Elbwärts - Thilo Krause - E-Book

Elbwärts E-Book

Thilo Krause

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Wie begegnet man seiner fremd gewordenen Herkunft? – Thilo Krauses eindringlicher Roman über unser Land und unsere Zeit

Ein junges Paar kehrt nach Jahren zurück ins Felsland der Sächsischen Schweiz. Der Wunsch, sich an den Kindheitsorten ein neues Leben aufzubauen, mündet in die Konfrontation mit der Herkunft, aber auch mit einer neuen Fremdheit. Der Erzähler erinnert sich: an den Schulfreund, der damals beim gemeinsamen Klettern sein Bein verlor. An den öffentlichen Tadel in der Schule beim sozialistischen Fahnenappell. Thilo Krauses erster Roman erzählt vom Versuch der Heimkehr in ein fremdgewordenes Land. Es gibt nicht nur Apfelbäume und Elbwiesen, es gibt auch das Sommercamp der Neonazis, und am Misstrauen des Dorfes droht auch das Paar zu scheitern. Ein intensiver Roman über unser Land und unsere Zeit.

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Über das Buch

Wie begegnet man seiner fremd gewordenen Herkunft? — Thilo Krauses eindringlicher Roman über unser Land und unsere ZeitEin junges Paar kehrt nach Jahren zurück ins Felsland der Sächsischen Schweiz. Der Wunsch, sich an den Kindheitsorten ein neues Leben aufzubauen, mündet in die Konfrontation mit der Herkunft, aber auch mit einer neuen Fremdheit. Der Erzähler erinnert sich: an den Schulfreund, der damals beim gemeinsamen Klettern sein Bein verlor. An den öffentlichen Tadel in der Schule beim sozialistischen Fahnenappell. Thilo Krauses erster Roman erzählt vom Versuch der Heimkehr in ein fremdgewordenes Land. Es gibt nicht nur Apfelbäume und Elbwiesen, es gibt auch das Sommercamp der Neonazis, und am Misstrauen des Dorfes droht auch das Paar zu scheitern. Ein intensiver Roman über unser Land und unsere Zeit.

Thilo Krause

Elbwärts

Roman

Carl Hanser Verlag

Inhalt

I

II

III

IV

Ich schwimme mittendrin in meinem alten Hemd,

gehöre noch dazu und bin schon ziemlich fremd.

Und ich frag mich, was ich bin, was ich war,

in der Suppe das Salz oder das Haar.

Gerhard »Gundi« Gundermann, »Straße nach Norden«

That deep blue sky is my home.

Tom Waits, »Little Drop of Poison«

I

Das ist mein Fels. Ein windiges Riff, ein paar knotige Kiefern. Abends komme ich hierher, um unser Haus von oben zu sehen. Ich sitze vorn am Abgrund. Hinter meinen Zehen schwanken die Baumkronen, dass ich schwindlig den Blick heben muss. Straße, Felder, Dorf. Und kommt einer heim mit dem Auto, biegt ein zwischen die Häuser, flirrt Staub über den Äckern. Unser Haus liegt in der Sonne, als sei es längst fertig. Ich sehe den Putz nicht bröckeln an der westlichen Wand. Ich sehe den verkrauteten Garten nicht, nicht die Obstbäume, in denen der Mehltau wütet. Es ist Sommer. Der Sommer, den ich immer wollte. Mit der Kleinen und Christina.

*

Als wir zum ersten Mal zusammen ins Dorf kamen, glühten die Vogelbeeren über dem Asphalt. Wir hatten die Fenster offen und drifteten durchs Gebirge, auf den staubigen Straßen, den Alleen über Land. Die Kleine war klein. Sie schlief in ihrem Sitzchen. Ihre Füße zuckten manchmal im Traum. Wenn wir sie ins Tragetuch wickelten, wachte sie kaum auf. Sie hob den Kopf und sank mir wieder an die Schulter. Ein Makler führte uns von Haus zu Haus. Ich versuchte, zu riechen, zu hören und zu sehen. Die Kleine schlief an meinem Bauch. Ich fühlte mich wie gepanzert mit ihrer Wärme, unangreifbar, unverletzlich. In einem Haus wucherte der Schimmel. Wir gingen wie gegen einen Widerstand. Das nächste Haus roch nach altem Fett und Streit. In einem anderen war die Luft wie Wasser. Die ganze Zeit versuchte ich mich zu erinnern, ob ich je mit Vito hier gewesen war. Manchmal kam mir eine Ahnung, aber für uns Kinder war das Nachbardorf eine andere Welt. Kaum jemand schaute nach uns. Auch sonst begegnete uns niemand, den ich gekannt hätte. Der Makler war ein blasser Kerl im Anzug. Ein Büschel Barthaare hatte er bei der Rasur vergessen. Die Kleine drehte nur manchmal den Kopf von einer Seite zur anderen. Sie war unglaublich warm, mit Leben voll. Für sie durchquerten wir einen Vorgarten nach dem anderen, gingen durch muffige Räume, stiegen in lichtlose Keller, bis wir jenes Haus mit den Obstbäumen fanden. Aprikosen, Äpfel und Kirschen. Ich hatte auch hier kein Gesicht, erinnerte keine Stimme. Und das war gut so.

