Emerald Witches - Laura Labas - E-Book
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Laura Labas

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Beschreibung

Sieben Hexenzirkel regieren die Stadt Seoul. Als der Ahnenmond aufsteigt, neigt sich die Herrschaft des stärksten Zirkels dem Ende zu. Ein Kampf zwischen sieben Auserwählten, einer Hexe aus jedem Zirkel, soll die Nachfolge klären. Die junge Hana aus dem Smaragdzirkel will eine von ihnen sein. Nach einem verhängnisvollen Kuss mit dem Dämon Bobby wird Hana jedoch vom Herrschaftskampf ausgeschlossen – zum Glück, denn die Oberste des Opalzirkels hintergeht und opfert alle verbliebenen Anwärterinnen. Hana flieht, doch um zu überleben, muss sie ausgerechnet dem zwielichtigen Bobby vertrauen …

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Die koreanischen Begriffe in diesem Roman werden im Glossar am Buchende erläutert.

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Karte: Stephanie Gauger, Guter Punkt München

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Guter Punkt, München, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock und iStock / Getty Images Plus

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Vorwort

Karte

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Glossar

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Bacon

-넌 제일 좋은 고양이였어. 사랑해.

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

»Emerald Witches« spielt in Seoul, der Hauptstadt von Südkorea. Schon während der Planung dieser Dilogie war es mir wichtig, das Setting so authentisch wie möglich zu gestalten, und während meines mehrwöchigen Aufenthalts in Seoul wurde dieser Wunsch noch viel stärker. Ich wusste direkt, es war die richtige Entscheidung, nach Südkorea zu reisen, um die einzigartige Atmosphäre dort einzufangen. Die pulsierende Hauptstadt, die melodische Sprache und die Kultur haben mich vom ersten Moment an begeistert. Für mich als in Europa aufgewachsene Person waren die Unterschiede zur westlichen Kultur spannend und herausfordernd. Ich freue mich, einen Teil meiner Begeisterung durch diese Dilogie mit dir teilen zu können. Die meisten Orte und Plätze, die du beim Lesen entdecken wirst, habe ich selbst besucht, sie bei Tag und auch manchmal bei Nacht gesehen und mir dabei vorgestellt, wie sich Hana und Bobby dort bewegen … Ein unglaubliches Gefühl.

»Emerald Witches« beinhaltet einige romanisierte koreanische Begriffe, Vokabeln und Phrasen, die ich zu Verständniszwecken und zugunsten des Leseflusses gelegentlich angepasst habe. Durch die vereinfachte Darstellung hoffe ich, dir die südkoreanische Atmosphäre näherzubringen. Im Glossar am Ende des Buches kannst du die Bedeutung der kursiv gedruckten Vokabeln nachschlagen.

Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen!

Deine Laura

1. Kapitel

Der Smaragd glühte auf. Ich ließ die feingliedrige Kette durch meine Finger gleiten, während ich den Blick auf den grünen Edelstein meines Zirkels gerichtet hielt.

Der Smaragdzirkel, einer von sieben Hexenzirkeln in Seoul.

»Es gibt keinen Grund, den Stift in den Mund zu nehmen, Kim Ung«, ermahnte Jisoo, eine meiner beiden besten Freundinnen, ihren neunjährigen Schüler.

Ich konnte von meiner Position aus nur seinen Hinterkopf erkennen, da er ganz vorne im Raum saß und ich mit Subin, meiner zweiten besten Freundin, hinten im Schneidersitz auf dem Boden. Während Jisoo die Kinder unseres Zirkels im Nachmittagsunterricht anleitete, versuchten Subin und ich uns an der Papierdekoration für meinen großen Tag morgen. Weder sie noch ich besaßen eine größere Begabung für Bastelkram. Das Ergebnis der Kinder stellte das unsere weit in den Schatten. Gehörte Basteln zu den Tätigkeiten, die man nur als Kind gut beherrschte?

Frustriert zerknüllte ich einen blauen Papierstreifen und lehnte mich seufzend gegen das Holzregal, in dem sich die Bastelutensilien normalerweise befanden. Die Kante einer roten Plastikbox drückte sich unangenehm in meinen Rücken, aber ich war zu faul, um mich zu bewegen. Stattdessen ertrug ich den dumpfen Schmerz.

Das sagte wohl einiges über meine Persönlichkeit aus.

»Sie haben versprochen, uns von der letzten Jagd zu erzählen, wenn wir mit den Aufgaben fertig sind«, erinnerte der Junge Jisoo an ihr Versprechen.

Jisoo war ein Jahr jünger als ich und mit achtzehn Jahren die jüngste Lehrerin unseres Zirkels. Anders als Subin und ich hatte sie sich dazu berufen gefühlt, den Kindern ihre Zeit und Geduld zu schenken. Subin und ich hielten uns hier lediglich auf, weil wir nichts Besseres zu tun hatten.

Als Hexen des schwächsten Zirkels erreichten uns fast nie Aufgaben, weil sie bereits von einem der sechs Zirkel über uns abgegriffen worden waren. Einmal abgesehen davon, dass ich sowieso nichts tun durfte, was auch nur ansatzweise Spaß machen würde.

Jisoo verschränkte die Arme vor ihrem zierlichen Oberkörper und betrachtete Ung für einen Moment. Aber nicht nur er sah sie gespannt an. Auch die Blicke der anderen zehn Kinder, die allesamt unter zwölf Jahre alt waren, blieben auf sie geheftet.

Nach einem kurzen Moment legte sie die Kreide weg und klopfte ihre Hände sauber. Das Geräusch trug zur plötzlich spannungsgeladenen Stimmung bei. Selbst Subin hatte aufgehört, ihre Papiergirlande zu malträtieren, und sah Jisoo abwartend an.

So schüchtern sich Jisoo auch manches Mal gab, weil Subin und ich ständig laut waren, so gerne stand sie dann doch im Rampenlicht. Wenn es unsere Hexenoberste Choi Rose nicht verboten hätte, hätte Jisoo sicherlich einen erfolgreichen Social-Media-Kanal geführt. Irgendwas mit Mode oder Make-up.

»Eure Eltern und meine Umma wollen euch schützen«, begann Jisoo in ihrer gewählten Art. Subin und ich machten uns manches Mal darüber lustig, dass sie sich jedes Wort zurechtlegte, bevor sie es aussprach. »Deshalb gibt es keine Feldberichte.«

»Jisoo, komm schon«, flehte Subin neben mir mit einem unterdrückten Grinsen. »Du kannst die Kleinen doch nicht auf derart glühenden Kohlen sitzen lassen.«

Nur Subin vermochte Jisoo derart aus der Reserve zu locken. »Wir müssen uns vor den Kindern verantwortungsvoll benehmen, Subin-Unni«, wies Jisoo die Ältere zurecht. Da Subin die Älteste von uns war, wurde sie sowohl von Jisoo als auch von mir Unni genannt. Ein Zeichen des Respekts, aber auch der Zuneigung. Für Jisoo war auch ich eine große Schwester, Unni.

Im Gegensatz zu Subin und mir trug sie ihr Haar kurz. Sie war so zierlich und klein, dass man sie auf den ersten Blick ein paar Jahre jünger schätzen würde.

»Trotzdem können wir sie ein wenig auf das Kommende vorbereiten, oder nicht?« So leicht gab sich Subin nicht geschlagen, auch wenn Jisoo ihre Schwäche war. Subin hasste es, Meinungsverschiedenheiten zu verlieren, aber wenn sie sich dann doch einmal geschlagen gab, konnte man sich sicher sein, dass es zu Jisoos Gunsten geschah.

Ich versuchte, nicht zu erpicht auszusehen. In meiner Gegenwart redete fast niemand aus dem Smaragdzirkel über die Jagd. Ich nahm an, dass es unterschiedliche Gründe dafür gab. Meine Eltern wollten mir vermutlich die verbotene Frucht nicht attraktiver machen, und Subin und Jisoo vermieden damit meine schlechte Laune, weil ich nicht vor Neid platzte.

Ich eiferte nicht darauf hin, Dämonen zu töten, doch ich hasste es, ausgeschlossen zu werden. Seit Jahren wurde ich mit Samthandschuhen angefasst, damit mir bloß nichts vor dem großen Tag geschähe, an dem das Ahnenmondritual stattfinden würde.

Der Ahnenmond würde aufsteigen und die Grenze zwischen unserer Welt und der unserer Vorfahren damit durchlässig werden. Das war der einzige Zeitpunkt, an dem ein Machtwechsel stattfinden konnte.

Einerseits fieberte die Hexenwelt auf dieses Ereignis hin, andererseits sah sie ihm angstvoll entgegen. Letztlich konnte eine neue Hexe an der Spitze unserer Gesellschaft sowohl alte Probleme lösen als auch neue kreieren.

Und ich sollte diese neue Hexe werden. Verrückt.

Trotzdem wusste ich kaum, wie die nächtlichen Jagden vonstattengingen. Während meines Unterrichts waren unsere Lehrer besonders streng gewesen, und anders als Jisoo hatten sie sich nicht erweichen lassen.

Als Hexen in Seoul bekamen wir nach dem regulären Unterricht in den öffentlichen Schulen zusätzlich Nachmittagsstunden aufgebrummt, um etwas über die Geschichte unserer Vorfahrinnen und das Magiegeschick zu lernen. Obwohl wir damit täglich mindestens zwei Stunden eingespannt gewesen waren, hatten wir selten mehr über Dämonen gelernt, als dass sie böse und brutal waren.

