sie war, vermittelte ihr ein Gefühl von Glück und Freiheit. Zumindest solange sie sich gegen die Tür in ihrem Herzen stemmte, hinter der sich der Schmerz verbarg.
Sie wandte sich ab und lief hinaus.
Er stieg über den Bergkamm und suchte gewohnheitsgemäß die Gegend nach der Anwesenheit anderer Menschen ab, bevor sein Blick zur Hütte schweifte. Tadamun. Es tat gut, hier zu sein. Dann erstarrte er. Wer in aller Welt machte dort ein Feuer, das über diese Entfernung ohne Anstrengung zu erkennen war? Sein erster Verdacht fiel auf Abdal. Dieser war, außer ihm selbst, der einzige der Truppe, der diesen Ort kannte. Vor langer Zeit hatten sie, überrascht von einem Schneesturm, Schutz suchen müssen, und es war nicht zu vermeiden gewesen, ihn hierher mitzunehmen. Es wäre typisch für ihn, zu handeln ohne nachzudenken, denn er war nicht unbedingt großzügig mit Verstand gesegnet. Schon mehr als nur einmal hatte es durch ihn Schwierigkeiten gegeben, und sie alle wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er einmal zu wenig an mögliche Konsequenzen denken würde.
Aber was wollte er hier? War etwas vorgefallen und Hadi hatte Abdal auf die Suche nach ihm geschickt? Er begann den steilen Hang hinunterzulaufen und sah eine meterlange Schleifspur auf dem schwer begehbaren Untergrund. Auch heute hatte es hier also jemanden gelegt, wie so oft an dieser Stelle. Er lief im Laufschritt den Berg hinab und auf den Ort zu, der sein sicherstes und unauffälligstes Versteck war. Je näher er kam, umso öfter verbarg er sich hinter Sträuchern oder Felsen. Noch wusste er nicht, ob es tatsächlich der Mann aus seiner Truppe war. Schließlich kauerte er sich hinter eine riesige Baumwurzel, die ein Sturm irgendwann einmal hier hergetragen hatte und die nun tot und verwittert zwischen Geröllbrocken lag. Er wartete.
Mittlerweile war er überzeugt davon, dass es sich nicht um Abdal handelte, der sich hier niedergelassen hatte. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Farid bei der Vorstellung schmunzeln müssen, dass sein Kamerad Socken zum Trocknen in die Sonne gelegt hatte.
So war er dann auch nicht allzu überrascht, als eine fremde Gestalt aus der Schutzhütte gelaufen kam und sich mit angezogenen Beinen vor das Feuer setzte. Sein Gehirn begann zu arbeiten. Er musste in die Hütte, bevor er auf seinen Trupp stieß. Doch es sah nicht danach aus, als würde diese Frau in der nächsten Zeit von hier verschwinden. Er fluchte leise.
Auf die Wandertouristen war in der Regel Verlass. Selten wichen sie von den ausgeschilderten Wegen ab, geschweige denn, dass sie sich irgendwo niederließen zum Übernachten. Damit hatte er nicht gerechnet. Wieder zischte er einen Fluch durch die Zähne. Er hatte keine Wahl. Er würde warten. Und sich notfalls etwas einfallen lassen.
Das Feuer war heruntergebrannt und ließ glühende Holzkohle zurück. Lilli stand auf und lief humpelnd zur Hütte, um ihr Kochgeschirr mit Wasser zu füllen. Sie stellte den kleinen Topf in die Glut und bereitete ihre Mahlzeit vor. Viel war es nicht mehr und sie hätte einiges gegeben für eine stärkende, heiße Suppe oder einen dicken Eintopf. So blieben ihr immerhin der Kaffee und eine kleine Brotzeit. Sie musste für morgen früh noch einen Rest aufbewahren, deshalb würde ihr Abendessen nicht besonders üppig ausfallen. Mit den Fingern fuhr sie durch ihr struppiges Haar, zog dann ein Gummiband aus der Hosentasche und band sich einen Pferdeschwanz. Wenn sie morgen auf die Almhütte käme, so wollte sie als erstes unter dem Wasserkessel einheizen, um zu duschen und ihr Haar zu waschen. Sie war neugierig, ob sich viel verändert hatte dort oben. Britt hatte geschrieben, der Ort würde nicht mehr benutzt und somit ein wenig verwahrlosen. Nun, sie brauchte nicht viel. Raum für sich, Ruhe und Zeit. Zeit zum Nachdenken. Über die Zukunft.
Sie nahm den kleinen Topf von der Feuerstelle und löffelte Kaffeepulver hinein. Der Duft war betörend. Mit dem dampfenden Behälter in der Hand wandte sie sich dem weit untenliegenden Tal zu. Verborgen hinter hohen Bergriesen streckte die Dämmerung bereits ihre Finger danach aus und legte dunkle Schatten darüber.
Im Westen dagegen färbte die untergehende Sonne den Himmel in unendlich viele Töne von Orange und Rosa, und der Nebel, der sich immer mehr ausbreitete, flimmerte geheimnisvoll. Wie hypnotisiert trank sie bei dem Anblick ihren Kaffee, bis ein Geräusch sie in die Wirklichkeit zurückholte.
Erschrocken sah sie eine Person auf sich zukommen und erkannte gleichzeitig erleichtert, dass es nicht der sonderbare Fremde von heute Morgen war. Der Mann, der beim Näherkommen grüßend die Hand hob, trug eine khakifarbene Wanderhose und ein schwarzes T-Shirt. Er war hochgewachsen und sehr schlank. Sein Haar lag in dichten schwarzen Wellen um seinen Kopf und kringelte sich im Nacken zu schweißfeuchten Locken. Wie um alles in der Welt hatte er hierhergefunden?
