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SARAH IST TOT. Ein Unbekannter entdeckt ihren Leichnam in einer verlassen Scheune. Neben ihr findet sich ihr Tagebuch. Aufzeichnungen der letzten Wochen eines jungen Lebens - die Notizen einer Verlorenen. "Faszinierend, verstörend und erschreckend. Eine traurige und berührende Geschichte." - Amazon.de Mit leisen Tönen skizziert Heike Vullriede in ihrem Roman "Notizen einer Verlorenen" das Psychogramm einer jungen Frau, gefangen zwischen ihren eigenen Obsessionen und der Sogwirkung sektiererischer Organisationen. Es ist ein Buch über Liebe und Tod, über Selbstmord und den Wert des Lebens, aber auch über Manipulation, Fanatismus und Machtmissbrauch. Bedrückend realistisch, anrührend und verstörend. "Vullriede gibt mit "Notizen einer Verlorenen" zahlreiche kritische Denkanstöße und hebt mit ihrer schonungslosen Offenheit das Tabu rund um das Thema Selbstmord und Sterbehilfe auf." - lovelybooks
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Seitenzahl: 294
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zweite überarbeitete Ausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-943408-88-1
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Ihr Unterkörper war unversehrt, bis auf die abgeschürften Füße, doch Kopf und Brustkorb ruhten deformiert über ihrer restlichen zierlichen Gestalt. Erst das Licht einer Petroleumlampe offenbarte ihm den grausamen Fund. Als er sie dort liegen sah, auf dem Boden der verlassenen Scheune, wurde ihm schlecht und er hätte sich fast über ihrem Blut erbrochen, in das er im Dunkeln getreten war. Schon krochen die ersten Fliegen über ihren Leichnam. Wusste der Teufel, woher die Viecher in dieser kalten Jahreszeit kamen!
Hast du das wirklich so gewollt, Sarah? Ist das die Erfüllung, das Lebensende, das du geplant hast?
Glauben konnte er das nicht.
Nur das Summen der Insekten und sein eigener stockender Atem in der fäulnisschwangeren Luft zeugten in der Stille von Leben.
Sie lag unter einer makabren Tötungsmaschine, deren Funktion aus einem Comicheft hätte stammen können. Irgendwo zwischen Zeichentrick und ernst gemeinter Physik fand sich die Kettenreaktion dieser Maschine wieder. Es war nicht ihr Werk, das wusste er, es musste von Alexander stammen. So etwas Monströses hätte sie sich niemals ausgedacht, und ohne Hilfe hätte sie das nicht zustande gebracht. Schon wegen des schweren alten Ofens, der an einem Seil hängend letztendlich ihren Oberkörper zerschmettert hatte. Comics und Graphic Novels … nein das passte nicht zu Sarah.
Sie lag da, als hätte sie sich einfach darunter schlafen gelegt und mitten in dem ganzen Blut und der grauen Masse am Boden lagen ihre braunen gewellten Haare, wie eben noch glatt gestrichen. Mit den Augen folgte er dem Aufbau vor und über ihm. Ein metallenes Blasrohr, in der Länge etwa zwei Meter messend, schien ihm der Auslöser der todbringenden Kettenreaktion. Sie hielt das Metall noch, ganz wie nebenbei, locker in ihrer blassen Hand. Eine zielgerichtete Luftbewegung aus dem Rohr hatte den einfachen, aber einfallsreichen Mechanismus in Gang gesetzt. Ein leichtgängiges Windrad war angetrieben worden, nur eine halbe Umdrehung vielleicht. Ausreichend, um etwas in einen großen Kaffeebecher zu Fall und die darin enthaltene Flüssigkeit zum Überlaufen zu bringen. Ein Kaffeebecher, wie es ihn an jedem Frühstückstisch gab … der Überlauf der Tasse hatte anscheinend für den Fortgang der Kettenreaktion gesorgt. Ein schmales Brett auf einer Wippe war gekippt, ein Zylinder herabgerollt, der eine Kerze verschoben hatte, gar nicht weit. Es reichte ein leichter Ruck von zwei, drei Zentimetern. Jedenfalls stand die Kerze genau unter einem nun abgebrannten Seil, an dessen Ende dieser zentnerschwere Ofen hing, der sie schließlich zermalmt hatte. Das also war Alex' großartiges Kunstwerk.
Er fragte sich, wie sie während so einer Prozedur einfach still hatte daliegen und auf ihren Tod warten können. Entweder, sie war betrunken gewesen oder komplett ihrem Verstand entrückt oder aber, man hatte sie bereits tot hier abgelegt. Wie gebannt umrundete er bereits zum siebten Mal ihren Leib und er vermied es dabei, die Fliegen und vor allem ihren Kopf anzusehen, der unter der Last des Ofens hervorquoll. Bei diesem Rundgang jedoch sah er etwas Rotes unter ihrem Oberschenkel hervorblitzen, kaum erkennbar … ein rotes Stück Pappe vielleicht. Er ging in die Hocke. Mit zwei Fingern zog er an dem roten Karton unter ihrem Körper, bis er schließlich ein Buch in der Hand hielt. Ein Notizbuch, wie es schien, Din A5, etwas beschmiert von Sarahs Blut, aber nur äußerlich. Die Blätter selbst waren unbeschadet. Er ließ die zerknitterten Seiten durch seine Finger gleiten. Das Buch war bis zum vorletzten Blatt in kleiner geschwungener Schrift beschrieben – mit blauem Kugelschreiber. An manchen Stellen allerdings waren die Wörter unleserlich, als hätten herabgetropfte Tränen sie verwischt. Neugierig blätterte er zum Anfang zurück. Ganz oben, in der ersten Zeile, stand: Notizen einer Verlorenen.
