DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Heike Vullriede - E-Book + Hörbuch

DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN E-Book und Hörbuch

Heike Vullriede

4,5

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Marvin liegt in sündhaft heißem Badewasser und übt das Sterben, indem er einfach den Atem anhält. Doch während er längst wie ein bleiches Sirenenopfer dahintreiben könnte, rekeln sich Frau und Tochter im Wohnzimmer auf dem Sofa. Gestorben wird wohl allein. Eine schlechte Diagnose hat Marvin Abel aus seinem erfolgreichen Leben gerissen. Nun lässt er ihn nicht mehr los, der Gedanke an den Tod, den er bisher so erfolgreich verdrängte. Wäre er doch niemals wegen dieser Kopfschmerzen zum Arzt gegangen, dann hätte sein Leben so rosarot weitergehen können. Oder? Bepackt mit neuer Unterwäsche und einer viel zu prall gefüllten Reisetasche, begibt er sich ins Krankenhaus, um sein Leben zu retten. Auf seinem Zimmer knipst er als Erstes ein Handyfoto von dem Schnarchsack im Nebenbett - und eins von sich selbst, zur Erinnerung an seine noch immer dichte Haarpracht vor der Chemotherapie. Marvin will kämpfen. Schließlich hat er das Leben fest im Griff und bisher noch keinen Kampf verloren. Bald steht der erste Besucher vor Marvins Bett: Basti, sein kleiner Bruder. Der bringt nicht nur einen Supermarkt-Blumenstrauß mit, sondern auch eine schockierende Bitte. Und er bleibt nicht der Einzige, der Marvin haarsträubende Überraschungen bereitet. Marvin traut seinem eigenen Leben nicht mehr - und möglicherweise ist er auch neidisch auf die Enten im Park. Wo ist seine heile Welt geblieben? War es am Ende nichts weiter als ein Traum von Gestern und Morgen? Und wie, verdammt noch mal, lässt man das los? "Ich habe noch kein Buch zum Thema ›sterben‹ gelesen, welches derart … wertfrei geschrieben wurde, ohne dabei peinlich oder respektlos zu sein." [Buchimpressionen]

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Seitenzahl: 275

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Zeit:7 Std. 12 min

Sprecher:Matthias Lühn
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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Für Thomas.

Impressum

Überarbeitete Ausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2018 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2018) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-355-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Impressum
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Über die Autorin

– 1 –

Das Badewasser ruhte, seit er die Luft anhielt – das war alles. Nichts weiter!

Er fühlte keinen Schmerz und auch keine Erstickungsqual; lediglich der Schaum auf dem Wasser schaukelte nicht mehr über seinem Bauch hin und her.

In der Hitze des Bades spürte er, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie vereinigten sich zu dünnen Rinnsalen und rannen ihm die Schläfen entlang. Das beruhigte ihn. Es machte ihn angenehm matt und gedankenarm. Reglos schwamm sein Körper, vom Wasser sanft getragen, während die Augen und Ohren das trübe Bewusstsein fütterten. So könnte er es sich wünschen – sein Ende. Es schien ganz einfach, so unbeschwerlich, bloß hinwegzudämmern.

Ungewollt setzte seine Atmung wieder ein. Er ließ es geschehen. Das Leben tut ja, was es will. Es geht auch einfach so weiter – ohne ihn. Sein gedachter letzter Atemzug blieb wieder einmal unbemerkt. Wann sie ihn wohl gefunden hätten? In zwanzig Minuten … in dreißig? Spätestens in einer Stunde, so mutmaßte er, hätten sie ihn entdecken müssen – in der Wanne liegend, untergetaucht, mit abstehenden, um den Kopf herumschwimmenden Haaren – das Gesicht weiß, die Augen starr, den Mund geöffnet unter Wasser, wie ein dahintreibendes Sirenenopfer. Oh … das Geschrei wollte er gern hören!

Aber erst einmal hätten sie es nicht bemerkt, die beiden da unten im Wohnzimmer. Während er gestorben wäre, hätten sich Frau und Tochter über Fernsehfilme oder irgendetwas anderes Banales ausgetauscht, sich unbeschwert auf dem Sofa gerekelt, über dies und das gekichert.

Gestorben wäre er ganz allein.

Nicht zum ersten Mal probte er das Sterben, indem er einfach den Atem anhielt. Er wollte wissen, wie sich das anfühlt, wenn alle anderen weiteratmen; wissen, wie es weitergeht, nach dem Entweichen des letzten Sauerstoffes aus seinen Lungenflügeln. Es war jedes Mal mehr Luft gewesen, als erwartet. Einsam fühlte sich das an.

Er lag also in der Badewanne, und das allabendlich, wie ein Mädchen. Er, Marvin Abel, ein Mann im besten Alter, in heißem, sündhaft aufgeschäumtem Wasser – heute ein Rosenblütenbad. Aber nur hier konnte er sein Gedankensamsara noch so gelassen ertragen. Langsam rutschte er etwas tiefer. Die Beine ein wenig anzuziehen, das reichte schon, um seine schmalen Schultern im Wasser verschwinden zu lassen. Ja, etwas Krafttraining hätte da vielleicht helfen können. Aber wozu jetzt darüber nachdenken? Es spielte keine Rolle mehr. Oder doch?