»Während der gestrigen Jagd ist nichts Außergewöhnliches passiert«, begann Jisoo und ließ sich zu einem Bericht hinreißen. Sie setzte sich auf das Kissen hinter ihrem niedrigen Pult und platzierte die Hände auf ihren Knien. »Wir sind dieses Mal zusammen mit den Hexen aus dem Rosenquarzzirkel losgeschickt worden und sind insgesamt zu siebt gewesen. Die Yeohwang wählte für uns Gangdong aus.«

Ich schüttelte den Kopf.

Es war ein offenes Geheimnis, dass die Oberste aller Hexen auf uns, den Smaragdzirkel, herabsah. Den Grund kannte ich jedoch nicht. Weder Umma,Appa noch Halmoni hatten mir auf meine Fragen geantwortet. Alles wie immer also.

Aber da ich wusste, dass die Yeohwang Choi Rose uns nicht mochte, war es keine Überraschung, dass sie für die Hexen Gangdong als Areal ausgewählt hatte. Dort geschah nie etwas. Keine Dämonen. Keine Überfälle. Nichts.

»Wir haben uns aufgeteilt und sind die Straßen abgegangen, bis unsere Schicht vorbei war.« Jisoo räusperte sich. »Ich habe jedoch gehört, dass der Opalzirkel einen mächtigen Goblin gefunden und getötet hat.«

Ein kalter Schauder rann meinen Rücken hinab.

Wenngleich es mir von Kindesbeinen an eingeimpft worden war, ich konnte mich nicht daran gewöhnen, dass in dieser Leichtigkeit vom Tod eines Wesens gesprochen wurde. Selbst wenn es sich dabei um einen Dämon handelte.

Ich betrachtete die Kinder von hinten. Sie warfen sich gegenseitig Blicke zu, aber ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen und deshalb nur raten, was in ihren Köpfen vorging.

»Ist es wirklich wahr, dass Jungs die Jagd verboten ist?«, fragte Ung schließlich. Er schien der Mutigste von allen zu sein, obwohl er nicht der Älteste war.

»Das stimmt. Da ihr keine magischen Fähigkeiten besitzt, wäre es zu gefährlich, euch mitzunehmen.«

»Aber warum müssen wir dann blöde Kampfkurse besuchen?« Der Junge neben Ung platzierte seine Unterarme hart auf dem Tisch vor sich.

»Damit ihr euch im Fall der Fälle selbst verteidigen könnt. Außerdem schadet es eurer Disziplin nicht.« Jisoo lächelte schelmisch. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihm die Zunge rausgestreckt.

Subin kicherte. Ich verdrehte die Augen.

»Das ist trotzdem doof«, grummelte Ung.

»Achte auf deine Sprache, Kim Ung«, ermahnte ihn Jisoo streng. »Seid froh, dass euch die Türen offenstehen und ihr eine Karriere eurer Wahl verfolgen könnt. Uns Hexen ist dies nicht gestattet.«

»Aber meine Umma hat einen normalen Job«, sagte Rina aus der zweiten Reihe.

Jisoo nickte. »Unser Smaragdzirkel befindet sich in einer … besonderen Lage. Deshalb haben wir eine Sondergenehmigung erhalten, um Jobs auszuführen, die Geld einbringen, uns aber nicht zu lange von zu Hause fernhalten. Deine Umma arbeitet im Homeoffice als Illustratorin, nicht wahr?«

Rina nickte. Offenbar war sie mit der Antwort zufrieden.

Ich hingegen musste ein Schnauben unterdrücken. Besondere Lage? Dass ich nicht lache! Wir befanden uns ganz einfach am untersten Ende der Nahrungskette und bekamen von allem nur die Überbleibsel. Wenn einige Hexen nicht auch regulär arbeiteten, würden wir schon bald verhungern.

Schuld an unserer Stellung war allerdings zudem, dass die Hexen unseres Zirkels nicht sonderlich talentiert waren.

Nun, alle bis auf mich.

Wenig später wurde die Stunde von Jisoo beendet, und wir machten uns auf den Weg zur Küche, um uns an den Tteokbokki zu bedienen, die Appa vom Straßenhändler um die Ecke mitgebracht hatte. Die länglichen, zähen Reiskuchen mit der scharfen roten Soße gehörten zu meinen Lieblingsgerichten. Subin hingegen verabscheute scharfes Essen und bediente sich stattdessen am frisch gekochten Reis aus dem Reiskocher.

Schweigend setzten wir uns an einen freien Tisch in der geräumigen Küche und beobachteten die Kinder, die nach und nach von ihren Eltern abgeholt wurden. Wir lebten alle am gleichen Ort in Gangbuk, aber auf drei Hanoks, traditionelle Gebäude, verteilt. Von den anderen Zirkeln aufgrund unserer Armut mit Mitleid bedacht, vom Opalzirkel mit Missachtung gestraft. Es fiel mir schwer, die Opalhexen nicht zu hassen, weil sie die anderen Zirkel unterstützen konnten, uns aber nicht.

Seufzend schob ich die Keramikschüssel von mir und lehnte mich zurück. Gleich würden wir ins Ost-Hanok gehen, in dem ich mir mit Jisoo und Subin ein Zimmer teilte. Es hätte schlimmer kommen können.

Hätte ich darauf bestanden, hätte man Jisoo und Subin auch mit meiner Cousine Bora zusammentun können, doch ich brauchte kein ganzes Zimmer für mich allein, und ich wollte meine Privilegien nicht ausreizen.

Und Privilegien wurden mir einige zuteil.

Vor Jahren hatten wir herausgefunden, dass ich über ein außergewöhnlich großes Potenzial verfügte, um Magie in mich aufzunehmen und zu nutzen. Seitdem hatte es sich weiter vergrößert. Ich übertrumpfte damit jede andere Hexe meiner Altersklasse, und die meisten waren deshalb der Ansicht, das Ritual zum Ahnenmond wäre reine Formsache.

Ich würde mich gegen andere, gleichaltrige Anwärterinnen in einem Kampf durchsetzen und damit den Opalzirkel vom Thron stürzen.

Mein Zirkel würde wieder Macht über alle anderen erlangen, und wir müssten nicht mehr am Ende des Monats jeden Won, jedes Geldstück, dreimal umdrehen. Die glorreichen Tage der Vergangenheit des Smaragdzirkels würden wiederbelebt werden.

Denn einst waren wir es gewesen, die sich Ahnenmond um Ahnenmond gegen die anderen Zirkel durchgesetzt hatten. Wir hatten die stärksten Hexen hervorgebracht, als Nachfahrinnen von Prinzessin Bari. Die Mächtigste unserer Art.

Doch mit der Zeit hatten wir an Ansehen, Stellung und schließlich auch an Macht verloren. Auf Generationen schwacher Hexen folgten noch schwächere. So lange, bis ich geboren wurde.

»Wollen wir?«, fragte ich ungeduldig.

»Es dauert noch eine Weile, ehe wir loskönnen«, grummelte Subin.

»Ich will nicht aufgehalten werden«, gab ich zurück, grinste aber.

Ich liebte es, Subin zu reizen. Ihre Zündschnur war verführerisch kurz.

»Du bist manchmal unausstehlich, Hana«, beschwerte sie sich.

»Trotzdem liebst du mich, oder?«

»Wäre ich sonst deine beste Freundin?« Sie warf mir einen langen Blick zu.

»Du könntest ja nur so tun und eigentlich bloß mit Jisoo befreundet sein wollen«, gab ich zu bedenken, obwohl ich das gar nicht so meinte. Wenn ich mir einer Sache sicher war, dann dass Jisoo und Subin für immer an meiner Seite sein würden. Weil sie es so wollten. Nicht weil sie gezwungen wurden oder sich dadurch eine Machtposition erhofften, nachdem ich zur nächsten Yeohwang aufgestiegen wäre.

»Das wäre wirklich clever von mir, nicht wahr?«

»Clever? Wohl eher erbärmlich, weil du nicht zu deiner Meinung stehen könntest«, widersprach ich.

»Natürlich könnte ich das, doch es ist einfacher, dich an der Nase herumzuführen, als mich mit deinem schmollenden Alter Ego auseinanderzusetzen.«

»Ich habe kein schmollendes Alter Ego!«

»Wenn du das sagst …« Sie grinste von einem Ohr zum anderen.

»Lasst gut sein, ihr zwei«, sagte Jisoo ruhig. Als hätte sie einen Zauberspruch gesprochen, verfielen wir in Schweigen.

Leider (oder zum Glück?) funktionierte unsere Art von Magie so nicht.

Nachdem wir unser Geschirr weggeräumt hatten, machten wir uns endlich auf den Weg ins Ost-Hanok. Vor Aufregung kribbelte es bereits in meinem ganzen Körper. Ich gehörte nicht zu den Personen, die gerne den lieben langen Tag damit verbrachten, zu Hause zu sein und nichts zu tun. Insbesondere dann nicht, wenn man in einer Millionenmetropole wie Seoul lebte. In dieser Stadt gab es immer etwas zu entdecken. Etwas zu erleben. Mit und ohne Magie.

Heute Nacht allerdings wäre ich höchstwahrscheinlich das letzte Mal für sehr lange Zeit fähig, mit meinen Freundinnen durch die Straßen von Itaewon zu streifen. Wenn ich beim morgigen Ahnenmondritual als Siegerin hervorging, würde ich von Aufgaben und Verantwortung erschlagen werden. Wer wusste schon, wann ich wieder eine freie Minute hätte?

