Im Zwischenraum - Claus Eurich - E-Book

Im Zwischenraum E-Book

Claus Eurich

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Beschreibung

Unsere Zeit ist eine Zeit des Umbruchs. Doch wie können wir in einer sich so rasch verändernden Welt bestehen? Claus Eurich spricht von einem „Zwischenraum“, in dem wir leben und von dem aus wir den richtigen Weg erst wieder finden müssen. Er ist davon überzeugt, dass uns das nur dann gelingen kann, wenn wir die gegenwärtigen Herausforderungen ganzheitlich angehen und auch ihre spirituelle Dimension sehen. Die in diesem Buch versammelten Texte wenden sich aus verschiedensten Perspektiven den Grundsatzfragen unserer Zeit zu. Sie sind im Rahmen eines Blogs entstanden und können daher jeder für sich stehen. So ist eine Sammlung philosophisch-spiritueller Reflexionen entstanden, die Orientierung geben und die persönliche Suche nach dem richtigen Weg unterstützen kann.

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CLAUS EURICH

IM ZWISCHEN RAUM

REFLEXIONEN FÜR EIN ERFÜLLTES LEBEN

Meinen Enkeln

© Claudius Verlag München 2024

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Lektorat: Lektorat Stenger & Rode GbR, München

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2024

ISBN 978-3-532-60128-0

INHALT

Anfragen der Zeit – Prolog

Zwischenräume

Das Wechselspiel von Innen und Außen

Äußerer Raum und innere Stille

Grenzräume

Der Geheimnisraum

Zwischen den Welten

Zwei Reiche

Gewissheit in der Schwebe

Mit dem Abschied leben

Lob des Tagtraums

Nicht länger warten

Würde und Freiheit

Was für ein Zauber …

Versuchung und Willensfreiheit

Die Lichtseite des Menschen

Was ist dein Weg?

Aufbruch in das neue Land

Die Freiheit des Lassens

Das Gewissen

Alles, was Odem hat …

Die Würde der Pflanzen

Eine Kultur der Versöhnung

Wegweiser und Haltungen

Ehrfurcht

Das Tor zur Wahrheit

Ahimsa

Die heilende Kraft der Kommunikation

Den Widerspruch aushalten

Der Fels

Die heilende Kraft der Resignation

Verunsicherung und Halt

Wegweisende Furcht

Angst und Wandel

Der Sündenbock

Abseits des Lichts – Über das Wesen des Bösen I

Abseits des Lichts – Über das Wesen des Bösen II

Das Gesetz der Resonanz

Wider den Aber-Geist

Achtsamkeit ist das Kind, Wachheit die Mutter

Göttliches und Heiliges

Seit je klingt da des Menschen Ruf

Kerzenschein des Lebens

Was ist heilig?

Die heilige Paradoxie der Sehnsucht

Über sich hinaus

Das Heilige und der Raum

Der Gang über die Brücke

Zerbrechende Gewissheiten

Allmacht und Ohnmacht

Segen sein

Von guten Mächten

Gnade

Jemand

Vita contemplativa

Stilles Zuhause

Äußere und innere Heimat

Die Unschuld der Stille

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort …“

Begegnung und Empfindung

Leere und Liebe

Einssein und Unterscheidung

Der Moment zeigt die Richtung

Das Gebet als Resonanz

Das Atmen ist Gebet

Kulturelles und soziales Sein

Das Begehren als Motor des Systems

Es war einmal …

Friedfertigkeit und Widerstand

Notwehr und Vergeltung

Strukturelle Sünde

Kollektivwahn

Die dritte Tugend

Nicht zu nahe …

Judas

Lasst die Kunst in Ruhe

Hingabe

Das Leben als Hindurch

Leben ist Leiden

Mut zum Werden

Koyaanisqatsi

Wissen, wohin wir wollen

Im Geist der Utopie

Die Mutter der Utopie – Die Vision

Weit darüber hinaus

Marsch durch den Zyklon

Zeit des Phönix

Stiller Aufstand

Der Mensch als Evolution

Die zweite Mutation

Homo extinctor

Umschlag des Pendels

Das Ende der Zeit

Menetekel

Verwahrlosung und ein scheiternder Traum

Die Parabel der Passion

Todesenergie und das Wunder des Lebens

Liebe in einem „sinnlosen“ Universum

Eine neue Renaissance

Der verlorene Sohn und die Feier des Lebens

Quellennachweise

Anfragen der Zeit – Prolog

Von wahrhaft evolutionärer Bedeutung sind die Herausforderungen für den Menschen der Gegenwart. Alte Etiketten taugen nicht länger, das uns Bevorstehende und zugleich von uns Geforderte zu beschreiben. Die bekannten Rezepte scheinen unwirksam, vertraute Wege münden in Sackgassen. Man sagt, wir hätten keine Zeit mehr, es müsse gehandelt werden, sofort. Doch wie kann das gehen, wenn noch nicht hinreichend verstanden ist, wo der eigene Anteil für die gegenwärtige Weltsituation liegt und mit welchen persönlichen Konsequenzen das in der Folge zu tun hat? Blinder Aktivismus steigert die Verwirrung und beschleunigt den Niedergang. Nur aus tiefer Reflexion heraus, die immer auch eine Selbstreflexion ist, kann heilendes Handeln erwachsen – für den Einzelnen und für die Menschheit insgesamt. Dazu gehört, die gegenwärtigen existentiellen Krisen nicht nur als ökologische, politische und ökonomische zu sehen, sondern zugleich als eine spirituelle Krise und Herausforderung. Denn wir haben begonnen uns zu verlieren, kennen unsere wahre Heimat zwischen Himmel und Erde nicht mehr. Wir leben in einem Zwischenraum ohne klare Konturen und Perspektiven. Der Kompass fehlt.