*

Ein niedriger Flur, links das Bad, wo die Rosen durchs Fenster scheinen, Wohnzimmer und Küche, die schmale Tür zur Speisekammer. Vielleicht werden wir die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer herausreißen und eine Fensterfront einbauen, zum Garten hin. Das malen wir uns aus, ich und Christina, die jeden Tag mit unserem alten Auto zum Dienst fährt, während ich im Haus bleibe. Das Kinderzimmer habe ich als Erstes renoviert. Die Kleine schläft dort im Schatten der Obstbäume. Christina wollte die Wände weiß, nicht rosa. Wir haben Kiefernmöbel gekauft und Blätter auf die Tapete gemalt, Ranken und Blüten, als setzte der Garten sich nach drinnen fort. Das Zimmer nebenan ist unseres, ein niedriges Bett, ein Kleiderschrank. Auch wir sehen die Obstbäume. Wenn wir spät noch wach liegen und reden, schwankt um uns ein Dickicht aus Nacht, Sternen und Laub. Und dann ist da noch das dritte Zimmer, das rohe, heruntergekommene. Wir haben die Tür abgeschlossen, damit die Kleine nicht hineingeht. Der Putz ist rau und ein wenig feucht, als wäre irgendwann einmal der Regen eingedrungen.

*

Wenn ich lange genug über meine Zehen hinweg zum Haus geschaut habe, balanciere ich über ein paar Schründe hinüber zur Westseite des Riffs und blicke auf das andere Dorf, wo Vito und ich als Kinder gewohnt haben. Vorwärts und rückwärts kann ich von hier oben schauen. Auf der einen Seite das Haus, wo Christina jetzt die Kleine ins Bett bringt. Auf der anderen Seite das Dorf meiner Kindheit. Eine mäandernde Straße dazwischen, die sich in den Waldstücken verliert, um zwischen den Feldern als gleißendes Band wiederaufzutauchen. Die Dämmerung dauert eine Ewigkeit mit allen Schatten, die länger sind als die Dinge selbst. Die Kronen schwanken. Alles wirbelt. Alles fällt durcheinander. Vito, der jetzt unten an der Elbe wohnt, Christina, die Kleine, gestern, heute. Wenn es so wirbelt, ist es Zeit abzusteigen, die Hände an den Sandstein zu legen, auf dem immer gleichen Pfad aus Eisenklammern und Holzbohlen, den ich damals schon mit Vito nahm. Tags kommen die Leute, mühen sich über Schründe und Vorsprünge vor zur Aussicht, wo die blecherne Wetterfahne steht. Abends kommt keiner mehr. Aus den Kaminen und Spalten dünstet ein Rest Feuchte herauf.

*

Als ich noch mit Vito auf dem Riff saß, waren die Abende riesig und das Gebirge auch. Vito, die Bohnenstange. Ich, der Mops — nicht der Fette, der Mops, weder fett noch dürr. So kannten sie uns unten im Dorf, in diesem Kaff, auf das wir spuckten von hier oben: Schule, Fleischer, Bäcker, Konsum, der Feuerlöschteich in der Mitte, in den sich Jahr um Jahr weiter das Schilf fraß. Von jenen Abenden mit Vito ist mir der geblieben, als wir die Kaulquappen retteten. Wir fischten sie aus den Wasserbecken, die auf dem Riff überall zu finden sind. Sie zappelten im schwindenden Wasser, zwischen Blättern und Schlick. Wir schöpften sie uns auf die Hände, betrachteten ihre glitzernden Augen, die fließende Kontur ihres Körpers und ließen sie in die Gläser gleiten. Dann bugsierten wir sie den Pfad aus Leitern und Eisenklammern herunter. Einer stieg voraus, der andere reichte die Gläser nach. Wir lachten, als wir den Waldgrund erreichten. Und wir lachten immer noch, als wir durch die Stämme dem Dorf zueilten. Die Sonne stand tief. Die Gläser leuchteten wie Lampions in unseren Händen. Bald ließen wir den Wald hinter uns und rannten über die Felder. Wir hatten keine Ahnung, wie viel Sauerstoff die Kaulquappen brauchten, ob sie ersticken würden, wenn wir nicht schnell genug wären. Wir rannten und rannten, nahmen die Schleichwege zwischen Gärten und Häusern, bis wir endlich den Feuerlöschteich erreichten. Bäuchlings legten wir uns auf den Betonrand, hoben die Deckel und senkten die Gläser mit beiden Händen ins Wasser. Kurz schwammen die Kaulquappen wie tot obenauf. Dann wimmelten sie davon. Ein paar Minuten saßen wir noch da und starrten ins Wasser, bis die letzte Kaulquappe Richtung Schilf verschwunden war. Dann gingen wir heim. Vito schien gegen die blendende Sonne noch dünner als sonst. Zwei-, dreimal drehten wir uns um, winkten uns zu, dann bogen wir jeder in unsere Straßen ein. Die Leute hatten die Fenster offen. Ich hörte Stimmen, Radios, Geschirr und dachte an die Kaulquappen, wie sie wachsen würden mit dem ganzen Platz, den sie jetzt hatten.