Von unten drangen Lisas und Julias Stimmen durch die geschlossene Badezimmertür. Ihre Stimmen verwischten zu einem monotonen Brei, unterbrochen von einigen Höhen, in denen sie kicherten. Beneidenswert, diese Lebensleichtigkeit der beiden. Fast schon unverschämt! Niemals mehr würde er das mit ihnen teilen können. Nie mehr entspannt vor dem Fernseher sitzen oder sich unbeschwert auf dem Sofa ausstrecken. Selbst, wenn es vorerst gut ausgehen würde. Vorerst!

Eineinhalb Meter über ihm brummte die Leuchtstoffröhre, die er so eigenhändig wie umständlich hinter einer Wand von dunkelblauen Fliesen angebracht hatte, um die Badewanne indirekt zu beleuchten. Romantisch hatte es werden sollen. Der raffinierte Versuch von Verführung an einem sinnlichen Ort. Doch dazu war es nie gekommen. Leider! Vielmehr weit weggerückt, angesichts der brutalen Wirklichkeit der letzten Wochen.

Was hatte sein Arzt noch zu ihm gesagt?

Ihr Blutdruck gefällt mir nicht!

Hoher Blutdruck? Wäre das alles gewesen, hätte er in diesen Tagen vermutlich ständig an seine Blutdrucktabletten gedacht; immer besorgt, ob sie auch helfen. Nach der Kniearthrose das nächste ernst zu nehmende Zeichen seiner Vergänglichkeit. Wie lächerlich!

Was war schon ein hoher Blutdruck gegen das, was danach entdeckt wurde! Eine kurze Untersuchung im Krankenhaus – eigentlich nur erfolgt, um eine ernsthafte Erkrankung hinter seinen Beschwerden auszuschließen – stellte sein Leben auf den Kopf.

Wäre er doch niemals wegen dieser Kopfschmerzen zum Arzt gegangen! Er wüsste es bis heute nicht. Nichts in seinem Leben hätte sich bis jetzt verändert, besonders das Zukunftspläneschmieden nicht. Er wollte sich doch um diese Stelle als Geschäftsführer in der neuen Tochtergesellschaft der Firma bewerben, und er hätte sie bekommen. Er – und nicht dieser arrogante Jungakademiker aus der anderen Abteilung, der ihm seit zwei Jahren schon im Nacken saß. Lisa wollte er zum vierzigsten Geburtstag im übernächsten Monat mit zwei Wochenend-Tickets nach Stockholm überraschen. Und auf diesem Drei-Tagestrip hätte er, wie in jedem Urlaub, entspannten Sex mit ihr gehabt. Mit der Auszahlung der Tantiemen wollte er sich am Jahresende endlich diesen sündigen Zweisitzer gönnen, von dem er bereits vier verschiedene Prospekte besaß. Eine solche Liste konnte er beliebig fortsetzen. Alles das hatte er geplant, ungeachtet der Möglichkeit, jemals ernsthaft zu erkranken. Gut, eine Krankheit im Alter – das konnte man sich ja vorstellen – wann auch immer alt beginnen mochte. Aber nicht jetzt schon. Nicht mit fünfundvierzig – das fand er nicht alt. Als junger Mann von zwanzig Jahren danach befragt, hätte er fünfundvierzig wahrscheinlich als greisenhaft empfunden, aber nicht heute. Alt wird man immer erst später. Und auch sterben wird man immer erst später.

Er stieg aus der Badewanne. Schrumpelig. Noch immer aufgeheizt genug, um in der Nacktheit nicht zu frieren, bewegte er sich in Richtung Waschbecken, ohne sich abzutrocknen. Kleine Wasserpfützen in Fußform legten eine Spur auf die Fliesen. Doch der schnelle Wechsel zwischen dem Liegen in dem heißen Wasser und der plötzlichen Bewegung bekam ihm nicht. Alles wurde auf einmal schwarz. Er versuchte halbwegs kontrolliert zu Boden zu gleiten, indem er sich am eben noch erreichten Waschbecken festhielt …

Als Marvin die Augen wieder aufschlug, fand er sich auf dem Badvorleger liegend. Rechts neben ihm die weiße Säule des Waschbeckens und links von ihm das Katzenklo. Er starrte hinein. Wahrscheinlich gab ihm der Geruch daraus das Bewusstsein zurück. Diese dämliche Katze seiner Frau, die immer dann ins Klo machte, wenn er badete, sollte also doch für etwas gut sein.

Was war geschehen? Ach ja, zu heiß gebadet, zu schnell aus der Wanne gestiegen und – ach ja, er hatte diesen Tumor im Kopf. Es war kein Traum.

Er setzte sich auf, blieb eine Weile am Boden sitzen, die Arme nach hinten abgestützt. Allmählich drangen auch die Geräusche der Umwelt wieder zu ihm durch. Alles unverändert. Nicht einmal das hatten Frau und Kind bemerkt.

Übelkeit breitete sich aus – vom Kopf her. Zum Kotzen! Das jetzt auch noch! Marvin glaubte plötzlich, sich noch nie so alleine gefühlt zu haben. Dabei war das erst der Anfang. Was sollte da noch auf ihn zukommen? Wenn es auch grammatikalisch nicht möglich war – gefühlsmäßig gab es für ihn eine Steigerung von allein.