Aus diesem Grund wollte ich mir den geheimen Ausflug nicht nehmen lassen. Koste es, was es wolle.

2. Kapitel

Seit wir uns in unser Zimmer zurückgezogen hatten, waren zwei endlos lange Stunden vergangen.

Einen Großteil davon hatte ich mit Warten verbracht. Darauf, dass der restliche Haushalt sich schlafen legte. Wenn das so weiterging, würde ein weiterer Ahnenmond-Zyklus mit dem Opalzirkel an der Spitze vergehen. Um mir die Zeit zu verkürzen, sah ich mir die neueste Folge eines romantischen Dramas an, in dem die weibliche Hauptrolle gerade erfahren hatte, dass sie am Abend zuvor ihren neuen Chef geküsst hatte. Ich liebte solche Twists.

Die Folge war jedoch schon bald zu Ende, und ich starrte wieder nervös an die Decke. Morgen. Der Ahnenmond würde morgen aufsteigen, also sollte ich mir jetzt noch keine Gedanken darüber machen.

Seoul beherbergte insgesamt sieben Hexenzirkel, und seit bereits zwei Ahnenmond-Zyklen herrschte der Opalzirkel über alle anderen. Er hatte in den letzten dreißig Jahren Macht und Reichtum angehäuft. Der Obersten, die Mitglied des Opalzirkels war, oblag es, den anderen Hexen zu befehligen und ihnen die Drecksarbeit zu überlassen, während sie und ihr Zirkel ein ausschweifendes und sorgenfreies Leben in eleganten Wolkenkratzern genossen. Den Gerüchten zufolge ging sie nur noch einmal im Monat auf die Jagd und verbrachte die restliche Zeit damit, rauschende Feste zu veranstalten.

Ob ich verbittert war?

Keineswegs.

Okay. Vielleicht ein kleines bisschen.

Ich stand auf.

»Bist du fertig?«, fragte ich und klopfte zur Untermalung meiner Worte an die Holzleisten der geschlossenen Papierschiebetür. Dahinter schloss sich ein kleiner Raum an, den wir zum Kleiderschrank und Umkleideraum umfunktioniert hatten. Wir schliefen sowieso alle in dem großen Zimmer.

»Normalerweise müssen wir immer auf dich warten«, zischte Subin und schob die Tür auf. »Und sei gefälligst leise, wenn du nicht erwischt werden willst.«

»Uns wird sich schon niemand in den Weg stellen«, entgegnete ich plötzlich zuversichtlich. Die steigende Aufregung rückte jede Sorge in den Hintergrund. »So willst du gehen?«

Subin hatte ihr pechschwarzes Haar zu einer aufwendigen Frisur aufgetürmt. Ein paar Ringellocken fielen in ihr weißes Gesicht, das sie mit pinkem Blush akzentuiert hatte. Ihre Augen hatte sie mit Eyeliner und blauem Lidschatten betont. Von ihren Ohren baumelten goldene Kreolen. Gold fand sich auch an ihrem Gürtel wieder, den sie um ihr schwarzes, eng anliegendes Kleid geschlungen hatte. Die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken, der Saum hörte kurz über den Knien auf. Nur wenige Zentimeter darunter begannen ihre dunkelgrauen Stiefel in Wildlederoptik.

Ich verdrehte die Augen.

»Was ist falsch daran? Ich dachte, wir gehen aus?« Sie drängte sich an mir vorbei, um einen konzentrierten Blick in den Wandspiegel zu werfen.

»Hast du dich nicht genug betrachtet?«, murmelte ich. »Du wirst keine Zeit haben, eine Hexe abzuschleppen.«

»Müsst ihr immer streiten?« Jisoo blickte von ihrem Smartphone auf. Ich konnte Bilder ihrer Lieblings-Fashionista auf dem Display erkennen. Ob sie des Nachts davon träumte, genauso wie sie zu sein? Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden und wartete wie immer geduldiger als ich.

»Wir streiten nicht«, sagten Subin und ich gleichzeitig. Ich fing ihr Lächeln auf und erwiderte es.

Wir gerieten zwar oft aneinander, aber Subin und ich besaßen eine innere Verbundenheit, die dadurch nicht beeinträchtigt wurde. Jisoo gehörte als gleichwertiger Teil zu unserem kleinen Kreis dazu und hielt mit ihrer süßen Albernheit das Gleichgewicht zwischen uns.

»Wir gehen raus«, sagte ich schließlich ruhiger. »Wir gehen nicht aus. Keine Clubs. Keine Partys. Keine anderen Hexen. Das ist zu gefährlich. Ich könnte in der Menge versehentlich von einem Dämon berührt werden.«

Und das würde mich für das Ritual morgen disqualifizieren, wie meine Eltern nicht müde wurden zu betonen. Dadurch würde ich unrein werden. Die Chance, für meinen Zirkel zu kämpfen, wäre verpufft. Aus diesem Grund war es mir bisher auch untersagt, mit auf die Jagd nach gefährlichen Dämonen zu gehen. Obwohl ich die stärkste Hexe des Zirkels war.

Es war schlichtweg frustrierend.

Ich fühlte mich nicht zugehörig, wenn meine Freundinnen Dämonen jagten und mich zurückließen. Ich konnte bloß die Tagebücher meiner Vorfahrinnen lesen, die darin die spannenden Jagden auf Dämonen beschrieben. Aber es war etwas anderes, sie nachzulesen, als sie selbst zu erleben. Ich konnte mit meinen neunzehn Jahren an zwei Händen abzählen, wie oft ich fremden Dämonen begegnet war. Und bis auf einmal hatte ich immer Abstand bewahrt.

Dabei wollte ich nichts lieber, als mich als Teil des Zirkels zu fühlen. Ich nahm an, dass Subin und Jisoo mich deshalb in die Stadt begleiteten. Weil sie mich aufmuntern wollten.

Nun, und weil sie sichergehen wollten, dass ich keinen Blödsinn anstellte.

»Wenn du solche Angst hast, solltest du direkt zu Hause bleiben. Ich habe nichts dagegen.« Subin löste sich von ihrem Spiegelbild. »Du weißt, dass ich nur mitkomme, weil ich dir allein nicht traue. Du könntest mit deinem Temperament in Schwierigkeiten geraten und das Schicksal des gesamten Smaragdzirkels aufs Spiel setzen.«

Ich blinzelte. »Wann hast du denn diese Rede vorbereitet?«

»Lass ihr etwas Spaß, Subin-Unni«, mischte sich Jisoo ein.

»Ich weiß nur nicht, warum sie unbedingt rauswill. Die Jagd ist nichts Besonderes.«

»Das sagst du nur, weil du im Gegensatz zu mir teilnehmen kannst.«

Subin setzte zu einer Erwiderung an, doch Jisoo kam ihr zuvor.

»Hana arbeitet seit Jahren härter als jede andere Hexe an ihren Fähigkeiten. Wenn morgen alles glatt läuft, wird sie die neue Yeohwang, und von Spaß und Freizeit kann sie sich in den nächsten Jahren verabschieden.«

Ich wusste, dass mir Jisoo helfen wollte, aber ihre Antwort ließ mich erschaudern. Bis dahin war es mir gut gelungen, die Erwartungen und die kommenden Aufgaben entweder von mir zu streifen oder zu ignorieren. Doch ihre Worte ließen die Wirklichkeit wieder in greifbare Nähe rücken.

War ich dafür bereit, einen ganzen Zirkel, nein, sieben Zirkel anzuführen? Meine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um meinen Zirkelschwestern zu dienen?

Es gab keine andere Wahl. Keine andere Möglichkeit.

Vielleicht hatten mir Umma und Appa deshalb so viele Freiheiten gelassen. Weil sie erkannt hatten, dass ich Spaß, Freizeit und Freude brauchte, um innere Stärke für meine ernste Zukunft zu entwickeln. Damit meine Gefühle nicht in Reue getränkt würden.

»Jisoo«, sagte ich gerührt und strich ihr über den Kopf.

Subin schnaufte, sagte aber nichts weiter. Sie und ich waren gleich groß, mein Gesicht war ein wenig runder als ihres, meine Augen etwas kleiner, doch abgesehen davon sahen wir uns sehr ähnlich. Sie war die Tochter meiner Großtante, und das erkannte man sofort. Da ich nicht andauernd mit ihr verwechselt werden wollte, färbte ich meine Haare seit einigen Jahren bronzefarben. Der Ansatz kam wieder mal durch. Ob mir nach dem Ahnenmond Zeit bliebe, zum Friseur zu gehen?

Vermutlich nicht. Auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was mich erwartete und wofür meine Zeit draufginge.

Es war nicht so, dass man mir nichts erzählte, aber jedes Mal, wenn ich das Gespräch darauf lenkte, wurden meine Eltern zurückhaltend und seltsam. Es erweckte in mir eine Anspannung, die mir selbst das Gespräch unangenehm machte.

Wahrscheinlich ging es ihnen ähnlich wie vielen Eltern, die ihre Kinder verabschieden mussten. Doch anstatt auf die Uni zu gehen, würde ich, wenn alles nach Plan lief, die nächste Königin der Hexen von Seoul werden.