*

Jeden Tag zogen wir hoch in den Wald, wo die Felsblöcke wie Häuser zwischen den Stämmen lagen. Eine Stadt aus Sandstein nur für uns. Wir schlichen durch die Felsgassen, erkundeten Block um Block. Es gab die niedrigen, die flachen, viele kaum mehr als zwei, drei Meter hoch. Andere hatten einen steilen Fuß, dann legten sie sich. Ein, zwei Züge und man war über das Schwierigste hinaus. Wieder andere waren steil von allen Seiten, moosbewachsen und von Kiefernnadeln beschauert. Grüne Kolosse, zu denen wir ehrfürchtig aufschauten. Aus der Nähe verströmten sie ein süßliches Aroma von Fäulnis und Leben. Monolithen, auf die wir uns nicht hinauftrauten. Wir wussten, dass die Blöcke unbestiegen waren, terra incognita, so krautig grün, so lächerlich im Vergleich zu den Riffen und Gipfeln. Am Wochenende kamen die richtigen Kletterer durchs Dorf. Ich hörte ihre Stimmen zwischen den Häusern, obwohl sie alles andere als laut waren. Ich blickte ihnen nach und versuchte mir ihre Welt vorzustellen. Ich dachte, wenn ich nur genug in unserer Felsenstadt kletterte, würde ich es auch so weit bringen. Vito und ich würden in der Schule sitzen, unsere Hände vor uns auf der Bank, rissig und vergrindet. Große Hände, die uns überall hinbringen könnten. Vokabeln konnten sie schreiben oder Aufgaben rechnen, aber eigentlich waren sie dazu gemacht, uns auf den einen Block zu heben, den wir in der Felsenstadt ausgekundschaftet hatten, der so anders war als die anderen. Er lag am südlichen Fuß des Felsriffs, von wo wir die Kaulquappen gerettet hatten. Ein Koloss, den die Erosion von ganz oben abgeworfen hatte. Mit einer Seite lehnte er an der glatten Wand des Riffs. Dazwischen gab es eine mit Kiefernnadeln gefüllte Rinne, die man aufwärtskrauchen konnte. Dann wurde es steiler, aber wenn man sich in der Rinne verspannte, sich zwischen Wand und Wand klemmte, würde man es leicht hinaufschaffen. Doch das wollten wir nicht. Uns interessierte die andere, vom Riff abgewandte Seite. Eine geneigte Platte, vielleicht sieben Meter hoch. Dann wurde es steil. Die Wand bauchte aus, eine Wulst, bis sie sich oben wieder legte. Zwischen der Platte und der Wulst konnten wir ein schmales Band erkennen, auf dem man wahrscheinlich stehen konnte wie auf einem Sims. In Gedanken war ich den Aufstieg schon unzählige Male durchgegangen. In Gedanken wusste ich, wie ich auf der Platte das Gewicht verlagern musste, wie ich mich aufwärtsschieben konnte, unter Ausnutzung von Buckeln und Mulden. Aber an der Felswulst endete meine Vorstellung. Ich konnte mir keine Bewegung denken, die zu dieser Stelle passte. Aber hinunterfallen würden wir nicht. Das redeten wir uns ein. Vito und ich. An langen Nachmittagen schlichen wir umher, stellten die Füße auf den Einstieg, aber machten keinen Zug weiter, wie um uns selbst zu versichern, dass wir könnten, wenn wir nur wollten. Wir setzten uns auf die kleinen Felsen, die um den Block lagen. Es waren warme Sitze, in der Höhe von Stühlen. Wenn man sich ein wenig mühte, konnte man eine Lage finden, die es erlaubte, bequem zu ruhen und in den Himmel zu schauen. Es war einer dieser Felsen, der Vito zum Verhängnis wurde, aber das wussten wir noch nicht. Wann immer wir Lust hatten, saßen wir da und studierten unsere Linie, während die Wolken und die Kronen der Kiefern zu einem schwankenden Ganzen verschwommen.

*

Es war Ende Mai, als ich die neue Wäscheleine meiner Mutter aus dem Keller nahm. Es war nicht eine der dünnen, kunststoffummantelten Stricke. Unsere Leine war geflochten, fingerdick und rau. Ich weiß nicht mehr, ob ich tatsächlich glaubte, dass sie uns etwas nützen würde. Ich brauchte sie, wie die Kletterer ihre Seile brauchten, und wenn wir so sein wollten wie sie, dann mussten wir diese Leine haben. Eine Weile hatten wir darüber nachgedacht, ob wir ein Seil borgen oder stehlen konnten, aber im Dorf wussten wir von niemandem, der kletterte. Klettern gingen die Städter.

An einem Donnerstag zogen wir los. Wir hatten nur vier Stunden. Alles war frisch, grün und hoch draußen. Wir traten auf die Freitreppe vor der Schule und blinzelten ins Licht. In Gedanken ging ich unseren Triumph durch. Wir würden in den Konsum gehen, eine Limonade kaufen, uns auf den Rand des Feuerlöschteichs setzen und in die Runde schauen.