Mühselig zog er sich am Waschbecken hoch. Der Spiegel stellte sein Gesicht bloß. Blass sah es aus und schmal. Elf Kilo hatte er abgenommen in den letzten Wochen. Langsam drehte er den Kopf nach beiden Seiten um und betrachtete dabei seine Gesichtshaut genau. Alt und fahl sah sie aus, wie ein schlappes Stück Fleisch über den Schädel gezogen. Es kam ihm nicht wie sein eigenes Gesicht vor, das ihn da anblickte, mehr wie das eines fremden alten Mannes, dessen Schicksal ihm in einem bewegenden Film vorgeführt wurde.

Er packte in das schwammige Wangenfleisch hinein, fest, um sich zu spüren. Trotzdem fühlte er mehr mit den Fingern, als mit der Haut seiner Wangen. Wo war sein Ich geblieben? In einem fremden Körper? Oder besaß sein Körper ein fremdes Ich?

»Marvin?«

Lisa rief von unten hoch und holte ihn aus seinem Dämmerzustand zurück.

»Marvin?«

Er hörte seine Frau die Treppe hochkommen, denn ihre Stimme klang jetzt näher und ihre Füße lösten auch ohne Hausschuhe ein leises kurzes Knacken an einigen Stellen der Holztreppe aus. Hatte sie doch etwas von seinem Sturz bemerkt? Im Spiegel sah er dann, wie Lisa die Tür hinter ihm einen Spalt öffnete und hereinschaute.

»Weißt du eigentlich noch, in welcher Zeitung dieser Witz steht? Du weißt schon, dieser Gezeichnete.«

»Was?«

Mit beiden Händen auf das Waschbecken gestützt, drehte er sich um. Er sah sie an und versuchte angestrengt, aus seiner Gedankenwelt in die ihre zu wechseln.

»Na, dieser gezeichnete Witz mit den Vögeln, die alle in einer Ecke hocken, weil einer geniest hat … wegen der Vogelgrippe! Der ist doch so süß. Ich will ihn Julia zeigen.«

Lisa kam herein, während sie sprach, und stellte sich vor ihn hin. Sie musste hochschauen, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht über seinen nackten Körper auf den Fußboden, bis zur Badewanne und zurück.

»Du hast dir schon wieder nicht die Füße abgetrocknet!«

Es klang vorwurfsvoll und er fand, sie hatte recht. Wie schnell konnte man mit nassen Füßen im Bad stürzen! Vor einer Minute war es ihm passiert.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Flecken das auf diesen dunklen Fliesen hinterlässt?«, hielt sie ihm vor.

»Welche Flecken es hinterlässt, wenn ich stürze?«

Irritiert sah er in Lisas zartes Gesicht. Sie versuchte trotz ihres mädchenhaften Aussehens einen strengen Ausdruck, indem sie die Haut zwischen ihren zusammengewachsenen dunklen Augenbrauen zu senkrechten Falten zog. Es gelang ihr nicht, aber das wusste sie nicht. Lisa hasste diese zusammenwachsenden Brauen und trimmte sie gelegentlich durch Auszupfen. Doch Marvin mochte sie. Er fand Lisa so natürlicher. Er mochte es nicht, wenn sie ihre Brauen in wahren Auszupforgien zu dünnen Linien stylte und dann wieder nachzog. Glücklicherweise tat sie sich das nur selten an, weil sie das Zupfen schmerzte.

»Ich meine diese Wasserflecken, Marvin! Täglich wische ich hinter dir her. Kannst du dir nicht vorstellen, dass mir das auf die Nerven geht?«

Ihr voller Mund verzog sich nach unten und sie seufzte extra laut, um ihren Ärger zu verdeutlichen.

Marvin warf einen Blick auf den Boden. Aha – die Wasserflecken.

»Ich wische gleich auf«, sagte er kleinlaut, wie überführt, und noch immer fasziniert von Lisas Gesicht. Wie oft hatte ihn der Alltag davon abgehalten, sie genau zu betrachten. Er wollte wieder in ihre grünen Augen sehen; ein wenig in der Hoffnung, sie könnte seinen Probetod im Nachhinein noch bemerken. Doch sie stand schon nicht mehr vor ihm, ging zur Tür heraus, mit wippendem, braun gelockten Pferdeschwanz, einen Hauch süßen Deodufts hinter sich lassend. Ihre kleinen Füße tapsten nach unten. Die Tür ließ sie etwas offen stehen und die eindringende kühle Luft bescherte seinem unbedeckten Körper eine leichte Gänsehaut.

Marvin drehte sich zurück zum Spiegel und sah einem inzwischen wieder leicht rosafarbigen, wenn auch verdutzten Gegenüber ins Gesicht. Lisa hatte anscheinend beschlossen, ihr Leben so weiterzuleben, wie bisher.

Er erinnerte sich an den Tag vor etwa vier Wochen, als ihm der Arzt mitgeteilt hatte, der Tumor wäre bösartig.

