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Ralf Terlinden, von seiner Freundin Regina verlassen (die sich obendrein noch seinem besten Freund zuwendet), ist am Boden zerstört. Er bricht sein Studium der Philosophie und Literatur ab und will jetzt unbedingt Rechtswissenschaft studieren. Die Eltern machen sich über die impulsive Art ihres Sohnes Sorgen. Ralfs Mutter schlägt vor, ihr Sohn solle sich mit seinem Schulfreund Ernst Michalak zusammentun, der schon im 3. Semester Jura studiert. Da Ernst früher im Hause Terlinden ein- und ausging und sich als anständiger Junge gezeigt hat, glaubt die Mutter, ihren Sohn dem Ernst anvertrauen zu können. So beginnt Ralf das Studium der Jurisprudenz an der Universität in F.
Ernst Michalak unternimmt dreierlei zur Unterstützung des sensiblen Ralf: Er organisiert mit ihm zusammen ein privates Repetitorium. Dann schlägt er vor, er solle sich die Erzählungen seines Onkels Alexander Lüth anhören, der sehr lebenserfahren sei und ihn, Ralf, von seiner romantischen Weltbetrachtung wegbringe. Es folgen die Erzählungen des Onkels. Doch Ralf lässt sich von der überharten realistischen Auffassung des Onkels nicht überzeugen. Darauf schlägt Ernst vor, er solle mit ihm zur Examensfeier seines alten Freundes Niki Froloff gehen, da würde er Leute kennenlernen, die des Onkels harte Weltanschauung bestätigen.
In der Tat lernt Ralf auf der Feier Typen kennen, deren Verhalten seiner idealistisch-romantischen Auffassung widersprechen. Schließlich erklärt Ralf einem Mädchen namens Iris, das auch an der Feier teilnimmt, seine Liebe, blitzt aber bei ihr ab.
Ernst Michalak, der selbst in Iris verliebt ist, rät Ralf, sich einen bestimmten Film anzusehen, „Werther der Zweite“, der ihn von seiner vergeblichen Liebe zu Iris heilen werde. Doch Ralf geht das ständige „Liebesgegreine“ in dem Film dermaßen auf die Nerven, dass er das Kino fluchtartig verlässt. Anschließend zeigt sein erneutes Philosophieren über seine gescheiterte zweite Liebe, dass er schon wieder - wegen seiner zu großen Emotionalität - in Gefahr ist, auch in seinem zweiten Studium zu scheitern. Ernst Michalak telefoniert mit Ralfs Mutter, teilt ihr des Sohnes aufgewühlte, übererregte Stimmung mit. Er schlägt vor, Ralf solle erst mal einige Tage nach Hause kommen.
Schließlich passiert in einer Sachenrechtsvorlesung etwas, was Ralf erst recht zu Boden schlägt. Wie es mit Ralf Terlinden weitergeht, ob er sich gefühlsmäßig wieder fängt, wird gegen Schluss des Romans gezeigt.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
oder: Ralf Terlindens Entschluss, ein Realist
zu werden
Roman
Autor: Heinz-Jürgen Schönhals
Überarbeitete Ausgabe, Februar 2023
Covergestaltung: Heinz-Jürgen Schönhals
Ralf Terlinden, von seiner Freundin Regina verlassen (die sich obendrein noch seinem besten Freund zuwendet), ist am Boden zerstört. Er bricht sein Studium der Philosophie und Literatur ab und will jetzt unbedingt Rechtswissenschaft studieren. Die Eltern machen sich über die impulsive Art ihres Sohnes Sorgen. Ralfs Mutter schlägt vor, ihr Sohn solle sich mit seinem Schulfreund Ernst Michalak zusammentun, der schon im 3. Semester Jura studiert. Da Ernst früher im Hause Terlinden ein- und ausging und sich als anständiger Junge gezeigt hat, glaubt die Mutter, ihren Sohn dem Ernst anvertrauen zu können. So beginnt Ralf das Studium der Jurisprudenz an der Universität in F.
Ernst Michalak unternimmt dreierlei zur Unterstützung des sensiblen Ralf: Er organisiert mit ihm zusammen ein privates Repetitorium. Dann schlägt er vor, er solle sich die Erzählungen seines Onkels Alexander Lüth anhören, der sehr lebenserfahren sei und ihn, Ralf, von seiner romantischen Weltbetrachtung wegbringe. Es folgen die Erzählungen des Onkels. Doch Ralf lässt sich von der überharten realistischen Auffassung des Onkels nicht überzeugen. Darauf schlägt Ernst vor, er solle mit ihm zur Examensfeier seines alten Freundes Niki Froloff gehen, da würde er Leute kennenlernen, die des Onkels Weltanschauung bestätigen.
In der Tat lernt Ralf auf der Feier Typen kennen, deren Verhalten seiner idealistisch-romantischen Auffassung total widersprechen. Schließlich erklärt Ralf einem Mädchen namens Iris, das auch an der Feier teilnimmt, seine Liebe, blitzt aber bei ihr ab.
Ernst Michalak, der selbst in Iris verliebt ist, rät Ralf, sich einen bestimmten Film anzusehen, „Werther der Zweite“, der ihn von seiner vergeblichen Liebe zu Iris heilen werde. Doch Ralf geht das ständige „Liebesgegreine“ in dem Film dermaßen auf die Nerven, dass er das Kino fluchtartig verlässt. Anschließend zeigt sein erneutes Philosophieren über seine gescheiterte zweite Liebe, dass er schon wieder - wegen seiner zu großen Emotionalität - in Gefahr ist, auch in seinem zweiten Studium zu scheitern. Ernst Michalak telefoniert mit Ralfs Mutter, teilt ihr des Sohnes aufgewühlte, übererregte Stimmung mit. Er schlägt vor, Ralf solle erst mal einige Tage nach Hause kommen.
Schließlich passiert in einer Sachenrechtsvorlesung etwas, was Ralf erst recht zu Boden schlägt. Wie es mit Ralf Terlinden weitergeht, ob er sich gefühlsmäßig wieder fängt, wird gegen Schluss des Romans gezeigt.
Inhaltsverzeichnis
1. Teil: In der Sackgasse
Kap. 1: Ralf Terlinden am Boden
Kap. 2: Suche nach Erklärungen
Kap. 3: Erinnerungen an das alte Studium
Kap. 4: Erkrankung; Abbruch des Studiums
2. Teil: Versuch eines Neuanfangs
Kap. 1: Wechsel des Studiums
Kap. 2: Ernst Michalak, der Freund
Kap. 3: Vorwurf der Weltferne
Kap. 4: Die Kriegserzählungen des Onkels
3. Teil: Neue Erfahrungen I
Kap. 1: Eine Examensfeier
Kap. 2: unter anderem: ein Skandal auf der Feier
Kap. 3: Studentin Iris Cornelius
4. Teil: Das Kino als Fluchtpunkt
Kap. 1: Diskussion über die Examensfeier
Kap. 2: Der Film „Werther der Zweite“
Kap. 3: Ralf schon wieder durch die Liebe verwirrt.