Die Wäscheleine hatten wir vor Tagen schon vor Regen geschützt in einem Felsloch versteckt. Als wir ankamen, wickelte ich sie zu einem losen Haufen, wie ich es bei den Kletterern gesehen hatte. Im Grunde war klar, dass Vito und nur Vito in Frage kam. Er war drahtig und groß. Wo ich nicht hinkäme, hätte er noch die Reichweite. Er war der Dürre, der Gelenkige — ich der Mops. Kräftig vielleicht, aber auch schwer. Wir spielten Schere, Stein, Papier. Der Wind fauchte in den Kronen über uns. Kleine, heftige Böen. Wir setzten an. Schere. Stein. Papier. Ich schaute auf Vitos Hand: Schere. Ich schaute auf meine, als gehörte sie nicht mehr zu mir: Schere. Auf der Straße hörten wir ein Auto vom Tal heraufkommen. Eins der wenigen Autos, die zu dieser Zeit unterwegs waren. Dann war es wieder ruhig. Schere. Stein. Papier. Dieses Mal schaute ich zuerst auf meine Hand. Dann wie in Zeitlupe auf Vitos. Ich dachte einen winzigen Moment, auch er hätte die Faust geballt, doch plötzlich sah ich, dass seine Hand flach war. Mag sein, er hatte im letzten Augenblick die Finger noch ausgestreckt. Mag sein, ich hatte mich getäuscht und er hatte sich von Anfang an so entschieden.

Ich also. Ich stritt nicht. Ich beschwerte mich nicht, Vito habe geschummelt. Wenn er es getan hatte, dann war ich zu langsam gewesen oder er zu schnell. Ich schaute auf die Wäscheleine, folgte jedem Kringel mit den Augen, dass mir schwindlig wurde. Wieder fauchte eine Böe durch die Kronen. Mir wehten Kiefernnadeln auf die Haare. Vito setzte sich auf einen der kleinen Blöcke, die wir immer benutzt hatten, um in den Himmel zu schauen. Er stützte den Kopf auf und blickte mich an. Wie in Trance band ich mir die Wäscheleine um den Bauch. Wenn es etwas gab, womit ich nicht gerechnet hatte, dann, dass ich verlieren würde. Für mich war immer klar gewesen, dass Vito sich hinaufschwingen würde. Im scharfen Mittagslicht, eine elegante Silhouette, ein geschmeidiger Schatten.

Mir klopfte der Puls in den Fingerspitzen. Meine Handflächen waren feucht. Ich stieg mit einem Fuß auf die geneigte Platte, richtete mich auf, hob den anderen Fuß hinterher. Unter den Schuhsohlen knirschte es. Dann zog es mir die Beine weg. Ich fiel vornüber und rutschte zurück.

Nun mach schon, sagte Vito.

Ich keuchte, spürte das Blut in Händen und Füßen. Ich zog die Schuhe aus und auch die Socken, rückte die Wäscheleine um meinen Bauch zurecht und stieg ein. Dieses Mal hielten die Füße. Der Sandstein war warm und rau. Auf der Platte gab es Mulden und Buckel. Ich machte kleine Schritte, stützte mich auf die Hände. Es war ein Krauchen, ein Reiben, immer weiter hinauf. Hätte ich zurückgeschaut, wäre mir die Höhe aufgefallen. Aber ich blickte aufwärts, wischte die Kiefernnadeln aus den Tritten und zitterte mich empor, bis ich nach ein paar Minuten in das überwölbte Band greifen konnte, das wir von unten gesehen hatten. Ich tastete aufwärts, fand einen Griff, zog die Füße nach und stand plötzlich aufrecht in der Wand. Alles war Felsen vor meinen Augen. Meine Füße sah ich nicht mehr. Ich schob sie so weit wie möglich in das Band, auf dem ich nach rechts und links balancieren konnte.

Dann schaute ich doch hinunter.

Ich sah Vito, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen mit einer Hand beschattet. Die Wäscheleine lief wie eine dürre Nabelschnur über die schräge Platte, die von unten flach geneigt ausgesehen hatte. Jetzt fiel sie steil ab. Mein linkes Knie wippte unruhig. Zurück kam ich nicht mehr. Von unten hatte der Fels einigermaßen lächerlich ausgesehen. Von diesem Band war der Ausblick erschreckend, wie wenn man im Freibad auf dem Turm steht, aufs Wasser schaut und die Höhe spürt.

Und?, rief Vito.

Ich zwang mich, wieder nach oben zu blicken, wo der Fels sich legte und ich einige Löcher erkannte. Ich schob mich nach rechts, auf die äußere Kante des Blocks zu, bis ich mit ausgestrecktem Arm um die Kante herumlangen konnte. Ich dachte, ein riesiges Ohr zu greifen, schloss es fest in die Hand, trat mit den Füßen hoch gegen den Felsbauch an und wuchtete mich hinauf. Auch links bekam ich etwas zu greifen. Noch ein paar zitternde Züge, dann war ich oben. Die Kiefernkronen waren nah. Der Wind ging leise, und ich merkte, meine Finger bluteten und die Schienbeine waren zerschrammt. Unten stand Vito, der große Vito, zusammengeschrumpft, gestaucht aus dieser Perspektive. Er hatte den losen Rest Wäscheleine in der Hand.