Allein diese kleine Überschrift zerrte sofort an der Mauer aus Selbstlügen, die er sich in den letzten Wochen und Monaten zugelegt hatte. Sollte er das wirklich lesen? Unentschlossen ließ er sich auf einen der verrotteten Strohballen an der Seitenwand der Scheune fallen, stellte die alte Lampe neben sich und überflog, halb gebückt darüber kauernd, die ersten Seiten. Er war fast schon gehemmt bei dem Gedanken, auf ein noch grausameres Geheimnis zu stoßen, als das, was ihn bereits jetzt an die Hölle knebelte.
Sarah war tot. Trotzdem fühlte er sich wie ein Voyeur, weil er in diesem Buch herumschnüffelte. Wirklich sicher war er sich nicht, ob sie tatsächlich nichts dagegen hätte, wenn ausgerechnet er es las.
Notizen einer Verlorenen
Ich schreibe dies, weil ich Teil eines Geheimnisses bin. Ein Geheimnis, das mich am lebendigen Leib gnadenlos Zelle für Zelle erdrückt. Ich bin schuldig! Das muss ich jemandem mitteilen, deshalb schreibe ich es auf. Wissend, dass ich damit einen Schwur breche … eine besondere Gemeinschaft verrate … sie der verständnislosen Normalität aussetze und gleichzeitig unbeantwortete Fragen einer ahnungslosen Welt hinterlasse. Wer sollte das alles verstehen? Wer sollte uns verstehen? Alex, mich und die anderen?
Trotzdem will ich niederschreiben, was mich belastet. Dass meine Schuld damit nicht getilgt sein wird, weiß ich. Vielleicht wird das hier niemand lesen. Vielleicht wird man mir nicht glauben. Mag sein, doch es muss raus aus meinem Kopf und raus aus meinem Herzen!
Alles begann am 25. Juni 2011, zehn Tage nach meinem dreißigsten Geburtstag, mit einem verfluchten braunen Briefumschlag, den ich in meinem Briefkasten vorfand.
An Sarah, ohne Absender oder Briefmarke.
Ich war ziemlich gereizt an diesem Tag. Wahrscheinlich lag es an meiner Verabredung mit Jens in der Stadt, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt längst, dass ich meine Zusage bereuen würde. Meine verschwendete Zeit auch. Was er wohl von mir wollte? Sein geheimnisvolles Getue war der einzige Grund, weshalb ich ihm überhaupt zugesagt hatte. Ich bin eben doch neugierig, muss ich zugeben, und Jens hätte sowieso keine Ruhe gegeben. Immerhin wollte er nicht bei mir auftauchen. Ein Treffen in der Essener City – das war mir auf jeden Fall lieber als bei mir Zuhause. Gott, war ich froh, dass er mich seit ein paar Wochen in Ruhe ließ. Endlich gab es wieder eine Aussicht auf meinen stinknormalen einsiedlerischen und stummen Alltag, wenn man von der Zwangsgemeinschaft im Büro absah. Keine nächtlichen Anrufe mehr, kaum noch Gejammer am Telefon über sein schrecklich einsames Leben, als wäre das meine besser gewesen. Keine Vorwürfe, weil ich ihn verlassen hatte. Verlassen? Verlassen klingt viel zu harmlos! Geflüchtet passt wohl eher.
Ich fuhr mit dem SB15 von Burgaltendorf aus zum Essener Hauptbahnhof und wie immer hoppelte der Bus so grauenhaft über die Ruhrallee, dass es mir unmöglich war, irgendetwas auf meinem Smartphone zu lesen. Aber wer, außer Jens oder meinen Eltern, hätte mir auch schon eine Nachricht gesendet? Wichtig war es also nicht.
Leider hatte ich diesen Umschlag zuhause in einer anderen Jacke vergessen. So ist das Leben. Man missachtet die Kleinigkeiten, weil man ihnen zu wenig Bedeutung beimisst. Dabei sind es oft genug die Geringfügigkeiten, die sogar Leben kosten können.
Am vereinbarten Ort in der Stadtmitte, an unserem Lieblingskino Lichtburg, wartete Jens und begrüßte mich, indem er wie immer todernst auf mich herabsah. Mit diesem Blick, der in mir all die unguten Gefühle aufkommen ließ. Erinnerungen an eine furchtbar anstrengende Zeit in meinem Leben. Mir fiel wieder einmal auf, wie groß Jens war. Stand ich vor ihm, ohne den Kopf in den Nacken zu legen, reichte ich ihm gerade mal bis zu den Warzen seiner mageren Brust, über denen an diesem Tag ein schwarzes T-Shirt mit der seltsamen Aufschrift Verloren Knitterfalten bildete. Jens erfasste mich mit anklagend zusammengezogenen Augenbrauen. Nicht die Spur eines Lächelns zur Begrüßung in seinem fahlen Gesicht. Mit einem Auge zwinkerte er nervös.
