Endlichkeit und Versöhnung - Claus Eurich - E-Book

Endlichkeit und Versöhnung E-Book

Claus Eurich

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Beschreibung

Ein Gedanke tritt plötzlich und meist unvorhergesehen ins Bewusstsein. Er steht vor dem inneren Auge als Wort, das ergründet werden will, als Bild, das es zu betrachten und zu entschlüsseln gilt, oder als existenzielle Frage, die Zuwendung einfordert. Claus Eurichs lebensnahe Gedankengänge stehen in der Tradition philosophischer und spiritueller Lehren, die sich bei ihm zu einer vielschichtigen Meditation über den Sinn von menschlicher Existenz verdichten. Sie suchen nach einer Balance zwischen Resignation und Reife, Dringlichkeit und Gelassenheit, Erdung und Transzendenz.

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Für Monika

Copyright © Claudius Verlag, München 2022

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2022

ISBN 978-3-532-60104-4

INHALT

Muße sucht Tiefe – Prolog

Die großen Tugenden

Ehrfurcht vor allem Leben

Das rechte Maß und die Liebe

Geschwisterlichkeit und Würde

Einfachheit

Tapferkeit

Vergebung

Geduld

Demut und Hingabe

Vertrauen

Tätige Hoffnung

Die heilende Qualität der Sünde

Zuversicht

Die Kraft des Mitleids

Wahre Ethik ruht in freier Spiritualität

Sein und Zeit

Äußere Welt und innere Kraft

Seinsangst und Hoffnung

Weltfremdheit

Anders ist normal … Kontingenz

Jenseits, Leere und Bewusstsein

Freiheit und Sinn

Die Wiederkehr des Mythos

Sein und Werden

Brüche, Sprünge, Schübe

Die Kraft des Visionären

Entschiedenheit des Beginns

Flügel und Ketten

Heilsames Scheitern

Innerer Weg und äußeres Schicksal

KAIROS – Einbruch des Ewigen in das Zeitliche

Mythos – die Kraft der inneren Bilder

Sackgasse der Natur

Vision trifft Kairos

Weckruf der Evolution

Zerstörung und Stille

Transzendenz

Allpräsenz – oder: Gott ist Geist

Gottesfinsternis und Treue

Das Durchscheinende

Da ist kein Gott. Der Himmel ist leer …

Welt und Überwelt

Ewigkeit

Innere Ausrichtung

Wunschwelten und Treue

Die Liturgie des Lebens

Auch Rast ist Reise

Wandeln wandelt – ein Lob des Gehens

Das Fest

Vertrauen, Heimat, Struktur – das Ritual

Die Sehnsucht und das Heilige

Heilige Zeit

Mit der Kraft der Stille

Der Tod – letzte Bastion der Freiheit

Der chinesische Fluch

Die schönen Kräfte

Die Schönheit kann uns retten …

Aufstieg aus der Ohnmacht

Sich suchen – die Transzendenz der Liebe

Entwicklung und Schönheit

Handlung und Schönheit

Elementare Befindlichkeit

Glückseligkeit und Zustimmung zur Welt

Heilsame Resignation

Stille Felder der Verbundenheit

Vor sich selbst bestehen

Lichtstrahl aus der Unendlichkeit

Sehnsucht und Heimat

Die orientierende Kraft der Stille

Ästhetik als Revolte

Tiefenschichten des Seins

Der ganze Kosmos ist unser Leib

Dein Lebenshauch – die Seele

Die Seele kannst du nicht verlieren

Die Seele und das Dunkle

Böse und gut

Existenzielle Unsicherheit

Lob der Grenze

Schatten der Hoffnung

Der Reichtum des Mangels

Die Kommunikation des Leidens

Schwester Einsamkeit

Ahnung und Wirklichkeit

Mystischer Lebensstil

Weisen des Erkennens

Selbstreflexion als schöpferischer Prozess

Vom Ich zum Selbst

Das Gefühl und die Erkenntnis

Der Eros des Erkennens

Ich will verstehen …

Denknotwendigkeit

Denken sprengt alles

Das Sehen und die Schau

Getragen vom Strom der Weisheit

Geist und Universum

Durchbruchsenergie – die Intuition

Stille und Kulisse

Das Böse, die Erkenntnis und die Seele

Wunder und „Wirklichkeit“

Stimmig mit sich selbst sein

Anmerkungen

Muße sucht Tiefe – Prolog

Täglich neu stellt sich die Frage, wie das gefüllt werden kann, was jenseits von Beruf und Familie oder Partnerschaft und den alltäglichen To-dos Zeitfreiheit genannt wird. Mediale Zerstreuung mag eine Antwort sein, Rosen schneiden, wandern oder auf die Politik schimpfen andere. Das muss man nicht gegeneinander ausspielen. Es passt durchaus zusammen. Und doch ist es nicht wirklich hinreichend. Muße, die diesen Namen verdient, will etwas mehr, will Tiefe.

