EMOTION CACHING - Heike Vullriede - E-Book

EMOTION CACHING E-Book

Heike Vullriede

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Beschreibung

"Das Buch hat mich einfach völlig aus der Fassung gebracht. Ich bin begeistert!" [Lesermeinung] "Ein absolutes Thriller/Drama Highlight" [Lesermeinung] "Schockierender Psychothriller" [Lesermeinung] Inhalt: Nichts bannt mich mehr, als der Schrei eines Menschen. - Kim Die junge Kim und ihre drei Freunde spielen ein ungewöhnliches Spiel. Sie sammeln die Gefühle anderer Menschen. Bewaffnet mit der Kamera suchen sie nach dem großen Kick, und wenn der Zufall nicht mitspielt, helfen sie eben ein bisschen nach. Dabei hofft Kim, die Gefühlskälte, die sie seit dem Verlust ihres Vaters plagt, beim Anblick aufgewühlter Menschen vertreiben zu können. Bald merkt sie: Die wirklich überwältigenden Gefühlsausbrüche liefern Angst, Entsetzen und Verzweiflung. Was als harmloses Spiel beginnt, in dem Kim noch die Fäden in der Hand hält, nimmt immer bösere Züge an und entgleitet ihr mehr und mehr. Nach ihren beiden Erfolgsromanen DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN und NOTIZEN EINER VERLORENEN legt Heike Vullriede mit EMOTION CACHING einen erneut thematisch extrem spannenden Roman vor, der den Leser nur so über die Seiten fliegen lässt. Dabei beginnen ihre Erzählungen meist so harmlos und alltäglich, dass der Schrecken umso intensiver nachhallt. Lassen Sie sich in die Abgründe der menschlichen Seele entführen ...

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EMOTION CACHING

Roman

Anni, danke für das Lesen des Manuskriptes.

Schick doch die Kinder das nächste Mal zur Oma, damit du mehr Ruhe hast.

Oliver, danke für die Idee mit der Puppe ...

Impressum

Überarbeitete Ausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-063-2

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

EMOTION CACHING
Impressum
Prolog
So etwas wie Freunde
Emotion Caching
Spiele
Mehr als nur Spiele
Dein Schrei gehört mir
Angst ist gut … sehr gut
Es gab nichts mehr zu retten
Leichenblass
Blut
Epilog
Über die Autorin

Prolog

Nichts bannte mich mehr, als der Schrei eines Menschen.

Ich war süchtig … süchtig nach Gefühlen. Nicht nur nach einem seichten Beben. Nein, ich verlangte nach einem Schmerz im Nervengeflecht meines Bauches und nach dem atemlosen Zustand meines Herzens.

All das bescherte mir die Illusion eines spannenden Lebens – ja, des Lebens überhaupt. Ein Dasein ohne Nervenkitzel schien mir wie wandelndes totes Fleisch, das sich bloß noch als menschlich tarnte.

Doch was, wenn sich das begehrte Gefühl nicht einstellen will? Wenn nichts am eigenen Leib das Verlangen befriedigt?

Es war ganz sicher dieses fehlende Leben in meinem eigenen Blut, das mich dazu brachte, die Gefühle derer auszukosten, die es konnten: Sich ängstigen, verzweifeln, hassen … So lauerte ich … auf das Beben in den anderen … auf ihre Schreie. Und ich war nicht allein …

Kim

So etwas wie Freunde

Das hätte ich dir aber gleich sagen können, dass das gefährlich wird, mein Kind!

Roberts Stimme in ihrem Kopf machte es Kim nicht leichter.

Auch die völlig ungeeigneten Turnschuhe waren nicht gerade das, was sie jetzt brauchte. Sie stand mitten auf einem moosbewachsenen Felsen, und anstatt zu klettern, rutschte sie unablässig ab. Vom Regen der vergangenen Nacht und dem Frühnebel durchnässt, bot sich nicht einmal die Spur eines sicheren Halts. Kalt wehte ihr der eigene nebelhafte Atem von der Wand ins Gesicht zurück, angereichert mit dem modrigen und erdigen Geruch, den sie beim Klettern draußen im Gegensatz zur stickigen Luft in der Halle so mochte. Asseln krochen auf einem grünen Polster vor ihrer Nase herum. Kim bewunderte sie wegen ihrer Fähigkeit, senkrecht an lehmverschmierten Wänden zu laufen, ohne den Halt zu verlieren. Diesen Lehm fühlte sie nun unter ihren Händen, wohin sie auch griff, und es kam ihr vor, als hätte ihr der Himmel persönlich ein Schlammbad entgegengeschüttet, aus Angst, sie könnte ihm zu nahe kommen. Man wollte sie da oben nicht, so viel war sicher, und sie konnte es sogar nachvollziehen – warum sollten die sich in ihrem Himmelreich von einer gefühlskalten Halbwüchsigen stören lassen?

Sie versuchte einen Schritt nach rechts und gab es wieder auf. Wenn sie nur etwas vernünftig zu fassen bekommen könnte!

Nein, es war nicht etwa der Himalaja, der ihr gerade das Leben schwer machte, auch wenn sie ihn eines Tages ohne Sauerstoffflasche erklimmen wollte. Es war ein unbedeutend kleiner Felsen im Bergischen Land und sie wusste jetzt, die Idee, sich bei diesem Wetter allein und ohne Sicherung hier hoch zu hangeln, war wirklich total bescheuert gewesen. Sie hatte noch sehr viel zu lernen.

Vorsichtig wagte sie einen Blick die sechs Meter nach unten zum Waldweg. Auch das noch – ein grauhaariges Pärchen mit Rucksäcken und Wanderstöcken machte Halt und gaffte interessiert zu ihr hoch.

»Warum nehmen Sie nicht einfach die Treppe, junge Frau?«

Sehr witzig! Natürlich hätte sie auch die komfortabel in den Wald gehauene Treppe zur Burgruine nehmen können. Und natürlich war dieser Felsen nicht zum Klettern gedacht. Wie eine augenzwinkernde Herausforderung hatte sie Kim angelacht, diese Wand … das perfekte Versteck für ihren Schatz, den sie in ihrer Hosentasche aufbewahrte – eine Plastikdose, kaum 10 mal 15 Zentimeter groß, mit einer Münze und einem Minilogbuch darin – ein ›Geocache‹. Die anderen Schatzsucher sollten ihn anhand von Koordinaten suchen, finden, sich im Logbuch der Dose verewigen und den Cache im Internet bewerten. Nur ein Spiel.

Ganz so einfach wollte Kim es den anderen Schatzsuchern aber nicht machen. Sie wäre nicht Kim gewesen, hätte sie sich nicht ein besonders schwer zu erreichendes Versteck ausgedacht. Doch so schwierig, wie es sich jetzt gestaltete, hatte sie sich das selbst nicht vorgestellt. Der Felsen, den sie für das Verbergen ihres Schatzes ausgesucht hatte, machte heftige Anstalten, Kim auszuspucken.

Ein weiterer Blick nach unten. Das Crashpad – die Matte, die sie am Fuß der Formation zum Schutz vor einem Sturz ausgebreitet hatte – sah nun doch kleiner aus, als es Kim lieb war.

Was soll's. Sie hatte schließlich schon Schlimmeres gemeistert. Immer Schritt für Schritt, dann würde sie schon irgendwie weiterkommen und wenn nicht – runter kam man schließlich immer.

Mit einem Schuh versuchte sie, die verlockend aussehende Mulde schräg oberhalb ihrer Hüfte zu erreichen, was eine unglaubliche Grätsche erforderte. Wie es nach der Grätsche weitergehen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, denn die Kraft aufzubringen, aus dieser Körperhaltung heraus weiter zu klettern, schien ihr nahezu unmöglich. Sie hätte ein Gummimensch sein müssen, um das zu schaffen. Aber seit wann machte sie sich schon Sorgen um ein Danach? Nur ein paar Zentimeter noch … die Zehen spreizten sich unnütz in der Schuhspitze zwischen Leder und Sohle, als könnten sie das Bein auf diese Weise um die fehlende Distanz verlängern. Ihre Oberschenkelsehnen dehnten sich wie die Saiten einer schrillen Geige und Kim war sicher, die geringste Vibration würde sie mit einem dreigestrichenen Cis zerreißen.