Die hier versammelten Texte wenden sich aus verschiedenen Perspektiven den Grundsatzfragen dieser Zeit zu. Sie stehen dabei trotz ihrer thematischen Zuordnung jeweils für sich und können entsprechend für sich gelesen werden, in beliebiger Reihenfolge. Es sind philosophisch-spirituelle Reflexionen, die auf Verstehen und Orientierung sowie auf das rechte Handeln zielen. Sie wollen Zuversicht schenken und Resignation entgegenwirken. Sie laden ein, gerade auch „im Zwischenraum“ der Tiefe und dem Zauber des Lebens zu begegnen.

Zwischenräume

Das Wechselspiel von Innen und Außen

„Nur jene können wahrhaft diese Welt genießen, die mit der unsichtbaren Welt beginnen. (…) nur jene können die Welt gebrauchen, die gelernt haben, sie nicht zu missbrauchen“, sagte John Henry Newman, ein zeitlebens Suchender, in einer Predigt am Palmsonntag 1841. Der große englische Theologe spricht die Polarität in unserer Existenz an. Sie zeigt sich in Sichtbarem und Unsichtbarem, Gut und Böse, Hell und Dunkel, Liebe und Hass, Haben und Lassen, vor allem aber auch im Gegenüber von Innen und Außen. Deren wechselseitige Bezogenheit zu verkennen, mindert das Leben. Es raubt den Reichtum, lässt die Schönheit verblassen, nimmt die Tiefe. Seine Farbe ist grau.

Das universale Grundgesetz der Resonanz als Seinsprinzip lehrt uns nicht nur nüchtern die Interdependenz, die wechselseitige Abhängigkeit. Es weist darauf hin, dass Leben in Blüte, bunt und beseelt, nur dann die bewusste Wahrnehmung erreicht, wenn das Bewusstsein sich offen und resonanzfähig hält. Die Bewusstseins- und Empfindungspflege bereitet den Boden für Spüren und Erkennen im Außen. Je reichhaltiger das innere Universum, desto breiter die Wahrnehmungsfelder für das Außen – oder besser: für das sogenannte Außen. Denn letztlich ist die Unterscheidung nur eine der menschlichen Ich-Abgrenzung, also eine Folge der entsprechenden Wahrnehmung und eines darauf bezogenen sinnlichen Zugangs zur Welt; ein Spiegel der gegenwärtigen Evolutionsstufe. Wirklich verstanden werden kann Welt an sich nur als Holon, als ein insgesamt Zusammenhängendes. Dessen verbundene Teile wiederum sind nur mit Einbeziehung ihrer Kontexte zugänglich. So steht das Leben für unser Bewusstsein in ständiger Bewegung zwischen „Innen“ und „Außen“, stellt die wahrgenommene Bewegung Einheit im Erkennen her. Allerdings gelingt ihr dies eben nicht, wenn die Fokussierung bei einer der beiden Ebenen, innen oder außen, verbleibt und sich nicht selbst im Fluss des Zwischenraums mitbewegt.

„Meine Welt“ – genauer gesagt: die Welt, die sich mir erschließt, findet Gestalt und Bild also in der Wechselbeziehung von Innen und Außen. Dabei gilt es die jeweiligen Einflussnahmen angemessen zu verstehen. Vernachlässigen wir die Innenarbeit, so wirken äußere Ereignisse und unsere eigenen äußeren Aktivitäten umso stärker auf Empfindungen und Gefühle zurück. Diese werden mit Attributen wie angenehm oder unangenehm, schwer oder leicht, verbunden, was ja letztlich nur Hinweis auf ein fehlendes Gleichgewicht, eine fehlende Balance ist. Bin ich demgegenüber ganz in mein Inneres eingegraben, gleichsam zum Innenseiter geworden, wird mir das Außen auf Dauer als etwas Fremdes, zumindest aber nicht als ein Teil meines „Feldes“ begegnen.

Selbstredend folgen die äußeren Repräsentationen – seien es die Natur, das gesellschaftliche und soziale Umfeld oder auch die medialen und digitalen Universen – ihren eigenen wesenhaften Gesetzmäßigkeiten. Diese entziehen sich zu einem großen Teil meinem Willen und einem möglicherweise aus mir sprechenden Veränderungsbedürfnis. Doch wo eine nachhaltige Interventionsmöglichkeit nicht gegeben scheint, bleibt immer der Zugang zu meinen Einstellungen und zu der Wahrnehmungsbereitschaft, was das Äußere betrifft. Beides steht in meiner Verfügung. An beidem kann ich arbeiten und es steuern.

Ablehnung kann der Mensch so in Akzeptanz verwandeln oder sich auch dem Abgelehnten entziehen. Positive Resonanz vermag ich zu verstärken und zu verfeinern. Beide „Strategien“ werden Folgen haben. Denn natürlich ziehe ich das eher an bzw. nehme es leichter und eher wahr, wofür mein Inneres bereitet ist, wofür ich schwingungsfähig bin. Damit mein Leben aber nicht zur bloßen Ähnlichkeitsverstärkung verkommt, gilt es, sich der Ausrichtung des Bewusstseins und der Gefühle bewusst zu werden. Wir nennen das Selbstreflexion. Wenn Selbstreflexion sich zu echter Zeugenschaft entwickelt, weist sie darauf hin, Routinen, auch des Denkens und Empfindens, immer wieder infrage zu stellen und auch zu durchbrechen. Sie hilft dabei, Offenheit herzustellen, Wahrnehmung dort zu riskieren, wo es ein inneres Stopp-Schild zu geben scheint.