Marvin war sofort nach Hause gefahren. Zitternd am ganzen Körper konnte er sich nur mit Mühe auf die Autofahrt konzentrieren. Zu Hause angekommen und kaum noch auf den Beinen stehen könnend, suchte er nach Lisa. Sie war im Waschkeller. Zwischen einem Berg alter Wäsche und frischen nassen Handtüchern, die auf der Leine hingen, fielen sie sich in die Arme, um zu weinen. Es war bitter und Lisa konnte sich nicht mehr beruhigen. Marvin ertrug das nicht. Und so begann er, die ihm und ihr hingeworfene Diagnose etwas abzuschwächen. Er redete sie harmloser, weniger bedrohlich. Schließlich stellte er sie ganz infrage. Sicher sei es keine endgültige Diagnose, machte er ihr vor. Außerdem wäre die medizinische Forschung doch heute schon so weit fortgeschritten. Auch mit einer solchen Erkrankung konnte er noch hoffen. Wer weiß, hörte er sich sagen, vielleicht irrte man ja im Krankenhaus – schließlich spürte er nichts von diesem Tumor in seinem Kopf, das sei doch verwunderlich! Man hörte doch oft von solchen Fehldiagnosen. Auf jeden Fall aber könnten sie ihn ganz sicher retten.

Und während er all das gesagt hatte, hatte auch er ein bisschen zu hoffen gewagt.

Danach ging es Lisa besser. Seine vage Hoffnung, aus Verzweiflung dahingesagt, war für sie zur Gewissheit geworden. Was nicht sein durfte, ließ sie nicht zu, und sie vergoss keine weiteren Tränen mehr. Es konnte einfach nicht sein, dass Marvin nichts von so einer schweren Erkrankung bemerkte. Er konnte reden wie immer, sich normal bewegen, logisch denken, intellektuell schwafeln, wie sie es nannte. Nichts schien anders als zuvor. Und wenn alles wie immer war, dann konnte sie sich auch über Fußabdrücke auf den schönen dunkelblauen Fliesen aufregen. C’est la vie!

Marvin begann zu lachen, als er über all das nachdachte. Er lachte sarkastisch, gemein sich selbst gegenüber. Er lachte, obwohl der Gedanke an Lisa und die Wasserflecken ihn schier verzweifeln ließ. Was sollte er ihr sagen? Dass er sie hoffnungsvoll belogen hatte? Dass sie gefälligst weinen sollte?

Er lachte noch mehr, versuchte aber leise zu sein, damit niemand ihn hören konnte. Der Spiegel zeigte, wie sich dabei die Krähenfüße um seine Augen vertieften und sein ohnehin schon breiter Mund sich fratzenhaft in die Breite zog.

»C’est la vie – c’est la mort!«, flüsterte er zwischen den Lachpausen und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beherrschen konnte. Schließlich schüttelte er den Kopf über sich selbst.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Was soll das, du alter Narr? Müsstest du nicht mehr Ernst an den Tag legen in deiner Lage?«

Das wirkte endlich. Sein Lachen fror langsam ein und ein gewisses neutrales Gefühlserleben machte sich in ihm breit.

Okay, dachte er‚ mach dir klar, wie du dich im Augenblick tatsächlich fühlst! Dir geht es doch im Moment nicht wirklich schlecht! Das bisschen Übelkeit kann man doch ertragen.

Marvin schloss für die nächsten Atemzüge die Augen, dann öffnete er sie wieder. Mit Bedacht nahm er seine Zahnbürste von der Ablage des Waschbeckens. Gewissenhaft drückte er die Zahncreme auf die Borsten und begann, die Zähne zu putzen – schön langsam von oben nach unten und umgekehrt. Wozu er sie immer noch dreimal täglich penibel reinigte, wusste er nicht. Für Karies blieb ihnen ja eigentlich keine Zeit mehr, wenn er der schlechten Prognose seines Neurologen für Glioblastome glauben durfte. Aber im Moment vertrieb der scharfe Pfefferminzgeschmack den letzten Rest der grässlichen Übelkeit aus seinem Mund.

Sorgfältig in sich hineingefühlt, verspürte Marvin im Augenblick kein körperliches Unbehagen, weder Schmerz, noch Übelkeit – nur ein wenig Schwäche weiterhin. Einzig und allein sein Bewusstsein schien ihm das Leben schwer zu machen, indem es ohne Unterlassung um das eine Thema Gehirntumor kreiste.

Im Kopf steckt die Angst, dachte Marvin. Im Kopf steckt die Angst.

– 2 –

Für seinen ersten Chemo-Termin im Krankenhaus benötigte er neue Schlafanzüge und neue Unterhosen. Das jedenfalls meinte Lisa. Sein Hinweis, die wenigen Tage bis zum Krankenhausaufenthalt nicht mit unnötigen Einkäufen verschenken zu wollen, kümmerte sie nicht.

»So gehst du mir nicht ins Krankenhaus!«, war ihr schlichter Kommentar dazu und so verbrauchte er kostbare Zeit damit, zusammen mit Lisa im Einkaufszentrum Wäsche zu kaufen. Er erstand Schlafanzüge und Retroshorts, außerdem noch T-Shirts, Socken und Handtücher. Das Ganze kostete ein Vermögen. Marvin wusste gar nicht, wie teuer Unterwäsche sein konnte.

›Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie‹ stand auf dem Schild am Eingang zu einem mächtigen, aber alten Gebäude mit diversen Anbauten. Nie hätte er erwartet, hier Patient zu werden. Bis zum Tag seiner Diagnose hatte er nicht einmal von einer solchen Klinik in der Stadt gewusst. Sie hätte einen ausgezeichneten Ruf, so die Versicherung seines Neurologen.

Lisa setzte ihn vor dem Krankenhaus ab und fuhr dann zur Arbeit. In ihrem Job als Werbekauffrau machten die wöchentlichen Prospektarbeiten sie derzeit unentbehrlich. Aber sie wollte abends noch vorbeikommen, um ihn zu besuchen.

Marvin winkte ihr nach.

Es war viel zu früh, um jetzt schon zur Station zu gehen. Was nun? Herumstehen und warten? Vor dem Eingang des Hauses entdeckte er einen schmalen Fußweg, der zu einem Teich führte. Also folgte er mit seiner riesigen Reisetasche voller neuer Kleidung dem Pfad bis zum Ufer und ließ seinen Hintern auf einer kalten Parkbank nieder. Man hörte das Zirpen von Vögeln und das leise Plätschern winziger Wellen am Uferrand, sonst nichts. Keine Autos, keine Leute – nur Stille. Ihn störte das. Sie schien ihm unangemessen, diese Stille – zu idyllisch irgendwie. Ein paar Enten schwammen heran. Vermutlich hofften sie auf Brotkrumen. Er täuschte sie mit einigen Steinchen, die er vor seinen Füßen aufhob und quer über den Weg warf. Eilig und quakend sauste das Federvieh hinterher; jedes bemüht, den anderen ihres Völkchens die vermeintlichen Leckereien wegzuschnappen. Marvin beobachtete sie eher nebenbei. Plötzlich fiel ihm jedoch eine der Enten auf, weil sie anders aussah als ihre Artgenossen. Etwas erschreckend Warzenartiges ragte an ihrem Hinterkopf hervor, eine Geschwulst, fast so groß wie der kleine Kopf selbst, jedoch federlos. Sofort empfand er Mitleid. Doch die Ente bewegte sich wie selbstverständlich zwischen den anderen, lief hinter den Steinchen her, wackelte zwischen ihnen herum; als sei es das Normalste der Welt, mit einem goldgelben nackten Warzenei am Kopf durch das Leben zu marschieren.

Beneidenswertes Tier! Eine Ente mit einem Tumor im Kopf machte sich wohl kaum Gedanken um ihren Schädel. Jedenfalls nicht, solange sie keine Schmerzen verspürte. Für sie würde es keine Hoffnung in Form einer Behandlung geben, nur den Tod. Aber sie würde wohl auch nicht darüber nachdenken.

Marvin jedoch dachte unentwegt daran, hegte Hoffnung und verwarf sie wieder. Natürlich – die Ärzte irrten nicht! Die schöne Tatsache, außer ein paar Kopfschmerzen bisher keine besonderen Beschwerden zu verspüren, konnte über die eindeutigen Aufnahmen der MRT und der Biopsien nicht hinwegtäuschen. Das Ding war da und musste weg. Blöd nur, dass es an einer Stelle saß, die eine Operation nicht zuließ. Ihm blieben nur Bestrahlung und diese furchtbare Chemotherapie.

Um Punkt acht Uhr fand Marvin sich auf dem Gang der achten Etage des Krankenhauses ein und meldete sich im Schwesternzimmer an. Freundlich war sie ja, die Frau an der Anmeldung, aber auch unbehaglich sachlich. Da trotz seiner vorherigen Ankündigung noch kein Bett für ihn zur Verfügung stand, musste er im Aufenthaltsraum warten.

Warten müssen – in einem kleinen Raum mit vergilbten Tapeten, möbliert mit angeschlagenem, verblichenen Buchenholz. Warten müssen – als wäre sein Tumor eine Alltäglichkeit, die warten konnte. Dabei konnte das Ding in jeder Sekunde wachsen.

Er blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte man über den Park des Krankenhauses hinweg auf die halbe Stadt schauen; so weit, bis die Halde der stillgelegten Zeche wie ein entfernter Berg die Sicht versperrte. Der Blick nach unten bot die Aussicht auf den Teich. Ein alter Mann fütterte inzwischen die hungrigen Enten. Zu gerne hätte er jetzt mit dem alten Mann getauscht … vielleicht sogar mit den Enten.

Eine junge Krankenschwester mit Handschuhen und einem Eimer voll schäumender Flüssigkeit eilte in das Zimmer gegenüber. Marvin hörte sie darin wirken und sah sie bald darauf wieder heraussputen. Als er schließlich hinein durfte – es war das Zimmer mit der Nummer 832 – roch der Raum nach Desinfektionsmittel. Sein Bett stand nahe der Tür. Daneben befand sich der Zugang zu einem überraschend großen Waschraum mit Dusche und Toilette. Ganz nett.

Leider war er nicht alleine in diesem Zimmer untergebracht, trotz seiner privaten Versicherung. Ärgerlich, wie er fand. Im Bett am Fenster lag ein Mann in etwa seinem Alter und schnarchte. Daneben stand ein Gehwagen.