Lilli wartete mit gemischten Gefühlen, bis der Fremde ein paar Meter vor ihr stehenblieb.
„Hallo“, grüßte er freundlich. Dabei sah er sich aufmerksam um.
„Hallo“, entgegnete sie und überlegte, was er hier wollte. Vielleicht sollte sie künftig ihr kleines Taschenmesser immer bei sich führen. Die Berge waren wohl nicht ganz so einsam, wie man gemeinhin vermutete.
„Ich habe von weitem das Feuer gesehen“, begann er, „und da dachte ich, ich könnte vielleicht so lange bleiben, bis das Unwetter vorüber ist.“
„Welches Unwetter?“, fragte sie irritiert.
„Na das, das dort hinten heraufzieht.“ Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und zeigte nach Westen.
Lilli war überrascht, wie schnell sich aus dem Nebel eine Wolkenwand gebildet hatte, die schon bedrohlich nahe war.
„Ich habe nicht vor zu bleiben“, versicherte er schnell, als er ihren zweifelnden Blick sah. „Aber es wird gleich ziemlich ungemütlich, da bin ich hier oben ungern draußen unterwegs.“
Seine Augen schimmerten dunkel, als er sie abwartend ansah.
„Ja“, nickte sie schließlich ergeben. „Ist schon in Ordnung. Ich kann Sie ja kaum bei Unwetter fortschicken. Ich habe diese Hütte auch nur durch Zufall entdeckt und laufe morgen weiter.“
„Vielen Dank.“ Er nahm einen bemerkenswert kleinen Rucksack vom Rücken.
„Wenn Sie möchten, lege ich noch Holz auf. Für heißes Wasser.“
„Du.“
„Wie bitte?“
„In den Bergen spricht man sich mit du an“, erklärte er mit einem Lächeln. „Das macht es weniger kompliziert.“ Er streckte ihr die Hand hin.
„Mein Name ist Farid.“
Statt ihm die Hand zu reichen, betrachtete sie seinen linken Arm, der vom Handgelenk aus bis unter das schwarze T-Shirt mit fremdartigen Mustern tätowiert war. Schließlich riss sie ihren Blick los und gab ihm die Hand.
„Ich heiße Lilli.“
Aus der Ferne ertönte ein tiefes Grollen. Farid bückte sich nach ein paar von den Scheiten, die Lilli gesammelt hatte und warf sie auf die Glut, worauf Tausende Funken knisternd in den Himmel sprangen. Dann lief er hinüber zum Wasser und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Sorgfältig wusch er sich Hände und Gesicht, bevor er das herabfallende Wasser auf Arme und Nacken rinnen ließ. Nachdem er das Shirt wieder angezogen hatte, nahm er einen Alubecher von seinem Gürtel und füllte ihn mit Wasser.
Währenddessen beobachtete Lilli diesen Mann, der so plötzlich hier erschienen war und sich bewegte, als wäre er in den Bergen zu Hause. Seine Bewegungen waren trotz seiner Größe fließend und sicher.
„Sind Sie – entschuldige – bist du oft in den Bergen unterwegs?“, fragte sie, als er den Becher in das Feuer gestellt und seinen Rucksack geholt hatte. Er holte ein Stück dunkles Brot hervor, sah sie an und nickte dann.
„Von Zeit zu Zeit, ja.“
„Es ist wunderschön hier“, meinte Lilli. „Man hat das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Und frei. Frei von allem.“ Sie stand auf, räumte die Reste ihrer Mahlzeit zusammen und zögerte.
„Magst du ein Stück Salami zu deinem Brot? Käse habe ich keinen mehr.“ Sie reichte ihm das Bündel hinüber, aber mit einem Blick darauf winkte er ab.
„Danke, das Brot reicht mir.“ Er nahm den Becher aus dem Feuer, griff aus einem Lederbeutel ein paar Kräuter und warf sie hinein.
„Und du?“, wollte er wissen, als sie humpelnd aus der Hütte kam und sich auf einen Stein setzte. „Du wanderst ganz allein?“
Sie nickte.
„Hast du ein bestimmtes Ziel?“
„Ja, das Dorf am Rand des Tales. Ich werde es morgen erreichen. Falls ich in meine Schuhe komme“, fügte sie seufzend mit einem Blick auf ihre Füße hinzu.
Wieder donnerte es. Schwere Wolken hatten den Abendhimmel verfinstert und es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste Tropfen fiel.
„Darf ich?“ Er warf einen Blick auf die Verletzungen.
Sie sah ihn zweifelnd an. Wollte sie, dass ein Fremder ihre Füße betastete? Er stellte den Tee beiseite, erhob sich und kniete sich vor sie.
„Vielleicht kann ich dir helfen.“ Hilflos ließ sie es geschehen. Sie roch einen leisen Hauch von Minze und Schweiß, als er sich zu ihren Füßen hinunterbeugte und die wunden Stellen abtastete. Es überraschte sie, wie sanft die Berührung war. Sie betrachtete sein konzentriertes Gesicht und kam zu dem Schluss, dass er ungefähr so alt sein musste wie sie selbst. Feine Linien um seine Mundwinkel zeigten, dass das Leben nicht ohne Spuren an ihm vorübergegangen war.