Dass die Welt ist, wie sie ist bzw. wie sie uns scheint, hängt mit unterschiedlichsten Gesetzmäßigkeiten auf unterschiedlichsten Ebenen zusammen. Es ist allerdings immer auch ein Resultat fehlender bzw. eingeschränkter Selbstreflexivität und damit einer begrenzten Offenheit gegenüber den Seinsprozessen. Wo Offenheit und in der Folge Wahrnehmungsvielfalt fehlen, verringern sich auch Einfluss- und Veränderungsmöglichkeiten. Banaleres kann man eigentlich nicht formulieren, und trotzdem krankt genau daran so unendlich viel. Wie kann ich erwarten, dass im Äußeren Frieden herrscht, wenn ich die Dämonen im Innern nicht im Griff habe? Wie kann ich eine gesunde Um- und Mitwelt ersehnen, wenn meine Bedürfnisse auf den Verbrauch und Missbrauch von Erde zielen? An der Transformation solchen Widerspruchs hängen das innere Gleichgewicht und dessen Empfindung. Und beide zeichnen wiederum als Voraussetzung für eine heilende Zuwendung zu einer Welt, von der ich umgeben und deren Teil ich bin und die in der Folge wiederum in den Innenraum zurückstrahlt.

Das Bewusstsein verbindet Innen und Außen. Es hält das Wechselspiel beider in Bewegung. Diese ist kein bloßes Hin und Her, sondern eine suchende Bewegung nach Balance. Stille, Fasten der Gedanken, Verschmelzen mit dem Sein durch Ausrichtung auf den Atem und den sich öffnenden Raum hinter dem Atem – das vermittelt und verbindet auf dem endlosen Weg des Pendels. Und es führt das Bewusstsein immer wieder zu sich selbst zurück.

Äußerer Raum und innere Stille

Inmitten des Alltags. Wir treten heraus. Ein Schritt über die Schwelle. Etwas umhüllt uns, was anders ist als „draußen“. Der Atem wird tiefer, nimmt eine Atmosphäre heilender Ruhe in sich auf. Sie durchströmt Leib und Seele, besänftigt den unsteten Geist.

Solches geschieht an Orten, die den Menschen erwarten: wenn die Seele betrübt ist; wenn Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit oder auch nur eine flüchtige Entwurzelung Wohnstatt in ihm genommen haben; wenn er das hektische Getriebe um sich herum für eine Weile verlassen will. Um sich wieder zu finden, zu sammeln, auszurichten. Um seine Sehnsucht fließen zu lassen im Gefühl unmittelbaren Angenommenseins.

Manche Kathedralen sind solche Orte, manche Kirchen oder schlichte Kapellen, das ein oder andere Kloster. Durch die Jahre, ja manchmal Jahrhunderte haben sie dieses kraftvolle Charisma aufgebaut und bewahrt. Trotz des gelegentlich gepredigten Verrats an der guten Nachricht, der in Wort und Scheinheiligkeit den behauenen Stein aber nicht ins Wanken zu bringen und die farbigen Fenster nicht zu trüben vermochte. Die Sehnsuchtsenergien der unzähligen betenden, bittenden, klagenden, dankenden, singenden und der Stille vertrauenden Menschen bleiben spürbar. Sie bilden ein Energiefeld, das aus Hingabe gewachsen ist, fern der Rollen und Masken, die den Menschen „zieren“, wenn er den sakralen Raum wieder verlässt. Inmitten des umbauten Ortes, der unerschütterlich für die suchende Seele bereit ist, wird ein Mensch vom Akteur zum empfangenden Gefäß.

Man muss nicht an etwas Bestimmtes glauben, um sich hier willkommen zu fühlen, muss keine formelhaften Sätze kennen und rezitieren und muss sich dafür vor allem gegenüber niemandem rechtfertigen. Das, was hierhin zieht, reicht! Solche Räume, die jede Kultur hat, sind Orte des Ankommens, des Durchatmens, des Sichanvertrauens gerade dann, wenn das Leben in chaotischen Bahnen läuft. Gerade dann, wenn wir mit etwas konfrontiert sind, was wir alleine nicht tragen können.

Vom einen kommend in den anderen Raum zu gehen, das ist in aller scheinbaren Alltäglichkeit eine existentielle Handlung. Ein Übertritt. Eine kleine Einübung auch in den immer schon wartenden Gang über jene Schwelle, die mit dem verbunden ist, was wir den Tod nennen.

Im sakralen oder wie auch immer genannten Raum tritt etwas an sich Unsichtbares in Präsenz. „Einen Raum bauen heißt, das Unsichtbare sichtbar zu machen, einen Ausschnitt aus dem Unendlichen zu gestalten“, so fasst Johannes Malms die Grundgedanken des Bauhaus-Architekten Mies van der Rohe in bauhausmäßiger Schlichtheit und Klarheit zusammen. Das meint nichts anderes, als die Leere zwischen den Wänden, jenen „Zwischenraum“, so zu formen, dass er vorbereitet ist für das Geheimnisvolle. Erfüllte Leere nennt man das in asiatischer Spiritualität. Je klarer und schlichter der Raum sich den Sinnen bietet, desto tiefer ist die Wirkung. Zwei Räume verschmelzen in der Begegnung mit dem Numinosen; der materielle äußere und der innere Raum des Menschen. Beide, Erd- und Seelenenergie, wirken ineinander, verbinden sich zu einem Feld, das keine Grenzen kennt.

Es ist ein dunkler Wintertag, nass, kalt, stürmisch. Früh schon ist die Sonne versunken. Ich suche das Tor der Kirche. Die Atmosphäre umfängt. Ich bewege mich, schauend, orientierend, stehe eine Weile, gehe dann zu einer Bank. Der Raum wandelt sich in akustischer und innerer Stille zu einem ganz eigenen Universum, wirkt nach inneren Gesetzen, die äußere Erwartungen und Regeln unmittelbar außer Kraft zu setzen in der Lage sind. Es berührt. Es verzaubert ein wenig. Es tröstet. Es flüstert: DU! Ich schließe die Augen.