Eine weitere Schwester – sie stellte sich als Schwester Sabine vor – wies Marvin in die Handhabung eines Gerätes ein, mit dem man sowohl telefonieren als auch das Bett vollelektronisch verstellen und den Fernseher bedienen konnte. Gleichzeitig diente es als Notrufgerät – ein Druck auf den roten Knopf und die Schwestern kämen sofort, um nach ihm zu sehen. Wenn irgendetwas sei, bräuchte er nur auf diesen roten Knopf zu drücken.

»Der rechte Schrank ist für Sie, der mit dem blauen Punkt an der Tür. Im Waschraum sind zwei Haken, ebenfalls mit blauen Punkten. Das sind Ihre! Da können Sie Ihren Waschlappen und Ihr Handtuch aufhängen. Und die rechte Tür des Spiegelschrankes gehört Ihnen.«

Schwester Sabine vergaß, auf den blauen Punkt hinzuweisen, der sich auf dem Spiegelschrank befand.

Blaue Punkte – Marvin fühlte sich belustigt an seine Kindergartenzeit erinnert. Hektisch drückte ihm die zwar noch junge, aber schon irgendwie verbraucht wirkende Frau mit dem aschblonden Zopf noch ein paar Pappkarten in die Hand, auf denen er seine Essenswünsche ankreuzen sollte, und dann verschwand sie. Sie hatte es eilig.

Allein mit seinem neuen winzigen Privatbereich Bett mit Nachtschrank, einem schnarchenden Fremden und einer überdimensionierten Reisetasche, dessen Inhalt er nie und nimmer in diesen schmalen Spind bekommen würde, blieb Marvin zunächst auf seinem Bett sitzen. Für die ersten Tage des ersten Chemo-Zyklus sollte er hierbleiben, damit die Nebenwirkungen besser überwacht werden konnten. Danach würde er sich zu Hause weiter plagen dürfen. Gemütlich war etwas anderes!

Marvin betrachtete seinen Mitpatienten mit dem schütteren Haar. Ein Mittvierziger schätzte er. Blass zwar, aber er schien noch zu beleibt, um schwer krank zu sein. Er schlief und schnarchte mit zurückgefallenem Kinn, und der weit geöffnete Mund bot sicher Platz genug, um eine Magenspiegelung ohne Mundstück zu ermöglichen. Lippen und Nasenflügel bebten bei jedem gequälten Atemversuch. Natürlich lag der Mann auf dem Rücken, eine für die Schnarcherei bekanntermaßen bevorzugte Position.

Marvin fand es nicht lustig, eher beschämend, denn er wusste genau, dass er ebenso aussah im Schlaf. Lisa hatte ihn einst hinterhältig gefilmt, um ihm sein Schnarchen zu beweisen. Es ließ sich seither nicht mehr bestreiten. Peinlich, so ausgeliefert auszusehen, aber sie in ähnlicher Weise abzubilden war ihm nicht gelungen. Lisa sah im Schlaf immer wie ein Engel aus. Sie schnarchte nie, höchstens in verschnupftem Zustand und dann auch nur ganz leise – geradezu süß – überhaupt nicht peinlich. Frauen sind die feineren Wesen, dachte er. Wie so oft.

Er nahm seine Handykamera und knipste ein Foto von seinem Bettnachbarn. Man wusste ja nicht, wozu das einmal gut sein könnte. Dann hielt er die Kamera vor sein eigenes Gesicht und schoss ein Bild von sich selbst – zur Erinnerung an sein Gesicht vor der Chemo und an seine angegraute, aber immerhin noch ziemlich dichte Haarpracht. Eine Tatsache, auf die er stolz war. Die Medikamente der Chemotherapie könnten ja zu Haarausfall führen, so hatte er gehört. Ekelhaft, der Gedanke an Haarbüschel, die sich mit den Fingern von der Kopfhaut abziehen ließen. Marvin hatte einiges über die Nebenwirkungen der Behandlung gelesen. Das meiste klang so unwirklich – so weit weg, nicht vorstellbar für ihn. Aber das mit dem Haarausfall, das konnte er sich vorstellen. Es schien ihm gruselig greifbar und so abschreckend sichtbar.

Eine andere, sehr junge Schwester kam herein. Klein, zierlich und so blass, wie Rothaarige nun einmal sind. Sie drückte auf einen ominösen Knopf an der Wand und führte Zettel und Kugelschreiber mit sich. Um ihren Hals hing ein Blutdruckmessgerät.

»Ich bin Schülerin Elke!«, erklärte sie und augenblicklich verfiel Marvin dem offenen und freundlichen Lächeln, welches sie für ihn erübrigte, ganz im Gegensatz zu den anderen Schwestern. Ihre rotblonden Locken trug sie bis etwas über Kinnlänge und offen. Ein nettes Mädchen, die Kleine! Von ihren Augen, die Marvin so hellblau wie unbekümmert anstrahlten, ließ er sich gerne herauslocken aus seiner düsteren haarlosen Zukunftsvision. Die schlanke Taille und wohlgeformte Hüfte unter ihrem weißen Kittel entging ihm nicht.

»Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie mit Blick auf die nicht ausgepackte Reisetasche.