Schmeiß runter, rief er. Die brauch ich nicht.

Ich knotete die Leine auf und warf das Ende hinunter. Vielleicht dachte Vito, dass, wenn ich, der Mops, es geschafft hatte, er es auch schaffen würde. An die Wäscheleine band er sich jedenfalls nicht. Sie hätte nichts genützt, aber wie oft habe ich mich gefragt, wenn doch.

Ich erinnere mich, dass ich Vito zurief, ebenfalls die Schuhe auszuziehen, aber er wollte nicht. Schnell stand er auf halber Höhe der Platte und begann aus meinem Blickfeld zu verschwinden. Dann wurde es still. Heute scheint es mir wie eine Ewigkeit, dass ich Vito weder sah noch hörte. Damals dachte ich mir nichts dabei. Ich saß da und fühlte mich unglaublich leicht. Ich, der Mops, war oben. In meiner rechten Hand spürte ich noch den Griff, der mich gerettet hatte, jenes scharf umrandete Ohr, in das meine Finger perfekt gepasst hatten.

Eh, was machst du so lange?, rief ich ins Leere.

Ich genieße die Aussicht.

Wo bist du, schrie ich hinunter, legte mich auf den Bauch und schob mich so weit Richtung Abgrund vor, wie ich konnte, aber Vito sah ich nicht.

Gleich bei dir, schallte es herauf.

Ich glaube, dass kurz Vitos Kopf über dem Felsbauch erschien. Dann war er weg. Es gab ein reibendes Geräusch, ein dumpfes Schlagen und Schaben. Ich weiß nicht mehr, ob Vito schrie oder ob ich ihn nicht habe schreien hören. Er lag plötzlich unten. Ich saß auf meinem Ausguck wie ein Zuschauer, unbeteiligt für ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass mein bester Freund reglos da unten lag. Das Licht war gleißend. Vito. Felsen. Wald. Ein unglaublicher Schnappschuss, so hell, so blendend, dass mir Tränen über die Wangen rannen. Ich war es, der plötzlich schrie. Als ich keine Luft mehr hatte, kam mein Schrei zurück. Ich richtete mich auf, wankte von meinem Ausguck zur hangseitigen Scharte, wo ich mich in dem Spalt verklemmte, der in die Rinne voll Kiefernnadeln mündete. Mit dem Rücken an der einen und den Füßen an der anderen Seite glitt ich Meter um Meter abwärts. Ich war es, dachte ich. Ich bin schuld. In diesem Moment gab mir der Gedanke mehr Kraft, als dass er mich lähmte. Ich sank in die Rinne, rutschte auf dem Hosenboden hinunter, bis ich Vito erreichte. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ins Dorf kam. Ich kann mich an Vitos Körper erinnern, der mir leblos auf dem Rücken hing. Ich beugte mich, um ihn zu schultern. Wie gern hätte ich mich aufgerichtet, aber dann glitt Vito von mir ab, seine Arme wie Gummibänder, die sich scheinbar dehnten und dehnten. Auf meine Waden rann Blut. Ich keuchte. Ich eilte wie von Sinnen, weil ich nicht begreifen konnte, wie viel Blut in so einem Körper war, woher es kam und was passieren würde, wenn es alle wäre. Das Dorf lag in seiner Nachmittagsstille. Ich sah niemanden oder dachte, niemanden zu sehen. Niemand rief mich, als wäre alles in einer anderen Welt passiert, in der nur Vito und ich existierten. Eine Welt, unsichtbar, undurchdringlich, in der ich allein zurückgeblieben war, bis unser Schulhausmeister vor mir stand. Ich merkte, wie ich leichter wurde. Jiří hatte plötzlich Vito im Arm. Ich hörte Jiří schreien, wie auch ich geschrien hatte. Ich hörte das Dorf erwachen. Leute kamen. Ich wurde hochgehoben und in die Schule getragen. Vito sah ich von da an lange nicht mehr. Man brachte mich ins Krankenzimmer, wusch mich und legte mich auf die Kunstlederpritsche. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf zu verschwinden. Das Licht hinter den Lidern war leuchtend rot. Ich dachte, dass es Vitos Blut war, das mir durch die Augen floss. Irgendwann schloss jemand seine Hand um meine. Ich kannte diese Hand. Mutter richtete mich auf, flößte mir ein wenig Wasser ein. Ich wankte mit ihr aus dem Zimmer. Als wir auf der Freitreppe standen, nahm ich mich zusammen und riss mich los. Ich rannte die Stufen hinunter. Meine Mutter rief. Ich drehte mich um, versuchte ein Lächeln, zuckte mit den Schultern. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich rannte mit der ganzen Energie, die ich noch hatte, in den Wald und setzte mich zitternd aufs Riff. Ich blickte hinunter aufs Dorf und versuchte, irgendein Anzeichen dessen zu erkennen, was gerade passiert war. Ich sah nichts. Keine Polizei. Keinen Krankenwagen. Als hätte ich mir Vitos Fall nur eingebildet. Meine rechte Hand pulste, als hätte ich immer noch den Griff in der Hand, der mich gerettet hatte.