Als es ihr endlich gelang, die Fußspitze in der Mulde zu platzieren, erwies sich diese als zu schlüpfrig. Wahrscheinlich war sie mit Moos ausgekleidet – aber noch eher mit einer guten Ladung Pech … von den Racheengeln da oben. Resigniert brachte sie den Fuß in die Ausgangsposition zurück und klammerte sich fester an die winzigen Felsvorsprünge über ihr, an denen sich ihre Hände durch das ständige Nachfassen allmählich aufscheuerten.

Verdammt! Kim keuchte. Jedes ihrer verkrampften Fingerglieder schmerzte. Ein paar Minuten Kraft zu schöpfen, ohne gegen die Schwerkraft ankämpfen zu müssen, das hätte ihr schon viel gebracht. Doch ihr blieb lediglich ein kurzes Verharren mit der Stirn dicht am Felsen. Sie hatte sich verschätzt und es völlig übertrieben – wieder einmal –, als ob sie es mit ihren sechzehn Jahren nicht endlich mal lernen konnte.

Auch die beiden Weißhaarigen sahen von oben betrachtet recht winzig aus. Der Witz mit der Treppe war so alt, wie das Klettern selbst, und ihre Klugscheißerei erinnerte Kim jetzt dummerweise erneut an Robert. Diesen neuen Kerl ihrer Mutter, der meinte, ihr ständig ungefragt Ratschläge fürs Leben geben zu dürfen. Ihr, der ungekrönten Königs-Regisseurin zahlreicher böser kleiner Filmchen. Der sollte nur aufpassen, dass er sich nicht in einem dieser Filme wiederfand. Irgendetwas Lächerliches an ihm würde sich schon finden lassen.

Robert war ein Fremdkörper, der sich seit einem Jahr in ihrem Zuhause ausbreitete wie ein Riesenkrake. Überall hinterließen seine Tentakeln Schleimspuren falscher Nettigkeit, Gerüche und Gedanken, die sie erstickten, sogar bis in diese Wand hinein. Das Schlimmste – er hatte mit seinen blöden Ratschlägen fast immer recht. Kim sah seine nachsichtig grinsende Fresse vor sich, daneben unwillkürlich das Bild ihres verschollenen Vaters, und wünschte, Robert stünde genau jetzt neben ihr im Felsen, damit sie ihn mit einem kleinen Schubs ins Jenseits befördern könnte. Es hätte ihr nichts ausgemacht, sein altes Skelett knacken zu hören … absolut nichts. Schade nur, dass er so gut gepolstert war; ihre Ohren hätten wohl mehr ein Klatschen als ein Knacken vernommen.

»Sie dürfen ruhig weiter schlendern. Dann finden Sie vielleicht sogar einen Sessellift für ihre morschen Knochen«, schrie sie nach unten … und dann ließ ihre Konzentration endgültig nach. Ihre Schuhe rutschten, sie korrigierte. Angst? Nein. Seltsam, auch diesmal verspürte sie nicht die Angst, die angemessen gewesen wäre. Respekt vor der drohenden Absturzgefahr? – das ja. Kim wusste, es half nur noch ein verdammt klarer Kopf.

Warum ziehst du auch ohne richtige Ausrüstung los? Vor allem musste sie Roberts Großmaul aus ihrem Hirn verbannen. Mit diesem Kerl im Kopf würde das mit der Konzentration ganz sicher nichts.

Da sich ein Absprung aus dieser Höhe verbot und wenn ein gefahrloser Abstieg ebenso wenig möglich war, musste sie sich eben durch eine Flucht nach oben retten – wie schon so oft in ihrem Leben. Das konnte ja nicht verkehrt sein. Sie packte links etwas fester zu und ließ ihren rechten Arm für einen Augenblick nach unten hängen, damit das einströmende Blut die Hand wieder etwas geschmeidiger machte.

Kurz bevor die Fingerspitzen der Linken in der lehmbeschmierten Wand endgültig den Halt verloren, nahm sie Schwung und versuchte ihr Glück, indem sie weit nach oben griff … zu weit. Eine Felskante ließ sich zwar greifen, dafür zwang ihr viel zu gestreckter Körper die Fersen nach oben und sie rutschte weg … gnadenlos, unaufhaltsam … bekam auf dem schmerzhaften Weg nach unten nichts zu fassen … schwor sich, das nächste Mal wirklich einen Helm zu tragen … prallte mit dem Hintern auf einem gut bemoosten Felsvorsprung auf … stürzte tiefer, hörte die Wanderer aufschreien, stieß sich die Knie blutig, schürfte sich die Arme auf … und kam auf der luftgepolsterten Matte zum Liegen.

Es dauerte eine Weile, bis Kim sich sicher war, noch zu leben. Sie setzte sich stöhnend auf und glaubte, sich mindestens das Rückgrat und alle Rippen gebrochen zu haben. Vorsichtig befühlte sie ihren Kopf. Irgendwo von fern redeten die beiden Alten auf sie ein. Im Rauschen ihrer Sinne hörte sie es kaum, dafür die imaginäre Stimme Roberts: Mädchen – so was unternimmt man doch nicht allein! Und schon gar nicht ohne Helm!

Danke auch, Robert! Ohne deine Visage vor Augen wäre ich nicht mal gestürzt!

Der linke Ellenbogen schmerzte höllisch. Doch je länger sie Haut und Kleidung von Lehm und Grünzeug befreite und sich auf äußere Verletzungen hin untersuchte, desto erstaunter stellte Kim fest, wie wenige Schrammen sie davon getragen hatte. Es war noch mal gut gegangen – wie jedes Mal, wenn sie sich fragen musste, warum sie sich in solch eine Lage gebracht hatte. Einzig ihr linker Ellenbogen machte ihr wirklich Sorgen. Der Unterarm knickte weg – allerdings in eine verkehrte Richtung. Das sah nicht gut aus …

***

»Und wie hast du das Crashpad wieder mit nach Hause gekriegt?«, fragte Nico, während er Kim mit rotem Edding unaufgefordert eine Karikatur von den Huberbuam auf den Gips zeichnete, obwohl er beteuert hatte, sich lediglich mit einer Signatur zu verewigen.

Typisch Nico – total naiv und doch hinterfotzig, dachte sie. Sie musterte ihn, bei sich zu Hause auf dem Esstischstuhl sitzend, den schweren Gipsverband auf dem Tisch. Seine Mundwinkel spielten synchron zu seinen Zeichenbewegungen; dass er sich nicht wie ein Kind mit der Zunge um den extrem breiten Mund fuhr, wunderte sie. Nicos Anblick legte dem Beobachter den Gedanken nahe, der Junge bestünde hauptsächlich aus diesem riesigen Mund, der fast immer lachte – was ihn durchaus sympathisch machte, weshalb man ihn aber auch unter dem wenig schmeichelhaften Spitznamen Hackfresse kannte. Sogar seine Brüder nannten ihn so, und davon hatte er sechs. Er war der Einzige aus ihrer vierköpfigen Clique, der es bisher mit einer Ausbildung versucht hatte. Nach zweimaligem Aufreißen seiner gigantischen Klappe gegenüber der Chefetage war er seine Anstellung nun aber wieder los und stand ebenso auf der Straße wie sie auch. So zumindest seine Version. Kim war sich sicher, er konnte es wie alles andere auch einfach nicht zu Ende bringen. Im Grunde versank er ständig in seiner eigenen Planlosigkeit, mit der er alle um sich herum schon mal mit ins Chaos stürzen konnte. Sie mochte diesen Chaoten, seinen Humor und eben dieses naiv wirkende Lachen auf seinem Gesicht, auch oder gerade, wenn es oft genug nur aus Schadenfreude erstrahlte.

