Endstation Wangerooge - Malte Goosmann - E-Book + Hörbuch

Endstation Wangerooge E-Book und Hörbuch

Malte Goosmann

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Beschreibung

Auf Wangerooge kommt es zu einer Messerstecherei. Ein Mann wird schwer verletzt ins Krankenhaus geflogen. Kommissar Petersen, der momentan mit privaten Problemen zu kämpfen hat, und seine zwei jungen Kolleginnen, die zur Verstärkung in der Hauptsaison auf der Insel ihren Dienst tun, erweisen sich als äußerst schlagkräftiges Team. Ungewöhnlich schnell kommt es zu einer Verhaftung. Allerdings schweigt der Verdächtige beharrlich, was die Aufklärung der Tathintergründe nicht einfacher macht. Dann gibt es einen Toten und ein Hinweis aus den Encrochat-Protokollen der Bremer Polizei gibt dem Fall eine komplett neue Richtung. Plötzlich scheint alles mit einem Millionenraub in Verbindung zu stehen. Eine ganze Menge akribischer Polizeiarbeit steht in diesem spannenden Fall an, bevor es zu einem spektakulären Finale kommt.

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Seitenzahl: 326

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Zeit:7 Std. 45 min

Sprecher:Hajo Mans
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Endstation

Wangerooge

Petersens siebter Fall

*******

Kriminalroman

von

Malte Goosmann

Copyright: © 2023 Malte Goosmann

Self-publisher

Cover Design & Buch-Layout: Monika Goosmann

Titelbild: Monika Goosmann

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung.

Bisher ermittelte Kommissar Petersen in folgenden Fällen:

2015 /Schattenüber Wangerooge

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2016 /Verscharrt auf Wangerooge

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2018 /Rufmord auf Wangerooge

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2019 /Mundtot auf Wangerooge

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2021 /Novemberblues auf Wangerooge

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2022 /Zerbrochen auf Wangerooge

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2023/ Endstation Wangerooge

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Alle Titel sind ebenfalls als eBooks

und Hörbücher erhältlich

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Buch-Tipp:

Ein Winter auf Wangerooge

Petersens Kampf gegen die Pfunde

Eine Humoreske mit Illustrationen

von Monika Goosmann

*

1

Das Einkaufszentrum war gut besucht. Nach dem Höhepunkt der Pandemie hatte der private Konsum angezogen. Die Lust am Shoppen war zur Freude der Einzelhändler wieder stark angestiegen. Die beiden Freundinnen kamen vollbepackt mit mehreren großen Einkaufstaschen aus dem Primark. Mit ihren hochhackigen Schuhen und ihren Latex-Hosen zogen sie durchaus Aufmerksamkeit auf sich. Einige junge Männer drehten sich nach ihnen um. Die Blicke blieben den jungen Frauen nicht verborgen. Aber ohne eine Reaktion zu zeigen, gingen beide stolz und selbstbewusst die Mall hinunter. Nachdem sie die Gastro-Meile durchquert hatten, betraten sie den Außenbereich des Centers. Da das Wetter sich Ende August recht angenehm gestaltete, waren die Tische fast alle besetzt. Am rechten Außenrand rief ein älteres Ehepaar nach der Bedienung um zu zahlen. Nach einer kurzen Wartezeit wurde der anvisierte Tisch frei und Dilara und Ebru setzten sich mit den Gesichtern zur Sonne auf die frei gewordenen Plätze. Erst einmal mussten die vielen Einkaufstaschen so hingestellt werden, dass beide ihren jeweiligen Einkauf auch wiederfinden konnten. Nachdem die junge Bedienung die Bestellung, beide tranken Aperol Spritz, aufgenommen hatte, kontrollierten sie mit ihren Taschenspiegeln ihre Schmink-Arrangements. Ebru war mit ihrem Aussehen zufrieden und steckte den Spiegel gleich wieder in die Handtasche. Dilara allerdings meinte, ihre üppigen Lippen noch einmal mit dem neuen Lippenstift nachziehen zu müssen, obwohl diese bereits ein grelles Rot zierten. Die Freundinnen arbeiteten gemeinsam in einer Logistik-Firma in einem sicherheitsrelevanten Bereich. In ihrem Arbeitsvertrag war festgeschrieben worden, dass es ihnen untersagt war, mit Außenstehenden über ihre Tätigkeit zu reden. Ein Verstoß gegen diese Klausel wäre ein Grund für eine fristlose Kündigung gewesen. Beide sprachen auch tatsächlich wenig über ihre Tätigkeit. Für ihre Verhältnisse betrachteten sie die Verdienstmöglichkeiten in dieser Firma als ausreichend. Beide waren gelernte Friseurinnen, hatten aber diesen Job wegen des geringen Lohns nach zwei Jahren wieder aufgegeben. Ihr jetziger Stundenlohn betrug 15,60 Euro plus Weihnachts- und Urlaubsgeld. Die häufig anfallenden Überstunden wurden mit einem Aufschlag von 25% vergütet. Alles in allem waren sie mit ihrer derzeitigen Lebenssituation nicht unzufrieden. Ihre Träume und Wünsche konzentrierten sich im Moment eher auf Realityshows, die bei RTL liefen. Ihre Favoriten waren „Bachelor“ und „Bachelorette“, „Bachelor in Paradise“, „Ex on the Beach“ oder „DSDS“ und auch „Sommerhaus der Stars“ auf TV Now fand ihr Interesse. Tatsächlich hatten sie schon erwogen, sich bei einer dieser Serien zu bewerben, aber bisher hatte ihnen der Mut dazu gefehlt. Ihre Lebensweise wurde von ihren Familien durchaus argwöhnisch beäugt. Dilaras Eltern waren recht streng gläubige Moslems. Schon in der Schule hatte Dilara das Kopftuch abgelegt, was natürlich zu Konflikten geführt hatte. Ebrus Eltern hingegen waren in dieser Hinsicht wesentlich liberaler und ließen ihre Tochter weitgehend in Ruhe. Dilara hatte seit einem Jahr eine kleine eigene Wohnung. Den Kontakt zu ihren Eltern versuchte sie, trotz aller Konflikte, aufrechtzuerhalten. In letzter Zeit hatte es immer wieder Streit darüber gegeben, dass Dilara sich zu stark schminkte. Sehr energisch war sie dem Vorwurf entgegengetreten, dass das starke Schminken ein Zeichen für Leichtlebigkeit sei. Einmal hatte sie ihr kleinerer Bruder Schlampe genannt. Sie hatte mit einer saftigen Ohrfeige reagiert und ihren Bruder zusammengebrüllt. Einen solchen Vorwurf konnte sie für sich nicht akzeptieren, zumal sie, was Männer anging, eher zurückhaltend war. In ihrer Firma hatte es genug Gelegenheiten gegeben, mit einem ihrer Kollegen etwas anzufangen. Vor allem die Transportfahrer waren scharf auf sie. Aber alle diese Männer, die sich um sie bemühten, entsprachen bei weitem nicht dem, wovon sie träumte.