»Da bist du ja endlich!«, sagte er, als wäre ich zu spät gekommen.
Jens hatte es gleich eilig. Flüchtig drückte er mir einen Kuss auf die Wange, der nichts von den kurzlebigen Gefühlen von damals in mir zurückholte. Ein Kuss, wie der eines Bruders, für den ich mich verantwortlich fühlte.
Von ihm am Arm gepackt, wunderte ich mich über seine heute ungewöhnlich zielstrebige Art. Ich wusste auch nicht, warum er so viel Wert darauf legte, gerade jetzt und ganz pünktlich, von unserem Treffpunkt aus loszulaufen, ohne vorher wenigstens das Kinoprogramm der Lichtburg anzusehen. Morgen: Die Nordsee von oben, mit einem Meet&Greet der Filmemacher vor Ort. Aber Jens wollte nicht. Ich nahm es hin. Wenn man so jemanden kennt, wundert einen irgendwann nichts mehr. Und mich nannten die Leute komisch!
Er schob mich die Fußgängerzone auf der Kettwiger entlang in Richtung Hauptbahnhof, mitten durch das Gewühl der Kaufsüchtigen.
»Aber Jens, von da komme ich gerade. Lass uns doch erst mal durch die Geschäfte hier unten bummeln, ja?«
»Nein.«
»Nein? Warum nicht?«
»Das wirst du noch sehen. Komm mit.«
Seine Bestimmtheit verdutzte mich. Tatsächlich suchte ich nun doch nach einem Grund für sein Verhalten. Vielleicht wollte er mir etwas Besonderes kaufen, aber das wäre wahrhaftig das erste Mal gewesen. Besser, ich spekulierte gar nicht erst. Ich ließ mich stumm weiter ziehen, während Jens scheinbar versuchte, unsere Laufgeschwindigkeit zeitlich abzustimmen. Manchmal schlenderte er mit mir fast in aller Ruhe an einigen Schaufenstern entlang, dann wieder drängte er mich nach einem Blick auf die Armbanduhr zur Eile. Während wir gingen, sah ich auf seine langen Beine, in enge Jeans gepackt, die unablässig und mit viel größeren Schritten als meine vorwärts staksten. Ich musste stets zwei Schritte laufen, um einen von seinen aufzuholen. Auf den Oberschenkeln seiner ehemals blauen Hose fand ich eine feine, aber deutliche Schicht schmierigen Drecks. Typisch Jens – keine Zeit für das wahre Leben.
Unvermittelt blieb er stehen und packte mich bei den Schultern. Seine Finger kniffen schmerzhaft in meine Haut. Wollte er mir einen Antrag machen? Außer meinem Hirn lehnte sich sofort auch mein Magen auf. Eine derartige Verbindung mit Jens wollte ich mir keinesfalls mehr vorstellen … nicht noch einmal das Leben mit einem so schwierigen Menschen teilen. Jens sollte nur ein Freund bleiben. Von mir aus, ein guter Freund, aber mehr nicht. Wie aber sollte ich das diesem hochsensiblen und ständig suizidgefährdeten jungen Mann jetzt beibringen?
»Das hatten wir doch schon mal, Jens … bitte …«
Aber von einem Antrag schien nicht die Rede zu sein.
»Was?«, fragte er. Jens sah so verständnislos aus, dass ich mich fast für meine Verdächtigung schämte. Er eröffnete mir, dass ich Post von ihm erhalten würde.
»Diese Post …« Seine Stimme klang feierlich zitternd. »… diese Post darfst du erst heute Abend öffnen!«
»Warum das denn?«
»Mach' es so, wie ich es dir sage … bitte!«
»Was hast du vor?«
»Frag nicht! Es muss alles genau so ablaufen. Wirklich alles! Machst du es so, wie ich es dir sage, ja?«
»Also gut, heute Abend. Aber dann hast du mir alles zu erklären, okay?«
Jens sah zu Boden. »Ja, ja.«
Ich wusste ja nicht, was er vorhatte. Man könnte es mir zum Vorwurf machen. Doch seltsame Andeutungen und geheimnisvolle Untertöne von ihm ließen mich schon lange nicht mehr aufhorchen.
Wieder sah er auf die Uhr. »Komm, wir müssen los!«
Ohne sonstige Kommentare zog er mich mehr, als dass ich selbst lief. Und so eilten wir im strammen Gang durch den Hauptbahnhof. Ich immer hinter ihm her. Hinter seinen langen dürren Beinen in der schmutzigen Hose. Kaum noch vorstellbar, dass ich diese Beine zwischen meinen eigenen Beinen geduldet hatte. Dafür verachtete ich mich inzwischen … und ja – dafür hasste ich Jens! Dafür, und weil er mich nicht in Ruhe ließ, wo ich doch kaum mit mir selbst klarkam, und er mir jetzt auch noch die Schuld an seinem weiteren Unglück aufbürdete!
Wir eilten bis zum Ausgang Freiheit und von dort auf diesen neu gestalteten Platz hinter dem Bahnhof, der die A40 überbrückte. Hier blieb er mit mir stehen und von hier aus blickten wir nach unten auf den fließenden Verkehr.
Jens beugte sich über das Geländer und fixierte die in unsere Richtung kommenden Fahrzeuge, als wartete er auf ein bestimmtes.
»Es steht eine Adresse darin«, sagte er, ohne mich anzusehen.