5. Teil: Neue Erfahrungen II
Kap. 1: Eine Zeit voller Emotionen
Kap. 2: Ein Telefongespräch
Kap. 3: Iris Cornelius' Rückkehr
Kap. 4: Schuldgefühle und neuer Wendepunkt
Kap. 5: Der Referendarkollege Kleinschulte
Kap. 6: Noch einmal: zu neuen Ufern
Ralf Terlinden - Student, Protagonist
Ingrid Terlinden, - Ralfs Mutter
Wilhelm Terlinden - Ralfs Vater
Harley Parker - US-Studentin
Sophie Hofmann - Studentin
Ernst Michalak - Jura-Student, Ralfs Jugend-
und Studienfreund
Niki (Niklas) Froloff - Jura-Absolvent, Ernsts alter Freund
Walter Ebeling, Student der Philosophie
Iris Cornelius - Studentin der Anglistik
Galina Melnikow - Niki Froloffs russische Verlobte
Dr. Rüdiger Froloff - Staranwalt, Nikis Vater
Waltraud Froloff - seine Frau
Kai Froloff, jüngerer Sohn von Rüdiger
Werner Kleinschulte, Referendar
Gäste auf Niki Froloffs Examensfeier:
Dr. Gerd Reisinger – Jura-Professor
Dr. Burkhard Meyer-Burggräfe - Rechtsanwalt
Hedwig Meyer-Burggräfe - seine Frau
Ilona Schmelzer - Rechtsreferendarin
Klaus Olberding - Jura-Absolvent, Ilonas Freund
Walter Freese - Nikis einstiger Bankkollege
Gerda Freese - seine Frau
Dr. Alfons Gramberg - Bankdirektor
Marianne Gramberg - seine Frau
„Die Eumeniden ziehn, ich höre
sie, zum Tartarus. Die Erde dampft
erquickenden Geruch und ladet mich
auf ihren Flächen ein, nach Lebensfreud
und großer Tat zu jagen.“
(Goethe, Iphigenie)
Kapitel 1: Ralf Terlinden „am Boden“ – („…jeder Mitleid-Erfüllte könnte seine nach außen gekehrte Seelenpein besichtigen, und je nach Charakter gucke der eine erstarrt, der andere bestürzt auf das ihnen zur Schau gebotene traurige Schicksal.“)
Ralf Terlinden hatte einige Semester Germanistik und Philosophie mit Erfolg studiert, da trat ein Ereignis ein, das ihn aus der Bahn warf. Ab sofort quälte ihn täglich das Empfinden, sein Leben nähere sich bereits jetzt schon dem Ende, zumindest sei er an einem Punkt angelangt, wo ihm von allen Seiten nur noch Sackgassen, verbaute Wege, Niemandsland entgegenstarrten. Er war gerade mal 22 Jahre alt, das heißt in einem Alter, in dem man eigentlich frohgemut und optimistisch in die Zukunft blickt. Eigentlich! Doch wenn man sich damit abfinden muss, dass sein Lebensglück von einem anderen zerstört worden ist, kommt einem jeder Zukunftsoptimismus abhanden. Dieses Lebensglück war Terlinden einst in Gestalt seiner Freundin Regina Krass erschienen und hatte lange Zeit, fast vier Jahre, als antreibende Kraft in seinem Leben gewirkt. Plötzlich jedoch, beinah von einem Tag zum anderen, hatte Regina ihn verlassen. Dass das geliebte Mädchen dann, unmittelbar darauf, ein Verhältnis mit seinem besten Freund Jens Brack begann, bedeutete für Ralf Terlinden den endgültigen K.o. Sein Studium konnte er nicht fortsetzen. Er befand sich viel zu sehr in einem Stadium des Grübelns, das oft seine ganze Zeit ausfüllte.
Was hatte er falsch gemacht? - grübelte er unausgesetzt. Warum haben seine Freundin und sein Freund ihm einen derartigen Haken verpasst, dass es ihn umgehauen hat, wobei er ständig das unerträgliche Gefühl nicht loswurde, der Schwinger hätte obendrein seine Gesichtszüge zum Entgleisen gebracht und seine Umgebung, die Leute, die an ihm vorbeigingen, die Freunde und Bekannten, mit denen er zu tun hatte, würden das sofort merken, das heißt, sie würden klar erkennen, wie seine Physiognomie anhaltend nach links oder rechts verrutscht sei und unaufhörlich zucke? Da diese Leute ihn fast immer eindringlich musterten, schloss er aus ihrem Verhalten außerdem noch, sein in Verwirrung geratenes Innenleben liege klar zutage; jeder Gaffer, jeder Zyniker, jeder Mitleid-Erfüllte könnte seine nach außen gekehrte Seelenpein besichtigen, und je nach Charakter gucke der eine erstarrt, der andere bestürzt auf das ihnen zur Schau gebotene traurige Schicksal oder auch - mancher jedenfalls - glotze einfach unverhohlen und sadistisch, um sich an der grauenvoll verzogenen Mimik eines Unglücklichen zu weiden.
Es vergingen einige Monate, in denen wir Ralf Terlinden mit seinen selbstquälerischen Grübeleien zunächst mal alleine lassen wollen.
Ungefähr ein halbes Jahr später hielt sich Ralf in seinem angemieteten Studentenzimmer in der Universitätsstadt M. auf. Er war wegen der dramatischen Begebenheiten seiner jüngsten Vergangenheit immer noch stark bekümmert. Darauf deuteten seine grämlichen Gesichtszüge hin sowie seine hellgrauen, im Augenblick düster dreinschauenden Augen. Er saß an seinem Arbeitstisch, trug noch seine blaue Windjacke, als wäre er eben erst zur Tür hereingekommen; dazu hatte er eine beige Cordhose an. Den Kopf hatte er in beide Hände gestützt und ließ seine derzeit freudlosen Gedanken weiter in der jüngeren Vergangenheit herumschweifen. Manchmal erhob er sich von seinem Stuhl und ging im Zimmer auf und ab. Dieses war klein und kärglich möbliert. Außer einem halbhohen Kleiderschrank, einem Holzbett und dem erwähnten Arbeitstisch sah man noch einen stark abgenutzten, dunkelbraunen Kunstledersessel in einer Ecke stehen und an der Wand ein hängendes Bücherregal, auf dem Ralfs Studienbücher und einige Studienhefte lagerten. Noch zu erwähnen wäre ein verschlissener braunroter, den ganzen Raum ausfüllender Teppich, in welchen undefinierbare schwärzliche Figuren eingearbeitet waren.
Neben dem Schrank standen ein großer schwarzer Koffer sowie eine leere Reisetasche. Es hatte den Anschein, dass der Student Ralf Terlinden im Begriffe wäre, seiner Studentenbude Lebewohl zu sagen. Jedoch war von einer Aufbruchsstimmung noch von einer Reiselust zunächst nichts zu bemerken, im Gegenteil: der Student saß starr auf seinem Stuhl, als wäre er dort festgenagelt und sein Interesse gelte weder dem Reisekoffer noch der Reisetasche, sondern ausschließlich dem Fenster, das hinter dem Schreibtisch eine Aussicht nach draußen ermöglichte, allerdings nur eine karge, gleichgültige, nämlich auf die Dächer der umliegenden Häuser.
Ralfs Gedanken schweiften in die Vergangenheit zurück.