Nachdem Ebru und Dilara sich die Mäuler über die aktuelle Staffel des Bachelors zerrissen hatten, ohne die Frage geklärt zu haben, mit welcher der Damen der Bachelor wohl in der Kiste landen würde, schob sich eine Wolke vor die immer noch sehr angenehme Spätsommer-Sonne. Sie legten ihre Sonnenbrillen zur Seite und nahmen noch einen Schluck Aperol. Durch die starke Lippenbemalung hatten sich ihre Strohhalme bereits leicht rot verfärbt. Dilara rührte versonnen mit ihrem Strohhalm ihr Getränk mit den Eiswürfeln um.

„Mich hat da neulich an der Haltestelle ein echt geil aussehender Typ angesprochen. Du weißt ja, plumpe Anmache geht gar nicht. Aber der Typ hat nur ganz easy gefragt, wann der nächste Bus kommt. Höflich wie ich bin, habe ich ihm die Zeit gesagt. Im Bus hat er sich dann neben mich gesetzt. Wir sind gleich locker ins Gespräch gekommen. Der sah schon geil aus, kurz geschnittene schwarze Haare, dunkler Dreitagebart. Du, und wenn der gelacht hat, die weißen Zähne, einfach mega. Also ein Deutscher war das sicher nicht, aber auch kein Türke. So richtig konnte ich den nicht checken. Hat aber auch kein asideutsch gesprochen, sondern ganz normal.“

Ebru blickte ihre Freundin frech lächelnd an.

„Dich hat es ja ganz schön erwischt. So leicht geht das bei dir doch sonst nicht.“

„Quatsch, war ja nur eine netter Talk. Der ist auch ganz cool geblieben, nichts mit angrapschen, oder so.“

„Ja und? Habt ihr euch verabredet?“

„Nee, nicht direkt. Er verkehrt wohl in einer Shisha-Bar in der Nähe vom Bahnhof. Weiß nicht, ob der da arbeitet oder nur rumhängt.“

„Vielleicht ein Araber?“

„Schon möglich. Er hat mir `ne Karte von der Bar gegeben und mich gefragt, ob ich nicht mal vorbeikommen wolle. Was meinst du, soll ich da mal hingehen?“

„Echt ey, da kannst du doch nicht alleine hingehen. Vielleicht ist das so ‘ne Art Drogenhölle, geht gar nicht, ey. Manchmal bist du aber auch echt so naiv.“

„Hast ja recht, aber ich find den Typen mega cool. Kannst du nicht mitkommen?“

Jetzt rührte Ebru mit ihrem Strohhalm die halb geschmolzenen Eiswürfel in ihrem Glas hin und her.

„Mal seh’n, vielleicht hab‘ ich Bock. Sag einfach Bescheid, wenn du da hingehen willst. Ich überleg‘ mir das dann.“

Nach etwa einer Viertelstunde zahlten die beiden Freundinnen und stolzierten vollbepackt mit ihren Einkaufstüten zur Haltestelle der Straßenbahn.

2

Martje Willms kam aus der Kantine der Polizeiinspektion Wilhelmshaven/Friesland in der Mozartstraße und schlenderte den langen Flur entlang. Sie hatte ihre Mittagspause beendet und verspürte wenig Lust, zu ihrem Schreibtisch zurückzukehren. Martje Willms war Kommissarin beim KDD (Kriminaldauerdienst). Der ständige Wechsel der Schichten von Nacht- auf Tagschicht und umgekehrt machte ihr immer wieder zu schaffen. Eine gewisse Grundmüdigkeit steckte ihr allzu oft in den Knochen. Die hochgewachsene blonde Frau, die ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, blieb vor dem großen Schwarzen Brett, das an der linken Flurwand hing, stehen. Nur kurz überflog sie die Mitteilungen der Gewerkschaften und des Personalrats, ging einen Schritt weiter und blieb dann stehen. Ein kleiner Zettel unter der Rubrik Stellenausschreibungen erregte ihrer Aufmerksamkeit.

„Sechswöchige Urlaubsvertretung für den Polizeiposten auf der Nordseeinsel Wangerooge gesucht.“

Als Kontakt wurde die Behördennummer von Oberkommissar Erhardt angegeben. Erhardt kannte sie. Auf einer Betriebsfeier hatten sie ein paarmal miteinander getanzt, mehr war aber nicht gewesen. Fasziniert starrte sie auf das Wort „Wangerooge“. Gedankenversunken zogen einige Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei: Klassenfahrt 8. Klasse, Jugendherberge im Westturm, erster Zungenkuss in den Dünen, nächtliche Besuche der Jungs in den Schlafzimmern der Mädchen. Plötzlich riss ein derber Klaps auf ihren Rücken sie aus ihren Träumereien.

„Was guckst du?“, versuchte ihre Kollegin Aylin Çelik sie zu veralbern. Noch etwas benommen zeigte Martje auf den Stellenausschreibungszettel.

„Wär‘ das nicht was für uns? Wir haben uns hier in letzter Zeit so häufig den Arsch aufgerissen. Ein wenig Urlaub auf einer Insel wäre doch echt geil, oder?“

Jetzt studierte auch Aylin interessiert den Zettel.

„Zwei Beamte für sechs Wochen nicht schlecht. Ich war noch nie auf einer Nordseeinsel.“

„Aber, wie kriegen wir das durch? Eine vielleicht, aber gleich wir beide zusammen?“

Mit ihren dunklen Augen sah Aylin ihre Kollegin verschmitzt lächelnd an.

„Ich ziehe die Migrationskarte!“

„Wie bitte? Was ist das denn?“

Wieder lächelte Aylin ihre Kollegin an. Ihr Lächeln wirkte provozierend selbstbewusst. Sie strich mit der rechten Hand durch ihre schwarz gelockten Haare.

„Ich bin heiß begehrt!“

„Ich versteh‘ nur Bahnhof. Hast du einen neuen Lover?“ Ungläubig starrte Martje dabei Aylin an.

Die schüttelte mit dem Kopf.

„Das hätte ich dir doch erzählt. Du willst doch immer alles wissen, so neugierig wie du bist. Nein, es geht um etwas anderes. Ich könnte sofort nach Oldenburg oder Bremen wechseln.“

Martje war sprachlos, sie befürchtete schon, ihre beste Freundin und Kollegin zu verlieren.

