Endlich wieder Meer - Christiane Franke - E-Book + Hörbuch

Endlich wieder Meer Hörbuch

Christiane Franke

3,0

Beschreibung

Eigentlich ist Katharina mit ihrem Leben rundherum zufrieden. Sie und ihr Mann führen nach all den Jahren immer noch eine erfüllte Ehe. Gemeinsam haben sie zwei Kinder großgezogen und ein rentables Weingut in der Steiermark aufgebaut. Dann jedoch erreicht Katharina ein Anruf aus ihrem Heimatort an der Nordsee, der sie in die Vergangenheit katapultiert. Ihr Vater, zu dem sie seit über 20 Jahren keinen Kontakt mehr hat, liegt im Koma. Als Katharina in Hooksiel ankommt, steht es schlecht um die väterliche Werft. Ihr Cousin hat die Geschäfte übernommen, verfolgt aber zweifelhafte Ziele. Auch in Österreich läuft nicht alles rund: Ihre 19-jährige Tochter hat sich in eine Affäre mit einem verheirateten Lehrer gestürzt, ihr 15-jähriger Sohn wird beim Stehlen erwischt und ihr Mann geht mit ihrer besten Freundin fremd. Katharina ist hin und her gerissen. Wo wird sie nun am meisten gebraucht? Und was will sie eigentlich selbst? Sie beschließt, den Kampf um die Werft und die Liebe ihres Vaters aufzunehmen.

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Zeit:8 Std. 30 min

Sprecher:Christiane Franke
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Schönes Buch, aber abruptes Ende
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Christiane Franke

Endlich wieder Meer

Roman

Christiane Franke, geboren 1963 in Wilhelmshaven, ist Schriftstellerin und Dozentin für kreatives Schreiben. Mit ihren Küstenkrimis erlangte sie große Bekanntheit. Sie ist in den SPIEGEL-Bestsellerlisten sowie auch regelmäßig in den regionalen Buch-Charts zu finden und war für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert. Mit ihren rund zwanzig Romanen und zahlreichen Lesereisen hat sie sich eine treue Fangemeinde aufgebaut. Sie genießt den Blick aufs Wasser, der sich ständig verändert, und liebt es, sich an der Nordsee zur Inspiration den Wind ins Gesicht pusten zu lassen. Da ein Teil ihrer Familie in Graz lebt, streift sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch die farbenfrohen steirischen Weinberge.

Das Buch

Eigentlich ist Katharina mit ihrem Leben rundherum zufrieden. Sie und ihr Mann führen nach all den Jahren immer noch eine erfüllte Ehe, sie haben zwei Kinder großgezogen und ein rentables Weingut in der Steiermark aufgebaut. Dann jedoch erreicht sie ein Anruf aus ihrem Heimatort an der Nordsee, der sie in die Vergangenheit katapultiert. Ihr Vater, zu dem sie seit über zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr hat, liegt im Koma.

Als Katharina in Hooksiel ankommt, muss sie erkennen, dass es auch um die familieneigene Werft schlecht steht. Ihr Cousin hat die Geschäfte übernommen, verfolgt aber zweifelhafte Ziele. Auch in Österreich läuft seit ihrer Abreise nicht alles rund. Katharina ist hin- und hergerissen. Wo wird sie nun am meisten gebraucht? Und was will sie eigentlich selbst vom Leben?

Manchmal befindet man sich zwischen zwei Stühlen und muss sich entscheiden.

Und egal welchen von beiden man wählt, ein wenig verliert man dadurch den anderen.

Aber man hat die Chance, sich selbst zu finden.

 

 

 

Katharina Baumgartner liebte diese goldene Stunde nach Feierabend. Sie schloss die Bürotür hinter sich und ging durch den Garten zum Hang, dorthin, wo die verwitterte Holzbank stand, die ihr Schwiegervater vor vielen Jahren eigenhändig für sie gezimmert hatte. »Kathies Bank« hatte er in die Rückenlehne hineingebrannt. Sie genoss es, allein in der warmen Abendsonne zu sitzen und über den Weinberg zu schauen, für den ihr Herz schon so lange schlug. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie damals mit Hannes auf das Weingut gekommen war. Mit schweißnassen Händen, so groß war ihre Angst gewesen, Hannes’ Vater könnte sie, das Mädchen von der Nordseeküste, ablehnen. Doch der alte Joschi hatte sie herzlich aufgenommen und in der Familie willkommen geheißen. Er hatte ihr den eigenen Vater ersetzt, der sie verstoßen hatte, als er von ihrem Wunsch erfuhr, in Österreich bei Hannes zu bleiben.

Katharina lächelte dankbar, als sie sich daran erinnerte. Ja, sie war heimisch geworden in der Fremde, die für sie schon längst keine Fremde mehr war. Jeden Abend erfüllte die Aussicht auf die Hänge bis hinüber auf die andere Seite des Tales sie mit einem tiefen Glücksgefühl. Hier gehörte sie hin, hier fühlte sie sich geborgen. Und doch vermisste sie das Rauschen der Nordseewellen und das Tosen des Windes. Manchmal sogar sehr.

 

Sie setzte sich und streckte die Beine aus. Hannes war irgendwo auf dem Weingut beschäftigt, wie immer. Selten fand er die Muße, einfach nur die Natur zu genießen. Er hatte ständig etwas zu tun. Auch heute war es wieder ein langer Arbeitstag gewesen, früh schon hatten die Arbeiter die Weinlese fortgesetzt. Es versprach, ein guter Jahrgang zu werden. Die Trauben hatten ausreichend Sonne abbekommen. Sie waren süßer und größer als in den vergangenen Jahren. Wohlig lehnte Katharina sich zurück und spürte die Wärme des Septembertages, die das Holz der Bank gespeichert hatte.

Herr Schneider, ihr schokobrauner Labrador, kam gemütlich angetrottet. Unwillkürlich schmunzelte Katharina. Mit seinen zehn Jahren galt er bereits als Hunde-Senior. Sie hoffte, er würde noch einige Jahre leben. Seine behäbige Art machte ihn zu einem Ruhepunkt in ihrem manchmal recht turbulenten Familienleben. Die größte Herausforderung war, die Leitung des Weinguts mit der Kindererziehung zu vereinen, denn dem charismatischen Hannes waren Termine bei der Bank oder einem Großabnehmer nicht allzu wichtig. »Das geht sich schon aus« lautete sein Standardspruch. Und so wurden die täglichen ausgiebigen Spaziergänge mit Herrn Schneider in den Weinbergen für Katharina zu einer Art Ruhe-Ritual.

Der Hund blickte sie aus seinen treuen Augen an und ließ sich zu ihren Füßen nieder. Automatisch beugte sie sich vor und streichelte ihn.

 

»Mama, Telefon!« Die fordernde Stimme ihres Sohnes Oskar schallte vom Haus zu ihr herunter.

Sie hob nur kurz winkend die Hand, drehte sich aber nicht um. Nichts in der Welt konnte Katharina in diesen Momenten stören, sie waren ihr heilig. Das wusste Oskar eigentlich. Er würde Anrufer und Telefonnummer sicher notieren. Nichts war so wichtig, als dass es nicht eine halbe Stunde warten konnte. Katharinas Blick wanderte über die Rebstöcke. Am Anfang jeder Reihe standen Rosen, die auch um diese Jahreszeit noch in kräftigen Rosétönen blühten.

»Mama!« Oskar gab nicht auf.

Katharina seufzte. Konnte er sie denn nicht für diese kurze Zeit in Ruhe lassen?

»Mensch, Mama! Da ist ein Anruf für dich!« Oskar kam angerannt. »Aus Deutschland.« Ein wenig außer Atem blieb er vor ihr stehen. Sein erhitztes Gesicht zeigte den wirklichen Oskar, nicht den pubertierenden fünfzehnjährigen Macho, den er in der letzten Zeit gern herauskehrte.