Für diese Texte hier liegt genau in diesem Bedürfnis der Ursprung. Ein Gedanke, der vielleicht in der morgendlichen Stille oder einfach so zwischendurch ins Bewusstsein tritt, steht vor dem inneren Auge. Vielleicht als Wort, das ergründet werden will, als Bild, das es zu betrachten und zu entschlüsseln gilt oder als existenzielle Frage, die Zuwendung einfordert. Es ist wie ein Ruf aus dem geistigen Raum, dem in Intensität nachzugehen wie eine unausweichliche und zugleich wunderschöne Verpflichtung klingt. Daraus entstanden sind kurze Texte, die in sich abgeschlossen sind und keine weiteren Bezüge einfordern. Sie stehen, manchmal ausgesprochen, manchmal unausgesprochen, in der Tradition manch großer philosophischer und auch spiritueller Lehren. Mir ist dabei, trotz aller Ausrichtung an dem Zustand der Menschheit in dieser Epoche, eine überzeitliche Grundhaltung wichtig, die sich aus den alltäglichen Verfangenheiten erhebt und einen gelassenen und zugleich dringlichen Blick auf Sein und Werden des Menschen richtet.

Einige solcher Texte sind in diesem Band, thematisch gegliedert, zusammengestellt. Sie können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden, erfordern kein jeweiliges Vorwissen. Vielleicht mögen sie durch den Tag begleiten, durch eine Krise, durch eine existenzielle Herausforderung, in die wir uns gestellt sehen. Vielleicht regen sie auch einfach nur zum denkenden Erspüren an oder zur Hingabe an einen Gedanken.

Endlichkeit, das einzig Sichere in unserem Leben, bildet dabei den einen, Versöhnung mit dem Sein den anderen Pol. Dazwischen liegen innere Ausrichtung, geistiges und seelische Wachstum und eine grundlegende Zustimmung zur Welt in ihren vielfältigen Ausdrucksformen.

Die großen Tugenden

Ehrfurcht vor allem Leben

Die Welt kann nur entzaubert, das Leben nur dann missbraucht, Mutter Erde nur dort geschändet und entwürdigt werden, wo es an Ehrfurcht mangelt; der Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Sein und Werden. Erst mit ihr als grundlegender Haltung allem Sein gegenüber, beginnt das wesenhafte, das eigentliche Menschsein.

Man reservierte einst das Ehrfürchtigsein auf jenes hin, was den Bürger übersteigt – Gott, Vaterland, Kirche, außergewöhnliche Personen, Naturgewalten, herausragende Kunstwerke oder Bauten. Da erweist du deine Ehrerbietung, nimmst dich zurück, ergibst dich in Respekt. Und ein wenig mag in der ehrfürchtigen Haltung, vor allem anderen Menschen oder Institutionen gegenüber, dann immer auch Furcht mitschwingen und damit das Gefühl eigener Unbedeutendheit.

Das ist anders bei einer Berührung, die aus dem Staunen und der Ergriffenheit angesichts des Wunders der Evolution entsteht und aus dem ahnenden Spüren göttlicher Ursprungsenergie. Oft sind damit tiefe spirituelle Erfahrungen verbunden, in denen wir uns als Teil dessen wahrnehmen, was diese Ehrfurcht in uns auslöst.

In seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die vor gut hundert Jahren erstmals in das Licht der Öffentlichkeit trat, hat Albert Schweitzer das Verständnis von Ehrfurcht neu erweckt. Und er hat es transzendiert, entgrenzt, indem er es auf das Leben an sich bezog und entsprechend anmahnte. Alles Leben ist heilig, ruft uns der große Menschheitslehrer zu.

Die Ehrfurcht vor dem Leben ist die Basis für eine Welt, in der sich solidarisches und liebendes Miteinandersein nicht länger auf Zwischenmenschlichkeit beschränken, sondern das Sein an sich umfassen. Grundlegender wäre nie ein evolutionärer Schritt des Menschen gewesen. Auch wenn fast nichts dafür spricht, aus dem Konjunktiv zu treten und diesen Schritt als gesamte Menschheit wirklich zu gehen; für jeden einzelnen von uns bleibt er die ultimative Aufforderung, sein Mögliches in diese Richtung zu tun. Um der Liebe, des Überlebens unserer Spezies und unzähliger Arten willen – und nicht zuletzt um unserer Selbstachtung. Damit soll keiner Individualisierung von Politik das Wort geredet werden. Aber wir kommen an der Einsicht nicht vorbei, dass die wahren Frontlinien im Zugriff auf Zukunft in uns selbst verlaufen. Hier muss die Bewusstseinsrevolte auf das Leben hin deshalb beginnen.

Ehrfurcht – etwas Geheimnishaftes ist mit ihr verbunden. Wir staunen, sind überwältigt, angerührt, wollen es verstehen. Was uns dabei in Unruhe hält, uns immer weiter suchen lässt, ist der zur Entwicklung drängende Wille selbst, aus dem alles Leben hervorgeht und sich formt. In der Ehrfurcht vor diesem Werdens- und Entwicklungsimpuls anerkennen wir seinen alles überstrahlenden Wert. Er führt in die unbedingte Bejahung des Seins, ohne zu klassifizieren und in höher oder nieder, wert oder unwert zu unterscheiden.