»In deiner Post?«
»Ja.«
»Aber warum gibst du sie mir nicht einfach jetzt?«
»Das ist eine ganz besondere Geschichte, weißt du. Schwierig, zu erklären.«
Er verlor während der ganzen Zeit nicht einmal die mit mäßiger Geschwindigkeit anfahrenden Autos aus den Augen. Nur ab und zu schwenkte sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Uhr. Warum konnte er nicht einfach nur einen unkomplizierten Bummel durch die Stadt mit mir machen? Was hatte ich nur erwartet? Nun stand ich mit ihm auf dieser Brücke, wusste – wie so oft – nicht, was er eigentlich wollte und sehnte mich nach bescheidener Normalität.
Auf einmal richtete sich Jens auf und riss hektisch seinen Kopf zu mir herum.
»Jetzt … jetzt …«, rief er und seine Stimme kippte in einen aufgeregten Tonfall, wie ich es noch nie bei ihm gehört hatte.
Mit einem Satz sprang er auf das Geländer der Brücke. Er wäre fast sofort vornüber gekippt, bevor er einen Stand fand, die Schuhe teils frei schwebend, nur in der Mitte der Sohle von dem schmalen Stahl getragen. Unsicher ruderte er noch mit den Armen, um die Balance zu halten. Bedenklich schwankend drehte er sich auf seinem begrenzten Halt in meine Richtung. Doch bald beruhigte sich sein Körper.
»Jens! Was machst du?!«
Ich schrie ihn an! Die Brücke führte mehr als haushoch über die Straßen hinweg. Mir selbst blieb die Luft zum Atmen weg vor Angst, doch in seinen Augen sah ich keine Furcht, eher so etwas, wie – ja, Tatendrang. Es klingt unwirklich, aber genauso kam es mir vor. Erwartungsvoll begeistert und doch aufgeregt ängstlich blickte er mich an, als wollte er sich gleich in nichts weiter als in eine irre Achterbahnfahrt stürzen.
Im nächsten Moment aber biss er sich auf die Unterlippe, sog sie ein, während er mich noch immer ansah. Dabei verlor sich seine Begeisterung in einem Ausdruck, der direkt in mein Herz griff. Ich spüre es jetzt noch. Sein Gesicht vor mir – in jedem Detail seiner Hautfältchen, seiner Lippen und seiner Augen, lagen die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, seine verlorenen Träume und alle Anklagen gegen mich. Ein Gesicht, das ich nie mehr vergessen werde.
Jens schwankte nicht mehr auf dem Geländer. Er stand still, bewegungslos im vollen Gleichgewicht. Nun sah ich nur noch seine Augen. Traurige Augen.
»Geh hin! Du bist es mir schuldig«, sagte er ruhig und leise.
Er wendete sich schwankend um und blickte noch einmal auf die Autobahn unter ihm, vielleicht drei Sekunden lang, während ich tatenlos hinter ihm stand.
Dann sprang er.
Einfach so.
Ohne etwas zu erklären. Ohne sich zu verabschieden. Er sprang einfach so aus unserem Leben.
Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, als ich ihn dort unten liegen sah, mitten auf der A40, zwischen den Autos, die ineinander gefahren waren. Ob ich ihm bestürzt und wie gelähmt hinterherblickte, oder vielleicht sogar froh darüber war, dass er mich endgültig verlassen hatte – dass sein Sturz mich davor bewahrte, ihn eines Tages eigenhändig hinunterzustoßen – ich weiß es wirklich nicht. Ein Fahrzeug hatte nicht mehr bremsen können und ihn nach seinem Aufschlag auch noch überfahren. Sein Körper zuckte und krümmte sich unter dem Wagen. Ich sah es von der Brücke aus und konnte nichts dagegen unternehmen. Es war unbeschreiblich. Einige Leute sahen zu mir nach oben und starrten mich an. Dieses Angaffen – als wüssten sie von den heimlichen Mordgedanken in meinem Inneren, die mir selbst nicht bewusst gewesen waren. Sofort erzeugten meine Finger diesen Schweiß, der vergeblich versuchte, sich wie eine Schutzglasur gegen die Ächtung menschlicher Blicke über meine Haut zu legen.
Der Krankenwagen kam fast gleichzeitig mit der Polizei. Sie nahmen Jens auf einer Trage mit.
Unten im Menschengewirr sah ich die Silhouette eines Mannes, der mir bekannt vorkam. Er blickte zu mir hoch und ich hätte schwören können, dass es Marc gewesen war. Ich war mir nicht ganz sicher. Es wäre ein unglaublicher Zufall gewesen. Doch dieses Gesicht in der Ferne, sein langer Blick zu mir nach oben, schien mir, als erkannte die Person da unten auch mich.
Die Polizisten fragten nicht, warum ich nicht nach unten gelaufen war. Sie nahmen meine Aussage verständnisvoll entgegen. Anscheinend fanden sie es auch nicht verwunderlich, dass ich zitterte und mich immer wieder verhaspelte, während ich redete. Ich denke nicht, dass sie mir misstrauten.
Ich hatte ihn nicht gestoßen, nicht einmal mit dem Finger berührt!