»Ich war froh, dass ich überhaupt noch laufen konnte. Wie hätte ich auch die sperrige Matte mit ins Krankenhaus nehmen sollen … schlimm genug, dass ich so dreckig war.«

»Du meinst, sie liegt noch immer im Wald?«

»Nein, ich habe sie diesen Weißköpfen geschenkt, die mich im Wald aufgelesen und zum Arzt gefahren haben.«

»Die alten Wanderer, die dir auf den Sack gegangen sind? Oha – das gibt Faltenwurf. Du solltest mal heimlich hinfahren und sie filmen.« Er kicherte bei dem Gedanken, die beiden würden nun selbst in der Wand hängen und klettern.

Kim kicherte mit. »Das wär's noch – natürlich habe ich sie nicht verschenkt. Das Crashpad liegt noch irgendwo im Wald. Ich hab's so weit wie möglich in die Büsche geschleppt. Sonst bekommt es Beine, bevor ich es wieder abholen kann.«

Nico beendete seine Zeichenkunst auf dem Gips mit einer Sprechblase: Ich bezwang beinahe einen seichten Waldhang!, und legte den Edding auf den Tisch. »Wie lange musst du den Gips tragen?«

Sie betrachtete sein peinliches Gekritzel auf ihrem Arm und beschloss, bei Gelegenheit einen neuen bunten Verband darüber zu wickeln. »Wahrscheinlich drei Wochen, danach gibt es eine Orthese.«

»Dann ist ein Ausflug zum Kletterpütt wohl vorerst tabu.«

»Ja, leider – wochenlange Langeweile bahnt sich an. Was machen wir denn da?«

Nico zuckte mit den Schultern. »Auch keine Idee, außer unsere Filmerei. Paintball fällt flach, und Geocaching scheint für dich nun auch gestrichen zu sein. Du musst es dir ja mit den Verstecken immer besonders schwer machen.«

»Einfach kann doch jeder! Zumindest ist dieser Knochenbruch eine schöne Ausrede, nicht gerade jetzt ein Freiwilliges Soziales Jahr im Altenheim abzuknechten.«

»Wo ist dein Problem?« Nico grinste von einem Ohr zum anderen. »Während du klapprige alte Männer zum Sitztanz schleppst, kannst du doch wunderbar von krassen Outdoor-Abenteuern träumen, oder?«

Kim verzog den Mund. »Oh Mann, also wenn so unser großartiges Erwachsenenleben beginnt, das uns die ganze Welt zu Füßen legen soll? Im Altenheim? … So eine Fernreise, das wär schon was. Trail-Running im Himalaja … das wär mal ein Abenteuer. Obwohl, was ist schon wirklich abenteuerlich? Mir ist noch nichts untergekommen, das mich wirklich an die Grenzen gebracht hätte.«

»Und was war mit Buildering, S-Bahn-Surfen, mit sechzig Sachen longboarden …?«

»Ich weiß, ich habe bestimmt schon alles probiert.«

»Darum bist du auch das coolste Mädchen in der Gegend – mindestens!«

»Aber am Ende ist doch alles immer gleich öde, oder? Irgendwie fehlt mir was … der richtige Kick eben. Ich spür' da gar nichts bei. Das müsste mich doch total aufregen … manchmal denke ich, ich bin emotional so gut wie tot.«

»Also komm, als du gestern den Hang im Wald runtergesaust bist, hast du garantiert was gespürt.«

»So? Was denn? Eher den Schmerz danach.«

»Na was man so spürt, bevor was passiert – ein flaues Gefühl im Magen, Angst und einen Adrenalinstoß – das große Zittern, nachdem alles vorüber ist …«

Sie überlegte. Hatte sie das? »Eigentlich nicht.«

»Nicht mal ein bisschen?«

»Gut, da oben machte ich mir Sorgen, wie ich ohne Knochenbrüche runterkommen könnte, was ja leider nicht geklappt hat. Für einen Moment in der Felswand war mir mulmig zumute. Aber nur kurz. Das war es dann auch. Mir ging es mehr darum, dass mir diese beiden Alten nicht meine Notlage anmerkten. Ich würde das nicht als abenteuerliches Erlebnis oder gar Angst verbuchen.«

»Echt jetzt? Ich meine, mir kannst du es doch sagen.« Ungläubig runzelte er die Stirn in kleine gleichmäßige Denkwellen, die überhaupt nicht zu ihm passten. »Komm, gib es zu. Du hattest Angst und wärst froh gewesen, wenn einer von uns dabei gewesen wäre.«

Er sah erwartungsvoll aus.

Was wusste Nico schon von ihren Gefühlen? Woher sollte er wissen, wie kalt sie all das tatsächlich ließ – wie einfach es war, die unerschrockene und abgebrühte Kim zu sein, die selbst den Kerlen etwas vormachte. Das war so, als führe man täglich Achterbahn und stiege dann auf eine Rutsche um. Man stumpft ab. Der Kick, das Kribbeln, bleibt auf der Strecke. Die anderen schreien und lachen, nur man selbst steht neidvoll gelangweilt daneben. Durch ihre Adern floss schon so lange kaltes Blut, dass sie nicht einmal wusste, wo und wann sie die Wärme gelassen hatte, die einen Menschen zu einem wirklich fühlenden Menschen machte. Ihr schlanker Körper erschien ihr mehr und mehr wie eine fette Dämmschicht gegen alles um sie herum. Nichts drang da noch wirklich hindurch. Auch nicht ihre Fingernägel, die sie sich abends ins eigene Fleisch stieß, um sich wenigstens ein bisschen zu spüren. Da war viel zu wenig Gefühl, zu wenig Empfindsamkeit … zu wenig von allem. Das Einzige, was immer da war, war das, was sie selbst Basiswut nannte, ein Gefühl ständiger Anspannung und Unzufriedenheit.

Davon wusste Nico nichts. Woher auch? Er hätte es nicht verstanden – so, wie niemand es verstand. Nur ihre Mutter schien ab und zu den Hauch einer Ahnung zu haben, dass Kims Gefühlsleben in einem Sarg ruhte. Doch die beunruhigte das anscheinend nicht. Sie war mit ihrem eigenen Leben genug beschäftigt … und damit, wie sie in ihrem Alter noch einen Kerl fürs Bett kriegen sollte.

Noch immer wartete Nico auf Kims Zugeständnis, mehr empfunden zu haben, als ein kleines Flattern im Bauch.

Es ging ihr nicht darum, ihn nicht zu enttäuschen, sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe. »Also gut, mir ging die Flatter.«

Sein Gesicht verwandelte sich augenblicklich in die ansteckend lachende Hackfresse zurück, die sie kannte. »Vielleicht solltest du solche Aktionen demnächst nicht alleine starten. Wir sind doch ein Team! Und hey – wir wollen gemeinsam Spaß haben.«

Mit Team meinte er sie beide und die anderen zwei aus dem losen Verbund, den sie Clique nannten: Benni, ein gewissenloses, aber verkanntes Genie, und Lena, seine chamäleon-artige Freundin.

Sie waren die Unentschlossenen aus ihrem Jahrgang und hingen noch immer oft genug gegenüber der Schule vor Mehmets Dönerladen herum. Dabei waren sie nicht hungrig auf Döner, sondern eigentlich nur hungrig auf das Leben. Keiner von ihnen wollte noch mal auf die Schule oder später jahrelang studieren. Was auch? Kims Abschluss aus der Zehnten war mies, wie das der anderen beiden auch – trotz aller Genialität. Und Nico hatte nicht einmal das. Manchmal tauchten Visionen in ihren Träumereien auf, doch jede noch so vage Idee eines Lebensentwurfes erstickte an den Vorbehalten und am Frust der anderen.