So entsteht eine universale Ethik, ja die universale Erscheinung und Form der Liebe. Sie grenzt nicht aus, sie integriert. Humanismus weitet sich zum Universalismus, neigt sich zu allem, was lebt, was ist. Als richtunggebend hin zum Leben und zum Tun lässt diese Liebe sich verstehen. Sie wirkt als Impuls der ganzen Seele und ist unteilbar.

An die Seite der Ehrfurcht tritt die Demut. In ihr schauen wir auf das Wunder des Lebens, auch in seinen zartesten Regungen, empor.

Wahre Demut hat nichts mit religiöser Unterwürfigkeitsmoral oder Sklavenbewusstsein zu tun. Sie ist aus tiefem Respekt vor dem Wunder und der Größe des Seins entstanden. Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung sind ihr fremd. Sie ist eine ganz eigene und wunderbare Kraft, kein Defizit! Demut steht für die Anerkennung und Akzeptanz der personalen Grenzen, und sie steht für die Einsicht, dass es immer eine Differenz zwischen dem Ideal und den eigenen Möglichkeiten gibt. Gleichzeitig stellt sie das im Menschen strahlende Licht nicht unter den Scheffel, blockiert nicht die in ihm ruhende und auf Befreiung wartende Potenzialität.

Demut steht im Dienst am Ganzen. Ich wende mich aktiv dem anderen Leben zu, ermutige es, baue es auf. Wer in der Demut lebt, stellt sich seiner Verantwortung, stärkt die Handlungsbereitschaft und arbeitet an der Überwindung erkannter Schwächen. Er nimmt sich da zurück, wo dies die Chancen auf Befreiung und Verwirklichung des Anderen stärkt. So wird die eigene Demut zur Energie des anderen Lebens, zur Energie des so vielgestaltigen Du.

In der Hingabe findet die Demut ihre Vollendung. Wie die gesunde Zelle eines Körpers, die ihrem Auftrag nachkommt, der Entwicklung und dem Erhalt des Ganzen um den Preis des eigenen Seins zu dienen, nimmt sich ein Mensch im Akt der Hingabe von seinem Urtrieb nach unbedingter Selbsterhaltung zurück. Auch bricht er mit der Fehlsicht, sein Leben ganz aus den eigenen Kräften heraus gestalten und bewältigen zu können. Die spirituelle Bedeutung der Hingabe erscheint deshalb unermesslich. In Verbindung mit Vergebung und Loslassen macht sie das möglich, was wir Erlösung nennen. Denn im Grunde richtet sich alles Hingeben auf das Absolute in seinen unterschiedlichsten Erscheinungs- und Lebensformen, und damit auf den Urgrund, auf unsere eigentliche Heimat. Hier finden wir das Vertrauen und den Halt, um auch im Angesicht existenzieller Krisen und notwendiger, vielleicht sehr schmerzlicher Entscheidungen, trotzdem Ja zu sagen.

Was folgt daraus?

Wir haben aus der Haltung der Ehrfurcht einen Boden des Ethos und der Sittlichkeit betreten, in dem wir die Heiligkeit des Daseins als unantastbar erkennen und respektieren. Von dieser Bestimmung überzeugt, verbietet es sich forthin, bewusst schädigend in Prozesse des Lebens einzugreifen. Die Verantwortung ist ins Grenzenlose erweitert. Diese Ethik des Lebens, deren Fundamente wir Albert Schweitzer verdanken, gilt absolut. Vor ihr haben keine relativen Ethiken und keine Systemethiken Bestand. Sie steht über den Sätzen der Propheten und über den Gesetzen der Staaten.

Das rechte Maß und die Liebe

Man kann den Zustand von Mensch und Erde in dieser Epoche durchaus umschreiben als Verlust von Maß und Mitte. Unmäßigkeit nährt die Wurzelkraft des Kapitalismus.

Grenzen zu verletzen, scheint dem Wesen des Menschen seit jeher beigegeben. Deshalb taucht die Suche nach dem rechten Maß auch in der Lehre der kardinalen Tugenden als die vierte und letzte auf. Für unsere Zeit, in der sich in allen Lebensbereichen nun die Folgen angestauter Maßlosigkeit drastisch zeigen, hat sie entsprechend eine alles überragende Bedeutung.

Die Schöpfungswirklichkeit verfügt in ihrem Grundsatz über das angemessene Maß in allen Begebenheiten und Wesenheiten. Symbiotisch ruhen die Lebensprozesse in sich, entwickeln sich im Ausgleich von Geben und Nehmen. Das Wirken des Menschen mit dem Ruf nach Immer Mehr erst haben das Sein und Werden in ein Ungleichgewicht gezogen.