Aber sollten sie mich dann nicht gerade deshalb besser auf meine neuen Pflichten vorbereiten? Obwohl ich viel in unseren Aufzeichnungen las, hatte ich nicht das Gefühl, genug zu wissen. Ich hatte keine Ahnung, was unsere Yeohwang den ganzen Tag machte, wenn sie keine extravaganten Partys schmiss.

»Gern geschehen.« Jisoo ergriff meine Hand und ließ sich von mir hochziehen. »Gehen wir jetzt? Subin hätte ihre Schuhe draußen anziehen sollen.«

»Dann würden wir ganz sicher entdeckt werden. Die zu schnüren, dauert ein paar Minuten.« Mit einem Finger fuhr sie sich unter den Augen entlang und verschmierte die schwarze Tusche. »Warum bleibt Schminke nie dort, wo ich sie haben will?«

»Keine Zeit für Verschlechterungen.« Ich stemmte meine Hände in ihren Rücken und drückte sie aus dem Zimmer.

Im Haus herrschte Stille.

Die Hexen, die nicht bereits auf ihren Yos, den traditionellen Matratzen, lagen, befanden sich im Hauptquartier in Gangnam, um bei den Vorbereitungen für das Ritual zu helfen. Appa und einige andere Väter hatten sich für einen Abend mit Chimaek, Bier und frittiertem Hähnchen, verabredet.

Männer besaßen keine magischen Fähigkeiten, aber sie waren eng mit unserer Gesellschaft verwoben. Insbesondere wenn sie Söhne von Hexen waren oder Hexen gezeugt hatten. Es gab auch Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens von unserer Existenz erfuhren, wenn sich zum Beispiel eine Hexe in einen Mann außerhalb unserer Gesellschaft verliebte und ihn heiraten wollte. Aber das kam nicht häufig vor.

»Halmoni muss hier irgendwo sein. Seid besser leise«, beschwor ich meine Freundinnen und legte einen Finger an den Mund. Subin war mit ihren Stiefeln viel zu laut. Selbst meine Großmutter würde sie hören.

»Das sage ich doch die ganze Zeit …«, nuschelte sie neben mir.

»Au, das war mein Fuß! Subin-Unni!« Jisoo hielt sich den Fuß und tötete Subin beinahe mit ihren Blicken.

»Hana? Bist du das?« Halmoni hatte uns gehört. Verfluchter Goblin!

Wir hielten inne. Ich presste erneut einen Finger auf meine Lippen. Wenn wir nur lange genug still blieben …

»Willst du beim Zubereiten des Kimchi helfen? Du könntest mir die Fischsoße reichen.«

Innerlich seufzend löste ich mich von meinen Freundinnen. Mit einer Handbewegung bat ich sie, zurückzubleiben. Ohne ihre Anwesenheit würde ich mich leichter aus Halmonis Fängen befreien können.

Ich liebte meine Großmutter, aber an meinem letzten freien Abend wollte ich kein Kimchi zubereiten. So gerne ich das fermentierte Gemüse auch aß.

Ich betrat die Küche, die im Vergleich zur Küche des mittleren Hanoks sehr klein war. Dennoch war sie mit den wichtigsten Dingen ausgestattet – einem riesigen Kühlschrank sowie einem silbernen Reiskocher. Halmoni saß auf einem niedrigen Hocker, die behandschuhten Hände vor sich in einen roten Plastikeimer mit klein geschnittenem und gewürztem Gemüse getaucht. Der scharfe Geruch von Gochujang stieg mir in die Nase.

Von allen erwachsenen Hexen unseres Zirkels war Halmoni die stärkste, was man bei diesem Anblick nicht vermuten würde. Sie wirkte wie eine normale menschliche Großmutter. Ihr graues Haar wurde teilweise von einem bunten Tuch verdeckt, ihre Wangen waren von tiefen Falten durchzogen, und ihre Augen glänzten amüsiert, als sie aufblickte.

»Halmoni, du bist noch wach.«

»Als würde ich vor deinem großen Tag schlafen können.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Die Fischsoße«, erinnerte sie mich, als ich mich nicht bewegte.

Zähneknirschend reichte ich ihr die bauchige Flasche, in der die dunkle, salzige Soße schwappte.

»Meinst du, ich werde die anderen Anwärterinnen verletzen müssen?«, fragte ich aus einem Impuls heraus. Ich verschränkte die Arme vor meinem Oberkörper. Plötzlich ergriff mich eine seltsame Nervosität, und ich hatte es nicht mehr ganz so eilig, zu meinen Freundinnen zurückzukehren.

»Sie werden sich nicht einfach ergeben, Hana. Auch sie müssen für die Ehre ihrer Zirkel kämpfen.« Das war der einzige Aspekt, vor dem es mir mehr graute als vor den Konsequenzen nach einem siegreichen Kampf. Ich wollte keine anderen Hexen mit meiner Magie verletzen. »Aber …«, fügte Halmoni mit einem kurzen Blick auf mich hinzu, »… sie alle wissen, zu was du fähig bist. Keine von ihnen wird dich unnötig herausfordern. Sie werden gegen dich kämpfen, verlieren und ihr Gesicht wahren, ohne ernsthaft verletzt zu werden. Weniger brutal als während des letzten Ahnenmonds.«

Interessiert horchte ich auf. »Was ist passiert?«

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Subin und Jisoo hatten sich an die Wand gegenüber der geöffneten Tür gelehnt und lauschten genauso aufmerksam wie ich.

Der Opalzirkel wurde in unserem Quartier die meiste Zeit totgeschwiegen.

»Choi Rose galt nicht als Favoritin, obwohl sie dem stärksten Zirkel angehörte. Tatsächlich war der Ausgang so offen, wie lange nicht mehr während eines Rituals. Niemand konnte sicher sagen, wer die sieben Zirkel anführen würde.« Halmoni knetete das Gemüse, um die Fischsoße mit den anderen Gewürzen zu vermengen. Ihr Gesicht hatte einen distanzierten Ausdruck angenommen. »Der Kampf unter dem Ahnenmond war lang und brutal.« Sie stockte.

»Was ist?«

»Ich weiß nicht, ob es dir hilft oder dir schadet, die Vergangenheit zu erfahren.«

»Du hast die Geschichte nicht begonnen, um jetzt aufzuhören, Halmoni.«

»Du kennst deine Großmutter zu gut, hm?« Sie strich mit dem Handrücken über ihre Stirn. »Drei Anwärterinnen sind gestorben. Darunter auch die beste Freundin deiner Mutter. Sie war die Erste, die von Roses Magie erschlagen wurde.«

Entsetzt öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, aber mir fiel nichts ein. Nach und nach setzten Halmonis Worte etwas in mir in Gang. Ich erinnerte mich an die Gespräche mit Umma und Appa. Wie sie über die Oberste des Opalzirkels gesprochen hatten. Mit düsteren Blicken und geballten Fäusten.

Ich war immer der Meinung gewesen, sie würden ihr die Stellung neiden.

Offenbar steckte weit mehr dahinter.

»Einfach so?« Ich räusperte mich. Meine Stimme fühlte sich kratzig an. Nicht als wäre sie meine eigene. »Sie hat sie einfach so getötet?«

»Niemand darf während des Rituals eingreifen. Sie hat getan, was sie tun musste, um zu gewinnen.« Halmoni seufzte. »Die Überlebenden waren so schwer verletzt, dass sie keine Bedrohung mehr dargestellt haben, und Rose wurde zur neuen Yeohwang erklärt. Unsere Vorfahrinnen haben ihr die Macht verliehen, über uns zu herrschen. Wer waren wir, uns gegen sie zu erheben?«

Ich stützte mich mit einer Hand am Kühlschrank ab. Reichlich spät wurde mir klar, dass ich absolut nichts wusste von dem, was mich erwartete, und dass dies eine absolute Katastrophe war. Ich hatte mich immer für klug und selbstbewusst gehalten, mutig und der Herausforderung ins Gesicht blickend – heute wurde mir bewusst, dass ich nichts von alledem war. All die Jahre hatte ich mich wie ein kleines Kind hinter meiner Mutter versteckt gehalten und akzeptiert, dass sie mir die Ohren zuhielt und die Augen verschloss.

»Warum erzählst du mir jetzt davon?«

»Deine Eltern waren dagegen, aber ich glaube, dass du wissen musst, was für eine Person Choi Rose ist.«

»Ist das wichtig? Sie wird nicht gegen mich antreten, sondern eine Anwärterin ihres Zirkels …«

»Wenn ein fauler Apfel im Korb liegt, finden sich dort in der Regel noch einige mehr.« Sie streifte ihre Gummihandschuhe ab.

»Also … soll ich mich in Acht nehmen?« Als Halmoni nichts sagte, stieß ich frustriert den Atem aus. »Warum haben wir ihre Herrschaft bisher akzeptiert, wenn sie so brutal ist? Wenn sie … so schlecht ist?«

»Auch wenn der Baum von Motten zerfressen ist, fällt er nicht um, wenn kein starker Wind weht«, antwortete sie erneut mit einem Sprichwort.

Manchmal glich es einer unmöglichen Aufgabe, aus Halmoni schlau zu werden.

»Mit dir kann sich alles ändern, Hana.« Ihr Rücken knackte, als sie sich dehnte. »Nun geh schon. Ich sehe dir an, dass du mir nicht helfen willst.«

»Das ist es nicht …«, widersprach ich lahm, bewegte mich aber schon zum Ausgang. »Hab dich lieb, Halmoni.«

»Husch!« Sie scheuchte mich mit einer Handbewegung raus.