„Du hast nie etwas davon erzählt.“

„Nein, ich will da ja auch nicht hin. Aber Beamte mit Migrationshintergrund sind heiß begehrt. Ich spreche türkisch und kurdisch. Eine ideale Voraussetzung, um in den sozialen Brennpunkten Dienst zu tun. Beamte, die bei Einsätzen die Sprache von möglichen Verdächtigen sprechen, werden eher von dieser Klientel akzeptiert. Aber keine Sorge, ich habe keinen Bock, im Milieu irgendwelcher Clans rumzuwühlen. Da wirst du auch privat unter Druck gesetzt, deine Familie bedroht. Es geht da weniger um mich, als vielmehr um meine Eltern, denen ich echt viel zu verdanken habe.“

„Ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit Wangerooge zu tun hat.“

„Ich werde zu Erhardt gehen und ihn bitten, uns die Vertretung auf Wangerooge zu geben, sonst……“

„Erpresserin!“

Aylins Augen funkelten kess.

„Das ist wie beim Fußball. Ich teste einfach mal meinen Marktwert.“

Martje schüttelt nur verständnislos mit dem Kopf.

„Das ist ja schon orientalische Schlitzohrigkeit.“

„Rassistin!“

Lachend nahmen sich die beiden Freundinnen in den Arm. Danach machte sich Aylin sofort auf den Weg in den 2. Stock, um dort Oberkommissar Erhardt einen Besuch abzustatten.

Oberkommissar Erhardt musste innerlich grinsen. Zwar hatte er nur widerwillig dem Ersuchen seiner beiden Kommissarinnen für die Urlaubsvertretung auf Wangerooge zugestimmt, aber bei dem Gedanken, dass die beiden Power-Frauen des KDD mit Hauptkommissar Petersen auf Wangerooge zusammenarbeiten würden, konnte er seine diebische Freude kaum unterdrücken. Er schätzte Lars Petersen sehr, aber an den beiden vom KDD würde der sich die Zähne ausbeißen. Schon mit seiner Kollegin Heike Wohlers hatte der so seine Probleme. Erhardt, der selbst schon mit Petersen auf der Insel ermittelt hatte, konnte das durchaus beurteilen. Er plante, die Personalunterlagen zurückzuhalten, damit Petersen nicht sofort erkennen konnte, dass es zwei Kolleginnen sein würden, die da kommen. Zu gern wäre er dabei gewesen, wenn Petersen die beiden in Empfang nahm, das „Duo Infernale“, wie sie heimlich in der Inspektion genannt wurden. Die beiden Frauen waren zweifelsohne die besten. Gradlinig, furchtlos, manchmal am Rande der Legalität agierend. Aber ohne dieses Risiko konnte man heute keine wirkungsvolle Polizeiarbeit mehr betreiben. Es war tatsächlich Lars Petersen, von dem er diese Einstellung übernommen hatte. Petersen war ein alter Fuchs, der vor einigen Jahren von Bremen nach Wangerooge strafversetzt worden war. Auf der Insel allerdings hatte er bisher wirklich hervorragende Arbeit geleistet und so manch kniffligen Fall gelöst. Wie wohl seine beiden Power-Frauen mit dem alten Zausel Petersen klarkommen würden? Eine spannende Frage.

Außerdem musste Erhardt dem Ansinnen seiner beiden Kolleginnen auf diese Urlaubsvertretung einfach nachgeben. Im KDD wurde harte Arbeit geleistet. Die Kolleginnen und Kollegen waren immer die ersten vor Ort, die laut Polizeisprache den ersten Angriff einleiteten, sich ein erstes Bild vom Tatort machten, vorhandene Tatzeugen vernahmen oder auch erste Festnahmen durchführten. Vor allem die Kollegin Çelik war goldwert. Häufig hatte sie schon bei Auseinandersetzungen im Migrantenmilieu deeskalierend gewirkt, nicht zuletzt dadurch, dass sie die Sprache der Beteiligten sprach.

Er würde jetzt beim Kollegen Petersen anrufen und ihm einfach zwei Kollegen ankündigen, natürlich ohne Nennung des Geschlechts. Petersen hatte in diesem Telefonat zu Recht drauf hingewiesen, dass nach dem Höhepunkt der Pandemie die Saison auf der Insel praktisch bis Ende Oktober dauerte. Wie im Hochsommer waren alle Quartiere ausgebucht. Also musste auch die polizeiliche Präsenz, genauso wie im Hochsommer, hochgehalten werden. Dazu kam noch, dass die Kollegin Heike Wohlers sich für zwei Wochen krankgemeldet hatte und danach in den regulären Urlaub gefahren war. Und Onno Siebels, der ehemalige Revierleiter, war ja längst in Pension. Petersen konnte also Verstärkung dringend gebrauchen.

3

Gerade hatte Polizeihauptkommissar Lars Petersen die reguläre Sommervertretung, den Kollegen Günter Naumann, verabschiedet. Dieser half schon seit mehreren Jahren im Hochsommer auf der Insel aus. Für Naumann ging es jetzt wieder zurück in sein Stammrevier Cuxhaven. Petersen, Leiter des Polizeipostens Wangerooge, war jetzt alleiniger Polizist auf der Insel. Umso erfreuter war er, als er heute Morgen eine Mail aus Wilhelmshaven erhalten hatte. Für den nächsten Tag waren ihm von Oberkommissar Erhardt, von der Inspektion Wilhelmshaven/Friesland, zwei Kollegen angekündigt worden. Endlich, so glaubte er, waren seine Mahnungen erhört worden. Die Insel war rappelvoll und das würde auch noch bis in den späten Oktober so bleiben. Deutschland wurde als neues Urlaubsland entdeckt. Immer wieder hatte er seine Vorgesetzten in Wilhelmshaven darauf hingewiesen, dass die polizeiliche Präsenz auf der Insel dieser neuen Entwicklung anzupassen sei. Erschwerend kam jetzt noch die Krankmeldung seiner Stammkollegin Heike Wohlers hinzu. Ihr Freund, Fregattenkapitän Stefan Lüders, hatte sich überraschend von ihr getrennt. Dieses plötzliche Beziehungsaus hatte seine Kollegin umgehauen. Heike, die er bisher als starke, selbstbewusste Frau kennengelernt hatte, war in ein tiefes Loch gefallen. Alle seine Bemühungen, sie irgendwie abzulenken oder zu trösten, waren gescheitert. Nun war gerade er sicher auch nicht derjenige, von dem sie sich hätte trösten lassen wollen. Ein ums andere Mal waren sie in der Vergangenheit aneinandergeraten, gerade, wenn es um das Verhältnis der Geschlechter ging. Im Gedächtnis war ihm noch der Streit ums Gendern hängengeblieben. Dienstlich kam er mit ihr aber gut klar, da gab es nichts zu beanstanden, auch wenn sie ihm gelegentlich widersprach. Aber das gehörte in seinen Augen dazu. Richtig dumm gelaufen war, als er vor einem Jahr Heikes Desinteresse an den maritimen Dingen, die ihren Partner Stefan Lüders beschäftigten, problematisiert hatte. Diese Einmischung in ihr Privatleben hatte sie brüsk zurückgewiesen. Sogar Susanne, Petersens Freundin, war diese Einmischung sauer aufgestoßen. Er sei nun wirklich nicht der Mann, der berufen sei, Frauen Beziehungsratschläge zu geben. Das war bitter gewesen, aber irgendwie musste er diese Kritik akzeptieren. Er mochte Stefan Lüders sehr. Die gemeinsamen Abende im „Störtebeker“ hatte Petersen sehr genossen. Lüders Erzählungen von dessen Einsätzen fand er als maritimer Junkie immer hoch interessant. Bei dem letzten gemeinsamen Abend hatte Heike einen regelrecht gequälten Eindruck gemacht. Höhepunkt ihrer Abneigung zeigte sich in dem Moment, als Lüders und er gemeinsam Hans Albers- und Freddy Lieder sangen. Irgendwie fand er es rückblickend auch nicht verwunderlich, dass Lüders sich in eine Angestellte der Marineverwaltung in Wilhelmshaven neu verliebt hatte.