Zumindest in religiösen Zusammenhängen und den entsprechenden Bezugnahmen dient Maß als Synonym für Mäßigung. Und diese wiederum trägt den Beiklang des Verneinenden. Schränke dich ein, verzichte, gib dich nicht deinen Gelüsten hin. Doch das rechte Maß zu finden, hat wenig mit einer blassgesichtigen Kultur des sich Versagens zu tun. Es bringt vielmehr all das zum Leuchten, welchem im Überfluss, genau wie im Geiz, eigentlich keinerlei Wert mehr zukommt. Es bewahrt die Wertschätzung und die Freude an und über etwas, beschert ihm die Aufmerksamkeit für sein Eigensein. Kinder, die an ihren Festtagen überschüttet werden mit Dingen und Events, die man dann auch noch Geschenke nennt, können eine Wertschätzung des Besonderen genauso wenig entwickeln wie eine Kultur, in der das Haben den wesentlichen Existenz- und Identifikationsgrundsatz darstellt.

Das rechte Maß zielt auf Überschaubarkeit. Es hält in der Handlungsfähigkeit. Wo es nimmt, gleicht es auch aus. Diese Tugend ist somit eine Ordnungskraft, unabdingbar für des Menschen Weg zu der ihm möglichen Vollgestalt. Für Hildegard von Bingen war sie die „Mutter aller Tugenden“. Dies gilt für jeden Einzelnen von uns und gleichermaßen für Kultur und Menschheit an sich.

Das Lebensparadigma des Albert Schweitzer, dass wir Leben sind, das leben will, inmitten von Leben, das gleichfalls leben will, bringt das Verständnis des rechten Maßes auf den Punkt und in die damit gegebene Anforderung.

Zum Maß gehört das Abstandnehmen vom Sog der Dinge, um ein freies Erkennen und tieferes Verstehen zu ermöglichen. Der Abstand rückt Werte und entsprechende Orientierungen aus der Vogelperspektive zurecht. Er bewahrt vor einer Entwurzelung des Selbst, indem er es wieder zu sich und seiner Mitte führt. Und er entkleidet damit die verführerischen Ding- und Glitzerwelten als fragile Fassaden, hinter denen das Nichts bzw. die Leere zuhause sind.

Der Anspruch eines Seins im rechten Maß setzt innere Klarheit voraus, die allerdings immer wieder erkämpft werden will in der Abwehr bzw. Überwindung dessen, was wir Acedia nennen; gemeint ist damit jene Trägheit des Geistes, in welcher der Mensch sich von Dingen und Bedürfnissen treiben lässt und sich seine größten Möglichkeiten fahrlässig versagt. Sie galt einmal als die siebte und letzte der sogenannten Todsünden. In ihren langfristigen Wirkungen ist sie die Schrecklichste.

Als einen beweglichen Punkt zwischen Übermaß und Mangel lässt sich das rechte Maß umschreiben. Es liegt wohl nie genau in der Mitte zwischen Beiden, sondern wird von den Anforderungen der jeweiligen Situation bestimmt. So betont Thomas von Aquin, dass etwa das rechte Maß für die Tapferkeit näher an der Tollkühnheit als an der Feigheit liegen sollte. Wir sind also aufgerufen, Maß nicht als ein billiges Mittelmaß misszuverstehen, das uns von Entscheidungen in Klarheit fernhält.

Letztlich geht es bei der Frage, was dies für den Alltag bedeutet, um die Besinnung auf das Eigene, den eigenen konsequenten Weg und das Eigenvertrauen. Denn nur das steht in der eigenen Verfügung.

Und es bleibt die Erinnerung daran, dass es etwas gibt, dem wir uns in diesem Bemühen um das rechte Maß und eine entsprechende Selbstachtung in völliger Maßlosigkeit hingeben können: Die Liebe zum Leben und das Hören ihrer Stimme in jeder Situation.

Geschwisterlichkeit und Würde

Die Ehrfurcht vor dem Leben verändert die Haltung und die Weise, mit denen wir anderem Leben begegnen. Geschwisterlichkeit ist dafür der rechte Begriff. Ihn gilt es nun neu bzw. entsprechend weiterzudenken.

In herkömmlichem religiösem Verständnis meint er die liebende Zuwendung auch zu den Menschen und Menschengruppen, mit denen wir nicht verwandtschaftlich verbunden sind. Für sie übernehmen wir Verantwortung, erweisen uns solidarisch, über alle Barrieren und Grenzen hinweg. Dahinter steht die Einsicht, dass alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit eine große Familie bilden, die von demselben Planeten genährt werden, dieselbe Luft atmen, Wärme unter derselben Sonne finden. Geschwisterlichkeit beendet Rassismus und Diskriminierung. Eine ihrer wesentlichen Grundhaltungen beruht darauf, das Vorhandene gerecht zu teilen und nicht auf den eigenen Vorteil zulasten anderer zu sinnen.

Von dem Gedanken der Geschwisterlichkeit kommend, lassen sich lebensorientierte Visionen, die das bereits jetzt Mögliche, und das zwar Erstrebte, aber noch nicht Verwirklichte, zusammenführen, begründen und verstehen. Es geht eben um mehr als eine Existenz nur für uns selbst. Aus gemeinschaftlichem Geist und nicht einer Ansammlung von Individuen wächst der Erdenraum zu einem lebendigen Gemeinwesen. Nur so werden die Kräfte freigesetzt, die wir benötigen, um eine Ahnung vom Möglichen bereits in diesem Moment zu bekommen – etwa, um im schlimmsten Leid zu trösten und zu heilen, Wärme und Geborgenheit zu schenken, um Widerspruch und Widerstand anzumelden an der Übermacht von Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung.