Kim sah auf die Uhr und zupfte Nico am Ärmel. »Komm, auf zu Mehmet. Vielleicht kann ich meinen Freund Haifisch noch pünktlich abpassen.«

»Au ja! Aber Kim – irgendwann steigt der Typ aus seinem schönen silbernen Golfkombi aus und haut dir aufs Maul.«

Grinsend stand sie auf, schob ihren Gipsarm in die Schlaufe und schnappte sich den Wohnungsschlüssel vom Schlüsselbrett. »Mir haut keiner aufs Maul. Schon gar nicht so ein Weichei wie der. Und weißt du warum?«

»Weil du Kickboxen kannst?«

»Und weil ich schneller bin. Wer zuerst angreift, hat einen entscheidenden Vorteil.«

»Frechheit siegt?«

»Immer!«

Sie warfen die Haustür hinter sich zu und liefen die zwei Kilometer in freudiger Erwartung einer aufheiternden Abwechslung auf Kosten von Kims speziellem Freund. An der großen Kreuzung vor Mehmets Laden blieben sie stehen und warteten vor der Ampel. Es war fast halb eins. Nahezu jeden Wochentag um diese Uhrzeit fuhr derselbe silberfarbene Golf heran – mit einem großen Fischaufkleber auf der Seite und mit immer demselben spießigen, leicht zu erschreckenden Fahrer.

Kim war ihm eines Tages bei strömendem Regen vor den Wagen gelaufen, weil sie es vermieden hatte, ihr Gesichtsfeld durch Anheben der tropfnassen Kapuze zu erweitern. Und natürlich hatte sie wie immer das Rot der Ampel ignoriert.

Der Wagen bremste ewig lang auf dem Asphalt und die Stoßstange hätte sie sicher erwischt, gäbe es nicht die wunderbare Technik des ABS. Bis dahin nichts Besonderes. Wahrscheinlich wäre der Mann niemals zu der beliebten Unterhaltungseinlage für die Clique geworden, die er nun war, hätte er in ihren Augen nicht völlig übertrieben reagiert. Er hatte das Fenster am Wagen heruntergelassen, Kopf und Arm herausgestreckt und wütend lamentiert. So triefend und zähnefletschend hatte er Kim an einen Haifisch erinnert.

Haifisch hatte sie angeschrien, sich in purem Katastrophendenken immer mehr in Rage geredet und sie mit Moralvorwürfen übergossen. »… hättest tot sein können«, »In deinem Alter sollte man das aber wissen« und so weiter. Sie konnte gar nicht begreifen, warum er um eine solche Lappalie ein derartiges Theater machte. So mutierte der kleine Schreck in Kims Inneren noch im Laufe seiner Daueransprache zu einer witzigen Einlage – zu einer riesig witzigen Einlage – und ab da machte sie sich einen Spaß daraus, ihm jedes Mal extra vor den Wagen zu laufen, wenn sie ihn auf der Kreuzung antraf. Und das war oft, denn scheinbar machte er stets um dieselbe Zeit Mittagspause, hetzte zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin und her, was wiederum Kims schul- und arbeitsloser Zeitplanung entgegenkam. Er erhielt sozusagen eine komische Hauptrolle in einem ständig zu wiederholenden Film, während sich seine Wut über ihre menschliche Verfehlung im Straßenverkehr von Mal zu Mal steigerte. Nicht, dass sie ihn nicht gemocht hätte. Im Gegenteil. Je häufiger er seine Schimpfkanonaden auf sie einregnen ließ, desto mehr freute sie sich auf das nächste Treffen mit ihm. Als die anderen aus der Clique auch mal ihren Spaß mit ihm haben wollten, protestierte Kim gewaltig. Haifisch gehörte ihr allein.

12.37 Uhr – Er war heute spät dran! Doch dann tauchte in einiger Entfernung das vertraute Gesicht seines silbernen Golfs auf. Da war er ja – ihr aufgeregter Freund. Die Spaßeinlage schien gesichert. Nico, der neben ihr Ausschau an der Ampel hielt, biss sich erwartungsfroh auf die Lippen.

Haifisch verteilte sein Hupkonzert bereits, als Kim gerade erst einen Fuß auf die Kreuzung gesetzt hatte. Es beeindruckte sie ebenso wenig, wie die rote Ampel, doch das schien ihm wieder einmal zu entgehen. Heute ganz besonders. Der Blick durch seine Windschutzscheibe belohnte sie: Auch wenn man nicht jedes Detail seines Gesichts erkennen konnte, sah sie, wie aus dem Mann hinter dem Steuer so etwas wie ein rasender Stier wurde. Er trommelte mit einer Faust permanent auf die Hupe. Als sie ihn so sah, fragte sie sich, ob er sich diese Hupe als Ersatz für ihren Brustkorb vorstellte? Genau so hätte er wohl auf sie eingeschlagen, wenn er es gekonnt hätte. Ob sich das mit dem Fischaufkleber auf der Fahrertür vertrug? Sie blickte sich kurz um. Die anderen Autofahrer und die umstehenden Passanten schüttelten verwundert die Köpfe. Nicht Kim war das Objekt ihrer Verwunderung, sondern der trommelnde und hupende Kerl hinter dem Steuer. Wie viel Wut musste in ihm stecken, dass er sich so etwas antat?

Sie beobachtete die Bewegungen auf dem Fahrersitz fasziniert, während der Golf auf sie zukam. Anscheinend weigerte er sich heute nachzugeben, und er stoppte sein Auto nur in Etappen – wohl, weil er glaubte, Kim würde es doch noch als Warnung ansehen und zurück auf den Gehweg springen. Doch da kannte er sie schlecht. Kim wäre niemals zurückgesprungen – auf ihre Ehre nicht, vor all den Passanten nicht, vor ihren Freunden nicht! Sie spielten das Schisshasen-Spiel, in dem er aus rechtlichen und ethischen Gründen zum Verlierer verdammt war. Er hatte keine Chance. Das musste er eigentlich wissen, denn das war selbst Kim klar. Heute aber fiel ihm seine Rolle besonders schwer. Fast tat er ihr leid.

Der Wagen kam näher. Für einen Moment misstraute sie ihm. Er würde doch bremsen? Das musste er …

Keinen halben Meter vor ihren Kniescheiben stand er dann doch.

Hinter der Windschutzscheibe starrte sie ein kreidebleiches und verzerrtes Gesicht an. Sie streckte ihm, wie aus einem automatisch startenden Programm heraus, den schwarz lackierten Mittelfinger ihrer Rechten entgegen.

Zu ihrer Überraschung tat er nun das, was Nico vorausgesagt hatte: Er stieg aus. Tatsächlich. Mitten auf der Kreuzung.

Der Haifisch zeigte Zähne! Das konnte interessant werden.

Nun sah sie ihn zum ersten Mal außerhalb seines Wagens. Er war genau so groß, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Kein Riese und garantiert keine Sportskanone. Der Ansatz an seinem Bauch war überdeutlich. Die Krawatte hing schief und schlaff von seinem Hals. Sein Gesicht schien vor Wut rot glühend zu pulsieren.

Gespannt blieb sie an Ort und Stelle und wartete.

Er hielt sich mit einer Hand an der Fahrertür fest, als wollte er nicht in Versuchung geraten, Kim sofort anzufallen, und schlug mit der anderen gegen seine Stirn. »Wie bescheuert kann man eigentlich sein?!«

Auf der anderen Straßenseite grinsten ihr Benni und Lena entgegen. Benni hielt angestrengt seine Hände in die Höhe.

Kim wusste, seiner Handykamera entging nichts. Ein Filmchen mehr auf ihrer Liste. Leider würde es keine besonders guten Nahaufnahmen von Haifisch geben.