Grinsend wandte ich mich Subin und Jisoo zu. Letztere wirkte begeisterter als Subin, die scheinbar fast im Stehen eingeschlafen war. Sie gähnte und blinzelte mehrmals, als ich sie am Handgelenk packte und zur Tür zerrte.

Durch das Gespräch mit Halmoni war meine Vorfreude gedämpft worden. Doch ich wollte mir meinen vermutlich letzten Abend in Freiheit nicht verderben lassen. Seoul war eine magische Stadt, und es gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, sie des Nachts zu durchstreifen.

Und wenn wir ganz großes Glück hatten, fanden wir auch einen Dämon, den wir natürlich mit großem Abstand verfolgten. Ich widersetzte mich vielleicht vielen Regeln, aber ich würde nicht riskieren, von einem Dämon berührt zu werden. Nicht, wenn das Schicksal meines Zirkels auf dem Spiel stand.

Meine Entschlossenheit hatte sich verfestigt, nachdem ich von Choi Roses Vergangenheit gehört hatte.

Ich hatte unsere Anführerin erst ein paarmal von Weitem und ein einziges Mal von Nahem gesehen. An dem Tag, an dem ich auch die anderen Anwärterinnen kennengelernt hatte. Sie hatte meinen Smaragdanhänger in die Hand genommen und eine Segnung gemurmelt. Ihr Gesicht war ernst geblieben, was ich nicht als schlimm empfunden hatte. Ich hatte mir, ehrlich gesagt, kaum Gedanken um unsere Yeohwang gemacht. Meine Konzentration hatte hauptsächlich meinen Konkurrentinnen gegolten, deren Blicke immer wieder zu mir gehuscht waren.

Sie hatten von mir gehört.

»Erde an Hana.« Jisoo schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Wir können auch …«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte … Ich brauche diesen Abend. Um mich sicher zu fühlen und meine Magie aufzuladen.«

»Dazu wirst du morgen auch noch eine Gelegenheit bekommen.« Subin trat aus dem Haus, während Jisoo und ich in unsere Sneakers schlüpften.

»Es wird nicht das Gleiche sein. Ich will dabei nicht beobachtet werden.«

Da weder Subin noch Jisoo nachvollziehen konnten, was ich fühlte, ließen sie die Sache auf sich beruhen.

Wir stiegen an der nächsten Haltestelle in die Metro und fuhren mit der blauen Linie bis zur Station Hoehyeon. Der Namsan Tower, der bloß einen Spaziergang von der Haltestelle entfernt lag, war meistens unsere erste Anlaufstelle. Zum einen war der Anblick des beleuchteten Fernsehturms in der Nacht beeindruckend, insbesondere, wenn er wie heute mit grünem Licht angestrahlt wurde, zum anderen pulsierte dort die Aurenmagie am kraftvollsten.

Hexen besaßen keine eigene Magie. Wir saugten sie von Gegenständen um uns herum auf. Um die Objekte bildeten sich magischen Auren, die wir in uns aufnehmen konnten. Dabei war es egal, um was für Gegenstände es sich handelte. Magie konnte sich in einem Turnschuh bilden oder in einem Glockenturm. Je mehr menschliche Erinnerungen und Berührungen den Gegenstand tränkten, desto stärker war die Magie, die man ihm als Hexe entziehen konnte. Insbesondere dann, wenn diese Erinnerungen und Berührungen emotional waren.

Touristenattraktionen wie der N Seoul Tower waren prädestiniert für machtvolle Magie, weil sie tagtäglich von so vielen Menschen mit den verschiedensten Gefühlen aufgesucht, angesehen und auch berührt wurden. Doch für schwächere Hexen wie Jisoo und Subin war es gefährlich, die Aura anzuzapfen. Sie konnten nicht so potente Magie in sich aufnehmen, geschweige denn verwerten. Wenn es einer Hexe nicht gelang, die Verbindung rechtzeitig zu kappen, drohte man innerlich zu verbrennen. Im schlimmsten Fall konnte man sogar daran sterben.

Ich selbst hatte mich auch noch nie an die Aura des Namsan Towers gewagt, aber ich hoffte, es nach meiner Ernennung zur Yeohwang tun zu können. Vielleicht würde ich dann weniger zurückhaltend sein. Jetzt hatte ich noch das Gefühl, dem Turm nicht würdig zu sein. Eigentlich wusste ich, dass ich mächtig genug war, um die enorme Magie in mich aufzunehmen und die Verbindung zu kappen, bevor mein Potenzial sein Limit erreichte.

Es hatte mich trotzdem bisher nicht davon abgehalten, dem Turm regelmäßige Besuche abzustatten, um mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, mehr und mehr und mehr Magie aufzunehmen. Die magische Aura pulsierte blau, was sich mit dem grünen Licht vermischte. Es war schwer, den Blick abzuwenden.

Mit der Zeit lernte man, die magischen Auren um sich herum zu erkennen und zu unterscheiden. Die verschiedenen Farben hatten nichts mit der Stärke zu tun, sondern mit der Menge der Magie, die vorhanden war.

Blau glich einer nie endenden Quelle, Grün war ein solides Becken, an Rosa bediente ich mich meistens, weil ich mein Potenzial, ähnlich wie ein Tank, damit füllen konnte, ohne überzulaufen; Rot und Gelb zeigten übersichtliche Mengen von Magie an, die meistens an normalen Alltagsgegenständen zu finden waren. Dazwischen gab es noch viele Schattierungen, die die Stadt um uns herum in einen beeindruckenden Farbwasserfall tauchten. Wenn ich nicht gerade auf der Suche nach einer Magiequelle war, dämpfte ich meine Sicht auf Auren, damit ich mich nicht in dem Farbenspiel verlor und im schlimmsten Fall eine rote Ampel übersah.

Subin zwinkerte einem vorbeigehenden jungen Mann zu, der sich eilig davonmachte, als glaubte er, von Subin jeden Moment mit einem Netz eingefangen zu werden.

Wir hatten den Namsan Park erreicht. Die ersten fünfzig Meter waren anstrengend, weil es steil nach oben ging. Die grüne, wenn auch nur durch Laternen erhellte Landschaft um uns herum machte das aber wieder wett. Genauso die alte Festungsmauer, die sich bis nach oben zum Fernsehturm schlängelte. Auf halbem Weg drehten wir uns um. Die Aussicht auf die Wolkenkratzer ließ sich von hier am besten genießen.

Händchen haltende Paare drängten sich an uns vorbei, bevor sie an der Mauer stehen blieben, um ein Selfie zur Erinnerung zu schießen.

»Was machen wir jetzt? Wo willst du hin?« Jisoo hatte sich bei mir eingehakt. Das gelbe Licht der kleinen Pfadleuchten schimmerte auf ihrem Gesicht und warf dunkle Schatten unter ihre Augen. Ich sah zurück zum Turm, der als schmale grüne Silhouette auf der Anhöhe zu erkennen war.

»Lasst uns die Atmosphäre genießen und vielleicht …«

»Vielleicht treffen wir auf einen … Ah, sieh mal einer an. Wenn man vom Tiger spricht.« Subin blickte an uns vorbei und deutete mit einem Kopfnicken auf den Weg, der weiter oben von unserem abzweigte und vom Turm wegführte.

Mit Jisoo an meinem Arm drehte ich mich um und bemerkte den Dämon sofort.

Anders als Menschen oder Hexen besaßen Dämonen keine Auren. Sie hoben sich durch den Mangel an Farben ab.

Dieses Exemplar verfolgte ein älteres Pärchen, das gut gelaunt über den Asphalt schlenderte. Der Dämon, der wie ein normaler Mann in den Zwanzigern aussah, klebte förmlich an dessen Fersen.

Er hob eine Hand. Seine Finger wackelten, als würde er ein unsichtbares Klavier bedienen. Auch seine Kleidung passte zu einem abgerissenen Künstler – ein zu großer brauner Anzug, der um seine Schultern schlackerte. Das schwarze Haar hing wirr in seine Stirn.

Ich konnte genau erkennen, wie er die Aurenenergie des Paares in sich aufsog. Ein Strom grüner und gelber Farben, der sich von ihren Körpern entfernte und um seinen ausgestreckten Arm wickelte. Er öffnete seinen Mund und atmete die Aura ein.

»Sollen wir jemandem Bescheid sagen?« Subin griff bereits nach ihrem Smartphone.

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ein Aurendämon. Er wird keinen ernsthaften Schaden anrichten.« Die Auren der Menschen würden sich nach ein paar Tagen der Erschöpfung wieder vollständig regeneriert haben. Ich legte den Kopf schief. »Allerdings …«

Subin stöhnte auf. »Nicht wieder das.«

»Warum nicht? Das ist das einzige Geheimnis, in das ich auch morgen nicht eingeweiht werde. Es könnte meine letzte Chance sein!«

Unwillkürlich folgten wir dem Aurendämon bereits weg vom Tower Richtung Itaewon. Ein hippes Viertel, das für sein schillerndes Nachtleben bekannt war, welches Einheimische und Touristen gleichermaßen anlockte.

»Wir hätten noch ein wenig Zeit«, merkte Jisoo an und kam mir dadurch zu Hilfe.