Soweit, könnte man sagen, die humanistische und religiöse Selbstverständlichkeit. Beispielhaft wurde sie von Papst Franziskus in der Enzyklika Fratelli tutti am 3. Oktober 2020, dem Todestag des Franz von Assisi (1181/82–1226), in Assisi unterzeichnet.

Dieses Verständnis ist der erste Schritt. Nicht nur die Lebensethik weist uns den zweiten. Schon etwa der „Sonnengesang“, das wunderschöne Gedicht/Gebet des Franz von Assisi, bringt im Lobpreis der Gestirne, der Elemente, von Mutter Erde und ihrer Kinder, das notwendige, die ganze Schöpfung umfassende, Verständnis ins Wort. Geschwisterlichkeit in diesem Bewusstsein, knüpft an das Wissen darum an, dass die Erde ein Lebewesen ist, Gaia, wie sie die Griechen in der Antike nannten. Noch weitergehend formuliert: Der ganze Kosmos ist unser Leib.

Damit haben wir nun das Leben an sich, über evolutionäre und über Gattungsgrenzen hinweg, im Blick. Die Schöpfung umarmen, ist das Grundgefühl der Geschwisterlichkeit.

Das führt zu einem grundlegend erweiterten Verständnis auch von Gerechtigkeit. Bislang haben wir Menschen uns, etwas selbstverliebt, viel mit den Rechten beschäftigt, die uns nur selber betreffen. Das zentrale Dokument all dieser ehrwürdigen Bemühungen ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Heute nun gilt es ernst zu nehmen, dass vom Geist umfassender Verbundenheit herkommend, das Leben in all seinen Äußerungsformen Schutz, Pflege und Ermöglichung bedarf. Der Gedanke der Gerechtigkeit bezieht sich somit auf dieses weite Feld und nicht mehr nur auf das menschliche Leben. Zwar ist diese Forderung in sich selbst hinreichend begründet und bedarf keiner weiteren Rechtfertigungen. Doch deren alles überragende Dringlichkeit sollte uns Menschen auch allein schon aus Selbstschutzgründen einleuchten – wird uns doch täglich schmerzlicher bewusst, dass die Verletzung der Würde von Boden, Pflanze, Tier und den Elementen auf uns selbst zurückfällt und die Verwirklichung auch der Menschenrechte dramatisch mindert. Es ist deshalb überfällig, die Menschenrechtserklärung in eine „Allgemeine Erklärung der Lebensrechte“ zu überführen.

„Da die Anerkennung der angeborenen Würde und dergleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen und des Lebensnetzes auf dieser Erde insgesamt die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte und der Lebensrechte insgesamt zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen …“

Hinsichtlich der Frage, wohin wir wollen, wäre ein solcher Schritt auf die Würde des Lebens, nicht nur die des Menschen zu, ein Quantensprung.

Einfachheit

Sinnfragen könnten sich in einer Kultur, die auf Wohlstand, relativ sicherer Versorgung und einem weitgehend stabilen politischen System beruht, anders stellen als dort, wo der tägliche Kampf ums Leben und Überleben den Alltag bestimmt. Wo also durch die weitgehende Befriedigung der Grundbedürfnisse geistiger Raum wäre für die wesentlichen Fragen des Seins, dominiert gleichwohl die Macht des Materialismus. Sie reicht bis tief in die Sehnsuchtsregungen des Menschen und sein Streben hinein. In dem, was du hast und was du in der Gesellschaft und in den Augen anderer bist, erkennst du dich wieder. Daran misst du dich zu wesentlichen Teilen und bestimmst, ob es gut so ist oder ob dir etwas fehlt. Die Sedierung durch das allenthalben mediale und digitale Rauschen tut ihr übriges.

Die herrschende Ökonomie versteht es, die Suchbewegungen des Menschen vom unbedingten und zeitlosen Gut hin zum bedingten und austauschbaren zu bewegen. Denn hängt das Herz erst einmal am Ding, kann es beliebig manipuliert werden. Den Neid und das Begehren durch Konsum stillen und beide immer wieder neu entfachen, wird eins. Moralische Gesetze und Appelle, die um des Ganzen willen auf Vernunft und Mäßigung zielen, erscheinen dann schnell als Gängelei und Unterdrückung.

Unter der Regentschaft von Maßlosigkeit und Übersättigung haben die zarten Rufe des Lebens kaum eine Chance, in das Bewusstsein zu dringen. Vor allem verschwindet die Frage aus dem Horizont, wohin wir als Mensch und als Kultur wirklich wollen.

Einfachheit wird hier zur Schlüsselorientierung. Sie repräsentiert kein asketisches Verzichtsideal, will nicht an der Schönheit und der Ästhetik des Seins sparen. Vielmehr steht sie für das angemessene Maß in allen Dingen. Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit treten an die Stelle der Jagd nach immer mehr.