Grenzräume

Naturgesetzlich sind sie uns beigegeben. Unablässig werden wir mit ihnen konfrontiert, stoßen wir an sie: Grenzen begegnen uns in der Zeit und im Raum, doch der Begriff, das Verständnis und die entsprechende Beschreibung sind auch in die soziale und psychologische Sphäre eingewandert. Nichts entkommt der Grenze.

Was sie mit uns macht, trägt durchaus als ambivalent empfundene Züge. Mal tritt sie als Zurückweisung, ja Kränkung in unsere Wahrnehmung – als das, was sich Sehnsucht, Wunsch und Regung entgegenstellt. Einengend wirkt sie, sich unerbittlich vor dem Freiheits-, Ausbreitungs- und Überschreitungsdrang aufbauend. Dann wiederum stiftet sie Schutz und das Empfinden von Geborgenheit, schenkt Überschaubarkeit und Halt in einer sich globalisierend, sozial und mental zerfransenden Welt.

Grenzen definieren wechselseitig, was Innen und was Außen ist, ja sie schaffen beides eigentlich erst. Etwas durch eine Grenze auszuschließen beinhaltet zugleich das Eingrenzen von anderem, macht dieses erst fassbar. Würden wir versuchen, vollständig ohne Grenzen zu denken, hätten wir vermutlich Schwierigkeiten, etwas zu beschreiben. Denn unser Gehirn orientiert sich an ihnen, um Identitäten überhaupt zu verstehen und zu unterscheiden.

Im Großen sichern Grenzen Räume des Verhandel- und des Regelbaren. Staaten- und Kulturverbünde wie die Europäische Union, einzelne Länder und in ihnen wiederum verschiedene Verwaltungseinheiten sind territoriale Beispiele, die aber zugleich immer auch Folgewirkungen mit sich bringen. Tief ragen diese in alle sozialen Felder und in das Bewusstsein von Einzelnen und Kollektiven hinein. Im Bezug auf den einzelnen Menschen weisen die Grenzen zwischen Ich und Du auf das jeweilige Eigensein und Anderssein hin. In der Respektierung der Grenzen des Anderen achte ich dessen Identitätsverständnis und auch dessen Schutzbedürftigkeit. So vermag die Grenze nicht nur Personalitäten zu stärken, sondern sie ermöglicht auch Begegnungsfähigkeit auf Augenhöhe. Ein Lob der Grenze auszusprechen, meint deshalb, sie als Voraussetzung verstehbarer und gestaltbarer Beziehungen zu sehen. Allerdings sollten wir uns dabei von dem inneren Bild lösen, das die Grenze als eine starre Linie zeichnet. Vielmehr ist sie ein strömender Zwischenraum, der sich durch Begegnungen und wechselseitige Gedankenverbindungen in Bewegung hält.

Ohne Grenzziehungen, ethisch, moralisch und auf das Alltagshandeln bezogen, sind Sozialisation und Wertevermittlung bei Kindern undenkbar. Allerdings zeigt sich hier zugleich ihre die Entwicklung fördernde Dialektik: wenn sie das notwendige und berechtigte Aufbegehren gegen Lebensschranken provozieren, die als sinnlos und willkürlich wahrgenommen werden. Kinder können so lernen, gewisse Grenzen nicht als etwas Unantastbares, sondern Plastisches zu sehen, dessen Form sie mitgestalten können.

Grenzüberschreitungen verändern die Verhältnisse und vor allem die Gleichgewichtszustände aufeinander abgestimmter und entsprechend austarierter Systeme. Das mag manchmal nur ein Spiel, ein Austesten von Möglichkeiten sein; es kann aber auch zur dauerhaften Auflösung der überschrittenen Grenzen führen und damit neue Räume schaffen. Vor allem hilft die Überschreitung dabei, sich der Grenzen und ihrer Sinnhaftigkeit immer wieder zu vergewissern und so bewusst den Weg in Veränderungen, ja Transformationen einzuschlagen – eine lebensdienliche Grundintention vorausgesetzt.

Mit dem Setzen von Grenzen gilt es sparsam umzugehen und ihr Verhältnis zur Freiheit immer wieder neu zu erspüren. Denn je mehr Grenzen existieren und je schroffer ihre Respektierung eingefordert wird, desto mehr „Institutionen“ zu ihrer Überwachung bedarf es. Es drohen Prüfung, Kontrolle und Bewertung von all jenen Geschehnissen, die mit Grenzüberschreitung verbunden sein könnten. Ideologisch erstarrte politische und fundamentalistisch eingemauerte religiöse Systeme sind dafür warnende und abschreckende Beispiele.

Das Weltzeitalter, in dem wir leben, konfrontiert uns unerbittlich mit den Folgen jahrhundertelanger Grenzverletzungen seitens des Menschen. Stetig haben diese sich weiter gesteigert bis zum gegenwärtigen Punkt hin. Gemeint sind die Grenzen des Wachstums und Grenzen des Konsums, die sich aus der Endlichkeit unseres Planeten und dessen begrenzten Ressourcen ergeben. Was daraus resultiert, ist desaströs auf allen Lebenslinien. Ein Zurück gibt es genauso wenig wie einen Stopp der in Gang gesetzten Prozesse. Evolutionär betrachtet, war dies vermutlich unvermeidlich in unserem immer ungestümer werdenden Ausdehnungsdrang. Doch es liegt auch eine Chance in diesem planetarischen Debakel. Denn einerseits wird der Grenzraum, in dem wir nun leben, zwar kontinuierlich stärker zusammengepresst, und es bricht unaufhaltsam Lebensraum in den Abgrund. Gleichzeitig jedoch öffnen sich neue Orientierungsfelder. Deren klare und alternativlose Koordinaten wollen in einen neuen Bund mit dem Leben führen. In Wertschätzung des uns einfach so Gegebenen, in den tiefen Respekt allem Leben gegenüber.