»Immer locker bleiben, Alter«, sagte sie betont lässig und freute sich über den Farbwechsel auf dem Gesicht ihres Gegenübers ins Violette.

Aus seinen Augen blitzte pure Aggression. Angestauter Hass aus den letzten Wochen schien ihm regelrecht aus dem viel zu engen Kragen zu platzen. Vielleicht war dies heute nicht das erste Ereignis, das ihm nicht in den Kram passte, sonst hätte er sich wohl nicht die Mühe gemacht, extra auszusteigen. Kim spekulierte. Vielleicht hatte er eben noch Ärger mit seinem Chef gehabt oder mit seiner Freundin, Frau, oder wem auch immer. Möglicherweise lief das bis zum Rand gefüllte Fass in seinem Leben gerade über. Oder er litt an der gleichen Basiswut, wie sie auch, und das hier gab ihm jetzt den Rest.

Auf den ersten Blick wirkte er äußerlich ganz unauffällig: so Mitte dreißig, schwarze Hose, weißes Hemd, Jackett – ziemlich spießig, Banker vielleicht oder Langzeit-BWL-Student. Im Grunde aber nicht der Typ, dem man zutraute, seine Zeit auf Anti-Aggressions-Lehrgängen zubringen zu müssen. Seine Frisur hatte er heute gestylt, die paar kurzen Haarspitzen an der lichten Stirn ein bisschen nach oben gegelt – in einem Anflug von Waghalsigkeit vermutlich.

»Wenn ich dich angefahren hätte, würdest du jetzt weniger cool rüberkommen, du blöde Ziege!« Er wandte sich den hupenden Fahrzeugen hinter ihm zu und schrie die Blechkarossen an: »Dann fahrt doch weiter, verdammt noch mal! Bin ich denn nur von Arschlöchern umgeben?«

Wie wenig es doch brauchte, ihn seiner Fassung zu berauben … nur ein paar Schritte zur richtigen Zeit auf den Asphalt. Ein Mensch auf einem Pulverfass. Kim gefiel das.

»Das wolltest du wohl gerne?«, sagte sie.

Haifisch riss den Kopf herum. »Was? Was wollte ich gerne?«

»Mich anfahren. Ich glaube, du wolltest mich eben liebend gerne plattfahren.« Es war lediglich eine Feststellung von ihr. Eine Provokation sollte es gar nicht sein … na gut, ein bisschen berechnend war es schon. Sie dachte darüber nach, wie man dafür sorgen könnte, dass diese im braven Anzug verpackte Bombe endgültig hochging.

»Ich sag dir, was ich denke«, brüllte er. »Wenn du so weiter machst, werde ich dich eines Tages wie eine aufgeplatzte Katze von der Straße kratzen!«

Oha! Ein Geständnis unverhohlener Mordgier?

Sie grinste extra provokant. »Zu dumm, wenn dich hier alle beobachten. Sieh dich mal um, Haifisch. Du solltest schön aufpassen, dass mir in Zukunft eben so was nicht passiert, sonst bist du der allererste Verdächtige.«

Er starrte Kim an und musterte sie von oben bis unten. Haifisch betrachtete noch eine Weile Kims Gipsarm, schüttelte den wieder blass gewordenen Kopf und stieg in sein Auto ein. Bevor er die Tür zuknallte, warnte er sie: »Und sag deinem Freund da hinten, wenn ich seinen Film auf YouTube entdecke, kann er sich auf was gefasst machen! Ich arbeite in einer Unternehmensberatung. Da kennt man eine Menge Anwälte.«

Damit zog er die Tür zu und reihte sich, nicht ohne zu hupen, in den stockenden Verkehr auf der Kreuzung ein.

Kim blickte ihm nach. Unternehmensberater … so so … das passte irgendwie. Schade, dass er schon aufgab für heute. Fast war sie versucht, ihm nachzuwinken.

Nachdem sie sich gemeinsam mit Nico durch den Verkehr zur anderen Straßenseite geschlängelt hatte, klatschten sie mit Benni und Lena ab.

Lena hielt sich noch immer den Bauch vor Lachen, oder wie man das Nichts an ihrem Körper so nennen konnte. Sie warf ihre langen, völlig unpassend schwarz gefärbten Haare nach hinten. »Ich hab wirklich gedacht, der springt dir gleich an den Hals.«

Nico stellte sich hinter Benni, um in dessen Smartphone zu starren. »Nein, er fährt sie platt, hat er gesagt. Wie war das noch, Kim? Das mit der Katze am Boden und dem Kratzen?«, fragte er nebenbei.

»Beim nächsten Mal hat sie ihn soweit«, pflichtete Benni bei, ohne aufzublicken.

»Zeig mal her.« Eigentlich wollte sich Kim nicht auf Bennis Filmen sehen. Sie mochte die Art nicht, wie er sie ins Bild presste. Auch wenn sie mit ihm bisher ganz gut auskam – Benni war nur bedingt ein Freund. Zwar fügte er sich meist widerspruchslos in alles, was Kim in ihrer kleinen Gemeinschaft anregte und ausheckte, doch im Grunde misstraute sie ihm. Als sie noch zur Schule gingen, musste er sich beim Direktor und diversen Eltern rechtfertigen, weil er die Bilder einiger dicker Mädchen mit Photoshop bearbeitet und vor die Schulklos gehängt hatte. Die durch seine Manipulation völlig überzeichneten und überdimensionalen Fettwülste ihrer nackten Körper spukten noch immer in Kims Kopf herum. Wäre Bennis Vater nicht Anwalt in einer angesehenen Kanzlei und mit dem Direktor befreundet gewesen, hätte er ganz sicher seinen Abschluss auf einer anderen Schule gemacht. Seitdem hielt ihn sein prominenter Papa zu seinem großen Leidwesen ziemlich kurz.

Bennis eiskaltes Lächeln kroch den meisten Menschen böse in den Nacken, aber erst, wenn sie ihn näher kennenlernten. Selbst Kim hatte es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, ihm niemals vertrauensvoll den Rücken zuzudrehen.

Wie erwartet, fand sie sich auch heute auf seiner Aufnahme nicht besonders ansprechend. Zwar war sie schlank und sportlich, aber wie ein Model sah sie nicht gerade aus. Es gab einige, die der Meinung waren, Kim könnte mehr aus sich machen – inklusive ihrer Mutter. Doch allein deshalb zum Trotz! Mit den verschlissenen Turnschuhen, in Longsleaves und der immer gleichen Mütze auf ihren dunklen widerspenstigen Locken fühlte sie sich am wohlsten. Sie wusste, dass ihr Gesicht etwas härtere Züge, als die der anderen Mädchen aufwies. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil sie sich nie schminkte. Wahrscheinlich hätte ein Kosmetiker da was zaubern können … oder es hätte einen Maskenbildner gebraucht, um aus ihr ein echtes Mädchen zu machen.

Der Gipsarm im Film wirkte eher uncool auf Kim. Doch Lena schien beeindruckt. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sieht doch verwegen aus. Ich finde, es passt zu dir.«

Lena war Bennis derzeitige Freundin. Sie entsprach vollkommen den Anforderungen, die man gewöhnlich an halbwüchsige Mädchen stellte. Lena war schrecklich dürr, immer korrekt modisch gekleidet und perfekt geschminkt – ganz nach Bennis Geschmack. Trotzdem war Kim klar, dass Lena es mit ihm nicht einfach hatte. Sie war eben leicht ersetzbar für ihn, und das wusste sie wohl. Vermutlich daher ihr gelegentliches Gezicke anderen Mädchen gegenüber, das Kim auf die Nerven ging. Im Grunde verhielt sich Lena wie ein Chamäleon. War Benni nicht da, konnte sie richtig nett sein. Manchmal hörte sie sich sogar Kims Schwärmereien über Papas große Reise an – obwohl sie sicher nie verstanden hatte, dass Kims verschollener und für tot erklärter Vater nicht irgendwo in der Erde verfaulte, sondern nur zu einer aufregenden Weltreise aufgebrochen war und irgendwann ganz bestimmt zurückkehren würde. Aber das verstand sowieso niemand. Das konnte sie ihr nicht verdenken.