Einfachheit öffnet den Raum für die Besinnung auf das Wesentliche. Die Lebensimpulse auf den verschiedenen Seinsebenen bewegen dann den Menschen und nicht die Verdinglichungen, nicht die austauschbare Medien- und Warenästhetik und nicht die Magie des Geldes. Auf das zu verzichten, was es zu einem Leben in Würde nicht braucht, befreit. Und diese Befreiung benötigt wenig Voraussetzungen. Wer sie wirklich sucht, kann sie in jeder Lebenssituation, jeder Lebensphase und auf jedem sozialen und kulturellen Niveau erringen.

Einfachheit ist eine Lebenshaltung, und sie lässt sich entsprechend nicht abstrakt und von außen bestimmen, sondern immer nur konkret persönlich, entsprechend der jeweiligen Lebensbedingungen, erspüren.

Und doch ist dieser persönliche Spielraum kein Attest für Beliebigkeit. Nehmen wir das Beispiel Geld. Es zu haben, ist kein Makel. Aber seine wesentliche Aufgabe liegt darin, lebensdienlich zu wirken und nicht Ausbeutungsprozesse bei Mensch und Natur zu unterstützen. Denn genau das geschieht, wenn ich Kapital um der puren Vermehrung willen anhäufe und dem Todeskreislauf des Großbankensystems anvertraue.

Einfachheit steht in Beziehung zu Bescheidenheit, ja, ich möchte mit einem alten Begriff sagen, Vornehmheit. Epikur von Samos (341–271 v. Chr.) weist uns darauf hin, dass wer Vornehmheit in ihrer Beziehung zur Einfachheit oder Schlichtheit des Lebens nicht beachtet, „ähnliches erleidet wie jener, der in die Grenzenlosigkeit des Genusses verfällt.“

Als Haltung unserem Leben und dem Sein an sich gegenüber, hat Einfachheit auch eine innere Seite. Der frühere UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905–1961), ein Mensch, den wir wohl einen modernen Mystiker nennen dürfen, hat kurz vor seinem gewaltsamen Tod dazu Folgendes in sein Tagebuch geschrieben:

„Einfachheit heißt, die Wirklichkeit nicht in Beziehung auf uns zu erleben, sondern in ihrer heiligen Unabhängigkeit.

Einfachheit heißt, sehen, urteilen und handeln von dem Punkte her, in welchem wir in uns selber ruhen.

Wie vieles fällt da weg!

Und wie fällt alles andere in die rechte Lage!

Im Zentrum unseres Wesens ruhend begegnen wir einer Welt,

in der alles auf gleiche Weise in sich ruht.

Dadurch wird der Baum zu einem Mysterium, die Wolke zu einer Offenbarung und der Mensch zu einem Kosmos, dessen Reichtum sich uns nie ganz enthüllt.

Für den Einfachen ist das Leben einfach, aber es öffnet ein Buch,

in welchem wir nie über die ersten Buchstaben hinauskommen.“1

Solches Einfachsein hält uns in der Würde. Es beugt vor, zu einem Spielball äußerer Interessen zu verkommen. Es bewahrt uns in unserem tiefen Wesen. Hand in Hand geht Einfachheit mit der Freude. Und beide sagen Ja, in ihrem gelegentlich unbefangenen Staunen über den Zauber der Schöpfung.

Tapferkeit

In den antiken, aristotelischen Tugenden und ihrer Wiederbelebung in der Tugendlehre des Thomas von Aquin (1225–1274) spielt die Tapferkeit eine ganz wesentliche Rolle. Zwischen blinder Tollkühnheit und Feigheit liegend, gibt sie dem Leben Ernsthaftigkeit, Konsequenz und Verlässlichkeit. In ihr werde ich meiner Menschenwürde gerecht.

Tapferkeit kann als die Bereitschaft verstanden werden, im Ringen um die Verwirklichung des Guten auch Verletzungen, im Zweifelsfalle bis zum Tode, hinzunehmen, wie Josef Pieper dies in seiner Abhandlung „Vom Sinn der Tapferkeit“ (1934) in Bezug auf Thomas konstatierte. Die Bereitschaft zur Verwundbarkeit entsteht um den Erhalt bzw. das Erlangen einer tieferen Unversehrtheit willen. Was die erste der vier Kardinaltugenden, die Klugheit, als gut erkannt und was in der zweiten, der Gerechtigkeit, seine lebensorientierte Gestalt findet, wird erst durch die dritte Tugend, die Tapferkeit, gegen Widerstände und Hemmnisse ermöglicht. Das heißt aber auch, dass Klugheit und Gerechtigkeit der Tapferkeit vorausgehen bzw. sie als Notwendigkeit begründen. Das angemessene Maß gibt dann als vierte Tugend dem Handeln seinen Rahmen.