Klar, seine Freundschaft mit Jens Brack war zerbrochen - so überlegte er, und er überlegte solches nicht zum ersten Mal -, auch seine Liebe zu Regina Krass glich einem zerrütteten Gebäude, das in naher Zukunft, wegen der harten, einen definitiven Schlussstrich ziehenden Ereignisse, unweigerlich zusammenbrechen musste. Halb betäubt hatte er damals, nachdem er von dem Verrat der beiden Kenntnis erhalten, zunächst dagestanden, hatte mehrmals den Kopf geschüttelt wie einer, der noch nicht ganz bei Sinnen ist, als ob er auf diese Weise seine wild durcheinanderschießenden Gedanken wieder in geordneten Bahnen sammeln könnte. Die Straße, auf der er bisher munter vorangeschritten, hatte abrupt geendet, danach folgte … jenes bereits erwähnte Niemandsland, dessen Anblick er nicht länger ertragen wollte. Hier gab es für ihn nur eines: raus aus der Sackgasse, weg von der Einöde, egal wie! Auf jeden Fall: schnellstmöglich!
Doch das war leichter gesagt als getan, denn die Einöde, sprich: das Alleinsein, musste ihm erhalten bleiben und damit das Grübeln, das ständige Reden mit sich selbst mit all den destruktiven, todtraurigen Gedanken. Zeitweise war die Umwelt um ihn herum derart versunken, dass er sich einbildete, er wäre mutterseelenallein auf der Welt und wüsste nicht, was hinter ihm lag und wohin seine Lebensreise, gemäß seiner Entwürfe und Zielsetzungen, eigentlich gehen sollte. Hatte ihn sein Gedächtnis im Stich gelassen? Wo befand er sich eigentlich?
Er versuchte sich zu orientieren: Aha, vor ihm lag jene Einöde - wie gesagt! Und hinter ihm? – ja, jetzt erinnerte er sich: hinter ihm lag ein viersemestriges Studium, und noch weiter dahinter: seine Jugend. Er hatte sie in einer Kleinstadt namens Waldstätten verbracht. In einem behüteten und intakten Elternhaus war er aufgewachsen, als zweites von drei Kindern. Sein Vater, Rechtsanwalt und Steuerberater, und seine Mutter, welche die drei Kinder großzog, sorgten dafür, dass sie alle sich im Elternhaus aufgehoben und geborgen fühlten. Die Schulzeit konnte er sicher absolvieren und mit dem Abitur erfolgreich abschließen. Danach begann er ein Studium der Germanistik und Philosophie. Diese Zeit war nicht nur von seinem gewissenhaften Arbeiten und Nacharbeiten von Vorlesungen im Seminar der Universität erfüllt, sondern auch – jedenfalls vorübergehend – von der Liebe zu einem Mädchen und – wie er meinte – überstrahlt von der Liebe dieses Mädchens zu ihm. Es handelte sich um die erwähnte Regina Krass, die er kurz nach dem Abitur kennenlernte.
Nichts mehr davon! sprach der in seiner Studentenbude Sitzende plötzlich laut zu sich, und mit einer unwirschen Handbewegung versuchte er die Erinnerungen an Regina wegzuwischen. Im Rückblick auf diese Jahre empfand er nur noch Schmerz und Wut. Dieses Kapitel musste für ihn abgeschlossen sein, vor allem jener letzte Abschnitt, der ihm durch Reginas und Jens Bracks Verrat wie ein Abgrund vorkam. Auf keinen Fall wollte er in diesen Abgrund noch einmal hineinschauen; das heißt – schränkte er bald ein wenig ein – auf keinen Fall wollte er zu tiefe Blicke in den Abgrund werfen, aber einige Blicke schon, allerdings nur kurze, flüchtige. Denn er empfand immer noch ein gewisses Bedürfnis, sich mit jener letzten Phase einmal noch auseinanderzusetzen. Sicher werden ihm dabei viele eigene Fehleinschätzungen und Irrtümer, beruhend auf Unbedarftheit, Naivität und Ignoranz, begegnen. Doch egal! Diesen Abschnitt einfach, sozusagen unkommentiert ins Vergessen abzuschieben – das wollte er nicht.
Ralf Terlinden stand von seinem Stuhl auf, ging im Zimmer wieder einige Schritte auf und ab, dann zog er seine Windjacke aus und hängte sie in den leeren Schrank, aus dem alle seine Kleidungsstücke, Hemden, Unterwäsche, Schlafanzüge und sonstige Anziehsachen, bereits entfernt und in seinem Koffer verstaut waren. Also stand doch seine Abreise bevor! Danach nahm er eine bequeme Wolljacke vom Garderobenhaken und zog sie sich über. Es war im Zimmer etwas kühl geworden. Deshalb drehte er den Drehknopf des Heizkörpers einige Markierungen weiter und setzte sich wieder an seinen Tisch. Eilig hatte er es nicht mit seinem Aufbruch, seinem Weggang von M. Die Erinnerungen hatten ihn einmal mehr gepackt. Sie zwangen ihn, weiter melancholische Blicke zurück in seine ungute Vergangenheit zu senden. Das Fenster ihm gegenüber, durch welches er wiederholt in die Ferne schaute, ermöglichte ihm allenfalls eine Aussicht zwischen zwei Schrägdächern hindurch zu einem fernen Waldzug. Der versank jedoch momentan in den blassgrau schwebenden Schleiern des morgendlichen Dunstes bis zur Unkenntlichkeit.
Dieser lausige Blick aus dem Fenster, dachte er; dazu noch der graue, beinah undurchdringliche Dunst! Beides kam ihm wie ein Symbol seines derzeitigen Elends vor. Wohin er auch schaute, nichts als steile, abschüssige Dächer, mit teils zerbrochenen oder verrutschten, teils unregelmäßig, das heißt in verschiedenen Grautönen reparierten Ziegeln. Sogar die dürftige Aussicht in die Ferne, zwischen zweien dieser Schrägdächer hindurch, war ihm heute verwehrt. Und wenn er sich in seiner halbdunklen, popeligen Studentenbude umsah, mit all den kargen, minderwertigen Möbeln, kam ihm jeder Elan abhanden, nach irgendeinem Ansatz für eine Motivation, für eine Initiative zu einem Neubeginn zu suchen.
Kapitel 2: Suche nach Erklärungen – (Der mit mehr Realitätssinn ausgestattete, nüchterne Erfolgsmensch sagte ihr vermutlich mehr zu, indessen der empfindsame, literaturbegeisterte Liebhaber romantischer Gedichte keinen Anklang mehr bei ihr fand.)
Ralf fragte sich zum wiederholten Male - und diese Kardinalfrage ließ ihn einfach nicht los: warum hat Regina Krass ihn verlassen? Lag es an seinem Charakter, seiner oft zu gefühlsbetonten, idealistischen Einstellung zur Welt und zu den Menschen? Regina hatte ihm einmal derartiges angedeutet. Der mit mehr Realitätssinn ausgestattete, nüchterne Erfolgsmensch sagte ihr vermutlich mehr zu, indessen der empfindsame, literaturbegeisterte Liebhaber romantischer Gedichte keinen Anklang mehr bei ihr fand. Ralf Terlinden gehörte zweifellos zu den letzteren, wogegen Jens Brack, der sich mehr an Tatsachen orientierte, der fester mit beiden Beinen auf der Erde stand - immerhin machte er eine Ausbildung als Banklehrling, genau wie Regina - ganz sicher zur ersten Kategorie gehörte. Doch eine andere Erklärung kam vielleicht der Wahrheit näher: dass nämlich einfach die Neigung, das Gefühl, die Leidenschaft den Ausschlag gegeben hatte? Unstet und launisch, wie das Liebesgefühl oft geartet ist und gerne wie eine muntere Biene von Blume zu Blume schwirrt, hatte dieses offenbar und aus unerfindlichen Gründen den Adressaten gewechselt.