»Wer ist es denn?«, fragte Katharina verwundert. Sie hatte nur noch wenige Kontakte in der Heimat. Da waren drei alte Schulfreundinnen, mit denen sie regelmäßig telefonierte und die sie auch schon hier auf dem Gut besucht hatten. Und da war Ingrid Brinkmann.

»Keine Ahnung. Hab mir den Namen nicht gemerkt. Ist auf jeden Fall jemand aus einem Krankenhaus.« Oskar drehte sich um und schlenderte zurück zum Haus.

 

Augenblicklich überfiel Katharina ein ungutes Gefühl wie ein Raubtier aus dem Hinterhalt. Eine Mischung aus Angst und … noch mehr Angst. Sie sprang auf. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, dann begann sie zu rennen.

Atemlos erreichte sie die großzügige Wohndiele des Hauses und nahm das Gespräch an.

»Ja?«

»Klinikum Wilhelmshaven, Dr. Winter hier. Spreche ich mit Katharina Baumgartner?«

»Ja.« Sie spürte, dass ihr Mund trocken wurde. Gänsehaut und ein kalter Schauer lösten die Hitze ab, die sie eben noch ins Schwitzen gebracht hatte.

»Frau Baumgartner, ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Ihr Vater mit einer schweren Lungenentzündung eingeliefert wurde. Erschwerend kam ein Kreislaufschock hinzu. Es sieht leider nicht gut aus. Wenn Sie ihn noch lebend sehen möchten, sollten Sie sich beeilen.«

***

Bleich legte Katharina den Hörer auf. Wie erstarrt stand sie da, unfähig, sich zu bewegen. Sie hätte wissen müssen, dass dieser Tag kommen würde. Dass sie jederzeit einen Anruf erhalten konnte, der gnadenlos all das aus den Tiefen ihrer Seele an die Oberfläche katapultierte, was sie bislang erfolgreich verdrängt hatte. Trauer. Und diese unglaubliche Sehnsucht. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich irgendwann all dem würde stellen müssen. Doch sie hatte die Augen davor verschlossen, dass auch ihr Vater nicht unsterblich war. In diesem Moment flutete die Liebe zu ihm ihr Herz, obwohl sie versucht hatte, es vor dieser Liebe zu verschließen. Denn er hatte all ihre Bemühungen abgewehrt, sich ihm zu nähern. Als umgäbe ihn eine unüberwindbare Mauer. Sie hatte alles versucht, doch da war nirgends auch nur ein schmaler Spalt gewesen, durch den sie hätte schlüpfen können.

»Was is’ denn, Mama?« Oskar war ihr hinterhergelaufen und hatte während des Telefonates neben ihr gestanden. »Du schaust so eigenartig.«

Was sollte sie ihrem Sohn antworten? Oskar kannte seinen Großvater nur aus ihren Erzählungen. Nie hatte es Familienbesuche gegeben, nie hatten sie miteinander telefoniert. Zuerst hatte ihr Vater immer aufgelegt, wenn sie sich am Telefon meldete. Dann hatte er das Gespräch nicht einmal mehr angenommen. Zum Schluss hatte sie es mit unterdrückter Nummer versucht, war aber auch gescheitert. Walter Hansen hatte sie aus seinem Leben gestrichen. Seine einzige Tochter. Er war weder bei ihrer Hochzeit mit Hannes gewesen, noch hatte er seine beiden Enkelkinder je sehen wollen. Der Schmerz, den sie bei jedem gescheiterten Versuch empfunden hatte, ihn in ihr Familienleben einzubeziehen, drängte nun mit Macht in ihr Bewusstsein.

Katharina schluckte. »Dein Großvater liegt im Sterben. Das Krankenhaus hat angerufen. Ich soll mich beeilen, wenn ich ihn noch lebend sehen möchte.«

Oskar wich ihrem Blick aus, und sie merkte, dass er keine Ahnung hatte, was er antworten sollte. In diesem Moment war ihr Sohn ein kleiner Fremder. Ein Österreicher, der zwar seinen Opa Joschi bis zu dessen Tod heiß und innig geliebt hatte und der von Oma Maria genau wie seine drei Jahre ältere Schwester Johanna verwöhnt worden war, der aber keine Verbindung zu seiner friesischen Familienhälfte hatte, zu seiner Herkunft.

»Und jetzt?«, fragte Oskar schließlich.

Diese zwei kleinen Wörter lösten Katharina aus ihrer Erstarrung. »Ich nehme den nächsten Flieger.« Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und suchte im Internet die nächsten Flugverbindungen von Graz nach Bremen heraus. Sicherlich könnte sie auch mit dem Zug fahren, aber die Fahrt dauerte wesentlich länger, und so viel Zeit blieb ihr wohl nicht. Nach nicht einmal zehn Minuten hatte sie für den nächsten Tag die Flüge gebucht. In Bremen würde sie sich einen Mietwagen nehmen. Und in achtzehn Stunden würde sie am Krankenbett ihres Vaters stehen. Hoffentlich komme ich rechtzeitig, dachte sie flehentlich.

***

Ingrid Brinkmann legte das schnurlose Telefon auf den Tisch und ließ sich erleichtert in den Sessel zurückfallen. Katharina kam. Es war also richtig gewesen, den Ärzten im Krankenhaus ihre Telefonnummer zu geben. Auch wenn Walter sie garantiert dafür zur Minna machen würde, sobald er wieder auf dem Damm war. Wenn er denn überhaupt wieder auf den Damm kam.

Sie griff zu dem Glas Wasser, das neben ihr auf dem Couchtisch stand, und nahm einige kleine Schlucke. Es hieß ja, ältere Menschen würden dazu neigen, zu wenig zu trinken. Aber mit ihren vierundsechzig Lenzen gehörte sie natürlich noch nicht in diese Riege. Walter hingegen schon. Immerhin war er bereits achtundsiebzig. Als seine langjährige Sekretärin hatte sie sich dafür verantwortlich gefühlt, dass stets ein Glas frisches Wasser auf seinem Schreibtisch stand. Dennoch hatte sie es oftmals zum Feierabend immer noch randvoll wieder abgeräumt.

Warum war der alte Sturkopf nicht eher zum Arzt gegangen? Ihre Sorge um ihn hatte er als überflüssig abgetan. Doch vorgestern war er dann hinter seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Ingrid hatte sofort den Notarzt gerufen. Er hielt es für übertrieben und hatte, schon auf der Krankentrage liegend, noch mit ihr geschimpft. Aber sie hatte recht behalten. Die schwere Lungenentzündung hätte viel eher behandelt werden müssen. Aus einem Impuls heraus hatte sie dem Notarzt Katharinas Telefonnummer in Österreich gegeben. Und eine Kopie der alten Patientenverfügung, in der Walter damals seine Tochter eingesetzt hatte und die er seither in jedem Jahr neu unterschrieb.

Besorgt hatte Ingrid dem Krankenwagen hinterhergesehen, als er vom Gelände gefahren war. Dann hatte sie sich an Thomas gewandt, Walters Neffen und designierten Nachfolger der kleinen Segelwerft. »Wir müssen Katharina benachrichtigen«, hatte sie gesagt.

Doch Thomas hatte barsch abgewunken. »Katharina hat uns alle damals im Stich gelassen. Onkel Walter wollte in all den Jahren keinen Kontakt zu ihr, da wird er auch jetzt keine Ausnahme machen. Sie hat sich für diesen Winzer entschieden. Gegen den Familienbetrieb. Wir müssen Onkel Walters Wunsch respektieren.«

Nachdenklich hatte Ingrid ihn angeschaut. Onkel Walters Wunsch. Normalerweise redete Thomas seinen Onkel nur mit dem Vornamen an. Was führte er im Schilde? Wollte er wirklich lediglich Walters Wunsch respektieren? Oder hatte er gar kein Interesse daran, seinem alten Onkel die Versöhnung mit der Tochter zu ermöglichen? Thomas ging es stets nur um seinen eigenen Vorteil, wie sie mittlerweile spitzgekriegt hatte. Er war ein Egozentriker durch und durch.