Formulieren wir das in einer zeitgemäßeren Sprache, ließe sich sagen: Die Tapferkeit ist entscheidend für die Verwirklichung des Guten, und gut ist, was dem Leben dient, es schützt, bewahrt, ermöglicht. Offensichtliche Ungerechtigkeiten nimmt sie deshalb nicht widerspruchslos hin. Sie gibt sich zu erkennen als Authentizität, Wahrhaftigkeit, Selbstachtung und eine Entscheidungsklarheit, die aus der Vernunft und aus dem Herzen kommt. Vor persönlichen Folgen schreckt sie nicht zurück, hält die gerade in der Gegenwart verbreitete Unsicherheit aus.

Tapferkeit sollte nicht als Freiheit von Angst missverstanden werden. Allerdings lässt sie sich von ihr nicht beherrschen. Sie respektiert sie, auch als Ratgeberin inmitten der Bedrohung, hält sie aber in Grenzen. Der Angst ins Gesicht zu schauen, geht der Notwendigkeit voraus, ihre Ursache wirklich zu verstehen. Vorsicht, Behutsamkeit, Wachsamkeit, Sorgfalt und Geduld sind deshalb nicht der Widerpart, sondern die Begleiterinnen der Tapferkeit.

In der Tapferkeit nehme ich meinen Lebensauftrag, meine Berufung als Mensch an. Ich entziehe mich nicht dem Ringen, das mit jedem Werden verbunden ist. Denn täte ich das, raubte ich mir sowohl die Gegenwart wie auch die Zukunft.

Der bewusst gestaltete Prozess des Werdens zeigt sich darin, nicht nur Mensch zu bleiben im Angesicht der Entzweiung des Lebens. Über die Einsicht in die eigenen Schwächen sowie die eigenen inneren Widersprüche und Gegensätze hinaus gilt es vielmehr fortwährend neu Mensch zu werden. Die persönliche Existenz wird dadurch zu einem schöpferischen Akt, zu einer dynamischen Skulptur, deren äußere Erscheinung sich wandelt, während das Innere und Seelische sich reinigt und klärt. Ohne Preisgabe von so manchem Gewohnten und Bindenden und ohne das Zurücklassen von Dingen und Verdinglichungen, ist dieser Prozess auf Dauer nicht zu bestehen. Hier vereinigen sich Einfachheit und Tapferkeit.

Die vom einzelnen Menschen gesuchte Tiefe der Existenz fordert Mut. Das zeigt sich vor allem daran, dass im Durchschreiten des Werdeprozesses das gefestigt scheinende Identitätsgefühl zerbricht. Es beginnt sich zu weiten, wenn auch zunächst ohne klare Perspektive und in einen unvertrauten Raum hinein. Dieser Gang durch das, was Mystiker als die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes bezeugen, ist, auch wenn jeder Mensch ihn anders erlebt, unausweichlich. Er will durchlebt sein, so wie die Freude, die wartet, und wie die Rückschläge, die auch dem Erwachen wiederum folgen. Denn die Differenz zwischen der inneren geistigen Erfahrung und dem Herzgefühl auf der einen Seite sowie der nachhinkenden Verwirklichung in Haltung, Verhalten und Tun auf der anderen Seite, löst sich nie vollständig auf. In unserer irdischen Endlichkeit bleiben wir unvollendbar. Fehler und Irrtümer können als die natürliche Kehrseite des Vollkommenheitsbildes, das wir in uns tragen, gesehen werden. Zugleich sind sie Zeichen für notwendige Korrekturen im Sinne der visionären Orientierung, der Antwort auf die Frage also, wohin wir wirklich wollen.

Vergebung

Was der Mensch aus dem göttlichen Raum auf sich selbst gerichtet erhofft, sollte er gewillt sein, auch allen anderen Lebewesen zu gewähren. Wie in der biblischen Ermahnung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ beginnt die Vergebung bei mir. Die Nachsicht gegenüber dem eigenen Denken, Empfinden und Handeln reift zur Voraussetzung dafür, einem anderen Menschen aus der Tiefe des Herzens zu vergeben.

Vergebung ist, so betrachtet, wechselseitig. Und dann lehrt sie uns, die Vergebung anderer nicht nur zu akzeptieren, sondern sie in Dankbarkeit als Wachstumshilfe anzunehmen.

Vergebung befreit auch wechselseitig. Wo nicht vergeben wird, herrschen Angst, Unsicherheit und Zweifel. Denn überall lauert scheinbar die Gefahr. Der Blick auf die Welt bleibt von Negativität getrübt. Statt Fehler, die zu korrigieren sind, sieht der zur Vergebung nicht bereite oder unfähige Mensch schwere Sünden, deren Schwere gleichwohl oft nur darin besteht, dass das kleine Ego sich verletzt fühlt. Der Liebe fehlt dann jeglicher Raum zur Entfaltung.