Heike hatte diese Entwicklung offensichtlich nicht kommen sehen und war jetzt komplett am Boden zerstört. Erschwerend kam noch hinzu, dass sie auf der Insel in einer Wohnung des Bundeswehrsozialwerks wohnte, die ihr Lüders vermittelt hatte. Eine neue Wohnung auf Wangerooge zu finden, war so gut wie unmöglich. Die Immobilienbesitzer vom Festland hatten den regulären Mietmarkt für Insulaner und Arbeitskräfte auf der Insel praktisch plattgemacht. Das Angebot, in das kleine Einzimmerappartement neben der Dienstwohnung Petersens einzuziehen, war für sie keine Option. Das hatte sie sehr drastisch ausgedrückt.

„Nur über meine Leiche! Wand an Wand mit dir, niemals.“

Petersen konnte diese ihre Position durchaus nachvollziehen. Im Grunde war er direkt erleichtert, denn auch er konnte sich eine direkte Nachbarschaft mit seiner Kollegin nur schwer vorstellen.

Im Gespräch mit dem Bürgermeister hatte Petersen unlängst auf die Problematik des Wohnungsbedarfs der Polizei Wangerooge hingewiesen. Mit der Einrichtung einer zweiten Planstelle musste auch eine zusätzliche Wohnmöglichkeit geschaffen werden. Bürgermeister Ohrmann hatte Petersen Hoffnung gemacht. Die Gemeinde machte schon lange Pläne, um Dauerwohnraum für Gemeindemitarbeiter und Insulaner zu schaffen. An der Ecke Charlotten-/Siedlerstraße hatte die Gemeinde Ferienwohnungen auf dem ehemaligen TUI-Gelände gekauft, um sie in Dauerwohnraum umzuwandeln. Für Heike Wohlers sollte hier eine kleine Wohnung reserviert werden. Mit dieser Zusicherung war sie in den Urlaub gefahren, nicht ohne sich bei Petersen für dessen Engagement zu bedanken.

Die Wohnungsfrage würde sich irgendwann auch mal für Petersen stellen. Nach seiner Pensionierung hätte er jeglichen Anspruch auf die Dienstwohnung, in der er jetzt wohnte, verloren. Vergeblich hatte er schon länger versucht, eine Wohnung auf der Insel zu finden. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt war für Insulaner, die kein Eigentum besaßen, in der Tat katastrophal, so dass für ihn dann wieder die Überlegung im Raum stand, die Insel zu verlassen. Zwar verblieben für eine solche Entscheidung nach einige Jahre Zeit, aber in seinem Kopf spukte diese Frage schon seit Längerem herum. In Gesprächen mit vielen alten Insulanern hatte er ähnliche Überlegungen zur Inselflucht wahrgenommen. Bei seinen längeren Sitzungen in seiner Stammkneipe, dem „Störtebeker“, hörte er in letzter Zeit häufiger Sprüche wie: „Die Insel verändert sich. Es ist Zeit zu gehen.“ Immer, wenn er solche Aussagen an der Theke aufschnappte, überkam ihn eine tiefe Melancholie. Dass die Insel sich veränderte, spürte er ebenfalls, aber wenn er versuchte, diesen Eindruck rational abzuklopfen, scheiterte er. Irgendwie war dieses Gefühl für ihn nicht greifbar. War es vielleicht das Hotelprojekt an der oberen Strandpromenade, was die Leute ängstigte? Die Sache war doch noch lange nicht durch und viele Bewohner hatten sich in Form eines Bürgerbegehrens gegen den Hotelneubau ausgesprochen. Immerhin hatte diese Initiative einen grandiosen Sieg eingefahren, denn 73% der Bürger, die ihre Stimme abgegeben hatten, verweigerten ihre Zustimmung zu diesem Projekt. Oder kam die negativ Stimmung von der Tatsache, dass die Insel sich im Würgegriff von Immobiliengesellschaften befand, die es den heimischen Vermietern schwermachten, sich zu behaupten. Ein weiterer Grund könnte auch einfach die Angst älterer Menschen vor Veränderungen sein. Zu allem Überfluss machte neuerdings der Wirt des „Störtebekers“, der Magister, nebulöse Andeutungen über sein mögliches Verlassen der Insel. Kurzentschlossen stand Petersen von seinem Schreibtisch auf und zog sich die Uniformjacke an. Um diese diffusen Gedanken loszuwerden, gab es nur ein Mittel, der Gang zur Nordsee, kräftig durchatmen und die grenzenlose Weite genießen.