»Warum musst du unbedingt wissen, wo sich die Eingänge zur Unterwelt befinden?« Subin beschwerte sich zwar, aber sie hakte sich bei mir auf der anderen Seite ein. Die Absätze ihrer Stiefel klackerten und zogen die Aufmerksamkeit einiger Passanten auf sich. »Wir werden sie eh nie betreten. Was gut so ist.«

»Ich bin einfach neugierig. Warum bist du es nicht?«

»Wenn man wühlt, findet man irgendwann etwas, was man gar nicht wollte.«

»Du klingst wie Halmoni«, meckerte ich. »Lass uns ihm einfach ein bisschen folgen. Wenn er uns zu einem Eingang führt, umso besser. Wenn nicht, dann haben wir eben nur einen Spaziergang gemacht.«

»Okay. Aber wir müssen auf Abstand achten.«

»Jawohl!« Ich grinste aufgeregt. Ich konnte Subin nicht sagen, warum ich so erpicht darauf war, einen der Eingänge zur Unterwelt Seouls zu finden.

Die Unterwelt war eine magische Stadt im Untergrund, die sich von Menschen unbemerkt ausgebreitet hatte. Soweit ich aus Büchern erfahren hatte – denn in meiner Familie sprach niemand darüber –, waren Zirkelhexen nicht willkommen. Dort hausten Dämonen, Geister, Goblins und viele weitere Monster zusammen, ohne befürchten zu müssen, von uns gejagt zu werden. Die Vorstellung von einem so vielfältigen – und zugegeben gefährlichen – Ort hatte schon immer eine starke Faszination auf mich ausgeübt.

Ich konnte nicht bestimmen, woran es lag.

War es, weil man mich bisher von der Jagd ferngehalten hatte? Oder lag es daran, dass mein Leben nicht spannend genug war? Dass gelegentlich das Gefühl in mir aufstieg, nicht für voll genommen zu werden, obwohl ich doch so mächtig war?

Manchmal kribbelte es regelrecht in meinen Fingern, und ich konnte mich nur mit Mühe zurückhalten, Magie zu wirken.

Das war eins der wenigen positiven Dinge, auf die ich mich nach dem Ahnenmond freute: Ich dürfte endlich Jagd auf sämtliche Dämonen machen und meine Angriffsmagie einsetzen.

Ohne mich wie im Training zurückhalten zu müssen. Weil ich meiner Lehrerin nicht schaden wollte, brach ich meine Angriffe immer ab, bevor sie auf sie trafen. Es war schlichtweg frustrierend, so mächtig zu sein und doch nichts tun zu dürfen.

Nach zehn Minuten des Verfolgungsspaziergangs hatte sich auch Subin entspannt, und wir konnten die laue Sommernacht genießen. Straßenmusiker hatten ihre Instrumente bereits eingepackt, aber aus den Bars und Restaurants drang ein Mix aus unterschiedlichen Melodien. Menschen verschiedener Ethnien tummelten sich auf den steilen bunten Straßen Itaewons, stellten sich in Schlangen, nachdem sie sich in die Wartelisten der Restaurants eingetragen hatten, oder suchten in großen Gruppen die nächste Busstation auf.

Der Geruch von gegrilltem Schweinebauch sowie scharf gewürztem Tteokbokki wehte immer wieder zu uns heran. Mein Magen rumorte vor Verlangen. Wir nutzten die Gelegenheit, uns bei einer Ahjumma mit Corn Dogs einzudecken, an denen wir während der Verfolgung nagten.

Der Aurendämon schlängelte sich einige Meter vor uns an den Passanten vorbei. Von dem Paar hatte er längst abgelassen. So wie es aussah, war er gesättigt und ging entweder nach Hause in die Unterwelt oder … etwas anderes fiel mir nicht ein.

»Das werde ich vermissen«, verkündete ich seufzend und zog meine Freundinnen enger. Das abgenagte Holzstäbchen hatte ich zu einem Müllsack gelegt, der bereits auf die Straße gestellt worden war, um später von der Müllabfuhr abgeholt zu werden. »Versprecht mir, dass ihr an mich denkt, wenn ihr das nächste Mal einen Streifzug unternehmt.«

»Du bist die Einzige von uns, die auf diese Streifzüge besteht«, erinnerte mich Jisoo amüsiert. »Aber du wirst schon nicht mit Aufgaben zugeschüttet werden. Deine Eltern und die anderen Hexen werden dir helfen und dir alles beibringen.«

Ich machte ein unbestimmtes Geräusch.

Nach Halmonis beunruhigenden Worten war ich mir bei gar nichts mehr sicher. Ich hatte das Gefühl, nicht mal die Hälfte von dem zu wissen, was ich wissen sollte. Bisher war mir die Gesellschaft der Hexen in Seoul wie ein gut geöltes, wenn auch unfaires Uhrwerk vorgekommen. Es würde schon irgendwie weiterlaufen, ganz gleich, wer letztlich an der Spitze stünde.

Aber war es tatsächlich so? Würde das Hexenwerk mit mir an oberster Stelle genauso florieren wie unter Choi Roses Führung? Ich wollte nicht so grausam sein wie sie. Ich hatte nicht vor, eine meiner Konkurrentinnen zu töten, und bisher war ich der Meinung gewesen, dass ich das auch nicht tun müsste. Aber was wäre, wenn …

Was wäre, wenn Rose genau wusste, dass man mich nicht darauf vorbereitete? Wenn sie ihrer Anwärterin zuflüsterte, mich bis aufs Äußerste zu reizen, um mich zu einer Entscheidung zu zwingen? Eine Entscheidung, die ich längst getroffen hatte, und die ich nicht ändern würde.

Ich könnte keine Hexe töten.

Wenn sie das wüsste, dann hätte der Opalzirkel wieder gewonnen. Ich würde morgen höchstwahrscheinlich sterben, sollte eine andere Anwärterin weniger Skrupel besitzen als ich.

War es das, was mir Halmoni hatte sagen wollen? Dass ich mich auf den Tod oder … einen Mord vorbereiten musste?

Sieben Anwärterinnen, mich eingenommen, würden sich gegenüberstehen und für die Ehre ihres Zirkels kämpfen. Ich wäre bereit, meine Magie gegen sie einzusetzen, um sie notfalls kampfunfähig zu machen, aber niemals … niemals würde ich jemanden töten.

Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus, als hätte mich ein böser Gwishin gestreift. Ein Geist, der nicht ins Jenseits gegangen war, sondern mit schlechten Absichten in der Menschenwelt ausharrte.

»Aishi«, fluchte Subin. »Er hat uns gesehen.«

»Was? Wer?« Ich blickte von der Straße auf und direkt in das grinsende Gesicht des Aurendämons.

Die Welt schien für wenige Sekunden stillzustehen. Die düstere Vorahnung, die ich zuvor nicht ganz hatte greifen können, verstärkte sich und wurde zu einem tosenden Wirbelsturm.

Sein Grinsen wurde breiter.

Die Menschen um uns herum verschwammen zu einem Strudel aus wilden Farben und lauten Geräuschen.

»Hana-Unni! Komm! Lass uns verschwinden.« Jisoo riss an meinem Ärmel.

Mir gelang es endlich, mich von seinem Blick zu lösen, und ich folgte ihr und Subin durch Itaewon. Es war seltsam, dass uns der Dämon bemerkt hatte. Normalerweise konnten Dämonen Hexen nicht erkennen.

Aber nein. Das stimmte nicht ganz. Es galt für alle Dämonen außer Aurendämonen. Für sie war sichtbar, dass es sich bei uns nicht um normale Menschen handelte. Da sie sich von Auren ernährten, nahmen sie diese wahr und erkannten, dass unsere Auren nicht verzehrt werden konnten. Sie unterschieden sich von denen der Menschen und besaßen einen goldenen Schimmer.

An der nächsten Weggabelung bogen wir rechts ab, weg von der Touristenmasse und hin zur nächsten Metrostation. Wir beeilten uns, über die Noksapyeong-Brücke zu gehen. In meinem Nacken kribbelte es.

Folgte er uns?

Als ich einen Blick über die Schulter warf, konnte ich niemanden erkennen.

Wir waren allein, während wir an der Kreuzung warteten, um auf die andere Straßenseite zu gelangen.

Die Fußgängerampel sprang auf Grün. Wir liefen förmlich über die Straße und stellten uns auf die Rolltreppe nach unten. Ich atmete aus.

Er hatte uns bloß Angst einjagen wollen.

Das Licht flackerte, als wir unten ankamen. Zeitgleich bogen wir um die Ecke.

Subin blieb abrupt stehen. Jisoo und ich wären beinahe in sie hineingerannt, wenn ich uns nicht im letzten Moment abgebremst hätte. Ich hielt beide Freundinnen an einem Unterarm umfasst.

»Ich habe doch gesagt, heute rauszugehen war eine ganz schlechte Idee«, murmelte Subin.

Vor uns war der Aurendämon aufgetaucht. Er musste einen der anderen Eingänge genommen haben, um uns hier abzufangen.

Sein linkes Auge zuckte. »Habt ihr euch verlaufen?«

Mein Griff um Jisoos Arm verstärkte sich. Aurendämonen konnten zwar nicht unsere Auren verzehren, aber sie konnten uns mit ihrer übermenschlichen Körperkraft attackieren. Und sobald er mich berührte, wäre es aus mit dem Ahnenmondritual.

»Aishi«, flüsterte ich.

3. Kapitel

Instinktiv umfasste ich meinen Smaragdanhänger. Als würde er mir Sicherheit geben, doch das tat er nicht. Allein unsere Magie würde uns jetzt retten können.

Was war schon ein Aurendämon? Zusammen würden wir mit ihm fertig werden.