Zu viert lehnten sie sich an die graffitibeschmierte Wand neben Mehmets Ladentür und gruben ihre Köpfe noch tiefer über Bennis Handy. Ihr Golffahrer machte seiner komischen Hauptrolle alle Ehre. Die drei anderen brachen in lautstarkes Gejohle aus, als er mit seinen Händen in der Luft herumfuchtelte, und steckten damit auch Kim an.

Mehmet wetzte drinnen im Laden indessen die Fleischmesser und fluchte. Als die vier Jugendlichen aus dem Gekicher nicht mehr herauskamen, drang seine akzentbeladene Stimme durch die geöffnete Tür nach draußen: »Sucht euch endlich ein anderes Zuhause auf der Straße, ihr Hühner!« Es schien einer seiner schlechteren Tage heute zu sein.

Sie blickten sich amüsiert an. Als Zuhause hatten sie ihren Treffpunkt Dönerladen noch nicht betrachtet. Aber warum eigentlich nicht? Seit der Prüfung belagerten sie das Zaziki geschwängerte Umfeld um Mehmet fast täglich.

Ob man sie damals wirklich als Freunde bezeichnen konnte? Kim glaubte es nicht. Sie vereinte eher eine Art Anderssein, und mit dem Anderssein war das so eine Sache: Entweder man fand einen fruchtbaren Weg in ein kreatives Leben oder man fand ihn nicht und verschlungene Pfade führten anstatt ins Paradies in die Hölle. Damals wussten sie noch nicht, dass sie die schlechtere Wahl ansteuerten.

Nico stieß sich von der Hauswand ab und platzierte sich zwischen der klapprigen Tür und dem zerkratzten graulackierten Rahmen, um sich an Mehmets verärgertem Gesicht zu ergötzen. »Hey, sei ehrlich – wir sind doch deine besten Kunden.«

»Brauchst gar nicht reinzukommen! Wer nichts isst, bleibt draußen!«

»Du wirfst deine einzigen Stammkunden raus?«

»Nix Stammkunden! Ihr vergrault mir die Gäste. Die …« Mit dem langen Messer in der Hand durchschnitt Mehmet die Luft und zeigte an Nicos Sommersprossengesicht, Kim und den anderen vorbei zur gegenüberliegenden Straßenseite. Zwei wenig vertrauensselig aussehende Typen gafften von dort herüber. »… die da drüben würden bestimmt hier Döner essen, aber ihr haltet sie mit eurem Gegacker davon ab!«

»Wie sollten wir sie denn davon abhalten?«, fragte Nico gespielt entrüstet und machte ein paar testende Schritte in Mehmets Laden hinein. Die anderen folgten ihm in den Eingang.

Wie erhofft, regte sich Mehmet weiter auf. »Indem ihr hier rumlungert! Kaum einer kauft noch bei mir. Weder Türken noch Deutsche. Alles Scheiße!«

»Mehmet, das liegt aber nicht an uns. Die Türken kaufen deine Döner nicht, weil du Schweinefleisch da reinschmuggelst und die Deutschen kaufen sie nicht, weil du zu türkisch würzt. Du musst dich vielleicht mal entscheiden, was du sein willst.«

»Was sagst du da von Schweinefleisch?!« Mehmet sah nun unter seinem angegrauten Schnäuzer besorgniserregend aufgewühlt aus und sprang erstaunlich wendig von der Theke aus auf Nico zu, der inzwischen kaum drei Meter von ihm entfernt stand. Schützend riss Nico die Arme über seinen Kopf. Er konnte sich vor Lachen kaum halten. Zu seinem Glück hatte Mehmet das Messer zuvor hinter der Theke verschwinden lassen.

Um nichts zu verpassen, startete Benni hinter Nico geistesgegenwärtig seine Handykamera und streckte seine Arme über Nicos langen Körper, um alles aufs Bild zu bekommen. Es konnte ja sein, dass sich ein paar dramatische Szenen für weitere langweilige Nachmittage speichern ließen. Kim und Lena wagten sich weiter sich in den Laden und reckten ihre Hälse.

Kim wusste, das Schlimmste für Mehmet war ihr Gekicher. Und dass Benni ihn dann auch noch mit derart unkontrollierten Gesichtszügen filmte, schmerzte den stolzen Kurden besonders.

Was sie alle nicht bemerkten, waren die zwei Männer, die sich hinter ihnen dem Laden näherten.

»Was'n hier los?«, tönte plötzlich eine tiefe Stimme in Kims Rücken.

Ein bulliger Blondschopf mit ärmellosem Shirt zwängte sich neben Kim und Lena. Kims Augen reichten gerade bis zu seinen Oberarmmuskeln, auf denen das Bild eines bunten Totenkopfes beim Spiel seiner Hand mit einer Gürtelkette erzitterte. Da ihre Nase nur unwesentlich entfernt von seinen Achselhaaren weilte, strömte die schweißnasse Hitze seines Körpers wie ein Gasgemisch in ihr Gesicht. Angewidert wandte sie sich ab und stieß ihren Hinterkopf an dem nicht weniger schwitzenden Stiernacken des zweiten Kerls, der ebenfalls in den Laden drängte. Er blickte sie kurz und schroff an, um dann wie sein stinkender Freund zu Nico und Mehmet vorzustoßen und breitbeinig vor ihnen stehen zu bleiben.

Nico und Mehmet waren inzwischen mit offenen Mündern in ihren Bewegungen erstarrt, ganz so, als ob sie gerade Stopptanzen gespielt hätten. Besonders Mehmet schien in seiner körperlichen Lähmung eine geistige Achterbahnfahrt zu durchleben, denn seinen dunklen Augen merkte man eine deutliche Panik an.

Der Stiernacken packte Nico am Ärmel und zog ihn an seinen nass geschwitzten Bauch heran. »Macht der Kanake Probleme?«

Nico erwachte nur langsam aus seiner Starre. »Äh … was? Nein, ich … er wollte nur …«

»Was wollte der?«

Nico schluckte. »Nichts. Ist alles in Ordnung hier.«

Dem festen Griff des Mannes, der ihn jetzt zur Seite warf, konnte Nicos dürrer Körper mit nichts begegnen. Taumelnd stieß er sich am nahestehenden Tisch die Hüfte.

Die beiden gewichtigen Männer wandten sich mit schmalen Augen Mehmet zu, der immer noch wie verwurzelt auf der Stelle verharrte. Immerhin blinzelte er inzwischen.

Benni und Kim wechselten Blicke. Was tun? Im Geiste sah Kim den alten Mehmet wie einen schlaffen Sack unter den dicken Fäusten seiner Gegner zusammenbrechen. Wenn sie ihn auch zu gerne ärgerten, so gehörte er doch irgendwie zu ihrer Clique dazu – zumindest für Kim. Wahrscheinlich war Mehmets Dönerladen wirklich so etwas wie ein Zuhause für sie geworden und ein bisschen angenehm anders als andere Erwachsene war Mehmet wohl auch. Kim entschied sich jedenfalls für einen vorsichtigen Vermittlungsversuch – nur für den Fall, die beiden Fremden suchten nicht einfach nur einen Dummen zum Draufhauen und hätten die Situation tatsächlich falsch eingeschätzt. Vielleicht meinten sie wahrhaftig, ihnen mit ihrem Engagement zu helfen. So schob Kim die zur Salzsäule erstarrte Lena zur Seite und präsentierte sich den beiden Schlägern mehr oder weniger entschlossen.

Sie stand seitlich von Mehmet und den Kerlen gegenüber.