»Katharina ist sein einziges Kind«, damit hatte sie Thomas vor der Tür des Bürogebäudes stehen lassen und war hineingegangen. Sie hatte sich Walters Kalender vorgenommen und alle anstehenden Termine der nächsten Tage telefonisch abgesagt.

Und gerade eben hatte Katharina angerufen! Ein dankbares Lächeln huschte über Ingrids Gesicht. Walters Tochter würde morgen Nachmittag in Bremen landen. Ingrid schickte ein kleines Gebet gen Himmel. Und die Bitte hinterher, dass Walter mindestens noch so lange durchhielt, dass er sich mit seiner Tochter aussöhnen konnte. Sie wusste doch, wie sehr er Katharina liebte.

***

»Das ist nicht dein Ernst!« Aufgebracht stemmte Hannes die Fäuste in die Hüften. »Du willst mi doch net wirklich mitten in der Weinlese im Stich lassen? Das geht net! Wir stecken bis über beide Ohren in der Arbeit. Da brauch i jede helfende Hand! Des muss i dir doch net erzählen! Schließlich bist du es, die den deutschen Perfektionismus auf unserem Weingut eing’führt hat.« Sein Ton wurde scharf bei den letzten Worten.

»Hör auf, Hannes. Bitte! Mein Vater liegt im Sterben.« Katharina hatte Mühe, die Fassung zu wahren und nicht in Tränen auszubrechen.

»Du warst deinem Vater all die Jahre schnurzpiepegal! Hast des vergessen?«, entgegnete Hannes kalt. »Er hat sich einen Scheiß um di ’kümmert, er is net amol zur Taufe der Kinder kumman. Dem is’ es wahrscheinlich auch jetzt liaber, allein zu krepieren, als wenn’st ihm vorher noch an B’such abstattest. Hätt’ er ja haben können. Hätt’ sich nur amol meld’n müssen, der feine Herr. Aber nein, i war dem net gut g’nug. Es hat ihm net g’passt, dass sei Tochter an Winzer heiratet. Wie er mi abschätzend betrachtet hat, als mir bei ihm war’n und du ihm g’sagt hast, dass’d mi heiraten willst. Des vergess i nie! Der hat ja kaum mit mir g’redet. Hat mi wie Luft behandelt. A liebevoller Vatter is’ was anderes.«

Sie saßen in der geräumigen Wohnküche um den Esstisch aus dunkel lackiertem Kiefernholz, auf dem eine rot-weiß karierte Tischdecke für bäuerliche Gemütlichkeit sorgte. Oskar und Johanna fühlten sich sichtlich unwohl und blickten unsicher von Hannes zu ihr. Das tat ihr leid, trotzdem wollte Katharina sie bei diesem Gespräch dabeihaben. Es ging schließlich um eine Familienangelegenheit. Selbst wenn es in diesem Fall den Großvater betraf, zu dem sie nie Kontakt gehabt hatten.

»Du magst in allem recht haben«, konterte Katharina. »Aber er ist dennoch mein Vater. Und ich möchte ihn vor seinem Tod noch einmal sehen, wenn mir die Gelegenheit dazu überhaupt noch vergönnt sein sollte. Ich möchte ihm sagen, wie sehr ich darunter gelitten habe, dass er den Kontakt zu uns abgelehnt hat. Ich will ihm aber auch sagen, wie sehr er mir in all den Jahren gefehlt hat. Dass ich nicht verstehe, wie er so stur sein konnte und dir nicht mal die Chance gegeben hat, ihn näher kennenzulernen. Wie sehr ich darauf gehofft habe, dass er irgendwann auf einen meiner vielen Briefe oder auf die Fotos der Kinder reagiert.« Sie sah ihrem Mann direkt in die Augen. »Glaub mir, auch wenn mich sein Verhalten noch immer sehr traurig macht, bin ich dem Schicksal dankbar, dass es mir auf diese Art eine letzte Chance gibt, Frieden mit ihm zu schließen. Und diese Chance werde ich nutzen.«

Hannes kniff die Augen zusammen. »Wenn’st des unbedingt möchtest, dann fahr halt. Allerdings hob i ka Zeit, dich zum Flughafen zu bringen. I hob im Weinberg zu tun. Einer muss sich schließlich um den Betrieb kümmern.« Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum.

Katharina, Johanna und Oskar starrten ihm hinterher. Dann stand Johanna auf, kam um den Tisch herum und umarmte ihre Mutter.

»Hab doch ein bisschen Verständnis für Papas Reaktion, Mama«, bat sie leise. »Er kriegt sich schon wieder ein. Und ich fahre dich morgen gerne zum Flughafen.«

Katharina fühlte sich seltsam leer. Sie hatte nicht gewusst, dass die Ablehnung ihres Vaters Hannes auch nach so vielen Jahren noch derart kränkte. Ihr Vater war irgendwann einfach kein Thema mehr zwischen ihnen beiden gewesen. Sie hatte sich mit der Situation arrangiert, wie sie sich mit so manchem in ihrer Ehe arrangiert hatte. Trotzdem verletzte es sie, dass Hannes ihrem Wunsch nach Versöhnung kein wirkliches Verständnis entgegenbrachte und ihr vorwarf, das Weingut im Stich zu lassen. Als wenn sie sich nicht mit Freude darum kümmerte! Sie war es schließlich, die die komplette Büroarbeit erledigte. Sie verhandelte mit den Abnehmern, den Gastronomen der Region, dem Großhandel, sie war die Ansprechpartnerin für die Bank. Hannes hingegen packte auf dem Gut mit an. Bislang hatte sie gedacht, sie seien ein perfektes Team, das sich in jeder Hinsicht wundervoll ergänzte. Und nun das.

Als Johanna zu einer Freundin gefahren war und Oskar sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, um eine weitere Folge seiner Lieblingsserie auf Netflix zu schauen, packte Katharina ihren kleinen Koffer. Eine Woche würde sie schon damit hinkommen, wer wusste denn, was sie in ihrem Heimatdorf überhaupt erwartete.

Sie war froh, Ingrid Brinkmann angerufen zu haben. Ingrid hatte ihrer Freude darüber, dass Katharina kommen würde, unverhohlen Ausdruck verliehen. »Ich hole dich am Flughafen ab«, hatte sie gesagt. »Du kannst hier den Wagen deines Vaters nutzen und brauchst dir kein Auto zu mieten.«

Katharina stellte den Koffer in den Flur. Hannes war noch immer nicht zurück. Sie ging in die Küche, nahm die angebrochene Flasche Welschriesling aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Sie liebte die fruchtigen Aromen von Apfel und Zitrus, die in diesem Wein anklangen und von einer frischen, lebendigen Säure begleitet wurden. Mit dem Glas setzte sie sich auf die Terrasse und zündete ein Windlicht an.

Die Abendsonne tauchte die Weingärten in ein warmes Licht, noch war es mild. Kein Vergleich zu dem, was sie an der Nordsee erwarten würde, wo der Wind allgegenwärtig war und fast immer von vorn zu kommen schien. Unwillkürlich fröstelte sie, und ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, in der ihr Vater und sie noch ein Herz und eine Seele gewesen waren.

Als Hannes nach Hause kam, war es bereits dunkel.

»Wann geht dein Flug?«, fragte er.

Hoffnung keimte in Katharina auf. Vielleicht konnten sie doch noch vernünftig miteinander reden. »Um halb zehn morgen früh«, antwortete sie.

»Nun denn. Du wirst scho wissen, was du tust. Obwohl ich es als eine Art Verrat an mir empfinde, dass’d jetzt zu ihm fährst.« Er drehte sich um. »I werd im Gästezimmer schlafen. Gut’ Nacht.«

Katharina sah ihm nach, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihm nachzulaufen, und der Enttäuschung darüber, dass er ihr in dieser schweren Situation kein bisschen Verständnis entgegenbrachte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren weinte sie sich in den Schlaf, als sie alleine im großen Bett lag.