Die Unberechenbarkeit der Liebe also – ja, sie schien ihm als Begründung noch am plausibelsten. Vielleicht auch traf beides zu, eine Mischung aus Liebe und Kalkül?!
Dann kam noch die Wahl seines Studiums hinzu. Hatte sie eventuell seiner etwas weltfremden Art, die Regina so gar nicht schätzte, Vorschub geleistet? Eigentlich war er bisher überzeugt gewesen, dass er das ihm angemessene Studienfach gewählt hatte, zumal die ersten Erfolge bis zur Zwischenprüfung ihm das sichere Gefühl vermittelten, die richtige Wahl auch im Hinblick auf seine Talente getroffen zu haben. Doch alle seine sicheren Erwartungen, alle Selbstvergewisserungen, vor allem das so wichtige Selbstbewusstsein waren jetzt, nach seinen kreuzunglücklichen Erlebnissen, über Bord gespült, und Selbstzweifel, Unsicherheit und Unschlüssigkeit hatten stattdessen die Oberhand bekommen. So glaubte er bald nicht nur, sondern sein Glaube verfestigte sich mehr und mehr zur Gewissheit, dass eine der Ursachen für seine gegenwärtige Misere in der falschen Wahl seines Studiums gelegen habe. Nicht dass einer, der sich für das Studium der Germanistik und der Philosophie entscheidet, leichter auf den Irrweg der falschen Visionen, der Trugbilder und täuschenden Herzenswünsche gerät - so etwas würde er nicht im Entferntesten behaupten und es wäre ganz sicher auch mit keinem Argument zu begründen. Jedoch hatte das Studium vielleicht mit dazu geführt, und zwar speziell bei ihm, dass er zu oft und zu gerne rosige Nebelschwaden erzeugte, hinter denen das wahre, eigentliche Wesen der Welt nur verschwommen, jedenfalls für ihn nicht deutlich genug erkennbar wurde.
Ralf Terlinden, weiter am Tisch seiner Studentenbude sitzend, versank wieder in seinen Erinnerungen, wobei seine schweren Gedanken dieses Mal in die Zeit seiner Studienjahre in M. zurückkehrten.
Kapitel 3: Erinnerungen an das alte Studium – (Während der genannten Vorlesungen nun, vor allem aber während der Nachbereitungen in der Arbeitsgemeinschaft boten dem literaturbeflissenen Studenten bestimmte Gedichte Eichendorffs, wo es um unerfüllte Liebesbeziehungen geht, reichlich Anlass, über eine derartige ’unmögliche’ Liebe nachzusinnen, ja in ihr sogar romantisch zu schwelgen…)
Es geschah im zweiten Jahr seines Universitätsstudiums. Ralf war durch den Umstand, eine Zwischenprüfung ablegen zu müssen, so stark mit den Vorbereitungen beschäftigt, dass die Abstände zwischen seinen Besuchen in der Heimat größer wurden; auch die zärtlichen Briefe, die er mit viel Liebe und Sorgfalt an seine Freundin verfasst hatte, trafen nicht mehr so regelmäßig bei ihr ein wie noch im ersten Jahr. Doch Regina focht das nicht an, zumal Ralf, statt zu korrespondieren, umso häufiger mit seiner Freundin telefonierte, auf welche Weise er unmittelbarer, spontaner an ihrem Leben teilnehmen konnte, beispielsweise auch an ihrem schulischen Erfolg: Sie hatte die mittlere Reife auf dem zweiten Bildungsweg nachgemacht und arbeitete jetzt in der Kreissparkasse in Waldstädten als Banklehrling.
Das 4. Semester war beinah schon zu Ende, und die Zwischenprüfung rückte näher. Wenn Ralf in dieser Zeit öfter einmal nach Hause fuhr und sich Regina widmete, sei es, indem sie spazieren gingen oder sich einen Film im Kino ansahen oder auch mit Freunden und deren Freundinnen zu einer Tanzveranstaltung verabredeten, geschah es immer öfter, dass er sich in Gegenwart Reginas langweilte. Es hing mit der Schwierigkeit zusammen, zwischen Regina und ihm einen Gesprächsfaden zu knüpfen. Auch in der ersten Phase ihrer Freundschaft war ihm das hier und da schon aufgefallen, aber ihr Liebreiz und ihre Schönheit ließen ihn über diesen Mangel fast immer hinwegsehen. Je länger jedoch ihre Freundschaft dauerte und Gewohnheit und Routine sich in ihre Beziehung einschlichen, desto mehr fiel ihm diese Einsilbigkeit Reginas auf, ja er ärgerte sich zunehmend über sein vergebliches Bemühen, mit seiner Freundin ein ergiebiges Gespräch zu führen. Bei Freunden tauchten solche Schwierigkeiten überhaupt nicht auf, hier konnte er seinem Mitteilungsdrang immer nach Herzenslust freien Lauf lassen, er konnte mit ihnen diskutieren und debattieren oder auch einvernehmlich seine Gedanken mit ihnen austauschen; dabei hielt auch Regina in diesem größeren Kreis nicht übel mit, wie Ralf zu seinem Erstaunen beobachtete. War er dagegen mit Regina alleine, stellte sich zu seinem Befremden, manchmal zu seinem Entsetzen die Situation ein, dass ihr Gespräch ziemlich schnell an einem toten Punkt anlangte, über den beide nicht mehr hinauskamen, sei es durch Wechsel zu einem neuen Thema, sei es, indem sie das alte Thema variierten oder vertieften oder auf eine andere Ebene verlagerten. Nein, nichts von alle dem passierte! Weder ihm noch Regina gelang es, ihrem Gespräch einen neuen Impuls zu geben; Regina verstummte einfach, und Ralf begann, um das ihm unerträglich Schweigen zu überbrücken, ihr irgendetwas zu erzählen, von irgendwelchen Vorfällen, die ihm gerade einfielen und von denen er meinte, sie könnten oder sollten jedenfalls auch Regina interessieren. Da seine Freundin nie irgendeinen Unmut äußerte, sondern nur jedes Mal seinen Erzählungen schweigend zuhörte, fühlte er sich in seiner Annahme bestätigt, der Gegenstand seiner Darlegungen sei für sie nicht uninteressant, und also wurde er mutiger, ging immer öfter, um ja nicht diese lästigen Pausen des Schweigens aufkommen zu lassen, zu großangelegten Monologen über, die sich an irgendeiner aktuellen oder auch nichtaktuellen Sache abarbeiteten, an der Politik zum Beispiel, so sie in der Presse Schlagzeilen machte, oder an dem Werk eines Dichters, welches ein Dozent gerade in seiner Vorlesung in M*** interpretierte, oder an den Schicksalen unglücklicher Poeten, zum Beispiel Hölderlins, Kleists, Lenz’, Conrad Ferdinand Meyers, die ihm beim Lesen von Kurzbiographien nahe gegangen waren.