»Hört mal …«, begann sie und registrierte, dass Mehmet sie sehr düster ansah und langsam, aber kaum merklich seinen Kopf schüttelte. »… wir haben kein Problem. Wir hängen hier jeden Tag rum und haben uns nur einen Spaß mit Mehmet gemacht. Alles in Ordnung also. Wir brauchen eure Hilfe nicht.«

Im Hintergrund sah sie Benni schon wieder grinsend filmen. Der Blödmann schreckte anscheinend nicht davor zurück, ihren Untergang aufzuzeichnen, anstatt sich zum Helfen vorzubereiten. Kim konnte wohl kaum hoffen, dass er sich auf einen von den beiden stürzen würde, falls man Kim auseinanderrisse. Lena hatte sich erwartungsgemäß hinter seinem Rücken verkrochen und lugte mit Rehaugen über Bennis Schulter herüber. Als Kims Blick hilfesuchend auf Nico fiel, fand sie ihn auf dem Tisch sitzend und geruhsam das Theaterstück betrachten, in dem Kim gleich eine Hauptrolle spielen sollte. Tolle Freunde!

Der Gürtelkettenträger musterte sie mit hochgezogener Oberlippe. Das erinnerte sie an das Gesicht eines Esels und ein Lächeln huschte auf ihr Gesicht.

»Ach ja? Ihr braucht unsere Hilfe nicht?« Langsam schritt er an Mehmet vorbei auf Kim zu. »Hängst hier also gerne rum, in so 'nem Türkenladen und frisst Knoblauch. Ich sag dir was: Kannst dich gleich mit unter die Theke legen …«, er zögerte, ließ seine Augen wieder abschätzend an ihr mitsamt Gipsarm hinabgleiten, »… oder vielleicht besser gleich auf die Theke. Dann könnte man mal nachsehen, ob du wirklich ein Mädchen bist.« Er lachte seinem Kumpel dreckig zu, der ebenso frivol zurücklachte.

Allmählich fühlte sie sich wirklich bedroht. Kim spürte etwas. Es war ein leichter Druck im Magen, kurz und pulsierend. Der Gedanke an zwei verschwitzte bullenartige Männer, die sich auf einer Dönertheke über sie hermachen wollten, ängstigte sie anscheinend mehr, als das Herumhangeln an S-Bahnen oder das Klettern auf schwindelerregend hohe Brücken oder Hausfassaden.

Na klasse, dachte Kim, und Benni filmt das dann auch noch.

Angriff schien ihr hier die beste Verteidigung. Bevor der Kerl vor ihr noch einen Schritt weiter auf sie zu machen konnte, holte sie mit einem Bein nach hinten aus und trat ihm ohne Vorwarnung mit voller Wucht ihren Turnschuh in die Weichteile. Er konnte nicht wissen, dass sie bis vor kurzem noch Kick-Boxen trainiert und ihr Fußtritt eine gehörige Portion Kraft hatte. Wie erwartet sank der große Mann sehr klein zusammen. Und wie weiter zu erwarten, stürmte nun der Stiernacken mit einem grunzenden »Dich mach ich fertich, du Schlampe« auf Kim zu …

Sie hätten dem alten Mehmet ja vieles zugetraut, aber die Geschicklichkeit, die er in den nächsten Minuten zutage legte, beeindruckte die Clique nachhaltig. Während Nico nun tatsächlich versuchte, Kim zu helfen und sich so heldenhaft wie wirkungslos an den verschwitzten Nacken des Stiers hängte, war es gerade Mehmet, der das einzig Richtige tat und dem hirnlosen Kerl schlicht ein Bein stellte. Polternd kam er zu Fall und riss Nico mit sich. Kaum dass der sich wieder aufrichtete, ohne den Jungen an seinem Hals überhaupt wahrzunehmen, wollte er sich auf Mehmet stürzen. Der aber ergriff die auf ihn gerichtete Faust, lenkte die Kraft seines Gegners an sich vorbei in Richtung Theke und sah zu, wie die Stirnhaut des Dummkopfes an der Kante des Marmors aufplatzte. Vorausschauend hatte Nico vorher losgelassen, purzelte zu Boden und landete direkt vor der WC-Tür.

Mehmet nahm indes den Blutenden bei den Haaren und zerrte ihn vor die Tür, wo er ihn die beiden ausgetretenen Stufen hinunterstieß. Dann kehrte er in den Laden zurück, packte die Gürtelkette des anderen, zog ihn daran näher zu sich und verpasste ihm einen weiteren Tritt in den Schritt. Jetzt mischte Kim sich wieder ein, probierte einen vorsichtigen Einsatz ihres Gipses als Schlaghilfe, was sie aber gleich wieder sein ließ, und gemeinsam mit Nico und der aufgetauten Lena transportierten sie den zweiten Kerl auf die Straße.

»Gülle, Gülle!«, rief Mehmet ihnen zu.

Benni folgte ihnen kichernd mit der Kamera. »Das ist so genial! Mehmet, tritt dem blutenden Dicken da noch mal in den Arsch!«

Für einen Moment schien Mehmet zu überlegen, doch dann schüttelte er den Kopf und zeigte Benni einen Vogel.

Bevor ihre Opfer sich erneut aufraffen konnten, um sich zu rächen, begrüßte Mehmet mit lautem Rufen und ausholendem Winken seine drei Cousins, die wie durch ein Wunder auf der anderen Straßenseite auftauchten und sich scheinbar bereits auf eine Rangelei freuten. Die beiden Schläger verschwanden hinkend. Alle johlten ihnen hinterher und die Cousins ließen es sich nicht nehmen, ihnen hinterherzujagen.

Jetzt erst ließ Benni endlich das Handy sinken. »Das wird ein super Filmabend!«

Kim blickte Mehmet an, der schwer atmend neben ihr im Eingang des Ladens stand und sofort wieder um einige Jahre alterte. »Und die wolltest du als Stammkunden gewinnen?«

Er sah sie erst fragend an, dann grinste er über beide Wangen. »Du bist ein sehr mutiges Mädchen, Kim. Aber bitte, lass einem alten Mann niemals das Gefühl, dass er deine Hilfe benötigt, ja?«

Nachdenklich fasste Kim die drei Cousins von Mehmet ins Auge, die nach der kurzen Verfolgung mit heiteren Gesichtern zurückkehrten. »Wo kamen die denn überhaupt so schnell her?«

»Ein Knopfdruck auf die richtige Taste meines Handys und die Leute aus meiner Familie wissen, dass ich Hilfe brauche.«

Dann nahm Mehmet Kim kurz beiseite und blickte sich verstohlen nach seinen Cousins um. »Das mit dem Schweinefleisch, weißt du, das ist wegen des Geschmacks … auf keinen Fall verraten, ja?«

»Kein Problem, wenn du uns jedem einen Döner spendierst.«

***

Um einhändig die Haustür aufzuschließen, musste Kim einige umständliche Verrenkungen vollbringen. Sie verfluchte den verdammten Gips und die Behinderung, die sie sich damit selbst eingebrockt hatte.

Ohne sich zu bücken, streifte sie mit den Füßen ihre Schuhe ab und gab ihnen einen Kick. Sie schlitterten vor den Metall-Schuhschrank in der Diele und lenkten Kims Blick auf ein Paar schwarze ausgetretene Halbschuhe.

Robert war also da.

Obwohl sie aus der Entfernung nicht wirklich etwas riechen konnte, kam es ihr vor, als strömte der Geruch fremder Männerfüße aus den Tretern wie die Markierung eines brünstigen Tieres durch die Diele. Er hätte genauso gut hier hinpinkeln können.

Natürlich wusste sie, dass ihre Mutter ein Anrecht auf ein Intimleben hatte, dafür war Kim alt genug … aber sie mochte das nicht. Schon gar nicht, wenn einer von denen zu einem Dauerzustand wurde. Robert war schon viel zu lange ein Thema in diesem Haus.