Es ist eine Gnade, im Grenzraum des Lebens, dem Schicksalsraum der Menschheit seinen Aufenthaltsort zu haben, hoffend, darin endlich den Diamanten des Zukünftigen zu finden. Nie war Menschsein außerordentlicher in der Herausforderung. Nie wurde mehr Einsicht, Edelmut und visionäre Tatkraft benötigt. Dafür werden viele Grenzen fallen müssen: in unserer Wahrnehmung, unserer Empathiefähigkeit, in der Liebe. Dann kann Zukunft am Abgrund des Gegenwärtigen ihr eigenes Bild gestalten. Dann wird sie Schönheit inmitten des Desasters malen. So wird die Überlebensgrenze zum Fanal der Hoffnung für ein Darüberhinaus.

Der Geheimnisraum

Das Verborgene und Geheimnishafte übt seit je eine große Faszination aus. Es wird zum Anziehenden und bleibt es nur, wenn ihm nicht mit der Absicht der Entblößung und der Entschleierung begegnet wird, sondern mit respektvoller Distanz. Lediglich zu vermuten oder zu erahnen, was sich nicht in Gänze zeigt und den Sinnen nicht auf eine Nähe heranrückt, in der alles offenbar wird, ist gleichwohl für viele Menschen ein Stachel im Fleisch ihrer Neugier, die letztlich jedoch wohl sowieso nie zu stillen wäre.

Jeder Mensch hat seinen Geheimnisraum, den er mit einem Schleier verdeckt, um ihn vor zudringlichen Blicken und inquisitorischen Fragen zu schützen. Jener Raum mag manchmal Banales, der äußeren Welt unangemessen Erscheinendes und entsprechend mit Scham Verbundenes in sich bergen; doch in ihm bewegen sich auch unsere tiefsten Sehnsüchte und Träume, so manche Angst und Sorge, tiefe geistige Erfahrungen und vielleicht eine letzte, unbegründbare Hoffnung. Alle haben etwas Zerbrechliches, ja vielleicht schon Gebrochenes, das trotzdem weiterlebt, um vielleicht neu zusammenzuwachsen. So manches in unserer Seelenwelt scheut das Licht und die Begegnung – nicht, weil es das Licht verachtet, sondern weil das Dunkle und der Schatten eine Zartheit schützen, die im Licht verbrennen würde. Und es herrscht Licht, das dein Innerstes durchdringt, wenn du etwas preisgegeben hast, ohne es wirklich zu wollen.

So bewegt sich an der Seite des Geheimnisses das Schweigen, genau wie bei jedem Mysterium des Glaubens die einzig angemessene Weise, davon zu sprechen, schließlich das Schweigen ist. Langsamkeit, Zurückhaltung und ein unaufdringliches Schweigen formen somit die vornehme Haltung dem Verborgenen gegenüber. Das mag für eine pornographische Gesellschaft, die alles ans Licht zerren und mit kaltem Neon und digitalen Blitzen durchstrahlen will, eine Zumutung sein. Georg Simmel (1858–1918), Soziologe und Kulturphilosoph, maß dem Geheimnis „eine ungeheure Erweiterung des Lebens“ zu. Es biete sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren. Höchste Werte nehme es in sich auf, „so die feine Scham der vornehmen Seele, die gerade ihr Bestes verbirgt, um es sich nicht durch Lob und Lohn bezahlen zu lassen; denn hiernach besitzt man zwar das Entgelt, aber nicht den eigentlichen Wert selbst mehr“.

Man kann das wohl gehütete Geheimnis als Schwäche deuten. Doch das Geheimnis, das sich nicht auf schwere Verfehlungen bezieht oder auf etwas, das willentlich einem gelingenden Miteinander vorenthalten wird und es damit schwächt, stützt einen Menschen auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit. Es stärkt da, wo ansonsten die Gefahr bestünde, zum Spielball der Begierden und Interessen anderer zu werden. Schließlich ist Schweigen hinsichtlich eines Geheimnisses nicht verschweigen, nicht vorenthalten. Denn auf das, was im tiefsten Sinne meines ist, kann niemand einen Anspruch einfordern. Zu dem inneren Universum eines Menschen gibt es kein Zutrittsrecht. Und so bestimme ich auch selbst die Öffnungsregeln.

Das Geheimnis gleicht einem Edelstein. Er muss nicht auf Dauer im Menschen verborgen sein. Doch er gehört nicht auf den Marktplatz. Im Gerede der Menge verlöre er jeglichen Glanz. Wird jedoch ein vertrauter Mensch eingeweiht, das Geheimnis mit ihm aus einem inneren Bedürfnis heraus geteilt, geht damit nicht nur möglicherweise eine Lösung jener Spannung einher, in der jedes tiefe Geheimnis immer hält; es erweitert sich auch der Geheimnisraum selbst. Und in diesem wird die Beziehung zu einem Menschen auf ein neues, höheres Niveau gehoben.

Zwischen den Welten

Wenn wir atmen, spüren wir diesen kleinen Moment, weniger als ein Augenblick, die Ahnung nur von einer Leere zwischen dem Ein- und dem Ausatem. Es ist weder das eine, noch das andere. Eine kurz aufscheinende Stille. Doch als Inmitten unentbehrlich.