*

Zwischen den Bäumen ist es dämmrig. Als ich die Straße quere, höre ich drüben Richtung Schonung Stimmen. Ein Moped knattert. Vielleicht Jungs, die sich betrinken hier. Ich pisse noch schnell in den Wald, am Rand des alten Steinbruchlochs, wo ich mit Vito schon immer hinuntergezielt habe. Ein Eichelhäher zetert. Auf dem nahen Forstweg lärmt wieder das Moped. Das ist das Letzte, was ich höre.

Als ich wieder zu mir komme, bin ich in einen Kokon aus Schwarz gehüllt. Ich weiß nicht, ob etwas mit meinen Augen ist oder ob es wirklich so dunkel ist. Ich spüre meine Hüfte, die Beine wie eingespannt, bis ich mich erinnere, dass ich das Steinbruchloch hinuntergepisst habe. Eine Weile sehe ich nichts, bis ich begreife, wo oben und unten ist. Ich drehe den Kopf und erkenne einige Sterne. Vom Moped ist nichts mehr zu hören. Die Kiefern rauschen. Meine Füße sind eiskalt. Eine Art Schmerz, als hätte ich mir etwas Spitzes eingetreten, aber es ist nur die Kälte. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich wieder auf den Weg komme. Beim Pissen das Steinbruchloch hinuntergefallen. Ich lache. Blut sickert mir den Nacken hinunter. Meine Haare sind verklebt, mein T-Shirt zerrissen. Über den Feldern steht ein riesiger Nachthimmel. Wie ich die Milchstraße vermisst habe all die Zeit. Hier gibt es sie noch. Bis in die Stadt ist es weit.

Ich kann unser Haus knapp erkennen. Alle Fenster sind dunkel. Den Sternbildern nach ist Mitternacht vorüber. Ich hebe das Gartentor an, dass die Angeln nicht quietschen, quere den Vorgarten, spüre das Gras feucht unter den Füßen. Ich will Christina nicht wecken, mache leise in der Küche, dann steht sie doch vor mir.

Ich bin ins alte Steinbruchloch gefallen, sage ich.

Christina mustert mich. Dann geht sie die Treppe hinauf, kommt mit dem Verbandskasten wieder.

Jetzt wasch dich mal, sagt sie.

Ich gehe hinüber zur Spüle, halte den Kopf unter den Hahn. Es brennt. Ich taste eine Beule und einen Riss. Als ich mich an den Küchentisch setze, zieht Christina einen Stuhl heran, kommt hinter mich. Ich lasse das Kinn auf die Brust sinken. Als Christina fertig ist, umfasst sie mit den Armen meinen Brustkorb, legt den Kopf auf meine Schulter. Ihre Haare kitzeln. Sie duftet. Ich drehe mich um, aber sie steht auf, macht einen Schritt zurück. Sie wirft mir einen Kuss zu. Dann geht sie. Das Geräusch ihrer nackten Füße verliert sich im Flur oben. Unsere Schlafzimmertür klappt. Was noch?, wird Christina denken. Was noch?

*

Das Laub flackert um uns. Christina schiebt im Halbschlaf ihre Hand in meine, aber wo ich bin, das weiß ich nicht. Dabei war ich es, der Christina hierhergeredet hat, in dieses Haus, in diese Räume. Das war die Zeit, als Christina schwanger war und ich mich an der Idee des Himmels berauschte, weit und hoch über den Kornfeldern meiner Kindheit. In diesen Momenten wurde ich lebendig, am Ende jeden Tags, in der halben Stunde im Bett nebeneinander, wenn ich redete und redete. Dann verblassten das Land und die Stadt um uns. Dann verblasste das Gefühl der Fremdheit. Und wir schliefen miteinander, ganz vorsichtig, weil die Kleine ja schon da war. Aber ich war so anwesend wie nie. Und vielleicht ist Christina deshalb mit mir zurückgekommen, weil sie dachte, dass auch ich zurückfinde. Zu mir, zu ihr. Ich weiß es nicht.