***

Unruhig wälzte sich Walter Hansen im Krankenhausbett hin und her. Die Geräte, an die er angeschlossen war, piepten in monotonem Gleichklang. Das rote und kaltblaue Licht der Digitalanzeigen wirkte wie eine in die Jahre gekommene Discokugel. Selbst wenn Walter das nur am Rande wahrnahm. Sein Unterbewusstsein quälte ihn. Er durfte jetzt nicht schlappmachen. Die Werft befand sich in einer gefährlichen Lage. Er musste sie retten. Die Werft war doch wie ein Kind für ihn. Alles, wofür er gelebt hatte, nachdem Katharina damals gegangen war.

»Sssccccchhh, ruhig, Herr Hansen.« Jemand war an sein Bett getreten. Eine weibliche Stimme, die er niemandem zuordnen konnte, sprach besänftigend auf ihn ein und jemand nahm seine Hand.

Schwach öffnete er die Augen. Konnte sie aber nicht lange offen halten.

»Ich muss …«, flüsterte er. »Ich muss …« Ihm fehlte die Kraft, um den Satz zu Ende zu bringen. Aber er musste doch zurück in sein Büro! Wieder versuchte er zu sprechen. Sein Atem ging schwer.

Das Piepen der Geräte wurde hektischer.

»Herr Hansen?« Die Stimme der Krankenschwester wurde aufgeregter. »Herr Hansen?« Sie ließ seine Hand los. »Ach du Scheiße«, hörte er wie aus weiter Ferne, und wenig später schienen mehrere Stimmen um ihn herumzuschwirren.

»Sssccchhh … ganz ruhig … bleiben Sie ganz ruhig.«

Kurz darauf spürte Walter über die Braunüle ein Medikament in seine Adern laufen. Es fühlte sich kühl an. Ließ ihn frösteln. Nur wenige Momente später verschwammen die Gedanken. Katharina, dachte er sehnsüchtig. Doch es war nicht Katharina, die gesprochen hatte.

***

In aller Herrgottsfrühe stand Katharina auf, kochte Kaffee, schmierte Vollkornbrote und belegte sie mit steirischem Vulcanoschinken. Im Stehen verzehrte Hannes Brot und Kaffee.

»Versteh mich doch«, bat Katharina ihn. »Ich muss einfach fahren. Das ist kein Verrat an dir. Ich liebe dich. Aber es könnte meine letzte Chance sein, mich mit meinem Vater auszusöhnen.«

Hannes wischte sich mit der Hand über den Mund und sah ihr fest in die Augen. Dann zwinkerte er. »Komm her.« Er streckte eine Hand nach ihr aus, die sie eilig ergriff. Er zog sie in seine Arme. »Fahr. Meinen Segen hast du. I war gestern einfach a bisserl zu überrascht. Und wütend auf deinen Vater. Weil er dir so lange mit seiner Ablehnung wehgetan hat. Und mir auch, wenn i’s a net mehr g’zeigt hab. Vielleicht sollt’ es so sein, dass jetzt andere entscheiden, dass’d zu ihm kommen sollst.« Er küsste sie auf den Haaransatz.

Erleichtert lehnte sie sich an ihn und sog tief seinen vertrauten Duft ein. »Danke. Das bedeutet mir sehr viel. Ich wäre ungern im Streit mit dir gefahren.«

»Brauchst’ ja auch net.« Er hob ihr Kinn sanft an und küsste sie auf den Mund. »Und nun muss i los. Servus. Meld’ di, wenn’d angekommen bist.«

Lächelnd sah Katharina ihm hinterher. Obwohl er vor Kurzem fünfzig geworden war, strahlte Hannes jugendliche Kraft und unbändigen Tatendrang aus. Seine durchtrainierte Figur, die sonnengebräunte Haut, das leicht ergraute Haar: Sein Anblick ließ ihr Herz immer noch höherschlagen. Als er sie damals hier auf dem Weingut im Abendsonnenschein vor dieser traumhaften Bergkulisse gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle, hatte sie gedacht, ein Märchen würde wahr werden. Dass es allerdings auch in jedem Märchen Konflikte gab, daran hatte sie damals nicht gedacht.

 

»Was meinst du, sollen Oskar und ich nachkommen?«, fragte Johanna, als sie ihre Mutter zum Flughafen Thalerhof fuhr.

Wie Hannes fuhr auch Johanna sehr schneidig. Am liebsten hätte sich Katharina selbst hinter das Steuer geklemmt, aber Johanna hatte sich wie selbstverständlich die Autoschlüssel geschnappt, während Katharina noch ihr Gepäck in den Kofferraum wuchtete. Nun hielt sie sich am Haltegriff über dem Fenster fest, verkniff sich jedoch jegliche Kritik an Johannas Fahrstil, um nicht in den letzten Minuten mit ihrer Tochter in Streit zu geraten.

»Ich meine, es wäre doch schön, wenn wir deinen Vater wenigstens noch kennenlernen, bevor …« Johanna verstummte.

Auch Katharina schwieg. Deinen Vater. Das klang so fremd. Als wäre Johanna nicht Walters Enkeltochter. Dabei war sie es, nur nicht so unverkennbar wie Oskar sein Enkelsohn. Aber sie war genauso geradeheraus wie ihr Opa. Und sie hatte sich gewünscht, ihn kennenzulernen.

Als sie damals eingeschult wurde, hatte Johanna gesagt: »Mama, wenn ich erst mal schreiben kann, schicke ich ihm einen Brief. Bestimmt freut er sich darüber und besucht uns dann endlich.«

In den ersten Wochen, nachdem sie ihren Brief abgeschickt hatten, fragte Johanna noch nach. »Hat der Opa geantwortet?« Irgendwann waren die Fragen ausgeblieben. Als Oskar lesen und schreiben gelernt hatte, startete er erst gar keinen Versuch, dem fernen Opa an der Nordsee nahezukommen.

»Lass mich erst einmal sehen, wie die Situation vor Ort tatsächlich ist, Mäuschen«, bat sie. »Ich bin ja froh, überhaupt so schnell einen Flug nach Bremen bekommen zu haben. Sobald ich bei Opa war, melde ich mich. Und sobald es Sinn ergibt, buchen wir eure Flüge. Versprochen.«

»Okay.« Johanna hielt vor dem Eingang des Terminals auf dem Kurzparkstreifen. »Du warst ganz schön lange nicht in Hooksiel, oder?«

Katharina hatte schon eine Hand am Türgriff, doch sie ließ ihn wieder los. »Seit über zwanzig Jahren nicht«, antwortete sie leise.

»Es muss ein komisches Gefühl sein, jetzt wieder hinzufahren. Vor allem unter diesen Umständen.«

Katharina nickte. »Ja, das ist es wirklich.«

»Hättest du nicht schon viel früher mal über deinen Schatten springen und einfach bei Opa vor der Tür stehen sollen?«

»Es hätte nichts gebracht. Er hätte mir nicht aufgemacht. Er hat ja nicht einmal den Hörer abgenommen, wenn ich angerufen habe. Beziehungsweise gleich wieder aufgelegt, sobald ich mich meldete.«

»Du hättest es dennoch versuchen können. Wer weiß, wie er reagiert hätte, wenn du leibhaftig vor ihm gestanden hättest.«

»Ja, wer weiß«, antwortete Katharina gedehnt. Diesen Gedanken hatte sie am gestrigen Abend ebenfalls gehabt. »Aber dieses ›Was wäre wenn …‹ bringt uns jetzt nicht weiter. Es ist, wie es ist, und nun fahre ich ja hin. Drück mir die Daumen.« Katharina sog seufzend die Luft ein und öffnete die Beifahrertür. »Danke fürs Fahren, meine Große«, sagte sie unbeholfen, streckte dann aber doch die Hand aus und strich ihrer Tochter über die Wange.