Am nächsten Morgen stand Petersen wieder einmal auf dem Bahnsteig, um die Urlaubsverstärkung in Empfang zu nehmen. Ein immer wiederkehrendes Ritual, das durchaus spannende Momente beinhaltete. Wer kam da? Würde er mit den Kollegen klarkommen? Erhard hatte zwei Kollegen avisiert, also keine Anwärter oder Praktikanten. Auf polizeiliche Ausbildung während der Hochsaison hatte er nun auch wirklich keinen Bock. Die Insel war komplett ausgebucht. Viele Urlauber scheuten sich noch, ihre alten Urlaubsziele wie Mallorca oder die Türkei anzusteuern. Urlaub in Deutschland lag voll im Trend. Petersen war sich mit vielen Insulanern einig, dass die Klientel sich verändert hatte. Allein schon das Urlaubsoutfit war ein sicherer Beleg für diese Entwicklung. Nach langer Zeit waren wieder Shortsträger mit Sandalen und weißen Tennissocken zu sehen. Schwarzrotgoldene Sonnenhüte stolzierten durch die Zedeliusstraße, darunter Menschen mit T-Shirts, deren Aufschriften er nur vom Ballermann kannte. Gestern hatte Petersen eine größere Gruppe beobachtet, die einheitliche Shirts mit der Aufschrift trug: „Heute möchte ich etwas mit Menschen machen, Saufen wäre toll.“

Während er so seinen zeitkritischen Gedanken nachhing, erschrak er, als plötzlich die Bremsen des Zuges quietschten und die Waggons zum Stehen kamen. Die Corona-Absperrungen am Bahnsteig hatte er ignoriert, so dass er fast allein auf dem Bahnsteig stand. Alle anderen Personen, die zum Beispiel ihre Gäste empfangen wollten, mussten sich auf dem Bahnhofsvorplatz aufhalten. Er hatte im letzten Winter häufig die Pflicht zum Tragen von Masken auf dem Bahnhofsgelände kontrolliert, daher kam niemand auf die Idee, ihn zurückzuweisen. Hektisch verließen die Fahrgäste den Zug. Lärmende Kinder wurden von ihren Eltern lautstark zurechtgewiesen. Der Urlaubsstress konnte beginnen. Petersen versuchte, in dem Gewusel seine beiden Kollegen zu entdecken. Langsam leerte sich der Bahnsteig. Ganz hinten bei der Gepäckverladung sah er sie. Seine Gesichtszüge entgleisten. Halblaut murmelte er:

„Ach, du Scheiße, zwei Frauen, und dann noch so jung. Ich kann doch hier jetzt keine Auszubildenden gebrauchen.“

Statt den beiden Kolleginnen entgegenzugehen, blieb er wie angewurzelt stehen. Eine Art Schockstarre hatte ihn erfasst. Langsam sah er die beiden auf sich zukommen. Sie trugen keine Uniformen, sondern jeweils nur eine gelbe Polizeiweste. Die größere Frau war blond, sportliche Figur. Ihr lachendes Gesicht konnte er gut erkennen. Daneben eine kleinere etwas untersetztere Frau mit gelockten schwarzen Haaren.

„Migrationshintergrund“, brummte er sich kurz in den Bart. Gleichzeitig rief seine innere Stimme ihn zur Ordnung. Achtung, kein Rassismus, Petersen.

Das, was er jetzt sah, erinnerte ihn an einen Trailer aus einem amerikanischen Thriller. Die beiden jungen Frauen marschierten fast im Gleichschritt auf ihn zu. Beide lachten provozierend. Je näher sie kamen, um so irritierter war er. Beide strahlten ein Selbstbewusstsein aus, das ihn geradezu faszinierte. Jetzt löste sich seine Spannung langsam. Wieder dachte er an den Vorspann des amerikanischen Thrillers. Er musste grinsen. Sie waren gekommen, um aufzuräumen, in der Manier taffer FBI-Agentinnen. Fast hätte er gelacht. Schnell musste er aus dem Bild mit den FBI-Agentinnen wieder rauskommen, denn er glaubte nicht, dass ein freundliches „Moin“ die adäquate Begrüßung für amerikanische Spezial-Agentinnen war.

„Na, jemand anderes erwartet, Kollege Petersen?“, freundlich streckte die große blonde Frau ihm die Hand zur Begrüßung entgegen.

Petersen war für einen Moment verunsichert. Verriet sein Gesicht etwa diese Verunsicherung? Das wäre allerdings alles andere als professionell. Er ärgerte sich über sich selbst, also blieb nur die Vorwärtsverteidigung.

„Moin, erstmal, Lars Petersen, Hauptkommissar und Leiter des Polizeipostens auf unserem kleinen Sandhaufen.“

Die große Frau stellte sich als Martje Willms vor und legte dabei ihre Hand auf die Schulter ihrer Kollegin.

„Das ist Kollegin Aylin Çelik, mein Zwilling sozusagen.“

Petersen, der diese Anspielung nicht so recht zu deuten wusste, schüttelte jetzt auch die Hand von Kollegin Çelik, die ihn amüsiert anlächelte.

„Nun geben Sie es schon zu, wen haben Sie erwartet? Sind Sie enttäuscht, weil zwei Frauen gekommen sind?“

Scheiße, wie komme ich bloß aus dieser Nummer wieder raus? Jetzt drohte er auch noch rot zu werden. Was für ein peinlicher Auftritt von ihm!

Etwas verlegen räusperte er sich kurz, dann plapperte er auch schon ohne groß nachzudenken los.

„Wenn ich ehrlich bin, hatte ich keine Auszubildenden erwartet. Die Insel ist voll bis zur Oberkante. Ich kann jetzt hier nicht auch noch Ausbildung machen, während meine Kollegin im Urlaub ist. Entschuldigung, dass ich das jetzt so sage. Das richtet sich nicht gegen Sie. Ich hoffe, Sie verstehen das? Erhardt hat nie etwas von Anwärterrinnen oder Praktikantinnen geschrieben. Der wusste doch ganz genau, was ich hier brauche. Das Ganze ist aber eine Sache zwischen dem Kollegen Erhardt und mir. Jetzt müssen wir mal sehen, wie das weitergehen soll.“

So, jetzt hatte er seine Verärgerung rausgelassen. Die Reaktion der beiden Frauen haute ihn jedoch völlig um. Statt verärgert zu schauen, kam wieder dieses unverschämt provozierende Lachen. Jetzt schüttelte Aylin Çelik ihren Kopf und konnte sich kaum vor Lachen halten. Ihre dunklen fast schwarzen Augen fixierten ihn jetzt eindringlich.

„Ganz ruhig bleiben, Kollege Petersen, tief durchatmen.“

Das grenzt jetzt aber schon fast an Verarschung, dachte Petersen und leichter Ärger kroch in ihm hoch. Zu allem Überfluss legte jetzt auch noch die Kollegin Willms ihren linken Arm auf seine Schulter.

„Es ist alles in Ordnung, wir sind beide Kommissarinnen beim KDD in Wilhelmshaven.“

Petersen errötete, ihm entgleisten die Gesichtszüge. Da war er aber voll ins Fettnäpfchen gestapft.