Manchmal auch, da ihm partout nichts Gehaltvolles mehr einfiel, monologisierte er über irgendwelche Klatschgeschichten, die in seinen Studentenkreisen kolportiert wurden und die Gemüter der Studenten in Aufregung versetzten, zum Beispiel über eine von ihnen vermutete Liebesaffäre zwischen einer Studentin und einem Dozenten oder, noch kurioser, die seltsame Bevorzugung eines hübsch aussehenden Studenten durch einen Germanistikprofessor, welche Ralf und seine Kommilitonen in einem Seminar, allerdings mit Erstaunen und Befremden, beobachteten. Abgesehen von solchen seltenen Abstechern, um nicht zu sagen: Abstürzen in die Niederungen des Tratsches, bewegten sich seine monologisierenden Betrachtungen auf gehaltvolleren Ebenen, ja sie steigerten sich nicht selten zu großartigen Gedankenaufschwüngen, sie redeten dann von Philosophie und Theologie, von Nietzsche und Schopenhauer, vom Sinn des Lebens und der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises, auch von des Aristoteles Auffassung über die Glückseligkeit handelten sie zuweilen und berührten sogar die unbeirrte Haltung der Stoiker gegenüber den Wirrsalen und Unwägbarkeiten des Lebens. Dann, wenn er sich später von Regina, seiner stillen Zuhörerin, verabschiedet hatte und nach Hause ging, machte er sich wieder Gedanken über jenen genannten fehlenden Gesprächsfaden zwischen ihnen, und er hielt es heute für möglich, dass hierin vielleicht einer der Gründe gelegen haben könnte, dass seine Beziehung zu Regina Krass schließlich scheiterte.
Sobald Ralf wieder in M*** weilte, tat ihm die Gesellschaft der Kommilitoninnen und Kommilitonen, die das gleiche wie er studierten, wohl, und er fühlte sich dort umso mehr aufgehoben, je öfter er mit ihnen plaudern oder über Angelegenheiten seines Studienfaches diskutieren konnte. Vor allem zwei Studentinnen erwiesen sich als sehr unterhaltsam und belesen, außerdem als verblüffend eloquent, sodass es Ralf zunehmend Vergnügen bereitete und auch eine enorme Anregung bedeutete, mit den beiden Mädchen, die ihm ihre Sympathie nicht verhehlten, geselligen Umgang zu haben. Die eine hieß Sophie Hofmann und studierte bereits im 8. Semester Germanistik, außerdem noch Anglistik. Die andere, eine Amerikanerin namens Harley Parker, stammte aus Boston und war für ein Semester nach Deutschland gekommen. Harley, eindeutig die hübschere, gefiel Ralf auf Anhieb, dabei vergaß er vorübergehend sogar seine Regina, so sehr hatte ihn Harley Parker gleich in ihren Bann gezogen. Sie war eine zierliche, schlanke Person, hatte pechschwarze, schulterlange Haare. In ihren dunkelbraunen, leicht vortretenden und etwas fremdartig anmutenden Augen funkelte es oft hintergründig. Die leicht gebogene Nase tat dem lieblichen Gesicht keinen Tort an, erst recht nicht der hübsche, feingeschnittene Mund mit der vollen Oberlippe. Sie sprach sehr gut Deutsch, mit einem reizvollen amerikanischen Akzent, was Ralf erst recht aufregend fand. Manchmal lag in ihrem Antlitz ein derart rührend-hilfloser Ausdruck, dass er unwillkürlich das Verlangen verspürte, dem so hilfebedürftig scheinenden Wesen Zuwendung und Aufmerksamkeit zu schenken.
„Harley ist schon vergeben“, sagte eines Tages Sophie Hofmann zu ihm, als sie zusammen im Hörsaal saßen und über die Amerikanerin sprachen; die stand noch am Eingang des Hörsaals und redete mit einem Kommilitonen, „in Boston wartet ein reicher Businessman auf sie; soviel ich weiß, will sie ihn demnächst heiraten.“
Sophie, die wohl beobachtet hatte, wie Ralf interessierte Blicke auf Harley warf, wollte ihm mit ihrer beiläufigen Bemerkung signalisieren, es wäre vollkommen aussichtslos, für Harley ernstere Liebesgefühle zu hegen. Doch so weit war es mit Ralf noch nicht gekommen. Sicher, die Amerikanerin könnte ihm gefährlich werden, das hatte er bei ihrer ersten Begegnung sofort erkannt. Auch hatte er beinah täglich während der Vorlesungen ihre schlanke Gestalt und ihr reizvoll exotisches Antlitz im Blick, und nicht selten verspürte er ein angenehm prickelndes Gefühl, wenn sich die Schöne zu ihm umwandte und ihre fremdartig glühenden Augen in die seinen senkte. Aber da auch er bereits vergeben war, bemühte er sich, in Harley nur eine Fachkollegin und interessante Gesprächspartnerin zu sehen. Sich weitergehende Hoffnungen zu machen, wäre, abgesehen von der Aussichtslosigkeit solcher Bemühungen, gegenüber seiner Freundin Regina nichtswürdig und schäbig gewesen. Man brauchte hier gar nicht mal die hohen Grundsätze der Moral zu bemühen - sagte er sich - es genügte einfach, wenn man sein Anstandsgefühl sprechen ließe.
Dennoch stellte er sich hin und wieder die Situation einmal zum Spaß vor, rein hypothetisch selbstverständlich, er hätte sich tatsächlich in Harley Parker ernsthaft verliebt und würde nun alles Erdenkliche anstellen, die Liebe des schönen Mädchens zu gewinnen. Dieser Gedanke, so sehr er seinem moralischen Fundament zuwiderlief, gefiel ihm umso mehr, je öfter er durch den Besuch einer Vorlesung des Literaturprofessors Preiser - mit dem Thema ’Das Romantische bei Eichendorff’ - zusätzliche, und zwar reizvolle Anlässe fand, seine spekulativen Gedanken fortzuspinnen. Zudem hatten Sophie, Harley und er zu dieser Vorlesung eine Arbeitsgemeinschaft gebildet, die abwechselnd in den Wohnungen, das heißt in den Studentenbuden der Drei abgehalten wurde. Sie tauschten dabei ihre Notizen aus, bereiteten gemeinsam die Vorlesungen nach, diskutierten über verschiedene Gedichte, die Professor Preiser in den Mittelpunkt stellte, und sprachen auch über geeignete Literatur, die sie sich in der Universitätsbibliothek oder in einer Buchhandlung besorgen könnten.
Während der genannten Vorlesungen nun, vor allem aber während der Nachbereitungen in der Arbeitsgemeinschaft boten dem literaturbeflissenen Studenten bestimmte Gedichte Eichendorffs, wo es um unerfüllte, gefährliche oder gescheiterte Liebesbeziehungen geht, - ’Der stille Grund’ zum Beispiel oder ’Zauberblick’ oder ’Das zerbrochene Ringlein’ - reichlich Anlass, über eine eventuelle - wie gesagt: rein hypothetische Liebe zu Harley - nachzusinnen, ja in einer derartigen ’unmöglichen’ Liebe sozusagen romantisch zu schwelgen, wobei ihm die Vernunft natürlich stets mahnend vorhielt, dass wegen des Verlobten der Amerikanerin, des erfolgreichen Business-Mannes aus Massachusetts, absolut keine Chance für ihn bei Harley Parker zu erkennen sei.