Johanna beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. »Wenn etwas ist, Mama, du kannst mich jederzeit anrufen, das weißt du.«

Unvermittelt stiegen in Katharina die Tränen auf. Sie blinzelte sie schnell weg. »Danke, mein Schatz.« Seufzend stieg sie aus, hob den Koffer aus dem Kofferraum, warf Johanna noch eine Kusshand zu und betrat das Flughafengebäude.

***

Nervös saß Ingrid Brinkmann beim Selbstbedienungsbäcker im Ankunftsterminal des Bremer Flughafens vor einem Milchkaffee. Sie war schon über eine Stunde in der Empfangshalle herumgeschlendert. Aus Angst, zu spät zu kommen, hatte sie einen großzügigen Zeitpuffer für die Fahrtzeit eingeplant. Um sie herum herrschte ein geschäftiges Treiben, aufgeregte Kinderstimmen, Eltern, die zur Geduld mahnten. Sie spürte Urlaubsvorfreude und sah gelangweilte Geschäftsleute. Rollkoffer wurden geschoben oder gezogen, an einigen Check-in-Schaltern bildeten sich lange Schlangen.

Am Nebentisch küsste sich ein Pärchen wieder und wieder. Ein kleiner Junge kippte die Cola seines Vaters um, sodass der nun sauer und in nasser Jeans dasaß, während die Mutter versuchte, den Schaden zu begrenzen und mit Zellstoffservietten die Hose ihres Mannes zu trocknen. Ingrid amüsierte sich. Das waren eben die kleinen und großen menschlichen Dinge. Sie sah auf die Uhr. Die Minuten verstrichen so langsam. Und mit jeder Minute wuchs ihre Aufregung.

Nicht mehr lang, dann war Katharina da. Ingrid kannte sie von Kindesbeinen an. Ihre eigene Tochter Angela und Walters Tochter waren früher dicke Freundinnen gewesen. Auch nachdem Katharina Ostfriesland verlassen hatte und in Österreich geblieben war, hielten sie regelmäßig Kontakt.

Auf der Segelwerft hatte Ingrid heute Morgen Bescheid gegeben, dass sie die Tochter des Chefs vom Flughafen abholen würde. Natürlich hätte ihr das niemand verbieten können – nicht einmal Walters Neffe Thomas, der als Prokurist derzeit die Geschäfte des Unternehmens führte. Ingrids Ankündigung hatte zu fragenden Blicken geführt. Obwohl die meisten wussten, dass »der Alte«, wie er innerhalb der Belegschaft genannt wurde, eine Tochter hatte, war Katharina für viele nur ein gesichtsloser Name. Lediglich Matthias, der Takelmeister, hatte genickt.

»Wird auch Zeit, dass Kathie wieder herkommt«, hatte er gesagt. »Ist lang genug weg gewesen. Wer weiß, vielleicht läuft es nicht mehr so gut zwischen ihr und dem Winzer, und sie bleibt.«

Ingrid hatte geschmunzelt. Matthias und Katharina. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie verliebt die beiden in den Mittagspausen über das Gelände gezogen waren. Damals. Bevor Katharina nach Wien ging, um dort Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Um sich dafür zu rüsten, später die väterliche Werft zu übernehmen. Doch in Wien hatte Katharina Hannes kennengelernt. Die Brandspuren, die sie in der Heimat sowohl bei Matthias als auch bei Walter hinterließ, hatte sie nicht sehen wollen.

 

Ein weiterer Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit. Ingrid stand auf und stellte ihr Tablett in den dafür vorgesehenen Rollcontainer. Mit pochendem Herzen lief sie hinüber zu dem abgesperrten Ankunftsbereich. Schon öffnete sich die automatische Tür und spuckte die ersten Fluggäste aus.

Nervös hielt Ingrid nach Katharina Ausschau. Endlich entdeckte sie sie. Unbeschreibliche Freude machte sich in ihr breit. Selbst wenn sie die Fotos nicht gesehen hätte, die Walters Tochter all die Jahre über nach Hooksiel an die Büroadresse ihres Vaters geschickt hatte, hätte Ingrid Katharina überall erkannt. Denn sie sah ihrem Vater unglaublich ähnlich. Dieselben vollen, lockigen Haare, die beeindruckende Körpergröße. Mit ihren gut ein Meter achtzig stach Katharina aus der Masse heraus.

»Katharina!« Ingrid winkte. Sofort wandte sich Katharina ihr zu, und für einen Augenblick war Ingrid doch überrascht. Natürlich wusste sie, dass Katharina nicht mehr die junge Frau war, die damals euphorisch und voller Begeisterung für ein Studium ins Ausland gegangen war. Doch während sie auf den Fotos stets einen unbekümmerten und fröhlichen Eindruck machte, sah man ihr jetzt deutlich an, dass sie eine Frau von Anfang vierzig war. Ingrid vermutete, dass auch die letzten vierundzwanzig Stunden Spuren in Katharinas Gesicht hinterlassen hatten.

Als Katharina endlich vor ihr stand, nahm Ingrid sie in die Arme. Es war ihr egal, dass Walters Tochter so lange fort gewesen war. Hauptsache, sie war wieder zurück.

***

Nach der ersten Wiedersehensfreude machte sich eine eigenartige Sprachlosigkeit zwischen den beiden Frauen breit. Katharina wusste nicht, wo sie anfangen sollte, zu fragen, und Ingrid schien es ähnlich zu gehen, obwohl sie sich in der Vergangenheit doch stets telefonisch über das Wesentliche ausgetauscht hatten. Schweigend liefen sie hinüber zum Parkhaus.

Auf dem Weg vom Fahrstuhl zum Auto spürte Katharina unvermittelt Ingrids Hand, die nach ihrer griff. »Er wird es ganz bestimmt schaffen. Jetzt, wo du da bist.«

»Ich habe Angst«, gab Katharina zu. »Angst, er könnte sich zu stark aufregen, wenn er mich sieht. Angst davor, dass mein Besuch eher das Gegenteil bewirkt und nicht hilfreich ist.« Sie blieb stehen und sah Ingrid an. »Du wolltest ja schon länger mal, dass ich zu Besuch komme. Und Johanna hat mich heute Morgen gefragt, warum ich nicht eher hergefahren bin. Sie meint, ich hätte es versuchen müssen.« Katharina schluckte. »Hat sie recht? Hätten wir eine Chance gehabt, wenn ich einfach vor ihm gestanden hätte?«

Ingrid schwieg nachdenklich. Dann strich sie Katharina sanft über den Arm. »Es ist jetzt müßig, darüber nachzugrübeln, ob es etwas geändert hätte. Damit quälst du dich nur. Du bist ja nur deshalb nicht gekommen, weil dein Vater dir zu verstehen gegeben hat, er wolle nichts mehr mit dir zu tun haben. Wie er sich verhalten hätte, wenn du tatsächlich vor seiner Tür gestanden hättest, kann nur er dir beantworten. Aber nun komm. Ich befürchte, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

***

»Ich hab Mama lieber doch nichts von uns gesagt.« Johanna kuschelte sich an Paul. Sie hatten es sich im alten Heuschober des Weingutes gemütlich gemacht, der zwar nur noch wenig Heu beherbergte, dafür aber die Ruhe und Abgeschiedenheit bot, die sie suchten.

Sie hatte Paul auf dem Rückweg vom Flughafen angerufen. Die Gelegenheit war günstig. Ihr Vater war bis zum Abend im Weinberg beschäftigt, Oskar wollte zu einem Freund zum Lernen gehen. In ihr Zimmer konnte Johanna ihren Freund natürlich nicht mitnehmen. Denn falls ihr Vater überraschend heimkommen sollte, wäre sie in ziemlicher Erklärungsnot. Schließlich war Paul nicht nur elf Jahre älter als sie, sondern auch verheiratet. Aber was sollten sie machen, sie hatten sich ineinander verliebt.