Als ich später wieder im Hausflur stand, dort wo mein Ausflug begonnen hatte, dachte ich, wie sinnvoll es doch ist, die Ereignisse des kommenden Tages nicht vorhersehen zu können. Am Morgen fingert man ohne jede Ahnung unbekümmert im Briefkasten herum, beginnt unschuldig und naiv seinen Weg in den Tag und ein paar Stunden später schon fühlt man sich schuldig und schlecht. Wehe dem, der wüsste, welche Unglücke ihn erwarten. Er würde sich weigern, morgens aufzustehen, und sein Leben hassen.
Ich warf mich auf mein Bett. Jens war noch nicht tot, aber doch so gut wie. So etwas konnte er nicht überleben. Niemand überlebt so etwas! Wollte ich, dass er zurückkommt?
Wie oft hatten Jens und ich darüber gesponnen, es gemeinsam zu tun. Einfach springen und diese verlogene, uns quälende Welt loslassen. Gemeinsam in der Badewanne unsere Arterien aufschneiden, unser pulsierendes Blut der Leichtigkeit des warmen Wassers übergeben, und dann in unserem erträumten Paradies aufwachen. Ein Paradies, in dem alles Vergangene vergessen sein würde, in dem wir beide geliebte Menschen waren. Doch jedes Mal hatte einer von uns gekniffen – meistens ich. Du lässt mich im Stich – noch heute höre ich sein Heulen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er es gerade heute wahr machen würde.
Ich wollte schlafen, mitten am Tag, wenigstens für ein paar Stunden vergessen, doch schon bald erwachte ich wieder. Es ging mir schlecht. Mein Kopf schmerzte, wie eine kurz vor dem Platzen gärende Melone. Dazu war mir übel, als müsste ich das ganze Elend dieses Tages auskotzen. Ich wollte eine von diesen starken Tabletten gegen Migräne nehmen – Sumatriptan – und kramte in der Medikamenten-Schublade, wühlte erst schwitzend dann fröstelnd in sämtlichen Futteralen meiner Handtaschen, aber ich fand nicht einmal die Notreserve. Verzweifelt schluckte ich ein gewöhnliches Schmerzmittel und verzehrte mich noch Stunden hinter zugezogenen Vorhängen nach Besserung.
Dieser Tag übertraf alles, was ich mit Jens je durchmachen musste. Jens hatte keine engeren Verwandten mehr. Somit war ausgerechnet ich die Einzige, die sich um ihn kümmern konnte. Ich rief im Krankenhaus an, es machte aber keinen Sinn, ihn zu besuchen, denn er war ohne Bewusstsein und lag auf der Intensivstation. Das Letzte, was die da brauchten, war eine leidende Besucherin, die jeden Moment umkippen konnte – ganz sicher. Für alle Fälle hinterließ ich jedoch meine Telefonnummer. Dann saß ich in meinem Bett, so steil wie möglich, damit das Blut aus meinem Kopf nach unten sackte, und starrte im Dämmerlicht den Buddha auf dem Bild vor mir an der Wand an. Der schloss wie immer die Augen vor dem Leid.
Ich unterrichtete niemanden von Jens' Unglück … oder wie man es nennen mochte. Wen auch? Höchstens Marc, den ich ja anscheinend unten am Unfallort gesehen hatte. Hatte Jens vor seinem Sprung auf Marcs Auto gewartet? Aber warum?
Für wenige Stunden nickte ich ein, doch dann riss mich das Telefon aus dem Schlaf. Wahrscheinlich war es schon länger aktiv, denn der Anrufer verlor die Geduld und legte auf. Mit heraushängendem Oberkörper angelte ich den Wecker unter dem Bett hervor. Da war es wieder, das Drücken in meinem Hirn. Bloß nicht nach unten beugen!
Samstag, 7.06 Uhr! Mein Blick hinter die Vorhänge ließ eine viel zu helle Morgensonne in meine Augen.
Leider erinnerte ich mich nach wie vor an gestern. Jeden anderen Mist vergisst man.
Wieder läutete das Telefon. Ich nahm ab.
Jens war tot! Genau um 5.28 Uhr war sein Hirntod festgestellt worden.
Nach dem ersten Schock machte ich mich fertig, um ins Krankenhaus zu fahren. Vorher rief ich in der Firma an und nahm mir für die nächsten Tage Urlaub. Meine Chefin schien nicht gerade glücklich über meinen Anruf zu sein.
Es ist ein seltsames Gefühl, zu jemandem ins Krankenhaus zu fahren, von dem man weiß, dass er bereits tot ist. Was sollte ich anziehen? Schwarz? Ich wusste es nicht.
Vom Auto aus blickte ich noch lange auf den Krankenhauseingang und wäre am liebsten den ganzen verdammten Tag dort sitzen geblieben. Ich wollte da nicht rein. Was würde mich erwarten? Wie würde Jens aussehen? Abermals hasste ich mein Leben!
Außer den Ärzten und Jens' Körper warteten im Krankenhaus noch zwei unbekannte Männer auf mich. Die Kripo! Ich fand es erschreckend, dass man mich verhörte. Man fühlt sich sofort schuldig, obgleich man genau weiß, dass man nichts verbrochen hat. Allein die Frage danach, ob ich etwas geahnt hatte! Was hätte ich denn gegen seine so oft geäußerten Selbstmordabsichten unternehmen können?! Nein, er hatte nichts hinterlassen, keinen Abschiedsbrief oder Ähnliches. Die beiden Männer nahmen meine Personalien auf, obschon das alles ihren Kollegen bereits vorlag. Sie kündigten mir einen Brief an.