Die Eichendorff-Vorlesung war für die Drei auch einmal Anlass, über ihre berufliche Zukunft zu diskutieren. Sophie, die sich bald dem Ende ihres Studiums näherte, wusste nicht, was sie nach dem Examen machen sollte; Harley hoffte, in Boston als Journalistin arbeiten zu können, und auch Ralf konnte, als die beiden ihn nach seinem in Aussicht genommenen Beruf fragten - wobei sie ihn gespannt anblickten - , keine klare Antwort geben.
„Ich habe natürlich öfter daran gedacht, Lehrer zu werden“, sagte er, „Lehrer am Gymnasium. Die Germanistik eignet sich bestimmt für die Lehrerlaufbahn, aber Philosophie? Ich glaube, die wird von den Schulen weniger gewünscht als zum Beispiel Geschichte oder Erdkunde.“
„Ich kenne einige Schulen in Süddeutschland“, erwiderte Sophie, „die haben auch Philosophie im Fächerangebot.“
„So? Wo denn?“
„In Würzburg und Bamberg zum Beispiel.“
„Na ja, ob ich ausgerechnet da hingehe! Außerdem schreckt mich der Lehrerberuf zurzeit noch ab. Meine bösen Erfahrungen mit einem Mathematiklehrer bereiten mir heute noch Alpträume. Wenn ich mir vorstelle, mit solchen Typen an einer Schule zu arbeiten! Dann werde ich lieber Journalist.“
„Womit die Auswahl auch schon beendet wäre“, warf Sophie ein. „Ich glaube, es bleibt dir am Ende gar nichts anderes übrig, als an einer Schule als Deutschlehrer unterzukommen.“
„Wieso unterkommen? Das ist nun wirklich nicht mein Ideal“, sagte Ralf Terlinden mit erhobener Stimme, wobei ein grollender Unterton nicht zu überhören war, „ich möchte jedenfalls vorher noch prüfen, ob es außer Journalismus nicht noch andere Möglichkeiten für mich gibt. Vor allem möchte ich ein bisschen die Welt kennen lernen, bevor ich mich in die gesicherte und pensionsberechtigte Position eines Lehrers begebe und damit zum Philister werde.“
„Womit wir wieder bei der Romantik wären“, rief Harley aus, „genauer gesagt bei Eichendorff und seinen ’Zwei Gesellen’.“
„Du meinst das Philistermotiv!?“
„Ja, das auch; vor allem aber das Motiv des Schweifens in die Ferne, das Sehnsuchtsmotiv. Der echte Philister kennt keine Sehnsucht nach der Ferne, er ist, wie in dem Gedicht ’Die zwei Gesellen’, Materialist, Spießer; er kennt nur noch seine Behaglichkeit, seinen Bauernhof, sein Bübchen, sein Liebchen, sein Stübchen.“
Da Harley die Verkleinerungsformen so mit spitzem Mund und verdrehter Stimme aussprach, mussten die beiden anderen lachen.
„Für einen Romantiker der schlichte Gräuel!“, rief Ralf aus.
„Ideal für Eichendorff ist wohl die Kombination von beidem“, befand Harley, „die Sesshaftigkeit verbunden mit der Sehnsucht, der man hier und da nachgeben kann.“
„Ja, siehe der „Taugenichts!“, Sophie wies nicht zum ersten Mal auf ihre Lieblingsnovelle hin, „der bricht nach Italien auf, nachdem er mit seiner Liebsten sesshaft geworden ist. Natürlich reist er nicht ohne seine Liebste!“
„Natürlich nicht!“, wiederholte Harley im ironischen Unterton.
„Na ja, so ideal stelle ich mir das im wirklichen Leben nicht vor“, wandte Ralf ein. „Der Onkel meines Freundes hielt trotz aller Bürgerlichkeit an seinem hohen Ziel fest; er wollte ein erfolgreicher Schriftsteller werden. Und was geschah? Er landete im Chaos.“
Ralf machte mit seiner Hand eine Abwärtsbewegung, als wollte er den Absturz eines Flugzeugs simulieren. „Seine Frau brannte mit einem Liebhaber durch und nahm gleich noch die beiden Kinder mit.“
„O Je!“ riefen beide Mädchen aus.
„Da hat dein Onkel sicher einen Fehler gemacht!?“ Harley reckte ihren Kopf neugierig vor, als wollte sie Näheres über den Unglücksonkel hören.
„Nicht mein Onkel, Harley, der Onkel meines Freundes! - Tja, sein Fehler war ganz einfach, er war zu wenig Philister. Wär’ er mal ein ordentlicher Spießer geworden, hätte er seine spießige Ehefrau und ihre Bedürfnisse besser gekannt.“
„Ah ja, so kann man das vielleicht erklären.“
Harley schien mit Ralfs Deutung der Misere des Onkels, der ein Dichter war, einverstanden, indessen Sophie eine andere Ansicht äußerte:
„Die war aber ziemlich abenteuerlich veranlagt, die untreue Ehefrau. Wer brennt schon mit einem Liebhaber durch und nimmt gleich noch die Kinder mit? Spießer machen so ’was eigentlich nicht!“
„Wollte ich auch gerade sagen, Sophie!“ Harley schlug Sophie sanft auf den Arm und signalisierte auch dadurch ihre Zustimmung, „die Ehefrau scherte sich überhaupt nicht um die bürgerlichen Konventionen, für sie stand ihre Freiheit im Vordergrund und die Sehnsucht, aus der bürgerlichen Zwangsjacke wegzukommen.“
„Also auch so eine Art romantische Sehnsucht nach der Ferne, was!?“ meinte Sophie. Ralf indessen wollte das edle Wort ’romantisch’ auf keinen Fall für die untreue Ehefrau gelten lassen.
„Das war doch keine romantische Sehnsucht nach der Ferne, nach Größe, nach Vollkommenheit, das war schlicht und einfach Sehnsucht nach dem Kerl. Sie ist ihm nachgereist, um sich weiter mit ihm zu… zu… äh… zu unterhalten.“
Die beiden Mädchen lachten laut auf.
„Unterhalten ist gut!“, rief Sophie aus, „schön euphemistisch ausgedrückt.
„Ich kann’s natürlich auch direkter sagen!“
„Nein, bitte nicht!“ Harley hob abwehrend die Hände, während Sophie nur grinste.
„Verzichten wir also darauf, in der fatalen Lydia eine Romantikerin zu sehen!“, befand Ralf in entschiedenem Ton.
„Ah, Lydia heißt sie, interessant!“ Harley reckte wieder den Kopf, als könnte sie nicht genug über die ehebrecherische Lydia erfahren.
„Für mich steht fest“, fuhr Ralf fort, „die Kombination von Bürgerlichkeit und romantischer Sehnsucht, wie sie Eichendorff vielleicht vorschwebte, ist alles andere als einfach. Viele sagen sich: werde ich doch besser gleich ein richtiger Philister, das ist sicherer und auch vernünftiger; das Romantische ist mir zu gefährlich; sogar ein bisschen Romantik kann... ins Auge gehen; siehe der Unglücksonkel meines Freundes!“
„Doch das Risiko ist für den Spießer gleichermaßen gegeben“, meinte Sophie, „nur ein Risiko anderer Art: er verkümmert - innerlich, er verliert alle Poesie, er wird ein öder Nützlichkeitsmensch.“
Sophie machte beide Hände flach und bewegte sie dann nach links und nach rechts, um so das flache, eintönige Dasein eines Spießbürgers anzuzeigen. „Siehe das Gedicht 'Der wandernde Musikant'“, fuhr sie fort, „der verzichtet lieber auf das schöne Mädchen, das ihm Augen macht; er möchte halt nicht so ein Banause werden:
’
Mag dir Gott einen Mann bescheren,
wohl mit Haus und Hof versehn,
wenn wir zwei zusammen wären,
möcht’ mein Singen mir vergehn.'"