Es war ein unbeschreiblicher Moment gewesen, als sie ihm vor sechs Monaten in dem Café begegnet war, in dem sie jobbte. Sie hatte ihm einen Kleinen Braunen serviert. Sein Blick, die Art, wie er sich bedankte und sie ansah. Ihre Knie waren augenblicklich weich geworden. Sie hatte inständig gehofft, ihn wiederzusehen. Hatte sogar extra mehr Schichten übernommen, obwohl sie kurz vor der Maturaprüfung stand. Und das Warten hatte sich gelohnt. Paul war wiedergekommen.

Zunächst hatten sie sich nur im Café gesehen, dort das eine oder andere private Wort gewechselt. Irgendwann hatte Johanna es nicht mehr ausgehalten und ihn einfach direkt gefragt, ob er sich auch einmal außerhalb ihres Dienstes mit ihr treffen wollte. Er wollte. Dass er verheiratet, seine Ehe jedoch unglücklich war, hatte er ihr allerdings erst nach drei Wochen gebeichtet.

»Weißt du, nachdem Mama erfahren hat, dass mein Opa im Sterben liegt, fand ich es nicht angebracht, ihr von uns zu erzählen. Das hole ich aber so bald wie möglich nach. Und dann kann sie gut Wetter bei Papa für uns machen.« Heusporen tanzten im hereinfallenden Sonnenlicht, und Johanna spürte die Septemberwärme, die ihre nackten Körper einhüllte.

Paul fischte einen Strohhalm aus ihrem Haar und küsste sie sanft. »Pssst, du Dummchen. Du sollst es ihr doch auch gar nicht sagen.« Er strich ihr übers Gesicht. »Du sollst es noch niemandem sagen. Das bleibt vorerst unser Geheimnis. Wir wollen unsere Liebe erst richtig auskosten, bevor wir sie öffentlich machen. Außerdem muss ich zuvor mit meiner Frau sprechen. Das aber …« Er sah sie mit traurigem Blick an.

Johanna lächelte mitfühlend. »Ich weiß, du magst ihr nicht wehtun. Aber du wirst es ihr sagen müssen, wenn wir glücklich werden wollen.«

»Ja«, sagte er. »Das werde ich auch.« Wieder küsste er sie. »Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

***

Ohne den Umweg über ihr Elternhaus zu machen, steuerten Katharina und Ingrid das Klinikum Wilhelmshaven an, in dem Walter Hansen auf der Intensivstation lag. Je näher sie dem Krankenhaus kamen, desto unsicherer wurde Katharina.

»Was, wenn mein Anblick ihm den Rest gibt?«, fragte sie die Sekretärin ihres Vaters erneut. »Was, wenn ich dann Schuld bin an seinem Tod?«

»Das wird nicht passieren.« Zuversicht klang in Ingrids Stimme mit. »Glaub mir, er freut sich, wenn du endlich wieder bei ihm bist. Ich weiß es bestimmt.«

»Wirklich?«, fragte Katharina ängstlich. Sie kam sich wie ein kleines Mädchen vor. Nicht wie eine erwachsene Frau von Anfang vierzig, die Geschäftsfrau sowie Mutter von zwei fast erwachsenen Kindern war und mit beiden Beinen fest im Leben stand. In diesem Moment fühlte sie sich nur als Tochter. Und ganz klein.

 

Als sie sich der Intensivstation näherten, blieb Ingrid stehen. »Ich warte hier auf dich«, sagte sie.

Ein paar Kunststoffstühle standen auf dem nüchternen Krankenhausflur, dazwischen ein kleiner Tisch mit zerlesenen Zeitschriften. Hier hatte offenbar schon so mancher darauf gewartet, Auskunft von den Ärzten zu erhalten. »Nimm dir so viel Zeit, wie ihr füreinander braucht. Ich bin da.«

Spontan drückte Katharina ihr einen Kuss auf die Wange. Es tat so gut, in dieser Situation nicht allein zu sein.

Als Katharina sich an der Tür zur Intensivstation gemeldet, den Kittel und die Einwegüberschuhe angezogen hatte und eingelassen worden war, nahm die anwesende Krankenschwester sie einen Moment beiseite. Überall piepten Geräte, von Stille keine Spur. Man hörte niemanden sprechen. Nur das ständige Piepen. Und gelegentliches Stöhnen. Katharina schnürte es den Hals zu. War einer dieser stöhnenden Menschen ihr Vater?

»Es ist gut, dass Sie so schnell herkommen konnten«, sagte die Intensivschwester nun. »Ich bin sicher, Ihr Vater wird spüren, dass Sie da sind.«

Irritiert sah Katharina sie an. »Er wird es spüren? Kann ich nicht mit ihm reden?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Er war schon sehr unruhig, als er eingeliefert wurde. Unsere Medikation hat ihm diese Unruhe nicht nehmen können. Unabhängig von seinem Gesundheitszustand scheint ihn etwas sehr zu beschäftigen. Zusätzlich hat der Infekt seinem Körper allerhand abverlangt. In Kombination mit der eingeschränkten Lungenfunktion und seiner kardialen Vorerkrankung hat er zum Kollaps des gesamten Organismus geführt. Wir mussten ihn deshalb heute Morgen ins künstliche Koma versetzen. Damit sein Körper die Möglichkeit hat, zunächst die primären Gefährdungen zu bekämpfen.«

»Das heißt was?«, fragte Katharina beklommen.

»Aus medizinischer Sicht tun wir unser Möglichstes. Das allein reicht aber leider nicht immer aus. Und auch wenn wir hier nicht in einem christlichen Krankenhaus sind, würde ich sagen: Wir können in diesem Fall nur abwarten. Und beten.«

»Darf ich zu ihm?« Katharina bemühte sich, ihre Anspannung zurückzudrängen. Hoffentlich war sie nicht doch zu spät gekommen.

»Sicher. Aber erwarten Sie keine Reaktion. Reden Sie ruhig mit ihm. Wir wissen, dass Komapatienten eine Menge von dem mitbekommen, was um sie herum geschieht, auch wenn das individuell sicher unterschiedlich ist. Erzählen Sie ihm etwas Schönes. Aber bleiben Sie für den Anfang nicht zu lang. Folgen Sie mir bitte.«

Die Schwester lief vor und Katharina hinterher. Wenig später stand sie in einem Zweibettzimmer am Bett eines alten Mannes, der wenig mit dem Vater gemein hatte, dessen Bild sie tagtäglich vor ihrem inneren Auge sah. Er trug ein Krankenhaushemd, war an Geräte angeschlossen, die fortwährend blinkten. Er gab keinen Laut von sich. Ganz im Gegensatz zu seinem Bettnachbarn, der zahlreiche Bandagen und einen Kopfverband trug und unentwegt stöhnte.

»Sie können sich gerne einen Stuhl nehmen«, sagte die Schwester, bevor sie das Zimmer verließ.

Behutsam zog sich Katharina einen Stuhl heran. Setzte sich und betrachtete ihren Vater. Diesen alten Mann, der seltsamerweise fremd und vertraut zugleich war. Seine Haut war eigenartig grau, das Gesicht eingefallen. Alt war er geworden. Hatte Falten, die sie nicht kannte. Das einst graumelierte Haar war weiß. Die Ohren größer, als sie sie in Erinnerung hatte. Aus der Nase wuchsen Haare. Der Mann, den sie als kraftvollen, energiegeladenen Endfünfziger in Erinnerung hatte, lag nun als Greis vor ihr.