II

Morgens fährt Christina hinunter ins Tal. Die Leute geradebiegen, wie sie sagt. Christina arbeitet in der Stadt-die-keine-ist. Zehn Minuten dauert es mit dem Auto. Immer bergab. Am verkrauteten Fußballplatz vorbei. Dann ein Stück Wald. Schon ist man da. Das Ärztehaus liegt mittendrin in der Ansammlung von Häusern, die sich in einem steilen Talgrund drängen. Hoch über dem Tal thront eine Festung. Wer nicht laufen will, kann einen Bus nehmen, der an die alten Doppeldecker in London erinnert. Die Busfahrer sind fast alle Tschechen. Einen kenne ich. Jan, der jeden Morgen aus seinem Dorf vierzig Kilometer elbabwärts gefahren kommt. Er steuert eines der klobigen Ungetüme, bringt Ladung um Ladung Touristen an ihr Ziel. Die Festung ist eine geschäftige Parallelwelt hoch oben, ein stolzes Königreich in den Wolken, während unten in der Stadt-die-keine-ist die Alten aus den Fenstern lehnen und auf die Straße schauen oder auf das schmale Gewässer in der Talsohle, das die Stadt-die-keine-ist in zwei Hälften teilt. Über die Zeit sind die Häuser die Hänge hinaufgewuchert. Es gibt einen Bahnhof, wo die Leute aus der richtigen Stadt ankommen und die Kletterer. Es gibt eine Kirche. Drei Bäcker. Zwei Fleischer. Zwei Eisdielen. Das Eisenbahnviadukt. Dann das Deutsche Eck. Den Reichsadler. Gita’s Bierbude und noch einige mehr von diesen Orten, wo die Glatzen an Plastiktischen ihre Biere trinken, aber Glatzen haben die meisten schon lange nicht mehr. Von den Glatzen oder denen ohne gibt es viele. Deshalb kennt man diesen Flecken, wo Christina arbeitet und auch Vito seine Tischlerei hat. Das Schönste ist die Elbe, die träge an den Häusern vorbeigeht. Sie schließt die Stadt-die-keine-ist wie eine Barriere am Talausgang ab. Im Frühjahr schwillt die Elbe manchmal an, drückt hinein in die Mündung des Bachs. Deshalb liegt der Friedhof am Hang, dass die Toten ihre Ruhe haben. Einmal säuberte ich mit Vito den Platz vor der Kirche. Von überallher hat man die Leute zusammengetrommelt, um die Stadt-die-keine-ist wiederherzustellen. Im Riesengebirge schmolz der Schnee und es regnete dazu. Man konnte Boot fahren in den Straßen. Nach einer Woche war der Spuk vorbei. Zurück blieben Schlick und Müll, Treibgut, Stämme, schillernde Pfützen Öl und ein unglaublicher Gestank.

*

Wenn Christina arbeitet, dann gibt es nur die Kleine und mich. Das Haus ist groß und leer, zum Fürchten oder zum Traurigsein, aber ich lasse mir nichts anmerken. Wir frühstücken. Draußen glänzt der Garten, die Malven, der falsche Jasmin. Die Himbeersträucher scheinen jeden Tag ein Stück höher, so schnell, wie sie wachsen. Wir kauen unsere Brote. Ich streichle der Kleinen über die Haare, die sie von Christina hat, so wellig und dunkel. Ich ziehe die Kleine an und begleite sie zum Kindergarten, obwohl es nicht weit ist. Ihre Hand dreht sich in meiner. Die Kleine schwitzt, und ich mache mir Gedanken. Wir kommen am Feuerlöschteich vorbei, den es auch hier gibt. Die Kleine schaut mich an. Ich weiß, was sie sagen will. Auch wenn das ein anderer Teich ist. Ich habe ihr die Geschichte mit den Kaulquappen erzählt. Wie ich sie in Einweckgläsern rettete. Vito habe ich nicht erwähnt. Christina habe ich von ihm erzählt, aber sie kennt unsere Geschichte nicht. Sie weiß nicht, dass Vito beim Klettern mit mir sein Bein verloren hat. Ich will, dass Christina glaubt, wir wären der Äpfel und des Himmels wegen zurückgekommen.

*

Wenn ich die Kleine abgegeben habe, setze ich mich auf eine Bank. Ich sitze und warte. Manchmal eine halbe Stunde, manchmal eine Stunde, bis die Gruppe zum Spielen in den Garten kommt. Ich schaue die Kleine ganz genau an, mit wem sie spielt, ob sie lacht. Manchmal ist es nicht leicht, sie zu erkennen. Der Garten ist von Büschen umgeben, und ich will nicht näher herangehen. Am einfachsten ist es, wenn sie schaukelt. Dann schwingt sie über die Büsche hinaus, und ich frage mich, ob sie gestern genauso hoch geschaukelt ist oder ob sie heute weniger Schwung hat. Ich schaue die Kleine so genau an, weil ich weiß, wie das ist mit dem Glück als Kind. Kaulquappen, die waren unser Glück. Ich hatte Glück gehabt. Jedenfalls sagten das damals die Leute.

*

Es gibt nicht viel zu tun, auch wenn Christina es nicht glauben will. Das Haus ist in Schuss, bis auf die westliche Wand. Da bröckelt der Putz. Ich habe den Makler gefragt. Er hat mir erzählt, dass eine alte Frau hier wohnte, eine gepflegte weißhaarige Dame, mit gepflegten Kindern, die sich gekümmert haben. Immer am Wochenende sind sie mit den eigenen Kindern hier herausgekommen. Deshalb gab es schon einen Sandkasten unter den Obstbäumen und eine Schaukel. Jetzt haben wir also ein Haus mit Sandkasten und Schaukel. Wenn einer vorbeiläuft am Zaun, wird er denken: ein glückliches Haus. Mir gefällt der Gedanke. Mir gefällt die Vorstellung, dass jemand von außen auf unser Leben schaut und neidisch wird. In dieser Vorstellung kann ich mich einrichten. Wenn die Kleine im Kindergarten ist, gehe ich an unserem Haus vorbei, schaue in den Garten, auf das verlassene Spielzeug. Ich mache das ein paarmal. Ich gehe auf und ab, schaue auf unser stilles, glückliches Haus und denke daran, wie fremd ich gewesen bin in den Jahren, als ich weg war von hier.