In dem Moment, als die Beamten mir den Rücken zukehrten, fiel mir Jens' seltsamer Hinweis auf Post für mich ein.
Geh hin!, flüsterte es in meinem Kopf. Warum ich den Polizisten nicht davon erzählte, weiß ich nicht. Selbstschutz vielleicht, wahrscheinlich wollte ich einfach nur meine Ruhe haben.
Jens' Körper war mit einem Tuch bedeckt, aber nicht sein Kopf. Als ich vor diesem Bett im Keller des Krankenhauses stand, war ich nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Warum bringen sie die Toten in den Keller? Hinter mir standen ein Arzt und eine Krankenschwester und ich wusste nicht, was sie von mir erwarteten. Die dünne weiße Decke reichte Jens bis zum Hals. Darüber ruhte sein Kopf und sein Gesicht war … schief! Es war verformt, so als hätte man ihn zertreten. Seine rechte Kieferseite war derartig geschwollen, dass das, was man als die Wange bezeichnet und das nun nicht im Mindesten danach aussah, blau und schwarz bis über das rechte Auge reichte. Sein unnatürlich zur Seite verschobenes Kinn machte aus seinem Mund eine Grimasse. Eine offene Wunde konnte ich nicht erkennen. Vielleicht hinten am Kopf? Oder bluten Tote nicht mehr? Hätte Jens gedacht, dass sein Gesicht so entstellt sein würde nach seinem Sprung?
Ich hätte ihn umarmen sollen, ungeachtet seines schockierenden Aussehens, ihn drücken, wenigstens streicheln, ein letztes Mal. Stattdessen zog ich meine eben noch ausgestreckte Hand zurück und ließ ihn kalt liegen. So schnell ging es also, dass aus Jens ein Toter für mich wurde, den anzufassen ich zögerte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, schäme ich mich dafür.
Der Arzt sprach mich an. Jemand sollte Jens' Angehörige informieren.
»Sicher«, sagte ich nur.
Danach ging ich mindestens drei Stunden spazieren, zu Fuß bis in den Stadtgarten. Hier lief ich eine flache, breitstufige Treppe hinab. Eine von denen, die zwei oder drei Schritte pro Stufe verlangen, bevor man die nächste erreicht. Die Treppe führte tief in den Park hinein. Lichtspiele auf einer alten Mauer blendeten mich, bevor ich ganz in den Schatten eintrat. Ein Wegstück weiter setzte ich mich auf diese graue kalte Bank, die vor drei Jahren mein Schicksal besiegelt hatte. Ab und zu schloss ich die Augen und lauschte der Umwelt. Man konnte Vögel hören und von Weitem die Fahrgeräusche der Autos. Rollläden wurden hochgezogen. In einem nahe liegenden Haus öffnete jemand ein Fenster. Geschirr klimperte und Kinderstimmen wehten herüber.
Überall war dieses zufriedene Leben der anderen, das unerschüttert weiterging.
In meine Nase stieg der Geruch sich aufwärmenden, feuchten Rindenmulchs, leicht süßlich und leicht säuerlich-modrig. Für mich roch es nach Tod.
Hier hatte ich mit Jens gesessen, damals, vor drei Jahren. Ich erinnerte mich an seinen Redeschwall über seine katastrophale Kindheit und all die völlig übertriebenen Ängste. Ich hatte ihn nicht wirklich verstanden an jenem Tag, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Aber seine Einsamkeit, die meiner eigenen glich, die hatte ich begriffen. Wir hatten fast schon zu viel gemeinsam. Ich glaube, genau deswegen konnte das mit uns nicht gut gehen. Das war der Tag, an dem ich eine Beziehung zu ihm eingegangen war und ich weiß heute, ein guter Funken Mitleid und ein ebenso dicker Funken Selbstmitleid hatten ihren Teil dazu beigetragen.
Meine Finger erwischten beim Graben in den Jackentaschen den noch immer ungelesenen Brief von gestern. Der Umschlag war längst zerknittert und ich wunderte mich erneut über die einfache Anschrift An Sarah in Druckbuchstaben und den fehlenden Absender. Wie viel Trägheit meinen Körper beherrschte, zeigte sich in meinem Bemühen, den Absender und den Inhalt des Briefes zu erraten, bevor ich ihn öffnete.
In dem Briefkuvert steckten ein weiterer verschlossener Umschlag und ein beschriebenes Blatt aus Rechenpapier. Gleich beim Auseinanderfalten erkannte ich die spitze und ständig unterbrochene Handschrift von Jens. Und dieser Brief schmachtete seit fast zwei Tagen bei mir Zuhause in der Jackentasche! Sogar schon vor unserem Treffen in der Stadt.
Bedenkt man, welche Schritte Jens ankündigte, lasen sich seine Worte fast sachlich. Genau genommen war es auch keine Ankündigung, sondern vielmehr eine Verabschiedung.
Liebe Sarah,
ich weiß nicht, ob du mir überhaupt nachtrauerst. Ich glaube, eher nicht. Aber das ist jetzt egal.