Kims gute Laune versank in den tiefsten Keller, den es in einem Gehirn geben konnte. Sie schlürfte einen Raum weiter, warf den Rucksack auf den Esstisch, an dem sie mit Nico mittags noch über Angst und Abenteuer geredet hatte, und ließ sich wie ein Sack auf einen der Stühle fallen. Dann lauschte sie. Da keinerlei Gesprächsfetzen von irgendwoher in ihre Ohren drangen, konnte sie sich schon denken, wo die beiden alten Herrschaften gerade ihre Zeit verbrachten. Entweder vergnügten sie sich im Schlafzimmer oder plätscherten gemeinsam mit einem Glas Sekt in der Badewanne.

Alles schon gehabt.

Sensibilisiert nahm Kim ein gleichmäßiges Rauschen im Haus wahr … die Dusche also … angewidert verzog sie die Mundwinkel. Wozu gab Gott den Menschen Lustgefühle, wenn sie sowieso nicht mehr zeugen konnten? Die Vorstellung ihrer Mutter, die immerhin schon Mitte vierzig war, beim Sex mit Robert, verursachte ihr Übelkeit. Unwillkürlich starrte sie auf das Bild ihres lachenden Vaters auf dem Sideboard. Hätte sie das Gleiche empfunden, wenn dieser Mann da oben ihr Vater wäre? Kim versuchte es sich vorzustellen und zur Rechtfertigung genau den gleichen Ekel hervorzubringen. Klar – ihre Gedanken waren unfair und vermutlich kindisch. Sie wusste selbst, dass sie zwar der Kindheit entwachsen war, sich aber auf dem Weg in die Erwachsenenwelt irgendwie verlaufen haben musste.

Aber nein, ihre Vorstellungskraft reichte nicht aus. Das Bildnis ihres Vaters blieb ein strahlend umrahmtes Heiligtum, an dem alles Unschöne abprallte. Selbst ihre Mutter Sofie blieb in seinen Armen eine rührende Unschuld … Es war nicht das Gleiche. Schon allein, weil ihr Vater in Kims Erinnerung niemals alterte. Papa war und blieb wunderbar.

Robert aber, dieser angegraute Besserwisser mit den Falten am Hals und dem blousonartigen Bauch über der Hose war ein alter Sack!

Kim stand auf, drehte Papas Foto mit seinem Gesicht zur Wand, damit er sich das Elend nicht länger ansehen musste, ging zum Kühlschrank in die Küche und griff sich einen Joghurt und Löffel. Doch gleich darauf verging ihr der Appetit. Mit zusammengepressten Lippen schleuderte sie den Löffel in die Spüle. Sein Scheppern unterbrach das Rauschen der Dusche im Hintergrund, stellte es aber nicht ab. Vernahm sie da etwa rhythmische Geräusche aus dem Bad in der ersten Etage?

Mit Wucht schoss ihr Gips nach unten und zerknautschte den Plastikbecher zu einem papierähnlichen Knäuel. Ein Schmerz durchzuckte ihren Arm. Wie in Zeitlupe sah sie fette Tropfen weißen Joghurts durch die Luft fliegen und die pastellfarbene Küchenwand sprenkeln. Irritiert blickte sie auf die Schweinerei auf der Arbeitsplatte. Der Gips war gebrochen und mit Joghurt verschmiert.

Na super!

Von oben wieder diese Geräusche.

Jetzt reicht es!

Entschlossen stampfte sie zur ersten Etage hinauf in Richtung Bad. Das Rauschen ertönte lauter, je näher sie der geschlossenen Tür des Badezimmers kam. Ohne Rücksicht auf den Schmerz schlug sie ihren verpackten Arm auf die Klinke, stieß die Tür mit dem Fuß auf und ging ohne zu zögern auf die Dusche und die dahinter verschwommenen Schemen zu.

Kim ließ ihnen nicht einen Augenblick der Vorwarnung, sondern riss die Schiebetür mit einem Ruck auf.

»Mein Gips ist gebrochen. Vielleicht könnt ihr beiden euch mal um was anderes kümmern, als um euch selbst.«

Demonstrativ hielt sie den geschundenen Arm in die Höhe.

Die Mimik des nackten Mannes unter den Wasserstrahlen der Regendusche erinnerte Kim an Szenen in einem Horrorfilm. Robert war vollkommen entsetzt. Mit seinem nass an die Stirn geklatschten Resthaar, den aufgerissenen Augen und dem offenstehenden Mund glich er einem Opfer, das gerade dem grausamsten Ende entgegenblickte, das die Welt gesehen hatte. Der Speck an seinem Bauch, der seinen Kampf gegen die Schwerkraft der Erde nicht verleugnen konnte, hob und senkte sich während seiner geräuschvollen Atmung wie Wackelpudding.

Ja, freute sie sich, jetzt einen Herzinfarkt und Papa und ich sind dich los!

Das Gesicht ihrer Mutter hinter ihm ließ allerdings nicht mehr als eine gewisse Überraschung erahnen.

Während Kim sich über Roberts Scham vor ihrem offensichtlichen Blick auf seine schrumpfende Männlichkeit amüsierte und darauf wartete, dass er endlich tot umkippte, stolzierte Sofie ungeniert unverhüllt aus der Duschwanne. Sie schob die Glastür hinter sich zu, womit sich Robert wieder in einen nebulösen Schatten verwandelte.

Schade eigentlich.

Die Gefasstheit, mit der ihre Mutter den Bademantel vom Haken nahm und sich darin einkuschelte, ärgerte Kim. Jeder andere hätte ein Feuerwerk der Entrüstung auf sie einregnen lassen. Aber nein, ihre Mutter warf lediglich einen wissenden Blick und ein unverbindliches Lächeln auf sie herab.

»Nun Kim, ich denke, du konntest einfach nicht anders«, sagte sie unverschämt ruhig und leise. »Wir reden später darüber«, fügte sie hinzu, als sie mit einem Handtuch ihre Haare trocken rubbelte.

»Wir reden später darüber?« Kim zog die Brauen hoch. »Ich stehe hier und du da – wir sollten genau jetzt darüber reden!«

Nun runzelte auch Sofie die Stirn. Sie trocknete mit dem Handtuch ein Ohr. »Ich glaube, du solltest dich erst mal beruhigen.«

»Ich bin ruhig.«

»So? Das ist schön. Vielleicht kannst du mir dann auch erklären, wieso du deinen Gips zerbrochen hast.«

»Kannst du dich nicht selbst befriedigen? Dann müsste ich diesen fremden Ficker nicht ertragen.«

»Dieser fremde Ficker heißt Robert, wie du weißt, und ist ein sehr netter Mann aus meinem Kollegium. Möchtest du ihm heute nicht Guten Tag sagen, wo du ihn doch schon seit einem Jahr kennst?«

»Er kann seinen nackten Arsch gerne aus der Dusche schieben und dann umgehend nach draußen.«

Zaghaft ging die Schiebetür der Dusche für einen Spalt auf und Robert lugte ungewöhnlich schüchtern hindurch. »Wenn ich mal was sagen darf …?«

Wie aus einem Mund fuhren Mutter und Tochter ihn an. »Schnauze!«

Roberts Kopf zuckte zurück. Dann jedoch fasste er sich und öffnete die Tür zur Gänze. »Ihr seid ja nicht normal!«

Anscheinend hatte er beschlossen, dass er sich nicht noch mehr blamieren könnte, als er es bereits getan hatte, und stieg mit einem Räuspern aus der Duschwanne. Er huschte zum Handtuchregal. Das erste Handtuch, das er griff, fiel ihm aus der Hand. Anstatt sich danach zu bücken, packte er schnell ein Neues und bedeckte sich. Das war gut so, denn Kims Blick haftete wie gebannt an seinem behaarten Arsch und sie war sich nicht sicher, ob sie da tiefer hineinsehen wollte.

Auch Sofie schien sich nicht von ihm losreißen zu können.