„Ja, leider ist das die Konsequenz“, sagte Ralf, „man muss als Philister seinen Idealismus schleunigst begraben und nur noch strammer Bourgeois sein, andernfalls siehe: der unglückliche Onkel meines Freundes!“
In dieser Manier hatte der Student Ralf Terlinden oft mit Sophie Hofmann und Harley Parker diskutiert. Nicht nur über literarische Themen wussten beide viel Bescheid, sie waren ihm auch sonst unterhaltsame, anregende Gesprächspartnerinnen, auch im philosophischen Streitgespräch hielten sie wacker mit, und er freute sich immer, wenn er wieder nach M*** fuhr und dort mit den beiden netten Studentinnen alles Mögliche bereden konnte. Was seine Gefühle für Harley betraf, so hielt er sie im Zaum. Er sagte sich, Harley ist für ihn wie eine Taube, die rasch davonfliegt, wenn er nach ihr hascht; besser also, er behält den Sperling in seiner Hand, der doch genauso hübsch aussieht wie die Taube, jedenfalls sein Sperling; nur ist er leider ein bisschen einsilbig und schweigsam, der süße Sperling namens Regina!
Zu Hause in Waldstädten dagegen, wie anders war es dort, wie unpoetisch, unromantisch! Hier fehlte ihm der Widerpart, der geistreiche Diskurs. Regina war - wie gehabt - meistens nur stummer Zuhörer, während er, wie fast immer, Monologe hielt. Oft fragte er sich, ob Regina die Richtige für ihn sei. Harley Parker - ja, das wäre eine Frau für ihn, eine, die zu ihm passte, obendrein eine tolle Frau! Wäre da nur nicht der Businessman aus Massachusetts! Vielleicht aber - überlegte er - könnte er doch einmal versuchen, bei Harley seine Chancen auszuloten. Allerdings, bei einer Frau sein Liebesglück zu versuchen und trotzdem eine andere in petto zu halten, war ganz und gar nicht sein Stil! Vielleicht aber sollte er Regina einmal zu verstehen geben, ob sie sich nicht besser nach einem anderen umsieht, so einem einfach gestrickten, gradlinigen, unkomplizierten Handwerker oder nach einem Bankangestellten oder auch - wie Harley - nach einem Geschäftsmann!? Nein! - rief er aus, ehe er den Gedanken zu Ende gedacht, das lieber doch nicht! Zumal ihm Regina doch als Frau so gut gefiel und sie auch so richtig sein Typ war. Wer weiß, ob er noch einmal so eine finden würde, auf die er so prächtig abgefahren war und die ihn in mancherlei Hinsicht auch glücklich gemacht hatte und immer noch glücklich machte! Und Harley Parker galt ihm nach wie vor als Taube, von der er nicht wissen konnte, ob sie, falls er nach ihr fasste, still sitzen blieb oder davonflatterte, von der er außerdem annehmen müsste, dass sie demnächst wieder nach Amerika zurückfliegt und er dann mit traurigem Gesicht hinterher schaute, ohne auf eine Wiederkehr der schönen Amerikanerin hoffen zu können. -
Trotz solcher Bedenken legte er doch hin und wieder gegenüber Regina ein kühles, manchmal sogar abweisendes Wesen an den Tag, als ob er ihr damit zeigen wollte, dass er mit der Freundschaft zwischen ihnen nicht zufrieden sei, dass in ihrer Beziehung etwas haperte und hakte und eigentlich etwas verbessert werden könnte. Aber da er nicht wusste, was da verbessert werden sollte und wie er das anstellen, wie er das Schief-Laufen in ihrer Freundschaft abstellen könnte, nahm er wieder Abstand von seinem kühlen Verhalten, ja er bereute es schließlich, zumal er sich auch gewisser geheimer, unschöner Gedanken schämte, die darauf abzielten, in Regina eine Bereitschaft zur Aufkündigung ihre Freundschaft, und zwar von ihr aus, zu wecken, eine Bereitschaft auch, sich nach einem neuen Freund umzusehen. Wie gesagt, er bereute dieses heimliche Kalkül, es kam ihm irgendwie schäbig vor, und also griff er auch nicht mehr darauf zurück. Vielmehr bemühte er sich fortan, wieder so liebevoll und freundlich zu Regina zu sein wie vorher.
Doch eines Tages musste er ja zu seinem Entsetzten feststellen: Regina Krass hatte ihm tatsächlich die Freundschaft aufgekündigt! Sie war mitnichten der nach Geborgenheit strebende Sperling, den er sicher in seiner Hand glaubte, sondern der hübsche Sperling namens Regina entpuppte sich - zu seiner völligen Überraschung - als eine sehr eigenständige, selbstbewusste junge Frau, die andere Pläne verfolgte, von denen er, der Freund, keine Ahnung hatte, und diese unerwartete Gesinnung zeigte der Sperling eines Tages, indem er - eine Gelegenheit hurtig ausnutzend - einfach davonflog.
Sollte er über diese Wende in seinem und Reginas Leben nicht eigentlich zufrieden sein? Zumal er selbst doch mit dem Gedanken gespielt hatte, Regina wäre bei einem biederen, einfach gestrickten Manne viel besser aufgehoben. Und Jens Brack war in der Tat einfacher gestrickt als er, Ralf Terlinden, mit seinem kompliziert gearteten, grüblerischen Charakter!
In diesem schicksalhaften Augenblick nun musste Ralf zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung machen, wie sehr der Mensch außer von kühlen, rationalen Erwägungen auch von Gefühlen, Erschütterungen und Leidenschaften beherrscht sein kann und dass diese Affekte in seinem Falle umso stärker aus seinem Seelenabgrund hervortraten, je deutlicher er sich bewusst machte, dass ihn Regina ja nicht einfach nur verlassen, sondern sich auch noch - zu seinem Entsetzen - seinem Freund Jens Brack zugewandt hatte. Nachdem das Erschrecken über diesen Verlauf bei ihm einigermaßen abgeebbt war, nachdem auch die Eifersucht auf den Freund, die vorübergehend seine Seele umklammert hielt, sich gelegt hatte, senkte sich eine tiefe Verzweiflung in sein Herz. Denn er merkte erst jetzt, dass er Regina Krass eigentlich sehr geliebt hatte, und die bittere Erkenntnis, ihre Liebe für immer verloren zu haben, führte bei ihm, nachdem er diese fatale Einsicht verinnerlicht hatte, zu einer Mischung aus starker Unruhe, Wut und Panik, Niedergeschlagenheit und Erschöpfung.
Welcher gutwillige Mensch - so hatte er damals mehrmals ausgerufen - tut schon so etwas? Welcher halbwegs anständige Kerl macht sich an die Freundin seines besten Freundes heran? Und lässt dann obendrein noch die eigene Freundin, mit der er die ganze Zeit zusammen war, im Stich? (Mechthild Günter, Jens Bracks „verflossene“ Freundin, die er kaltschnäuzig abservierte, um sich die bildhübsche Regina zu sichern, hatte bei Ralf einmal angerufen und sich bitter über Jens beklagt; gleichzeitig zog sie mit wüsten Beschimpfungen über Regina Krass her; eine Schlange sei Regina, ein arglistiges Reptil, ein intrigantes Kriechtier!).