»Du hättest uns nicht verfolgen sollen«, warnte ich den Dämon, während ich die rosa leuchtenden Wände der Metrostation anzapfte. Um unsere Magie aufzuladen, mussten wir uns in Sichtweite einer Quelle befinden oder zumindest so nah daran, dass wir das Pulsieren der magischen Aura spüren konnten. Subin und Jisoo nährten sich von den gelb und grün leuchtenden Mülleimern und Gepäckschließfächern. Für sie wäre die rosafarbene Energie zu viel.

»Ich habe euch verfolgt?« Sein Lachen war rau und unangenehm. »Ihr Biester wolltet mich aus dem Hinterhalt angreifen, nicht wahr? Mich auslöschen, weil ich mich von köstlichen Auren ernähre.«

»Das war nicht …«, widersprach Jisoo, aber Subin schüttelte den Kopf.

»Warum bist du nicht weggelaufen, Gaesaekki?«, fragte Subin.

Ich spürte, wie mich Magie ausfüllte. Die Aura des Gebäudes verblasste. Ich hatte sie vollständig aufgesaugt und fühlte mich so unbesiegbar wie jedes Mal, wenn ich aufgeladen war. Um meine Hände zuckten die ersten Blitze. Knisterten und warteten darauf, gegen mein Ziel geschleudert zu werden.

Ich hatte noch nie gegen einen Dämon gekämpft, aber ich konnte es kaum abwarten. Nun, da der erste Schock überwunden war, fühlte ich meine Selbstsicherheit zurückkehren. Ich begrüßte sie wie einen alten Freund.

Subin, Jisoo und mir würde nichts passieren. Ich würde den Dämon mit meiner Magie auf Abstand halten, und gemeinsam würden wir ihn vernichten.

»Ich will euch wie Welpen winseln hören.« Er gluckste. »Außerdem gibt es für jede tote Hexe eine Belohnung.«

Die Blitze versiegten. Wir Hexen wechselten einen Blick.

»Belohnung?«, fragte ich gleichzeitig, während Subin fluchte.

Jisoo zuckte mit den Schultern.

»Passt auf!«, rief Subin und schubste mich zur Seite. Jisoo kreierte mit ihrer Magie einen gelben Strahl, den sie gegen den Dämon schleuderte.

Er hatte unsere Unachtsamkeit ausgenutzt und war auf uns zugerannt. Er drehte sich um die eigene Achse. Dadurch konnte er sich unter dem Strahl hindurchducken. Jisoo musste ihre Magie sofort wieder aufladen. Sie war noch schwächer als die meisten anderen unseres Zirkels.

Subin ließ mich los, damit sie eine schillernde rote Wand vor Jisoo hochziehen konnte. Der Dämon sog scharf die Luft ein, als er dagegenprallte. Rote Brandblasen erschienen auf seinen Händen, mit denen er Jisoo hatte packen wollen.

Ich kämpfte mich aus der Starre und beschwor lange rosafarbene Blitze, die von blauen Streifen durchzogen wurden. Es war ein Leichtes, mir einen Trainingskampf vorzustellen. In der Theorie wusste ich, was zu tun war, um jemanden kampfunfähig zu machen.

Der Dämon brüllte auf, als ihn meine Blitze umwickelten und verbrannten. Ich biss die Zähne zusammen. Angst, von Menschen entdeckt zu werden, mischte sich zu dem Gefühlscocktail in meinem Inneren. Menschen konnten unsere Magie nicht wahrnehmen, jedoch würden sie durchaus sehen, dass der Dämon sich vor Schmerzen wand.

Aber wäre das etwas so Schlechtes? Wir könnten uns dann vielleicht davonschleichen.

Und wenn wir den Dämon dadurch direkt zu unserem Quartier führten?

Auf keinen Fall. Wir steckten zu tief drin. Es war besser, den Dämon zu pulverisieren.

Jisoo hatte ihr Potenzial neu aufgeladen, aber ich schüttelte den Kopf. Sie sollte sich nicht einmischen. Für den Fall, dass sie sich verteidigen müsste. Ich wollte sie nicht schutzlos lassen.

Stattdessen half mir Subin. Sie erzeugte einen knisternden Magieball zwischen ihren Handflächen und warf ihn gegen den Kopf des Dämons.

Er wurde davon zu Boden geschleudert. Meine Blitze lösten sich auf. Uns trennten mehrere Meter voneinander, doch ich konnte das Weiß seiner Augen erkennen. Er stöhnte. Nicht ganz bei Bewusstsein. Nicht ganz ohnmächtig.

Ich schluckte.

»Was tust du?«, rief Subin atemlos.

Unwillkürlich war ich auf den Dämon zugegangen. Dabei schrie alles in mir danach, zurückzuweichen.

Zum einen wollte ich nicht von ihm berührt werden, und zum anderen fürchtete ich mich vor der Entscheidung, die ich jetzt treffen musste und die ich morgen erneut treffen sollte.

Würde ich den Dämon töten?

Es war so leicht, es sich vorzustellen. Ich müsste meine Magie zu einem Ball formen, wie es Subin getan hatte. Nur etwas kleiner. Etwas effektiver und stärker. Und mit diesem Ball in seiner Brust würde er explodieren. Sich in Abermillionen Teilchen auflösen und dadurch nie wieder erweckt werden können.

Seine schwarze Seele wäre für immer verloren.

Warum zögerte ich? Er hätte mit uns das Gleiche getan, wenn sich ihm die Chance geboten hätte. Er hatte es selbst gesagt.

Außerdem war das der Job einer Hexe. Nacht für Nacht streifte meinesgleichen durch Seoul und tötete Dämonen.

Ich war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Auf einmal wirkte er nicht mehr gefährlich, dafür aber sehr jung. Nicht mehr so arrogant. Seine Lider flatterten. Seine Haut war an einigen Stellen verkohlt. Ein unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase.

Niemand hatte mir bisher davon erzählt, wie es riechen würde, wenn Dämonen mit unserer Magie in Berührung kamen.

Warum wurde uns so viel verschwiegen?

Warum wurde mir so viel verschwiegen?

Ich war so wütend auf meine Eltern. Auf Halmoni. Auf den gesamten Smaragdzirkel.

Entschlossen hob ich die Arme und hielt die Handflächen einander zugedreht, ohne dass sie sich berührten. Zuckende rosafarbene Magie entstand scheinbar aus dem Nichts. Aber ich wusste es besser. Sie kam direkt aus meinem Inneren. Ich hatte nicht mehr viel übrig in meinem Akku, bevor ich ihn neu aufladen müsste. Doch es sollte für einen letzten Schlag genügen.

Die Magie wuchs zu Tennisball-Größe an und wand sich zwischen meinen Händen wie ein lebendiges Wesen. Ich schrie durch zusammengebissene Zähne, weil es mir so viel abverlangte, die Magie noch zurückzuhalten. Es war nicht genug. Nur ein Schlag. Mir blieb bloß ein Schlag, sonst müsste ich das Risiko eingehen, dass sich der Dämon wieder erholte.

»Worauf wartest du?«, rief Subin hinter mir.

»Ich …«

Konnte ich es?

Konnte ich ein Leben auslöschen, auch wenn es nur das eines Dämons war? Er würde für immer verschwinden. Nichts würde von ihm übrig bleiben. Hatte er Freunde? Würde jemand nach ihm suchen? Sich an ihn erinnern?

Was war mit seinen Eltern?

Ich war nicht bereit und ließ los.

Die Magie versiegte. Der Ball löste sich auf. Mein Akku war leer.

Stöhnend stützte ich mich auf den Knien ab.

»Hana-Unni!«, warnte mich Jisoo eine Sekunde, bevor ich selbst wahrnahm, dass der Dämon erwacht war. Er sprang auf, streckte seine Hände aus und … bekam mich nicht zu fassen.

Jemand hatte einen Arm um seinen Hals gelegt und ihn daran zurückgezogen. Hände umfassten sein Gesicht. Ein fürchterliches Knacken folgte. Der Aurendämon sackte in sich zusammen.

Nicht für immer tot, aber außer Gefecht gesetzt. Von …

»Bobby«, keuchte ich. »Was machst du hier?«

»Offenbar dein Leben retten.« Er grinste schief. Mein Herz klopfte.

Bobby war … Bobby.

Er gehörte ebenfalls zu den Dämonen, allerdings war er ein Albdämon. Das Schlimmste, was er anstellen konnte, war, Menschen schlechte Träume zu bescheren. Seine Art stand nicht auf der Liste der zu tötenden Dämonen. Ich hatte ihn vor ein paar Monaten kennengelernt und mich mehr oder weniger mit ihm angefreundet. Da wir zwei verschiedenen Arten angehörten, war das nicht ganz so einfach.

Anfangs war ich ihm des Öfteren gefolgt, weil ich gehofft hatte, er würde mich zu einem Eingang in die Unterwelt führen. Stattdessen hatte er mir nur gezeigt, wo er hauste. Keine moderne Fünf-Sterne-Suite, sondern ein heruntergekommenes Haus am Rand von Guro, auf der anderen Seite des Hangangs, des Flusses Han. Ich war nicht in die Dachwohnung eingeladen worden, doch ich konnte mir vorstellen, dass sie wenig ansprechend aussah.