„Wie peinlich, entschuldigen Sie. KDD und noch so jung, alle Achtung. Ich habe das in Bremen selbst mal zwei Jahre gemacht. Putztruppe haben sie uns genannt, weil wir die ersten waren, die den Dreck weggeräumt haben, entschuldigt die Ausdrucksweise.“

Jetzt hatte er die beiden geduzt. Also, Vertrauen aufbauen, sagte er sich und sprach laut weiter:

„Das mit dem Sie lassen wir jetzt aber. Wir sind schließlich Kollegen auf Augenhöhe. Mensch, wer hätte das gedacht, KDD, alle Achtung!“

Auf dem Bahnsteig drehten sich schon einige Leute nach ihnen um, weil so laut gelacht wurde. Langsam verließen sie den Bahnsteig. Petersen half seinen Kolleginnen bei der Suche nach dem entsprechenden Gepäckcontainer. Danach ging er noch kurz in den Bahnhofskiosk, um sich die aktuelle Bremer Tageszeitung zu holen. Die Bedienung lachte ihn ebenfalls provozierend an.

„Sheriff, die sind zu jung für dich.“

Er macht nur eine kurze ablehnende Handbewegung.

„Keine Sorge, bin in festen Händen.“

Warum werde ich von allen Frauen heute Morgen so provozierend angelacht, wunderte er sich. Beide Kolleginnen warteten auf ihn vor dem Schild „Wangerooge begrüßt seine Gäste.“

„Ich bringe euch jetzt in eure Pension und wenn ihr ausgepackt habt, erwarte ich euch auf der Wache. Einverstanden?“

Auf dem Rückweg von der Pension ging er noch in die Bäckerei Kunst, um etwas Kuchen für die erste Dienstbesprechung zu holen. Jetzt hatte doch Rita Kolbow, seine alte Bekannte, tatsächlich auch noch ein unverschämtes Grinsen aufgesetzt.

„Lars, umringt von Frauen, der Hahn im Korb. Das gefällt dir bestimmt.“

Petersen schüttelte nur mit dem Kopf. Was geht hier eigentlich vor? Jede Frau heute Morgen grinst mich an und anscheinend weiß die ganze Insel schon wieder was von den beiden Kolleginnen, obwohl sie gerade erst angekommen sind.

„Wangerooge ist wirklich ein Dorf. Die weibliche Kollegenschaft liebt mich eben“, konterte er mit einem Augenzwinkern.

„Übernimm dich nicht und schau in deinen Personalausweis.“

Fragend blickte er sie an.

„Hallo, damit du dich erinnerst, wie alt du eigentlich bist.“

Das hatte gesessen. Leicht angesäuert verließ er zügig die Bäckerei.

Nachdem er im Revier den Tisch gedeckt und frischen Kaffee vorbereitet hatte, schaute er nachdenklich aus dem Fenster. Irgendwie hatte sich das Wetter noch nicht zwischen einem hellen Sommertag oder einem trüben Herbstmorgen entschieden. Aber die Frage, wie diese Entscheidung ausfallen würde, beunruhigte ihn weniger, sondern eher die Vorstellung, wie das hier weitergehen sollte. Was würde passieren, wenn Heike aus dem Urlaub zurückkam? Hier im Revier mit drei Kolleginnen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können und er mittendrin als alter weißer Mann? Rein fachlich hatte er überhaupt keine Bedenken. Wer beim KDD Dienst tat, hatte es in der Regel drauf. Das war nichts für Weicheier und auch Heike Wohlers war trotz aller zwischenmenschlichen Schwierigkeiten zweifellos eine gute Polizistin. Aber würde das hier alles menschlich zusammenpassen? Schade, dass Susanne, seine Lebensgefährtin, nicht greifbar war. Zu gerne hätte er mit ihr diese Problematik diskutiert und ihren Rat eingeholt. Aber Susanne war für eine Woche nach Brindisi in Süditalien abkommandiert worden. Dort war eine Tagung von Frontex, der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Thema war, wie konnte es anders sein, das Migrationsgeschehen in den europäischen Küstengewässern. Susanne war Kommandantin eines Kreuzers der Bundespolizei auf der Nordsee. In diesem Moment klopfte es und die beiden neuen Kolleginnen traten ein. Sie waren sichtlich überrascht, als sie die gedeckte Kaffeetafel sahen.

„Das ist ja mal ein netter Empfang“, bemerkte Martje Willms, „so kann unser Urlaub an der Nordsee beginnen.“

„Ich glaube, ihr habt da eine falsche Vorstellung vom Polizeidienst hier. Die Insel ist voll bis zur Oberkannte. Jede Besenkammer scheint belegt zu sein. Also, zu tun gibt es immer etwas“, erklärte Petersen, der über den Begriff „Urlaub“ etwas erstaunt war. Hatten sich die beiden mit völlig falschen Vorstellungen zu diesem Einsatz gemeldet?

Aylin Çelik, die wohl bemerkte, dass ihr Gegenüber wegen der Äußerung ihrer Kollegin etwas verunsichert dreinblickte, versuchte das Ganze zu entschärfen.

„Erzähl‘ einfach mal, was hier so im normalen Polizeialltag anfällt. Deine spektakulären Fälle sind in Wilhelmshaven wohl bekannt. Die letzte Sache mit den Kinderheimen ist uns noch im Gedächtnis geblieben und mächtig unter die Haut gegangen.“

Petersen entspannte sich und goss Kaffee ein. Danach gab er einen groben Überblick über die tägliche Arbeit auf der Nordseeinsel. Nach dem zweiten Kaffee erklärte er die dienstlichen Abläufe im Revier und lud dann beide Kolleginnen zu einem Spaziergang zur Promenade ein.

Am Strand herrschte ein munteres Treiben. Die Volleyballfelder waren belegt und auch auf Jumping Guidos Bungee-Anlage herrschte schon Hochbetrieb. Beim Anblick dieses bunten Treibens konnte man schon Urlaubsgefühle entwickeln. Hoffentlich bekamen seine beiden Kolleginnen nicht zu viel Gefühle dieser Art.

4

Die Luft in der Shisha-Bar war stickig. Laute Musik dröhnte aus den Lautsprecherboxen. Scheinwerfer warfen pinkfarbenes Licht an die Wände. Neben einer kleinen Bühne war eine Leinwand installiert, auf der Musikvideos gezeigt wurden. In der kreisrunden Deckenbeleuchtung wechselte das Licht zwischen weißer und pinker Farbe. An den Tischen, die an den Wänden aufgereiht und mit Polstersesseln bestückt waren, zogen Gruppen von jungen Leuten an den Wasserpfeifen. Die Bar war recht gut besucht. Der Eingangsbereich wurde durch zwei furchteinflößende Security-Männer gesichert. Langsam und etwas verschüchtert öffneten Dilara und Ebru die Eingangstür der Bar. Beide hatten ein etwas flaues Gefühl in der Bauchgegend. Sie begaben sich auf unbekanntes Terrain. Die Innenstadt-Clubs waren bisher eher ihr Gebiet gewesen. Die orientalisch klingende Rap-Musik, die ihnen entgegendröhnte, verunsicherte sie zusätzlich. Da junge Frauen in einer Bar immer willkommen waren, winkten die Türsteher die beiden Freundinnen mit knapper Handbewegung durch. Beide hatten sich für diesen Abend aufgebrezelt: Latexleggings, schwarze Tops mit tiefen V-Ausschnitten, hochhackige Schuhe. Ihre Gesichter waren stark geschminkt. In diesem Outfit, das sich sehr ähnelte, hätte man sie für Schwestern halten können. Einige der jungen Männer, die in der Nähe der Eingangstür saßen, musterten die beiden jungen Frauen mit provozierenden Blicken. Halblaut fielen Sätze wie: „Ey, Alter, echt krass, geile Bitches.“

Von der seitlich angeordneten Theke kam ein junger Mann auf Dilara und Ebru zu. Unverzüglich verstummten alle anzüglichen Bemerkungen, auch die Blicke der jungen Männer wandten sich wieder ab. Schnell standen jetzt die Wasserpfeifen im Zentrum ihres Interesses. Sofort erkannte Dilara ihre Bekanntschaft von der Haltestelle wieder.