Auch wenn wir häufig Probleme miteinander hatten, unsere Beziehung leider nicht von Dauer so eng sein konnte, wie ich es mir gewünscht hätte (du meinst ja, es lag an mir): Du warst die einzige Frau, die ich je liebte. Ich habe inzwischen verstanden, dass du mich nicht mehr brauchst, und das ist auch gut so. Ab heute halte ich dich nicht mehr fest. Du bist frei. Denn heute bin ich tot. Aus und vorbei! Trotzdem wollte ich, dass du mich nicht vergisst und ich wählte einen Tod, an dem du teilhaben solltest. Bitte verzeih mir dafür. Für mich war das wichtig.
Hoffend, dass alles wie geplant geklappt hat, bitte ich dich um einen letzten Gefallen. Es ist ausgesprochen wichtig für mich:
Überbringe den inliegenden Umschlag bitte persönlich an folgende Adresse in der Stadt:
Haus der Verlorenen Weberstraße 9c
Um alles weitere – Beerdigung, Kosten und so Ähnliches, wird man sich dort kümmern. Es sind gute Freunde von mir, die mir sehr geholfen haben. Wenn mein Tod einen Sinn haben soll, ist es unbedingt nötig, dass dieser Umschlag seine Empfänger erreicht.
Du darfst mich nicht vergessen – niemals. Ich werde irgendwo auf dich warten.
Dein Jens
Mir wurde klar, dass ich seinen Tod vielleicht hätte verhindern können, hätte ich diesen Brief nur eher gelesen. Aber andererseits wer wusste das schon, vielleicht hätte ich trotzdem nichts tun können. Wahrscheinlich war alles nur eine Frage der Zeit gewesen. Was mich ebenso erschaudern ließ, war der Gedanke, dass Jens nach meinem eigenen Tod irgendwo im Jenseits auf mich warten könnte. Und das dann für alle Ewigkeit! Was, wenn er alle Geister da oben oder da unten davon überzeugte, wie sehr wir seiner Meinung nach zusammengehörten? Egal wo, selbst der Himmel würde mir zur Hölle werden, wenn ich Jens in der Endlosigkeit begleiten müsste; mein Geist gefesselt an seinen Geist.
Ich versuchte solche Gedanken zu verdrängen und sachlich zu bleiben.
Jens' Vorbereitungen zu seinem Selbstmord stellten sich wie ein regelrechter Plan dar. Das muss man erst einmal nachvollziehen! Jens verabredete sich mit mir, stimmte unseren Weg durch die Stadt zeitlich ab und sprang, minutiös geplant, von der Brücke – nicht, ohne mir vorher eine Botschaft zu übermitteln. Er sprang vor ein Auto in den Tod. Vor Marcs Auto. Marc – unser gemeinsamer Schulfreund – auch er spielte eine Rolle in Jens' Plan. Warum? Ich musste unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen. Noch heute wollte ich ihn anrufen und Licht in den dunklen gestrigen Tag bringen. Marcs Nummer musste ich noch irgendwo haben, obwohl wir uns seit mindestens zwei Jahren nicht mehr getroffen hatten. Nicht allein deshalb, weil ich seit geraumer Zeit kaum noch jemanden in meine Wohnung ließ.
Es kostete mich einige Überwindung, Jens' verschlossenen Umschlag, der seinem Abschiedsbrief beigefügt lag, nicht einfach zu öffnen. Haus der Verlorenen – das klang wie ein Heim für Obdachlose oder verlorene Seelen. Ich versuchte durch den Umschlag hindurchsehen, indem ich ihn gegen das Licht hielt. Zwecklos! Was tat ich hier eigentlich? Ich war im Begriff, den Wunsch eines verstorbenen Freundes respektlos zu übergehen. Ich hatte das Gefühl, Jens seinen letzten Wunsch erfüllen zu müssen und den Umschlag an den genannten Ort zu bringen. Und ich war neugierig. Wer verbarg sich hinter dieser seltsamen Einrichtung, von der ich noch nie etwas gehört hatte?
Weberstraße – das lag irgendwo in diesen uralten Häuserblöcken der Stadtmitte, die ich sonst eher mied. Vom Stadtpark aus war es ein ganzes Stück bis zur City, aber ich brauchte sowieso frische Luft. Also stopfte ich den Brief in die Tasche zurück und ging los, überzeugt, das Richtige zu tun. Abseits des wilden Einkaufsrummels der Fußgängerzone und vorbei an den Junkies am Kopstadtplatz bog ich in die Weberstraße ein. Schon deshalb, weil dort keines der größeren Geschäfte seinen Sitz hat, erinnerten mich diese Straßen hier auch an diesem Tag an eine dunkle, verruchte Gegend. Ich rechnete mit den finstersten Gestalten und verdächtigte innerlich jeden, der mir begegnete, eines Verbrechens. Die Häuser waren alt, hoch, grau und teilweise mit Graffiti beschmiert. Was hatte Jens überhaupt in diese Gegend getrieben? Und was hatte er hier getrieben?
Eher zufällig entdeckte ich von Weitem die Aufschrift hinter einem verdreckten Fenster: Treffpunkt Weberstraße 9c. Doch dieses Fenster gehörte zu einem leer stehenden Ladenlokal im Erdgeschoss. Nur zögerlich wagte ich mich an das alte Gebäude heran, mit dem Gefühl, dass sich diese Schritte auf mein weiteres Leben auswirken könnten und ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte.