Bobby war anderthalb Köpfe größer als ich, schlank, aber muskulös, ungefähr in meinem Alter. Deshalb sprachen wir auch zwanglos miteinander. Nach fast jeder Begegnung änderte er seine Haarfarbe. Heute schimmerte sein Haar pastellblau und fiel ihm leicht in die Stirn. Eine kleine Narbe befand sich über seiner dunklen linken Augenbraue. Bevor ich sie bemerkt hatte, hatte ich nicht mal gewusst, dass Dämonen Narben haben konnten. Uns war beigebracht worden, dass sie alle nicht tödlichen Wunden heilen konnten. Und tödliche Wunden, die nicht durch Magie verursacht worden waren, würden ihnen nur einen vorübergehenden Tod bescheren.

Er trug helle Jeans, schwarze Chucks sowie ein weißes Unterhemd mit einem offenen dunkelblauen Hemd darüber. Sein Lächeln wurde breiter, und wie jedes Mal tat sich etwas in meiner Magengegend. Ein seltsames Ziehen, das ich nicht einordnen konnte. Zudem wurde meine Atmung flacher, und mir wurde schwummrig, als würde nicht genug Sauerstoff mein Gehirn erreichen.

»Bist du sprachlos?«, fragte er mit einem Augenzwinkern, als ich ihn viel zu lange anstarrte.

Ich blickte auf seine Hände, mit denen er das Genick des Aurendämons gebrochen hatte, und die er nun aneinanderrieb. Die Finger waren schlank und langgliedrig. An zwei von ihnen glänzten silberne Ringe.

»Lass uns gehen, Hana«, bat Subin. Sie konnte Bobby nicht leiden, weil er erstens ein Dämon war und zweitens ein Dämon war.

Jisoo stimmte ihr nickend zu.

»Wir hatten alles im Griff«, widersprach ich Bobby langsam, als mein Gehirn wieder funktionierte. Ich ignorierte meine Freundinnen für den Moment. Adrenalin raste durch meine Adern. Es war schwer, mich von dem High zu lösen, das von meiner Magie verursacht worden war. Selbst die Erschöpfung wurde in den Hintergrund gedrängt.

Gleichzeitig überkam mich Wut wegen meiner eigenen Unfähigkeit. Ich hätte beinahe alles zerstört, weil ich Mitleid mit einem Dämon gehabt hatte. Was, wenn er erst mich und dann Subin und schließlich Jisoo getötet hätte? Wie hätte ich meinen Vorfahrinnen in der Nachwelt begegnen sollen? Mit gesenktem Kopf und nach oben ausgestreckten Händen, damit sie mich bestrafen konnten.

Auf Knien am besten.

»Rede dir das nur ein.« Sein silbernes Augenbrauenpiercing unter der Narbe reflektierte das künstliche Licht, als er sich entspannt auf mich zubewegte. Er versenkte die Hände in seine Hosentaschen und neigte den Kopf.

»Dwaesso!« Vergiss es.

»Habt ihr ihn absichtlich provoziert? Oder …«

»Er sagte, es gäbe eine Belohnung für getötete Hexen«, antwortete ich, froh, dass er nicht darauf pochte, den Prinzen in glänzender Rüstung gespielt zu haben. »Davon hast du nie was gesagt.«

Einen Schritt vor mir hielt er an. Ich verschränkte die Arme. Er war mir noch nie so nahegekommen, aber ich besaß Hemmungen, zurückzuweichen. Ich hatte ihm durch mein Zögern vorhin schon eine zu große Schwäche offenbart. Wenn ich ihm zeigte, dass ich von ihm eingeschüchtert war, würde er das in Zukunft gnadenlos ausnutzen.

Er zuckte mit einer Schulter. Seine Stimme senkte sich gefühlt um zwei Oktaven. »Warum hätte ich das tun sollen?«

»Vielleicht weil es eine wichtige Information für uns gewesen wäre?« Ich schluckte schwer. Warum fühlte sich die Situation plötzlich gefährlich an? Nicht er-schlägt-mich-gleich-gefährlich, sondern wenn-er-mich-weiter-so-ansieht-springt-mein-Herz-aus-der-Brust-gefährlich.

»Dann solltest du dich eher bei deinem Zirkel beschweren und nicht bei mir. Ich bin nicht für euch verantwortlich.«

Frustriert verdrehte ich die Augen.

Ignoriere dein Herz.

»Können wir jetzt?«, fragte Subin. »Bevor der da wieder aufwacht und uns Probleme bereitet?«

»Ich würde mich auch ein zweites Mal für euch um ihn kümmern«, versprach Bobby mit einem verschmitzten Lächeln.

Subin schnaubte.

»Hana-Unni?« Jisoos Unterton verriet mir, dass sie Subins Meinung teilte.

»Okay«, gab ich nach und wandte mich zum Gehen, als Bobby den geringen Abstand zwischen uns überbrückte.

Er beugte sich vor. Die Hände weiterhin in den Hosentaschen.

Für einen Sekundenbruchteil traf sein Blick meinen, und er schlug mich damit in seinen Bann.

Ich bewegte mich nicht.

Dann küsste er mich.

Er schloss die Augen. Seine Lippen pressten sich auf meine.

Bobby.

Küsste.

Mich.

Ich war wie versteinert. Die Arme hielt ich verschränkt, die Augen riss ich auf. Mein Herz war das Einzige, das sich bewegte. Es pochte so schnell, dass ich glaubte, die Erde würde beben.

Ani! Nein!

Es war nicht nur Bobby, der mich aus heiterem Himmel küsste.

Es war ein Dämon, der mich berührte.

Ein Dämon, der mich für das Ahnenmondritual unbrauchbar machte.

Disqualifizierte.

Das Wort hallte wie ein Todesurteil durch mein leer gefegtes Inneres.

Ich atmete ein, und Bobbys Geruch füllte mich aus. Er duftete nach frischer Wäsche und einer herben Note.

Langsam zog er sich zurück.

Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich Subins und Jisoos Ausrufe nicht verstehen konnte. Ich konnte nicht mal meine eigenen Gedanken verstehen.

»Ani«, flüsterte ich. »Warum hast du das getan?«

»Mir war danach.« Wieder dieses schiefe Grinsen. Aber dieses Mal … dieses Mal war es nicht charmant. Dieses Mal wollte ich es ihm aus dem Gesicht schlagen.

»Gaesaekki!«, beschimpfte ich ihn völlig aufgelöst.

Ich sog Magie aus der rechten Wand. Die rosafarbene Aura strömte auf mich zu und füllte mich aus.

Ich kam jedoch nicht dazu, sie gegen den Albdämon einzusetzen. Er salutierte vor mir und rannte wie ein Feigling vor mir davon die Treppen nach oben. Subin und Jisoo hielten mich an den Armen zurück, als ich ihm hinterherjagen wollte.

Zorn brannte in meinen Adern. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Klar, wir hatten immer mal wieder miteinander geflirtet, doch nicht … Nie, um es irgendwo enden zu lassen. Nie, um etwas beginnen zu lassen.

»Das bringt nichts, Hana«, beschwichtigte mich Subin, aber ihre zitternde Stimme verriet ihre eigene Unsicherheit.

Ich hörte auf, mich zu wehren.

So schnell, wie der Zorn gekommen war, so schnell verließ er mich wieder. Meine Beine sackten ein. Ich fiel auf die Knie. Subin und Jisoo hockten sich neben mich.

Hilfesuchend sah ich sie abwechselnd an. Als ich Jisoos feuchte Augen bemerkte, konnte ich meine eigenen Tränen nicht mehr zurückhalten. Ungehindert rannen sie meine Wangen hinab. Subin presste ihre zitternden Lippen zusammen. Jisoo weinte ungehemmt.

»Was machen wir jetzt?« Meine Stimme brach.

Niemand antwortete mir.

4. Kapitel

Schweigend und mit gesenkten Köpfen schlichen wir zurück nach Hause. Wir hatten den Aurendämon in der Metrostation Itaewon zurückgelassen. Theoretisch hätte ich ihn erledigen oder anfassen können, nachdem Bobby mich bereits einmal berührt hatte, aber mir fehlten sowohl die Konzentration als auch der Elan.

Ich war zu nichts anderem imstande, als nach Hause zu gehen. Und selbst dafür brauchte ich die Führung meiner beiden Freundinnen. Ich bemerkte ihre besorgten Blicke.

Zudem strahlte Subin eine unterschwellige Verärgerung aus, die ich in tausendfacher Ausführung selbst für mich empfand.

Unsere Mütter waren noch nicht von den Vorbereitungen im Hauptquartier zurückgekehrt, und Halmoni hatte sich bereits schlafen gelegt.

»Du hättest auf mich hören sollen«, murmelte Subin verärgert.

Wir hatten uns umgezogen und uns nebeneinander auf die ausgebreiteten Yos gelegt. Jisoo löschte das Licht, sodass der Schein des runden Monds den Raum erhellte.

Ich betrachtete die Zimmerdecke. Mein Herzschlag hatte sich beruhigt, doch die gleiche Ruhe fand sich nicht in meinen Gedanken. Immer wieder spulte ich zu dem Moment zurück, der alles verändert hatte.

»Und was ist, wenn es keinen Unterschied macht?«

Ich neigte mein Gesicht leicht zu Jisoo, die rechts neben mir lag.

»Was meinst du damit?«

Subin drehte sich mit dem Rücken zu mir. Sie schmollte. Zu Recht.

Ich hätte nicht bleiben sollen. Ich hätte nicht mit der Gefahr spielen sollen, die Bobby verkörperte. Wir hätten auf den letzten Abend in Freiheit verzichten und ihn hier verbringen können …