Es wäre allerdings ein Fehlschluss, würde man Vergebung als einen Ausweg aus notwendigen Klärungen ansehen. Von der Verantwortung für Gesagtes und Getanes kann auch Vergebung nicht befreien. Der Diskurs, das Erkennen und das Ansprechen in nichtverletzender Haltung werden nicht überflüssig. Und so folgt die Vergebung im Anschluss an den Dreischritt von Erkennen, Verstehen und Zur-Sprache-Bringen. Das führt Vergebung in einen Prozess. Es ist keine einmalige Aktion. Vielmehr ist es eingebunden sowohl in die innere Klärung als auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Damit können großartige Lernschritte verbunden sein, in denen wir oft mehr von unseren so genannten Feinden lernen als von vertrauten Menschen, mit denen wir in gleicher Resonanz schwingen.

Vergebung ist ein großer Lehrmeister. Das ist eines der wesentlichen Themen des „Kurses in Wundern“. Danach lehrt uns die Vergebung, dass Geben und Empfangen eins sind. Indem wir das Verzeihen schenken, empfangen wir die eigene Erlösung – oder etwas schlichter: die eigene Befreiung. Vergebung wandelt das Denken über einen Menschen oder ein Kollektiv, der oder das uns Unrecht oder Leid zugefügt haben. Zugleich vollzieht sich dadurch eine Wandlung im Denken über uns selbst.

Auch läutert Vergebung. Ich stelle mich meinen Feindbildern, meinen Projektionen und Emotionen, beruhige das Aufgewühlte, bis die innere Wahrnehmung wieder klar ist. In der Kraft und Schönheit dieser Erfahrung steigt unweigerlich der Impuls empor, wieder neu auf das Du, von dem die Verletzung trennte und an das die Vergebung neu heranführen will, zuzugehen. Den ersten Schritt zu gehen, sollte nie durch die Frage aufgehalten werden, ob ich mich im Recht oder im Unrecht sehe.

Nach Jahrzehnten in Kerker- und Folterhaft des Apartheidregimes schlug Nelson Mandela (1918–2013), nun selbst in Südafrika an der Macht, nicht im Geist der Rache und Vergeltung zurück. Er richtete stattdessen mit Bischof Desmond Tutu Versöhnungskommissionen ein und ging damit auf die Peiniger zu, die ihn und sein Volk in Unterdrückung und Verfolgung gehalten hatten. Und Jesus nahm selbst Judas, der ihn verraten wollte, an und teilte mit ihm Brot, Wein und Worte. Demonstrativ wusch er ihm, wie den anderen Jüngern auch, die Füße (Joh. 13,1–5). Muslimische Eltern, deren Kind aus religiösem Fanatismus und Hass auf Andersdenkende getötet worden war, baten nach einer Zeit des Umgangs mit dem schlimmsten Schmerz um Vergebung für die Täter. Solche Beispiele demonstrieren neben der außerordentlichen menschlichen Größe vor allem, dass wir eins sind, auch mit denen, die sich von uns abgewendet haben …

Geduld

Es zeichnet den Menschen im Gegensatz zur Natur aus, dass ihn oft Eile und Unrast treibt, um Notwendiges und Gewolltes zu erlangen. Dabei ist er selber ein Exempel der beispiellosen Geduld der Natur. Und das in doppeltem Sinne: Einmal brauchte das Leben auf der Erde viele Millionen Jahre, um Homo Sapiens hervorzubringen. Zum anderen verwundert das lange Stillhalten der Natur gegenüber der Schändung, die sie durch ihr unersättliches Kind erfährt. Das allerdings hat sich mit COVID-19 und dem Klimawandel begonnen gründlich zu ändern.

Der Natur sind evolutionär bedingte Rhythmen eingegeben. Der Mensch der Neuzeit erzeugt demgegenüber Systeme und Strukturen, die sich auf Geschwindigkeit um ihrer selbst willen, grenzenloses Wachstum und schnellen Erfolg stützen. Dem Klang des Lebens ist solches wesensfremd. Es bringt Ungleichgewichte bei Mensch und Natur hervor und fordert bei beiden Opfer, die das Netzwerk des Lebens schwächen.

Der Antrieb, etwas haben zu wollen, etwas zu erreichen, zu Neuem durchzubrechen, macht viel des gegenwärtigen Menschseins aus. Es ist entscheidend verantwortlich für das, was Fortschritt meint und was von Segen und Fluch vergleichbare Anteile hält. Vor allem aber ist es ein Widerpart des Geduldhaften und dessen, was wir Nachhaltigkeit nennen.

Denn solches braucht Vertrauen in den Rat der Zeit; in die Selbstheilungsfähigkeit des Aufgewühlten durch Stille und Erkenntnis; in die eigenen Energien, wenn sie Anlass und Raum zur Entfaltung erhalten; in das Gesetz der Resonanz, das zum Wirksamwerden manchmal seine Zeit benötigt; in die inneren Gesetze, nach denen sich die Dinge bewegen und die rechte Handlung recht-zeitig „von selbst“ auftaucht. Auch das Vertrauen in die unsichtbaren Mitspieler auf der Bühne des Lebens und damit in eine höhere „Fügung“ soll hier nicht unerwähnt bleiben. Gilt es doch manches, das wir zwar ersehnen, aber nicht machen und schon gar nicht zwingen können, loszulassen und an eine andere „Instanz“ zu übergeben.