Ein paar über Jahrzehnte hinweg ausgetretene Steinstufen führten mich zu einer massiven Haustür mit einem kleinen Vordach und einem gusseisernen Gitter vor einer längst erblindeten Glasscheibe. Ich drückte auf den verrosteten Klingelknopf für die erste Etage und wischte meinen Finger gleich danach an meiner Hose sauber. Weder ein Türschild noch eine sonstige Beschriftung deutete darauf hin, wer hier wohnte. Es dauerte lange, bis der Summer ging und ich sah mich mehrfach um, weil ich jemanden hinter mir auf dem Gehweg vermutete. Mit ganzem Körpereinsatz stemmte ich die schwere Tür auf und betrat ein unbeleuchtetes Treppenhaus. Muffiger Geruch empfing mich und auf den Wänden prangte in der Düsternis eine gelbliche Tapete mit braunen Ornamenten. Ein deutscher Altbau-Hausflur, wie es sie in Essen noch zu Hunderten gibt, irgendwann in den Siebzigern renoviert, mit einer steilen blutbraun lackierten Holztreppe, die nach oben führte. Alles war still in dem Haus. Ich blieb unten stehen und hoffte, dass mir jemand entgegenkommen würde, um mich zu empfangen.
Dann jedoch hörte ich doch etwas im Dunkeln. Allerdings keine Menschenschritte, sondern viele Beine und Pfoten trabten von oben über die Treppenstufen auf mich zu. Ein tiefes Grummeln und ein Hecheln begleiteten jeden der schnellen Schritte und mir wurde mehr als unwohl. Aus der Dunkelheit tauchten zu meinem Schreck zwei Rottweiler auf. Groß und schwer verstellten sie mir mit ihren breiten Köpfen den Weg nach vorne. Hunde! Ausgerechnet! Auf bedrohliche Gesten von Menschen wusste ich vielleicht noch zu reagieren – aber Hunde? Hektisch riss ich mich herum und drehte an dem Knauf der zugefallenen Tür. Doch er rührte sich nicht. Ich rüttelte wie wild! Die Tür blieb zu. Hinter mir schwoll das Grummeln der Tiere immer mehr zu einem gefährlichen Gemisch aus Knurren und Bellen an, aber ich blieb hoffnungslos gefangen zwischen ihnen und dieser elenden Tür. Ruhig bleiben, ermahnte ich mich, nachdenken und bloß nicht in die Augen sehen! Langsam, ganz langsam, um sie nicht noch mehr zu provozieren, wandte ich mich ihnen zu, kaum gewillt, die Augen auf sie zu richten. Nur wenige Zentimeter von meinem Leib entfernt fletschten sie ihre spitzen Zähne, knurrten und sabberten bis in die äußersten Falten ihrer fleischigen Mäuler. Mir brach der Schweiß aus! Wer wusste, wie lange sie sich noch beherrschen konnten?
»Zeus! Odin!«
Eine laute Stimme lenkte die Tiere ab. Gleichzeitig ging das Licht im Hausflur an. Sie verstummten und wendeten ihre monströsen Köpfe zur Treppe hinauf, wo ich zu meiner Erleichterung einen Mann stehen sah. In diesem Moment war mir völlig egal, wer er war, Hauptsache er schaffte mir die Viecher vom Leib. Als er sie erneut zurückrief, ließen sie endlich von mir ab und stürmten nach oben.
»Ihre Tür klemmt«, rief ich zitternd hoch.
Der Mann antwortete nicht.
Ich versuchte noch einmal vergeblich die Tür hinter mir zu öffnen. Es war zwecklos.
»Ich wollte hier nur etwas abgeben«, ergänzte ich mit brüchiger Stimme und gab meinen Fluchtversuch auf.
»So? Dann kommen Sie hoch!«
Mein Blick fiel von unten nach oben auf einen der Hunde, der neben ihm am Geländer der Treppe stand und mich erbost fixierte.
»Was ist mit den Hunden?«
»Odin! Zurück! Los, ab mit dir!«
Augenblicklich zog sich das Tier hinter dem Mann in die Räume zurück.
»Kommen Sie hoch!«
Er verschwand hinter seinem Hund.
Dass ich tatsächlich nach oben ging, obwohl ich dort nichts Angenehmes vermutete, lag allein an der verschlossenen Haustür. Was sollte ich sonst tun?
Schritt für Schritt nahm ich die etwas zu hohen Stufen bis zur ersten Etage. Unter mir knackten uralte Holzdielen. Vor der Tür wagte ich nicht einzutreten, sondern klopfte nur kurz an den Rahmen.
Daraufhin tauchte der Mann wieder auf. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er trug einen dunklen Anzug mit schwarzem Hemd darunter. Die altmodischen Bundfalten seiner Hose stießen auf seine Schuhe, die wiederum glänzten, wie täglich poliert. Auf die Schnelle fand ich nichts Ungewöhnliches an ihm, außer, dass seine Brille an einer goldenen Kette vor seiner Brust baumelte. Eine Art Brillen zu tragen, die ich nicht mag.
Mich überfiel gleich das Gefühl, dass ich besser nie hier aufgetaucht wäre. Nicht nur wegen der Hunde. Sein Blick schien mir ungehalten – nein – ärgerlich! Als hätte ich ihn aus einem wichtigen Gespräch gerissen oder aus einem Nickerchen. Am liebsten wäre ich direkt umgekehrt.
»Ja, bitte?!«