*

Das ist mein Fels. Vormittags komme ich hierher, um das Dorf von oben zu sehen: unser Haus und die anderen, die träge hinter einer Wand aus Hitze flimmern, die Kirche und den Kindergarten, wo die Kleine schaukelt. Von hier oben kann ich nur bunte Flecken erkennen, Fitzelchen auf der Wiese zwischen Schaukel, Wippe und Sandkasten. Man könnte denken, es ist der Wind, der die Kinder umherweht, aber nein, das tut er nicht. Sie spielen Haschen oder Verstecken. Die einzigen beiden Flecken, die sich kaum bewegen, sind die Erzieherinnen. Den Kindergarten und die Schule gibt es noch, weil die Leute aus den anderen Dörfern ihre Kinder hierherbringen. Bis zur vierten Klasse geht es. Dann müssen die Kinder mit dem Bus hinunter in die Stadt-die-keine-ist. Von der Wetterfahne klingen Stimmen herüber, und ich steige ab, um die Kleine zu holen. Wir essen Mittag zusammen. Jetzt, da die Touristen unterwegs sind, nehme ich meinen eigenen Weg. Eine steile Rinne, eine Art Kamin, den kein Führer als Weg verzeichnet. Ich stemme die Beine an die eine Wand und den Rücken an die andere und arbeite mich langsam nach unten. Manchmal kommt eine Böe und bläst mir einen Schwall Wärme entgegen. Der Wind fließt mir lau um den Körper. Durch diese Rinne hier lief die Telefonschnur, die ich mit Vito gespannt hatte. Manchmal finde ich es unglaublich, dass mich niemand mehr kennt, als hätte man die Belegung getauscht. Die Alten gestorben, die Jungen in der Stadt, die schönen Häuser verkauft, die hässlichen verfallen.

*

Unten schlingert ein Moped durch den Wald. Die Gestalt des Fahrers irrlichtert durch die Stämme. Ich beeile mich, springe den letzten Meter hinunter. Die Kleine fällt mir ein, wie sie das Gesicht in den Händen birgt, wenn sie warten muss, und dann doch plötzlich aufschaut, wie sie aufspringt, mir entgegenläuft. Ich mache ein paar Schritte Richtung Dorf. Dann drehe ich um und gehe dem Moped hinterher. Die Kiefern weichen Birken. Der Wald wird lichter, der Boden ist überwuchert mit Heidelbeersträuchern. Es gibt nur Pfade hier, Wegspuren, die alle auf einen ausladenden Überhang zulaufen. Als ich daran denke umzukehren, sehe ich das Moped wieder. Das Glas des Rückspiegels blitzt vom Fahrweg herauf. Im selben Moment erkenne ich den Fahrer. Er steigt mit einem alten Militärrucksack den Wald Richtung Überhang hinauf. Die Luft ist süßlich schwer. Überall im Wald leuchtet Toilettenpapier. Ich huste, habe das Gefühl, dass ich den Geruch fast sehen kann, wie er durch die Stämme wabert. Ein paar Schritte mache ich noch. Plötzlich schlägt beim Überhang ein Hund an. Das Gebell hallt zwischen den Felsen, bis jemand ruft. Der Hund schweigt augenblicklich. Ich ducke mich. Jemand schreit Kommandos. Der Schall wird wie verstärkt vom Überhang herübergeworfen. Durchs Gestrüpp halte ich auf den Fuß des Riffs zu, auf eine mit Birken und niedrigen Kiefern bestandene Flanke. Ein kleines, ansteigendes Labyrinth, wo ich schon manchmal mit Vito aufwärtsgeturnt bin, wenn es uns zu langweilig war, die Touristenpfade hinauf zur alten Wetterfahne zu nehmen. Ohne Mühe erreiche ich die erste Felsstufe. Bald bin ich zehn Meter über dem Grund. Ich balanciere nach rechts hinaus und bin zwischen Birkengebüsch und einer kleinen Kiefer außer Sicht. Von hier sehe ich sie. Ganz in Schwarz und Camouflage zwei Halbstarke, ein Mann und ein Deutscher Schäferhund an der langen Leine. Sie haben angehalten. Ratlos wirken sie, wie sie keine dreißig Meter entfernt abwärts in den Wald spähen. Ihre Glatzen schimmern. Von den Camps, die sie organisieren, habe ich gehört. Man schläft mit Isomatte und Schlafsack im Sand. Man macht Feuer, trotzt dem Wetter. Man brät Würstchen und singt Lieder.

Die drei wissen offenbar nicht weiter. Eine Weile stehen sie da und schauen in den Wald, dann nehmen sie den Schäferhund kurz und gehen Richtung Felsdach zurück. Ich klettere nach oben, sehe die Felsenstadt von Vito und mir auftauchen, aber ich halte nicht an, um zu schauen. Ich muss die Kleine holen. Ich überquere das Riff und steige auf dem Touristenpfad Richtung Dorf hinab. Ich renne, renne meiner Tochter entgegen, aber ich bin nicht mehr das Kind von damals. Ich trage nicht mehr mein Einweckglas wie einen leuchtenden Lampion vor mir her. Mir ist, als hätten die Nazis sich direkt in den Vorgarten meiner Kindheit erleichtert.

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