„Das ist er“, flüsterte sie in Richtung ihrer Freundin. Der Mann ließ sich seine Enttäuschung darüber, dass Dilara nicht allein gekommen war, nicht anmerken. Freundlich gab er beiden die Hand und stellte sich vor.

„Ich bin Karim und arbeitete da rechts an der Bar. Am besten ihr kommt mit zu mir. Dort können wir uns ungestört unterhalten. Es sei denn, ihr wollt eine Shisha haben. Das geht an der Theke nicht.“

Die Frauen schüttelten synchron die Köpfe. Diese Pfeifen hatten für sie beide etwas Unheimliches. Wer wusste schon, was da für Substanzen drin waren? Karim gab beiden Frauen einen Cocktail aus. Ebru beobachtete die Szene sehr aufmerksam, während ihre Freundin nur Augen für Karim zu haben schien. Karim stand zwar hinter der Bar, aber zu arbeiten schien er kaum. Ab und zu stellte er einige Gläser zur Seite, aber die eigentliche Arbeit an der Bar verrichtete ein zweiter Mann, der ziemlich unterwürfig das tat, was Karim ihm auftrug. Der Junge schien hier eine etwas größere Nummer zu sein, dachte Ebru und fühlte sich etwas fehl am Platz. Fast zufällig streichelte Karim die Hand von Dilara, als er ihr einen neuen Cocktail servierte. Aber Karim schien sich nicht nur für Dilaras Person zu interessieren. Ziemlich offensiv erkundigte er sich nach ihrer beruflichen Tätigkeit. Pflichtgemäß verweigerte Dilara zunächst jegliche Aussage zu ihrer Firma. Dazu war sie ja auch laut Arbeitsvertrag verpflichtet. Aber je länger der Abend dauerte, umso gesprächiger wurde sie. Zwar nannte sie die Firma nicht, sprach aber über Logistik in einem sensiblen Bereich. Ebru beobachtete die Redseligkeit ihrer Freundin mit Argwohn.

„Komm, lass uns jetzt gehen. Es ist schon spät und wir müssen morgen früh raus.“

Dilara machte aber keine Anstalten, mit ihrer Freundin die Bar zu verlassen.

„Ich bleib‘ noch ein wenig. Es ist gerade so gemütlich hier.“ Wieder streichelte Karim die rechte Hand von Dilara. Ebru schüttelte verärgert den Kopf.

„Karim, bitte die Rechnung!“

„Geht aufs Haus“, kam es gönnerhaft von Karim. Nachdem Dilara wieder keine Anstalten machte, das Lokal mit ihrer Freundin zu verlassen, schnappte sich Ebru ihre Handtasche. Ohne sich zu verabschieden, verließ sie verärgert die Bar.

Am nächsten Morgen kam Ebru etwas verspätet zur Frühstückspause in die Kantine. Ganz in der äußersten linken Ecke der Kantine entdeckte sie Dilara in ihrem blauen Kittel, wie sie recht abwesend vor sich hinstarrte.

„Mann, siehst du verkatert aus“, bemerkte sie ironisch, als sie ihr gegenüber Platz nahm. Langsam drehte sie den Verschluss ihrer Thermoskanne auf und goss sich einen Tee ein. Noch immer kam keine Reaktion von ihrer Kollegin.

„Nee oder…, ich fass es nicht, du hast mit dem Typen Sex gehabt. Echt krass ey, du brauchst das jetzt auch gar nicht abzustreiten. Ich seh‘ dir das an. Dazu kenn‘ ich dich schon zu lang. Du kannst mir nichts vormachen.“

Dilara hob langsam ihren Kopf und lächelte, während sie ihrer Freundin zunickte.

„Es war der geilste Sex meines gesamten Lebens.“

„Du gehst doch sonst nicht gleich mit jedem Typen in die Kiste. Was ist denn bloß mit dir los?“

„Es hat eben gefunkt und es hat sich gelohnt. Wir haben es überall getrieben auf dem Flur, im Büro…“

„Hör auf, ich will davon nichts hören. Ich kann mich echt nur wundern.“

Ihre Unterhaltung wurde durch einen lauten Summton unterbrochen. Die Frühstückspause war beendet.

5

Die Pensionsgäste staunten nicht schlecht, als zwei junge Frauen in Polizei-T-Shirts im Frühstücksraum auftauchten. Sofort wurde getuschelt. Die verheirateten Männer, die mit ihren Familien am Frühstückstisch saßen, fixierten heimlich die beiden attraktiven Frauen. Ein älteres Ehepaar aus dem Ruhrpott diskutierte, ob es denn überhaupt erlaubt sei, einfach so mit Polizei-T-Shirts rumzulaufen. Der Pensionswirt, der gerade dabei war, das Buffet aufzufüllen, sah sich gezwungen, Licht in das Dunkel der Spekulationen zu bringen.

„Das sind tatsächlich Polizistinnen“, klärte er das verdutzte Ehepaar auf, „die beiden sind als Urlaubsvertretung auf der Insel.“

Der etwas verhärmt wirkende Rentner schüttelte nur mit dem Kopf.

„Kein Wunder, dass es in Deutschland nicht mehr sicher ist“, murmelte er halblaut.

Der Pensionswirt, dem diese Bemerkung sichtlich peinlich war, wandte sich nervös den beiden Polizistinnen zu, die ganz hinten in der Ecke am Fenster saßen, und rief zu ihnen rüber:

„Alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

Beide nickten freundlich. Erleichtert zog der Wirt sich in die Küche zurück. Zum Glück hatten die beiden Polizistinnen wohl nichts von diesem peinlichen Zwischenfall mitbekommen.