Mechanisch griff sie nach seiner Hand und streichelte sie. Die Haut erschien ihr dünn wie Pergament. »Ich bin da, Papa«, flüsterte sie, und in diesem Augenblick rannen Tränen ungebremst über ihre Wangen. »Endlich bin ich wieder bei dir.«

***

Walter Hansen hörte die Stimme seiner Tochter. Obwohl er sich wie in Watte gehüllt fühlte und die Augen nicht öffnen konnte. Er spürte die Wärme ihrer Hand, die auf seiner lag. Was für ein wunderbarer Traum. Lange hatte er nicht mehr so beglückend geträumt. Staunend vernahm er die Worte, die Katharina ihm liebevoll sagte. Tränen rannen über seine Wangen. Er spürte deutlich ihre Nähe, dabei war sie doch so weit weg. In einem anderen Land. In einem anderen Leben. Wie er sich all die Jahre nach ihr gesehnt hatte.

Nach dem frühen Tod seiner Frau war ihm nur Katharina geblieben. Aber auch sie hatte er nicht zu halten vermocht. Sie hatte ihn verlassen. Und sich seiner Sturheit ergeben. Nicht gegen ihn aufbegehrt. Dabei hatte er gehofft, sie wäre wie er. Würde um das kämpfen, was ihr wichtig war. Aber vielleicht war er ihr nicht mehr wichtig gewesen, nachdem dieser Winzer aufgetaucht war, den sie gegen seinen Willen geheiratet hatte. Dieser Winzer, für den sie ihr altes Leben mit einem Fingerschnipsen weggeworfen hatte.

Walter merkte, dass er keine Luft mehr bekam. Er musste um jeden Atemzug kämpfen. Das monotone, leise Piepen veränderte sich plötzlich. Wurde hektischer. Lauter.

»Papa?« Katharinas Stimme. »Papa?« Angst schwang darin mit.

Gleich darauf mischten sich aufgeregte Stimmen in das hektische Piepen.

»Wir verlieren ihn!«

»Beatmungstubus.«

»Herzmassage!«

Dann wurde es dunkel. Und still.

***

Ingrid Brinkmann hatte die Zeit aus dem Blick verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie schon im Warteraum saß, als sich die Tür der Intensivstation öffnete und Walters Tochter herauskam. Bleich sah sie aus. Sie eilte auf Ingrid zu und warf sich in ihre Arme, obwohl sie noch den Einmalkittel und die Überschuhe aus Plastik trug.

»Ich hätte nicht kommen dürfen«, sagte Katharina schluchzend. »Ich bin schuld, wenn er jetzt stirbt.«

»Sch, ganz ruhig …« Ingrid strich ihr hilflos über den Kopf. »Was ist denn geschehen?«

Katharina sah sie an. »Ich habe bei ihm gesessen. Seine Hand gestreichelt. Ihm gesagt, wie sehr er mir gefehlt hat. Wie sehr ich ihn liebe. Und plötzlich bekam er Atemnot. Die Geräte fingen an zu piepen. Ich musste aus dem Zimmer und ihn mit dem Personal alleine lassen. Ingrid, ich hätte nicht kommen dürfen. Dass ich da bin, hat ihn zu sehr aufgeregt. Er hat mich einfach nicht mehr sehen wollen.« Schluchzend ließ sie sich auf einen der Plastikstühle fallen und von Ingrid in den Arm nehmen.

Die Minuten zogen sich quälend langsam dahin, bis sich die Tür zur Intensivstation öffnete und ein Arzt heraustrat.

»Frau Baumgartner?«

Katharina nickte.

»Wir haben Ihren Vater wieder stabilisieren können. Aber es ist besser, wenn er für heute keinen weiteren Besuch bekommt.«

Katharina nickte erneut.

»Ich verstehe.« Sie senkte den Kopf. »Vielleicht ist es besser, wenn ich gar nicht mehr komme. Vielleicht hat mein Besuch diese Situation ausgelöst.«

»Sie sind sein einziges Kind?«, fragte der Arzt.

»Ja. Aber wir hatten lange keinen Kontakt.«

»Herr Hansen liebt seine Tochter«, mischte sich nun Ingrid ein. »Das weiß ich. Dass sie hier ist, tut ihm bestimmt gut.«

»Kommen Sie morgen wieder«, sagte der Arzt. »Dann sehen wir weiter.«

Bedrückt zog Katharina sich die Schutzkleidung aus, warf sie in den dafür vorgesehenen Entsorgungsbehälter und verließ mit Ingrid das Krankenhaus.

»Danke. Trotzdem«, sagte Katharina unvermittelt.

»Wofür?«, wollte Ingrid wissen.

»Dafür, dass du den Ärzten meine Telefonnummer gegeben hast. Dafür, dass ich ihn noch einmal lebend sehen durfte. Auch, wenn ich nun vielleicht schuld daran bin, dass er stirbt.«

»Unsinn!« Ingrid wies diesen Gedanken strikt zurück. »Er liebt dich nach wie vor. Ich habe den Arzt nicht angeschwindelt. Glaube mir.«

»Das würde ich ja gern, wenn ich es dir doch nur glauben könnte.« Katharina wischte sich über die Augen. »Bringst du mich jetzt bitte nach Hause?«

Ingrid nickte. Ihre Mission war geglückt. Sie hatte die Tochter zum Vater zurückgebracht. Alles Weitere würde sich fügen.

***

Als Katharina vor ihrem Elternhaus aus dem Wagen stieg, hatte sie sich wieder ein wenig gefangen. Sie zog den Schlüssel mit dem kleinen hölzernen Segelschiff als Anhänger aus der Handtasche und hielt inne. »Passt der überhaupt noch, oder hat mein Vater ein neues Schloss einbauen lassen?«, fragte sie Ingrid, die nun ebenfalls ausgestiegen war.

»Nein. Er müsste passen. Zumindest sieht er genauso aus wie der, den dein Vater mir als Reserveschlüssel gegeben hat. Siehst du?« Sie zog ebenfalls einen Schlüssel aus ihrer Tasche. »Ich wusste ja nicht, ob du noch einen Schlüssel hast«, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu.

»Alles gut«, sagte Katharina und sog tief die Luft ein, um sich zu wappnen für das, was nun vor ihr lag. Ingrid schien ihre Anspannung zu spüren.

»Soll ich mit reinkommen und uns etwas zu essen machen?«, fragte sie behutsam.

Katharina schüttelte den Kopf. »Das ist ganz lieb, aber ich möchte jetzt gern allein sein. Zur Not fahre ich morgen in den Ort und hole mir beim Bäcker einen Kaffee und ein Brötchen. Wie ich Papa kenne, hat er in der Garage nur eine Kiste Mineralwasser und Jever Pils gelagert. Aber nach essen steht mir der Sinn ohnehin nicht.«

»Ich hab dir Brot, Eier, Käse und Aufschnitt besorgt. Und ein Glas Nutella. Das hast du früher so gern gegessen. Ist alles in der Küche.«

»Danke! Du bist die Beste.« Katharina beugte sich zu Ingrid hinüber und küsste sie auf die Wange. »Ich melde mich morgen.« Dann fiel ihr Blick auf den silbernen SUV, der in der Auffahrt stand. »Ist das Papas Auto?«

Ingrid nickte. »Ja. Ein anderes steht noch in der Garage, aber dieses benutzt er normalerweise. Der Schlüssel …«

»Ich werde ihn schon finden«, unterbrach Katharina sie, denn mit einem Mal verspürte sie das Bedürfnis, sofort allein zu sein.

»Ist gut. Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst.«

»Bis morgen komme ich schon klar. Aber noch einmal: Danke für alles.«

Katharina nahm ihren Koffer und ging zur Eingangstür. Einen Augenblick zögerte sie, bevor sie die Tür aufsperrte. Dann atmete sie erneut tief durch, drehte sich noch einmal um und sah Ingrid winkend davonfahren. Katharina drückte die Haustür auf und ließ den Koffer im Vorflur stehen. Bedächtig öffnete sie die Tür zur Diele. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen.

Und die Vergangenheit.