Ralf Terlinden dachte an das Bild, das er sich bisher immer vom Wesen des Menschen gemacht hatte: edel schienen ihm seine Züge, vorwiegend hohe Gedanken vermutete er in seiner Seele, und ein klarer, sanfter Blick, der von Seelengröße und lauterer Gesinnung zeuge, verleihe seinem Antlitz obendrein noch Aura und Faszination. Doch jetzt, nach dem Verrat der beiden Freunde, kam es ihm vor, als hätte jemand einen Kübel voll klebrigen Unrat über das edle Gemälde gekippt, und alle Mühe, die schwärzliche Masse von dem Bild wegzuschrubben, führe nur zu seiner völligen Zerstörung.
Er war einmal in einer christlichen Vereinigung aktiv gewesen. Hatte das bei ihm vielleicht zu falschen Vorstellungen über das wahre Wesen der Welt geführt und zu Fehleinschätzungen über die auf ihr herumgeisternden Bewohner? Ralf konnte diese Frage nicht unbedingt mit ja beantworten: Dass es auf der Welt anders zugeht, als es ein überzeugter Christ gemäß seiner neutestamentlich-biblischen Gebote gerne erwartet, wusste Ralf selbstverständlich. Allerdings, die Rauheit der Welt rational zu erkennen, ist das eine; etwas anderes ist es, wenn man die Brutalität des Lebens am eigenen Leib zu spüren bekommt, sie gewissermaßen durch Berühren, durch Anfassen schmerzhaft empfindet. In seinem Falle fasste er nicht selbst an, er wurde angefasst, und zwar mit wilder Rohheit, wie er meinte; mehr noch: er wurde niedergeknüppelt von Leuten, die gnadenlos ihrer Selbstsucht frönten, die bedingungslos dem Glück verheißenden Ruf ihres Egos folgten.
Wieder kam Ralf - jetzt, in seinem Studierzimmer, bei seinem melancholischen Reflektieren - auf seinen eigenen Charakter zurück, den er mit der Misere seiner jetzigen Lage ja schon in Verbindung gebracht hatte. Er war vielleicht doch zu sehr Idealist gewesen - musste er sich erneut vorwerfen - und leider auch - möglicherweise im Übermaß - Romantiker und ist es vielleicht heute immer noch. Hatte er sich darum womöglich zu oft abwegige, vernunftwidrige Urteile über die Menschen und deren wahren Motive gebildet? Doch wer neigt in der Jugend nicht zu Fehlschlüssen und Irrtümern - widersprach er laut und heftig seinem in Gedanken redenden Ich - wer ist überhaupt in dieser chaotischen, verworrenen Welt gegen Täuschungen und Trugschlüssen gefeit?
Jedoch das Studium, dem er sich mit Leib und Seele verschrieben, hatte womöglich doch mit dazu beigetragen, dass sich seine etwas naive Haltung dem Ernst des Lebens gegenüber, seine schwärmerische, zu verstiegenen Urteilen neigende Art über Gebühr verlängerte.
Kapitel 4:Erkrankung, Abbruch des Studiums - (Er wurde so krank, dass er nicht mehr imstande war, von alleine aus der Sackgasse, in die ihn die Ereignisse hineinmanövriert hatten, wieder herauszufinden. Ein rätselhaftes Virus legte zudem seine vitalen Kräfte und seine Konzentration lahm…)
Trotz solcher Zweifel an der Richtigkeit seiner beruflichen Entscheidung versuchte Ralf zunächst an seinem Studium der Literatur und Philosophie festzuhalten, auch bemühte er sich den Kontakt zu Sophie Hofmann und Harley Parker, der vorübergehend abgebrochen war, wieder aufzunehmen, um die Arbeitsgemeinschaft mit ihnen fortzusetzen, doch dieses Vorhaben zerschlug sich. Als er nämlich einmal kurz bei Sophie hereinschaute, sagte sie ihm, Harley sei wieder nach Boston zurückgeflogen, zusammen mit ihrem Freund, dem Business-Mann; der habe sie in M*** abgeholt. Nicht einmal Grüße hatte Harley an Ralf ausrichten lassen. Sie war einfach ohne Abschied abgeflogen, oder sollte er sagen: sie war davongeflattert wie eine Taube, nach der er allerdings nicht gegriffen hatte. Auch sein Sperling, den er bis dahin fest in der Hand gehalten, war ja ebenfalls weggeflogen; so kam sich Ralf vor, als säße er zwischen allen Stühlen. Da Sophie keinerlei Vorschläge machte, die verflossene Arbeitsgemeinschaft eventuell zu zweit fortzusetzen - auch er hatte an einer solchen Zusammenarbeit nur mit Sophie und ohne Harley eigentlich kein Interesse -, wusste er nicht so recht, was er in M*** noch anfangen sollte. Er kam sich, ohne Regina an seiner Seite und ohne Harley Parker ziemlich vereinsamt vor. So beschloss er, sein Studium für einige Zeit ruhen zu lassen.
Er besuchte ab sofort keine Vorlesungen, keine Seminare mehr, und er arbeitete auch nicht mehr in der Universitätsbibliothek. Die Zwischenprüfung ließ er einfach sausen. Nur noch Wut empfand er, über seine Ex-Freundin und seinen Exfreund sowieso, mehr und mehr aber auch Wut über sein altes Studium, über diese „abgehobenen“ philosophischen Theorien, mit denen er sich die ganze Zeit befasst hatte, oder über die „weltfremden Fantasiegebilden von Dichterlingen und Reimeschmieden“, genannt Lyrik! – mit solchen emotionalen Abqualifizierungen zog er jetzt zum Beispiel über Eichendorff her (ungerechterweise, wie er später zugeben musste).
Dann wurde er krank, kurz nachdem er Sophie Hofmann aufgesucht hatte. Er wurde sogar ernstlich krank, so krank, dass er nicht mehr imstande war, von alleine aus der Sackgasse, in die ihn die Ereignisse hineinmanövriert hatten, wieder herauszufinden. Ein rätselhaftes Virus legte zudem seine vitalen Kräfte und seine Konzentration derart lahm, dass er sich entschloss, sein Zimmer in M*** zu kündigen und der Universitätsstadt den Rücken zu kehren. Denn arbeiten konnte er in M*** sowieso nicht mehr.
Er fuhr erst einmal nach Hause. Einige Wochen, vielleicht Monate wollte er sich dort erholen. Müde und ausgelaugt kam er in der Heimat an. Fortan lebte er wieder in seinem Elternhaus, so wie er als Knabe und jugendlicher Schüler einst gelebt hatte, umsorgt von seiner Mutter, ernährt von seinem Vater. Jedoch die seltsamen Krankheitssymptome - ständig Fieber, Antriebsschwäche, depressive Verstimmungen - sie wichen nicht, sie verstärkten sich sogar; so blieb er zu Hause oft tagelang im Bett liegen, elend und krank, wie er sich fühlte. Seine Kräfte wurden von Tag zu Tag schwächer, an manchen Tagen hatte er sogar Mühe, überhaupt aus dem Bett aufzustehen. Er glaubte schon, dass es mit ihm bald zu Ende ginge.