Jene Zwischenraum genannte Zeit- oder Raum- oder Zeitraumspanne hat etwas Unbestimmtes, Unerkanntes, Geheimnisvolles. Und sie begegnet uns auf zahlreichen anderen Ebenen im Leben – als Seinsweise zwischen Nicht mehr, Schon jetzt und Noch nicht. Hier bereitet sich etwas vor, als Gelingen oder als Verwehen; als Geburtsregung von etwas völlig Neuem, bislang nicht Erlebten; oder auch als Fortführung einer Schleife in der Zeit. In einer unbestimmten Zone geschieht die Bewegung, innerhalb einer Art imaginärer Grenzregion ohne Barrieren, einem sich ausrichtenden Warteraum.

Der Zwischenraum, mag er auch gelegentlich so betrachtet werden, ist nichts Leeres, auch wenn er den sich in ihm bewegenden Menschen oft mit der Herausforderung des Loslassens konfrontiert. Sich in ihm zu bewegen, schafft den Raum vielmehr gerade erst mit und hält ihn schwebend eine Weile zwischen zwei geographischen Orten wie beim Pilgern, zwischen verschiedenen Erfahrungsdimensionen oder Bewusstseinswelten. Und es ist diese Bewegung „inmitten“, die überhaupt erst eine Beziehung herstellt zwischen dem Unterschiedlichen von Hier und Dort und Irgendwo. Die fließende Existenz im Zwischenraum charakterisiert so weniger ein Verharren als vielmehr eine Passage; weniger Einengung und Bedrängnis als vielmehr Freiheit und den Windhauch von Abenteuer; weniger Resignation als vielmehr das Geführtwerden zur Schwelle und darüber hinaus.

Manche Zwischenräume sind anthropologisch gegeben wie beim Atmen. Andere haben sich kulturell herausgebildet oder wurden bewusst geschaffen. Die Raunächte etwa, jene Zeit „zwischen den Jahren“, ist ein Beispiel dafür. In dieser markanten Phase bewegt sich mit dem Ausklang des Weihnachtsfestes das Jahr auf einen Abschluss zu, während als Ahnung, Befürchtung, Vorfreude oder auch einfach Zukunftsgelassenheit das neue bereits heraufdämmert.

Zwischen Leben und Tod, Werden und Vergänglichkeit lässt sich Sein an sich als ein Zwischenraum sehen oder besser noch: empfinden. Zutiefst existentiell spitzt sich das zu in den Erfahrungsdimensionen, die den Raum auf den Tod zu konstituieren; in jener transformativen Jenseitsbewegung über die Schwelle. Mag man sich in rationaler Verkümmerung den Übergang vom Leben zum Tod auch als radikale und scharfe Grenze vorstellen – aus der Kulturgeschichte der Todeserfahrungen und der Nahtoderlebnisse und auch aus den großen religiösen Lehren spricht etwas anderes. Hier wird ein transformativer Raum, ein Bewegungsfeld ohne Grenzen und Türen gemalt. Dieses Feld endet nicht in einem Nichts, sondern öffnet lediglich eine andere Dimension. Vielleicht ist angesichts dieser Einsicht dann selbst der Begriff und das Verständnis von Schwelle unangemessen, weil letztendlich doch nur einem dualen Bewusstsein entspringend.

Wer diesen Gedanken nachvollziehen kann, wer also nicht nur bezüglich allen Lebens das Einssein und die universale Verbundenheit erkennt und respektiert, sondern dies auf alle Seinsdimensionen zu übertragen vermag – dem wird sich das gesamte Leben als fließender Zwischenraum offenbaren. Immer in Bewegung, im Prozess von Werden, Gestalten, Loslassen, Vergehen und Neuschöpfung. Dieser „Transit“ vernichtet nicht unsere Heimatgefühle, die Sehnsucht nach Ankommen; aber sie wandeln sich mit. Und zwischendurch wird die Lebensbewegung selber als eigentliche Heimat erkennbar. Selbst wenn dann immer wieder, mal kurz, mal länger während, Stationsräume warten oder bewusst von uns geschaffen werden, die zum Innehalten, Anlehnen und Nachspüren einladen. Doch auch solche Rast bleibt letztlich Reise.

Zwei Reiche

Der Traum von einer friedlichen und mit dem Leben versöhnten Welt kann selbst nur so lange in Frieden leben, wie er es schafft, von dem brutalen Widerspruch, der sich Realität nennt, nicht vergiftet zu werden. Eine zutiefst unversöhnte und in sich zerrissene Welt schafft fortwährend Situationen, die mit dem Grundwiderspruch von seliger Hoffnung und den unbarmherzigen und kleingeistigen Niederungen des Alltags konfrontieren. Seit Menschengedenken begleitet diese unüberwindbar scheinende Diskrepanz das Bemühen um ein Miteinander in Vielfalt und Gewaltfreiheit.

Zwei Reiche leben im Bewusstsein unserer Kultur und auch in so manchem einzelnen Menschen, das Irdische und das Geistige. Das Irdische genießt den Reichtum des Lebens, bricht zu immer neuen Ufern auf, dürstet nach Liebe. Oft ist es aber auch Armut und Verzweiflung verfallen. Und nur zu oft folgt es den Begierden, Bedürfnissen, Ich-Bezogenheiten und Unbarmherzigkeiten. Das Geistige ist von Idealen getränkt, es streckt sich nach Harmonie und Schönheit. In ihm vollzieht sich die innere Ausrichtung im Streben nach Friedfertigkeit und dem Einssein mit allem Leben. Der Mensch wendet sein Edelstes hin zur Welt. Dort gleichwohl fasst es keinen Fuß, stößt es kaum auf Resonanz.

Beide Reiche scheinen unvereinbar. Das erste obsiegt im Tagesgeschäft von Politik, Wirtschaft und alltäglicher Daseinsvorsorge. Seine eingespielten Routinen und Mechanismen von Macht und Gewalt erdrücken jeden nachhaltigen Aufbruch ins Humanum und verweisen substantielle Feinheiten in den Elfenbeinturm der Hoffnung. Dort sind sie zur Untätigkeit verurteilt, bieten aber einen geistigen Fluchtraum, wenn die sogenannte Realexistenz nicht mehr auszuhalten ist. Hier werden dann auch die beschwichtigenden Sonntagsreden der politischen Kaste verfasst, die gelegentlich zur Gewissensberuhigung vorbeischaut.