Marvin wehrte ab. Nein, nein, es ginge schon. Er erzählte ihr, während sie seinen Blutdruck maß, dass es ihm eigentlich ganz gut ginge. Wenn da nur nicht dieser zufällig festgestellte Tumor in seinem Kopf wäre, weshalb er jetzt eine Chemotherapie bräuchte und so weiter. Er redete viel. Mehr als er es sonst tat. Erzählte von seinem Blutdruck, wohl wissend, es interessierte eigentlich niemanden.

»Und jetzt haben Sie einen Blutdruck von 140 zu 80 – der ist nicht einmal zu hoch!«

Schülerin Elke lachte. Marvin lachte, und beide schmunzelten noch kurz über das Schnarchen des Bettnachbarn. Sie hoffte für ihn, er könnte wenigstens nachts schlafen bei dieser lautstarken Baumsägerei. Danach verschwand sie aus dem Zimmer. Zauberhaft lächelnd schwebte sie wahrscheinlich als helfender Engel dem nächsten Patienten zu.

Später brachte sie Marvin eine salzige Brühe und half ihm doch noch ein wenig mit der Tasche. Jetzt war er froh, dass er diese einwandfreie neue Wäsche mit sich führte.

Er fühlte sich gut aufgehoben.

Noch später kam eine Ärztin. Eine junge, herb aussehende Frau, schlank, fast schon hager. Etwas zu blond für seinen Geschmack und die Haare zu streng nach hinten frisiert. Sie befestigte eine Infusion an seinem linken Arm und kündigte ihm Übelkeit an. Danach blieb ihm nichts weiter zu tun, als ruhig in seinem Bett zu liegen. Verurteilt, zu lesen, vielleicht etwas fernzusehen oder die Tropfen zu beobachten, die langsam, einer nach dem anderen, in seinem Arm verschwanden. Er beobachtete sie lange, weil er von irgendwoher wusste, Luftblasen in den Adern seien gefährlich. Währenddessen wartete er auf die Übelkeit. Doch sie blieb aus.

Nach der ersten geleerten Infusionsflasche drückte Marvin auf den roten Knopf der Fernbedienung. Sofort meldete sich eine blechern und schwer verständliche weibliche Stimme aus einem Lautsprecher hinter seinem Bett, die nachfragte, was er wünsche. Marvin teilte mit, die Infusion wäre durch und erwartete sehnlichst eine Schwester, weil er zur Toilette musste. Die Stimme aus dem Lautsprecher weckte seinen Bettnachbarn. Der lag auf der Seite – jetzt, wo er nicht mehr schnarchte! – eine Hand gelangweilt unter seine Wange gestützt und musterte Marvin ungeniert.

»Zytostatikum?«, fragte er schließlich.

»Ja – Chemo!«, antwortete Marvin ebenso kurz.

»Sag’ ich doch – Zytostatikum!«

Anscheinend wollte der Schnarcher ihm klarmachen, er besäße Fachkenntnisse, die Marvin fehlten. Aber geschnitten, da konnte er mithalten.

»PCV bei Glioblastom!«, renommierte er und fügte hinzu: »Bestrahlung später mit 30 x 2 Gray!«

Das sollte wohl genügen, um dem Kontrahenten sein Fachwissen zu verdeutlichen und gar nicht erst Zweifel an seiner Kompetenz als aufgeklärtem Patienten aufkommen zu lassen. Tatsächlich nickte der Bettnachbar ernst wissend und beließ es dabei. Zufrieden mit sich selbst ließ sich Marvin in das Kissen sinken. Sein Platz hier sollte wohl erobert sein. Schlimm genug, dass er dieses Zimmer mit jemandem teilen musste.

Fünf Minuten später stand der Mitstreiter schwerfällig auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlurfte an Marvins Bett vorbei zur Toilette. Wie einen Wallach hörte er ihn im Bad pinkeln und es erinnerte ihn deutlich daran, ebenfalls seit einiger Zeit Druck zu verspüren. Wo blieb nur die Schwester? Er griff zur Fernbedienung und drückte nach einigem Zögern wieder den roten Knopf.

»Die Infusion ist durch!«, erklärte er erneut der Blech-Schwester aus dem Lautsprecher und neidvoll blickte er auf den Schnarchsack, der erleichtert aus dem Bad zurückkam.

»Da können Sie lange warten!«, meinte dieser im Vorübergehen, womit er nicht nur recht haben konnte, sondern ihm auch zu Verstehen gab, dass er sich hier im Krankenzimmer als alter Hase selbstverständlich besser mit den Vorgängen auskannte als Marvin. Sollte er doch! Marvin wies auf die Infusionsapparatur, die an seinem Arm hing. So gefangen konnte er schließlich nicht aufstehen.

»Warum ziehen Sie sich das nicht selbst raus?«, meinte der alte Hase lapidar. »Einfach rausziehen und Tupfer aufdrücken. Tupfer liegen doch dort in der Schale auf ihrem Nachtschrank. Machen die Schwestern auch nicht anders!«

Damit legte sich der Hase wieder ins Bett, kehrte Marvin den Rücken zu und machte sich daran, weiterzuschnarchen.