Gut gelaunt verließen Aylin und Martje die Pension. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die ersten Urlauber, die ihnen in der Zedeliusstraße entgegenkamen, waren schon auf dem Weg zum Strand, gut ausgerüstet mit Kühltaschen und Kinderschaufeln. Vor den beiden Inselbäckereien hatten sich lange Schlangen gebildet.

„Nach Feierabend gehen wir aber noch an den Strand, oder?“

Martje nickte. „Gib zu, du willst doch nur deinen neuen Bikini zeigen?“

„Nee, ich habe einen schönen hochgeschlossenen Badeanzug mit. Ich lege mich hier doch nicht halbnackt hin. Immerhin bin ich eine Amtsperson.“

„Am besten gleich einen Burkini“, bemerkte Martje provozierend.

„Rassistin“, kam es mal wieder prompt zurück.

Im Polizeiposten in der Charlottenstraße wartete schon ein gespannter Revierleiter auf seine neuen Kolleginnen. Würden sie pünktlich erscheinen? In dieser Hinsicht war Petersen altmodisch. Pünktliches Erscheinen war für ihn immer noch ein Gradmesser für die Dienstauffassung von Kollegen, glaubte er. Langsam goss er frisches Wasser in die Kaffeemaschine. Da die beiden in einer Frühstückspension untergekommen waren, musste er auf das von ihm so geschätzte Ritual des gemeinsamen Frühstücks verzichten. Aber eine andere Sache beschäftigte ihn viel mehr. Gerne hätte er die Kollegin Aylin gefragt, wo sie denn ihre familiären Wurzeln hatte. Aber eine solche Frage war wohl nach dem heutigen Stand der „political correctness“ nicht erwünscht. Im SPIEGEL hatte er gelesen, dass eine solche Frage schon rassistisch sei, weil solche Fragen nur Menschen mit Migrationshintergrund gestellt werden würden. So ganz überzeugt war er von dieser Sichtweise nicht. Auch einem aus Bayern stammenden Kollegen würde er sicher fragen, wo genau er herkäme. Dass Aylin die deutsche Staatbürgerschaft besaß und wahrscheinlich in Deutschland geboren worden war, stand für ihn fest. Aber wie war ihr Weg gewesen? Welche Hindernisse hatte sie überwinden müssen, um eine deutsche Polizistin zu werden? Ihre geringe Körpergröße irritierte ihn. Allerdings kannte er die geforderte Mindestgröße für den Eintritt in den Polizeidienst aktuell nicht mehr. Vielleicht machten sie jetzt Ausnahmen für Bewerber mit Migrationshintergrund. Er wusste, dass die Polizeiführung händeringend nach solchen Bewerbern, aber vor allem Bewerberinnen suchte. Er würde diese Fragen zurückstellen. Vielleicht ergab sich ja mal von selbst ein Gespräch hierüber. Noch konnte er seine beiden „Mädels“ sowieso nicht einschätzen. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Da waren sie nun. Pünktlich und gut gelaunt betraten sie das Dienstzimmer.

„Moin, Chef“, die blonde salutierte, „Kommissare Çelik und Willms melden sich zum Dienst.“ Petersen musste lachen. Humor schienen sie zu haben. Das stand schon mal fest und ihre Dienstbezeichnung war nicht gegendert, was ihn wiederum erstaunte. Er wunderte sich über sich selbst. Warum ließ er sich von dieser Debatte so verunsichern? Wahrscheinlich war es die Last des aussterbenden alten weißen Mannes. Nachdem der Kaffee eingeschenkt war, sprach Petersen das Uniform-Thema an.

„Sagt mal, eine Uniform habt ihr nicht mit, oder?“

Martje schüttelte den Kopf. „Im Moment haben wir keine, da wir beim KDD sowieso keine tragen. Wir haben aber diese gelben Westen und natürlich die Polizei-T-Shirts.“

Petersen nickte.

„Okay, Hauptsache ihr seid als Polizistinnen erkennbar.“

In diesem Moment ging die Tür auf und ein älterer Mann mit grauem Haar in beigefarbener Rentnerweste trat vor den Tresen.

„Moin, ich möchte eine Anzeige aufgeben.“

Aylin stand zur Verblüffung Petersens auf und ging zum Tresen.

„Ich bin Kommissarin Çelik. Um welchen Sachverhalt geht es denn?“

„Mein Gartenhaus ist weg“, kam die Antwort sachlich und nüchtern. Petersen hätte sich fast an seinem Kaffee verschluckt, auch Martje rang nach Fassung. Nur Aylin zeigte keine Regung. Sie nahm sich einen Notizblock.

„Wie heißen Sie denn? Danach erzählen Sie mal, was passiert ist.“

„Ich heiße Friedo Heyken und wohne in der Rösingstraße. Ja, da gibt es nicht mehr viel zu sagen. Mein Gartenhaus ist weg.“

Ohne eine Regung in ihrem Gesicht zu zeigen, fragte Aylin Çelik weiter:

„Wie sieht denn Ihr Gartenhaus aus und wann haben Sie bemerkt, dass es weg ist?“

Friedo Heyken zog ein prospektartiges Papier aus seiner Weste und legte es auf den Tresen.

„Hier, habe ich in einem Baumarkt in Wittmund bestellt. Auf der Insel gibt es ja so was nicht. Die haben mir die Einzelteile geschickt und ich habe es dann aufgebaut.“

Die junge Kommissarin nahm das etwas verknitterte Papier. Auf dem Foto war ein grau-blaues Gartenhaus zu sehen. Die Grundfläche betrug zwei Quadratmeter, so stand es jedenfalls unter dem Foto.

„Und das war so aufgebaut?“

„Jau, genauso und heute Morgen war’s wech“, bemerkte Heyken in norddeutsch trockener Manier.

„Haben Sie einen Verdacht, wer das gemacht haben könnte?“

Heyken schüttelte kurz mit dem Kopf. Aylin Çelik drehte sich zu ihren Kollegen um.

„Ich denke, wir sollten uns die Sache mal vor Ort ansehen.“

Petersen nahm noch einen Schluck Kaffee und nickte.

„Ich komme mit. Martje, du hältst hier die Stellung. Das Revier muss besetzt sein. Wir haben jetzt unsere Öffnungszeit.“

„Klaro, Chef.“ Zwar wäre sie gerne mitgekommen, aber es war klar, dass der ortskundige Petersen bei der Besichtigung des Tatortes dabei sein musste.

Langsam stand Petersen auf und schlüpfte in seine Uniformjacke. „Dann wollen wir mal.“

Martje Willms, die, nachdem die drei gegangen waren, das Kaffeegeschirr abräumte, schüttelte immer wieder mit dem Kopf.

„Das ist wirklich Dorfpolizei hier, mein Gartenhaus ist weg. Ich fasse es nicht. Das glaubt einem keiner, wenn man das erzählt.“