Die Lehre von den zwei Reichen ist alt. Von biblischen Deutungen her kommend, sprach Aurelius Augustinus, dualistisch zugespitzt, von der civitas terrena, dem irdischen Staat, in teuflischer Hand; ihm stellte er die civitas dei, den Gottesstaat gegenüber, der sich in einem großen kosmischen Endkampf letztendlich durchsetzen wird. Bekannt ist auch die entsprechende Geschichtsdeutung von Martin Luther, der ein geistliches Reich sah, in dem bereits das Evangelium herrscht. Daneben setzte er das von Sünde geprägte weltliche. Doch auch bei allem, was noch vom irdischen Gesetz bestimmt ist, soll, so Luther, die gute Nachricht der Liebe durchscheinen und die Menschen ermutigen, Bürger im Reich Gottes zu werden.

Wie bei so vielem ruht die lebbare Perspektive im Interim, in der Schwebe zwischen schon jetzt und noch nicht. Das ideale Sein, auch wenn wir es noch nicht errichten können, muss doch schon jetzt den Alltag auf der Suche nach jenen Kompromissen bestimmen, in denen bei aller Nüchternheit der ersehnte Weg immer sichtbar und in Reichweite bleibt. Der Frieden mit dem Leben ist als Vision gerufen, alle entsprechenden Handlungsoptionen auszuloten und die Umsetzung zu bestimmen. Und dazu gehört gewiss nicht, sich ob einer bestimmten Sicherheitsvorstellung in immer neue Dimensionen hinein aufzurüsten und so Gewalt und Vernichtung in hoher Wahrscheinlichkeit zu halten. Gerade im Krieg ist Friedenspraxis gefordert, so wie Stille, wenn wir in Lärm und Hektik versinken, und tiefe Atmung, wenn uns maximaler Druck beherrscht. Wann, wenn nicht dann?

Die Opfer, die dafür zu erbringen sind, betreffen vor allem die Muster des gängigen Denkens und der eingeübten, reflexhaften Empfindungen und Empörungen. Diese Muster sind der Motor des alten Reiches. Es geht also darum, an das als wahr Erkannte zu glauben und es zu vertreten, auch wenn die Umsetzung wiederholt vor Wände läuft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte kurz Fassungslosigkeit ob des verheerenden historischen Debakels. Dann formierten sich, im alten Denken verblieben, die neuen Blöcke. Der Krieg wurde weiterhin in Vorbereitung gehalten. Die Menschenrechte fanden eine Formulierung, sahen sich jedoch ökonomischen Interessen, hegemonialen Ansprüchen und Machtgier weitgehend untergeordnet. Der Schutz von Umwelt und Mitwelt betrat die Wahrnehmung, wurde jedoch dem Wachstumsdogma geopfert.

So sieht sich schnell jegliche Zuversicht getäuscht. Gründlich. Ein daraus folgender lähmender oder gar depressiver Schleier wird es jedoch dem scheuen Gebilde des Glaubens an eine ersehnte Welt vollends unmöglich machen, Kontur anzunehmen. Erlischt dieser Glaube, hat der Mensch sich selbst aufgegeben. Und so gilt trotz aller Debakel und allen Scheiterns, dass es allein der unerschütterliche Glaube an die neue Wirklichkeit und eine daran anknüpfende tätige Hoffnung sind, die diese Wirklichkeit auch schrittweise erzeugen. Weltliche Herrschaft, mag sie noch so totalitäre Züge tragen, hat immer nur Macht über den äußeren, leiblichen Menschen. Die Seele, den Geist und den Glauben an die neue Erde kann sie nicht wirklich bezwingen.

Gewissheit in der Schwebe

Wie wir die Welt sehen, das Kommen und Gehen der Dinge, das Werden und Verwehen, liegt in der Eingebundenheit oder gar Verfangenheit in die Systeme und Lebenswelten begründet, die uns umgeben. Das schließt jene medialen Botschaften ein, denen wir uns aussetzen und die wir in unsere Lebenswelthorizonte integrieren. Entsprechende Erfahrungen, Sozialisation und Gewohnheiten prägen in der Folge den Blick auf die Welt, genau wie die sich daraus ergebenden Erwartungen, Urteile, Hoffnungen und Ängste. Jeder Mensch lebt in einer solchen Konstruktion. Mal stellt sie sich dar wie ein Puppenstubenhorizont; mal zieht sie unverrückbare kulturelle Koordinaten; mal ist sie weit und fließend. In jedem Falle jedoch folgen Wahrnehmung und darauf bezogene Schlussfolgerungen der inneren Logik meines persönlichen Universums und Lebensweltgebildes.

Damit kann man sich bescheiden, selbstzufrieden eingenistet oder auch ewig darüber nörgelnd, wie schlimm und ungerecht doch alles ist. Beide, selbstredend mit reichlich Zwischentönen ausgestatteten Lebenshaltungen geben sich mit einer Weltdeutung zufrieden, in der die Bereitschaft und der innere Impuls fehlen, über sich hinaus zu schauen und aus einer konträren oder widerborstigen Perspektive das Nah- und Ferngeschehen zu betrachten. Doch dieses ist Voraussetzung für ein tieferes Verstehen. Multiperspektivität, die eigenen Vorlieben der Wahrnehmung erweiternd, brechend und überschreitend, stellt die notwendige sachbezogene und emotionale Distanz her. Gegenläufig zu denken, den Widerspruch zu wagen, öffnet Optionsräume, die andeuten, was auch sein könnte, was jenseits des gerade Ablaufenden in unserem Verfügungsbereich läge.