Marvin betrachtete die, mit ein paar weißen Klebestreifen fixierte, Infusionsnadel an seinem Arm und fing nach einer Weile an, die Streifen abzuknibbeln. Schön vorsichtig, immer ein bisschen mehr. Warum nicht etwas vorarbeiten, bevor die Schwester käme. Und wenn dann immer noch niemand in Sicht wäre, könnte er sich ja auch ganz davon befreien. Schließlich war er ein erwachsener Mensch und außerdem spannte die Blase.

Gänzlich vom Klebestreifen gelöst, stellte sich die Nadel als Bestandteil einer kleinen durchsichtigen Plastikplatte dar. Das sah kompliziert aus und außerdem fragte er sich, wie er mit nur einer Hand die Nadel herausziehen und gleichzeitig mit einem Tupfer darauf drücken sollte. Egal, er musste zur Toilette, nur das hatte Vorrang. Womöglich dachte der Patient am Fenster auch schon, Marvin wäre zimperlich. Kurz entschlossen zog er an der Plastikplatte, entfernte sie samt Nadel und schnappte sich schnellstmöglich den Tupfer, um den Einstich zu verschließen. Aber Marvin war nicht schnell genug. Dort floss augenblicklich dunkelrotes Blut heraus und rann in mehreren Bahnen um den Arm herum, tropfte auf das frische gelbe Bettzeug. Es lief kitzelnd bis in seine Achseln, als er seinen Arm verzweifelt steil nach oben hielt und mit der anderen Hand auf den Einstich drückte. So saß er da, voll Blut, den Arm in der Luft, um Schlimmeres zu verhindern, das Bett versaut, und fragte sich nun, wie er in diesem Zustand jetzt endlich zur Toilette gehen sollte. Zeitgleich öffnete sich die Tür und Schwester Sabine kam herein. Schwester Sabine und leider nicht das engelhafte Gesicht der kleinen Schülerin! Sie sah ihn an, in seiner gymnastisch anmutenden Position, dann auf das blutbefleckte Bett und fragte mit einem Ausdruck totaler Entgeisterung: »Was machen Sie denn?«

Angesichts seiner Lage und des Blickes der Krankenschwester überkamen Marvin inzwischen Bedenken ob seiner Aktion. Hilflos dasitzend, während sein Arm vom Hochhalten bereits zu kribbeln begann, sagte er nur: »Die Infusion war durch und ich wollte zur Toilette.«

»Ja – warum warten Sie nicht, bis wir sie abgestöpselt haben? Und wenn Ihnen das zu lange dauert, warum gehen Sie dann nicht einfach mit der leeren Flasche ins Bad oder benutzen den Infusionsständer, der in ihrem Zimmer steht, oder kommen heraus zu uns ins Schwesternzimmer? Die Nadel herauszuziehen, war so ziemlich das Dümmste, was Sie tun konnten.«

Marvin wurde bewusst, sich gerade als Dummkopf etabliert zu haben, und er schämte sich grenzenlos, während Schwester Sabine ihn stumm, aber mit völlig entnervtem Gesicht mit neuem Tupfer und Klebestreifen versorgte und kopfschüttelnd die Bettdecke abzog. Heimlich schielte er zu seinem Bettnachbarn und sah einen alten Hasen vor sich hin grinsen.

Wie konnte ihm so etwas Blödes nur passieren? Marvin überlegte schon, ob er das Ganze nicht seinem Gehirntumor zuschieben könnte, von dem er eigentlich nichts spürte.

Als Schwester Sabine mit dem alten Bettzeug schon in der Tür stand, sagte sie leise: »Na – dann gehen Sie mal zur Toilette. Nicht, dass das auch noch daneben geht.«

Dann verschwand sie und Marvin konnte wetten, sie berichtete auf direktem Weg sämtlichen Krankenhausangestellten der Station von diesem bescheuerten neuen Patienten. Er bekam jetzt schon Angst davor, er könnte irgendwann einmal ins Bett machen.

Bald darauf bekam er neue Bettwäsche und die Oberärztin legte eine neue Nadel, diesmal in den rechten Arm. Sie erklärte ihm, dass man Infusionen eigentlich nur abstöpselt und nicht jedes Mal herauszieht, da man sonst ja immer wieder neu stechen müsste, was übrigens nur ein Arzt dürfte und somit zeitaufwendig wäre. Klar, meinte Marvin, und er erwähnte, dass er sich heute gar nicht wohlfühlte, irgendwie durcheinander. Das hätte er in letzter Zeit zu Hause häufiger gehabt, da hatte er zum Beispiel Kaffee ohne Filter in die Kaffeemaschine geschüttet und so fort … und er hatte sich schon gestern gefragt, ob das nicht mit der Erkrankung zusammenhängen könnte.

Die Ärztin antwortete nicht, fragte aber, wie er sich ansonsten fühle, ob er Übelkeit verspüre.

»Ein wenig, aber es geht schon.«

Marvin wusste, sein Unwohlsein stammte im Moment einzig von dem Gefühl, sich blamiert zu haben.

Der Feind im Nachbarbett sagte den ganzen Tag lang nichts mehr. Stattdessen schaltete er ständig den gemeinsamen Fernseher um, genau immer dann, wenn Marvin sich gerade für den einen oder anderen Beitrag zu interessieren begann. Er schwieg dazu und fragte sich wieder einmal, wozu er diese teure Privatversicherung zahlte.