Nichts schien sich verändert zu haben, seit sie zuletzt hier gewesen war. Ganz als wäre die Zeit stehengeblieben. Mit trockenem Mund ging Katharina weiter. Sie blickte links in die Küche. Es kam ihr vor, als wäre sie erst gestern gegangen. Nur der Wasserkocher war neu, das registrierte sie unwillkürlich. Statt des weißen Plastikungetüms stand neben der Spüle nun ein modernes Edelstahlgerät. Auch das Wohnzimmer war auf den ersten Blick bis auf einen neuen Flachbildfernseher unverändert. Im Esszimmer stand noch immer der Kunstblumenstrauß auf dem Tisch, den ihre Mutter in den letzten schweren Wochen ihrer Krebserkrankung gekauft hatte. »Damit euch die Blumen als Erinnerung an mich bleiben«, hatte sie damals gesagt.

Tränen stiegen Katharina in die Augen. Ihre Mutter war eine begeisterte Hobbygärtnerin gewesen. Besonders die Rosen hegte und pflegte sie wie ihren Augapfel. Katharina hingegen hatte sich schon als Kind lieber ein Gewächshaus zum Geburtstag gewünscht und dort Tomaten und Gurken angepflanzt. Sie wollte die Kunstblumen ablehnen. Doch ihre Mutter hatte den Protest einfach ignoriert und den Strauß ebenso liebevoll in einer Vase arrangiert wie die selbstgepflückten aus dem eigenen Garten. Daraufhin hatten sowohl Katharina als auch ihr Vater die Blumen akzeptiert. Mehr noch. Nach Mutters Tod hatten sie immer genau dort auf dem Tisch gestanden, wo sie frühstückten, zu Mittag oder zu Abend aßen.

Inzwischen war der Strauß verstaubt. Katharina nahm sich vor, ihn später unter der Dusche abzubrausen. Aber erst mal wollte sie sich weiter umsehen. Sie stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Die Holzstufen knarrten. Der Teppich war an manchen Stellen ein wenig durchgetreten und die Wände könnten dringend einen frischen Anstrich gebrauchen. Auch im Obergeschoss war lange kein Maler gewesen. Der Teppichboden war alt und fleckig.

Katharina blieb im Flur stehen. Durchs Dachfenster im Treppenbereich fiel Tageslicht herein und erhellte die Etage. Das Obergeschoss war in zwei Bereiche eingeteilt. Den ihrer Eltern mit Schlafzimmer und Bad auf der einen und Katharinas Zimmer auf der anderen Seite. Dazwischen lagen ein Gästezimmer und ein Duschbad. Den Elternbereich ließ sie unangetastet, es kam ihr falsch vor, in die Räume ihres Vaters einzudringen. Aber ihr altes Kinderzimmer … Vorsichtig öffnete Katharina die Tür. Auch hier schien es, als hätte sie es erst gestern verlassen.

An der Wand hingen noch immer die Filmposter von Dirty Dancing. Die Szene, in der Patrick Swayze mit »seinem Baby« tanzte. Die legendäre im Wasser geübte Hebefigur, die in der Abschlussfilmszene dann doch formvollendet präsentiert wurde. Katharina musste lächeln. Wie hatte sie diesen Film geliebt. Ihn sich sogar mehrfach auf Video angesehen. Gemeinsam mit Matthias. Der damals ihr »Johnny« gewesen war. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie nach dem Abitur für ein paar Monate in den väterlichen Betrieb reingeschnuppert hatte. Um sich ein Bild zu machen von dem, was eine Segelwerft überhaupt war, bevor sie zum Studium nach Wien ging.

Schmunzelnd betrat sie den Raum. Irgendwo musste es ein Foto von ihnen beiden geben. Sie wusste, dass sie es in ihr Tagebuch eingeklebt hatte. Ob es das noch gab? Sie hatte es damals nicht mitgenommen. Hatte alles, was ihr »mädchenhaft« erschien, zurückgelassen.

Zögernd setzte sie sich auf ihr durch eine gemusterte Tagesdecke geschütztes Bett und zog an der Schublade ihres Nachttisches. Sie klemmte. Wie damals musste sie daran herumruckeln, so als wollte die Schublade den Inhalt nicht ohne Weiteres preisgeben. Endlich aber ließ sie sich aufziehen. Und da lag es. Das Tagebuch. Neben einer alten Armbanduhr. Und einer längst abgelaufenen Packung Kondome.

Sie sah sich erneut um. In diesem Raum war die Zeit nun vollends stehengeblieben. Ihr Vater hatte sie angehalten. War das eine Art Totenschrein für die Tochter, die nicht wiederkehrte? Oder stand dahinter die Hoffnung, dass sie irgendwann den Weg zurück nach Hause fand? War der Raum ein stummer Zeuge der väterlichen Liebe?

Sie nahm das in rotes Leinen gebundene Tagebuch in die Hand und öffnete es behutsam. Tatsächlich. Da war das Foto. Matthias und sie strahlten ihr als junges Paar entgegen. Verliebt und unbeschwert. Sie hatte sich früher so frei gefühlt. Und wollte die ganze Welt erobern, bevor sie zurück nach Hooksiel kam. Wie blauäugig sie gewesen war. Damals hätte Katharina nie damit gerechnet, einmal woanders als an der Nordsee zu leben. Und nun war die Steiermark schon seit so langer Zeit ihr Zuhause. Auch wenn sie im Sommer so manches Mal die kühle Frische des Nordens, die salzige Luft an der Nordsee und die kurzen Segeltörns rüber zu den Ostfriesischen Inseln vermisste.

Wo Matthias wohl abgeblieben war? Katharina nahm sich vor, Ingrid morgen nach ihm zu fragen.

Ihr Magen knurrte. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Und ein wenig Appetit verspürte sie nun doch. Sie ging hinunter in die Küche, brühte sich einen starken Ostfriesentee auf und öffnete den Kühlschrank. Wie Ingrid angekündigt hatte, lagen Käse, Aufschnitt und Butter darin. Auch ein Sechserkarton Eier. Sie könnte sich Rühreier machen. Mit Käse. Zwiebeln waren garantiert auch noch da. Dazu das frische Brot, das so herrlich duftete. Hätte sie Tomaten …

Aus einem Impuls heraus öffnete sie die Terrassentür und lief ums Haus herum. Tatsächlich! Ihr Gewächshaus stand noch. Und nicht nur das, ihr Vater hatte die alten Tomatensorten offensichtlich all die Jahre gepflegt. Gerührt betrat Katharina das kleine Glashaus. Wie vergessen hingen zwei rote Tigerella-Tomaten verlockend am Strauch. Beinahe andächtig pflückte sie die reifen Früchte. Dass es diese Tomatenpflanzen noch gab!

Als sie sich wieder dem Haus näherte, erschrak sie.

In der Küche stand ein Mann.

Noch während sie überlegte, ob sie wegrennen und vom Nachbarhaus aus die Polizei rufen sollte, trat der Mann ihr auch schon entgegen. »Willkommen in deiner alten Heimat, Kathie!«

Katharina stutzte. »Thomas?« Sie hatte ihren Cousin nicht auf Anhieb erkannt. Sicher, sie hatte die Fotos aus den Presseberichten gesehen, die Ingrid ihr geschickt hatte, auch hatte Vaters Sekretärin ihr Bilder vom letzten Firmenjubiläum per Mail zugesandt. Bei den Aufnahmen hatte sie jedoch mehr auf ihren Vater als auf ihren Cousin geachtet.

»Genau der.«

Beklommen betrat sie die Küche. »Wie kommst du hier rein?«

»Was ist das denn für eine Begrüßung? Na hör mal, ich werde dir doch persönlich guten Tag sagen dürfen nach deiner langen Abwesenheit. Wie lang bleibst du denn? Deinem Koffer nach zu urteilen, hast du dich nicht auf eine längere Verweildauer eingestellt.«

»Wie bist du reingekommen?«, wiederholte Katharina ihre Frage.

»Mit meinem Schlüssel. Walter hat ihn mir gegeben. Für den Notfall.«