Die eminente Herausforderung besteht darin, das Universum des Widerspruchs auch wider alle Erwartungen und wider das eigene Erfahrungswissen zuzulassen. Das an sich Undenkbare möchte sich auf die unvoreingenommene Probe gestellt sehen. Auf Hass mit Zuwendung zu reagieren, auf Gewalt mit Kommunikation, auf die Untat mit einem Prozess der Versöhnung gehört zu solchem „Undenkbaren“. Zum Überleben werden wir es brauchen, zur Häutung der Kainsgestalt in uns, zum Abbruch perspektivloser Geschichte. Ohne den mitreisenden Widerspruch sehen wir in den Stürmen des Hindurch kein Land am Horizont, sondern kreisen nur immer wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück.

Der Widerspruch bewegt die geistige und kulturelle Evolution. Er zeigt, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, sich als unsicher, nicht eindeutig und unberechenbar darstellt. Es gibt so gut wie keine Aussage und keinen Satz, die nicht ihr Gegenteil, ihren Widerspruch in sich trügen. Nach Wahrheit zu streben, kann deshalb nichts anderes meinen als zu lernen, Widersprüche als Teil und aufgehoben in einer Wirklichkeit zu sehen, die größer ist als die unserer eigenen Weltbildkonstruktion. Unbedachtes Streben nach Eindeutigkeit führt zu Vereinfachungen, Blindheiten und schablonenhaftem Denken. Auf der Suche nach Antworten wartet die Kunst, Dinge in der Schwebe zu halten und genau darin ein hohes Gut zu sehen, anstatt voreilig Gewissheiten zu konstatieren. So bleibt die Vielfalt im Spiel und damit etwas, das den Reichtum des Lebens und der Kultur ausmacht.

Widerspruchstoleranz hält aus. Und das meint mehr, als lediglich passiv zu tolerieren. Es steht der aktiven Auseinandersetzung mit Unterschieden und Differenzen nicht entgegen. Im Gegenteil! Entscheidend ist die Weise des Ringens und des Klärens und damit verbunden die Bereitschaft, Standpunkte zu riskieren. Es geht um jene Selbstsicherheit, die sich im Loslassen findet und bestätigt; die sich getragen sieht in einem nie endenden Lern- und Erneuerungsprozess.

Die sozialisierte Welt- und Lebensweltperspektive ist das eine; Integration des Widerspruchs und Multiperspektivität treten hinzu. Vollendung beginnt allerdings erst, wenn der Mensch sich in eine Metaperspektive hineinbewegt, in eine übergeordnete, evolutionäre, ja zeitlose Schau dessen, was wir als Bewegungen auf der Erde wahrnehmen. Dieser unverstellte, aus kontemplativer Weltzuwendung geborene Blick stellt die wesenhaften Bezüge und Relativitäten klar. Er abstrahiert auch von mir selbst und meinen Bedürfnissen, fügt sich in das Größere ein und wird genährt aus dem Fluss des Seins an sich. Er lehrt zudem, die Dinge in der Schwebe zu halten und damit uns selbst in einer größeren inneren Freiheit.

Die Metaperspektive als alltägliche Wahrnehmungspraxis fällt uns normalerweise nicht zu. Sie will durch all unsere Eingebundenheiten, Verfangenheiten und Inanspruchnahmen hindurch ersehnt und errungen sein. Es ist der wunderbare Kampf darum, in einem tieferen Sinne erwachsen zu werden.

Mit dem Abschied leben

Für viele Menschen zeigt sich ihr Seinsraum als Bewegung innerhalb von Extremen. Er liegt zwischen der Anhaftung im Diesseits und dem Sehnsuchtsdrang, der in die Überschreitung führen will.

Der Mensch ist ein Beharrungswesen. Es scheint sich dabei etwas in ihm grundlegend zu sträuben, Erreichtes und Erlangtes als Freiheitsgut zu sehen, als etwas, das in Bewegung steht, sich verändernd, mutierend, zerfließend, vergehend. Leben ist ausnahmslos, bis in die vom Menschen geschaffenen Beziehungen und selbst bis in die Dinge hinein etwas Vorübergehendes. Mancher wird mit dunklem Blick sagen, dem sind wir ausgeliefert, die Vergänglichkeit ist unser Fluch. Eine andere mag sich demgegenüber dankbar im Fluss des Seins geborgen wissen und fühlen. Und sie nimmt als selbstverständlich hin, dass das soeben Gehörte bereits nicht mehr ist, wenn wir es als Klang vernehmen, so wie das vom Auge Erblickte schon im Moment der Wahrnehmung nicht mehr genau das ist, was ich fortan als ins Bewusstsein gebranntes Bild in mir trage.

Der Mensch ist aber auch ein Transzendenzwesen. Er streckt sich in das Unbedingte, in die zeitlose Energie des Absoluten, der wir entstammen und zu der wir zurückkehren und in der wir jederzeit ruhen. Fraglosigkeit erlöst hier das Haben- und Haltenwollen, getragen von einer Ursehnsucht, die den Menschen erst zum Menschen macht.

So schwingen wir zwischen Alpha und Omega und dürfen beides doch nicht als Endpunkte sehen, sondern Umschreibungen für Fließmomente in einem infiniten Prozesses. Unser Platz ist die Bewegung, unsere Identität der Strom von Potentialität und Vergänglichkeit. Diese Identität hat keinen festen Ort und keine feste Zeit und schon gar kein statisches Bewusstsein ihrer selbst. Wir können sie nicht haben, nicht an Dingen festmachen oder an zeitbedingten Normen und Urteilen.

Da mag man fragen: Was bleibt? Es bleibt die Identitätskrise