Todesangst auf Wangerooge - Malte Goosmann - E-Book

Todesangst auf Wangerooge E-Book

Malte Goosmann

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Aktuell hat es Kommissar Petersen gleich mit zwei Fällen zu tun, in denen Stalking und Cyber-Mobbing eine Rolle spielen. Erster Schauplatz ist ein Plattbodenschiff, das mit einer Bremer Schulklasse an Bord im Wattenmeer vor Wangerooge unterwegs ist. Als das Schiff für mehrere Stunden auf Grund liegt, verschwindet über Nacht eine Schülerin spurlos von Bord. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Parallel wird auf der Insel eine ehemalige Prostituierte Opfer von widerlichen Attacken. Petersen erhält unverhoffte Unterstützung einer IT- Expertin der Bremer Polizei, die zufällig auf der Insel Urlaub macht. Im Laufe der Ermittlungen gerät der Inselkommissar selbst in große Gefahr, wodurch alle Einsatzkräfte der Insel gefordert werden...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 385

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Todesangst

auf

Wangerooge

Petersens achter Fall

*******

Kriminalroman

von

Malte Goosmann

Copyright: © 2024 Malte Goosmann

Self-publisher

Cover Design & Buch-Layout: Monika Goosmann

Titelbild: Monika Goosmann

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung.

Bisher ermittelte Kommissar Petersen in folgenden Fällen:

2015 /Schattenüber Wangerooge

*

2016 /Verscharrt auf Wangerooge

*

2018 /Rufmord auf Wangerooge

*

2019 /Mundtot auf Wangerooge

*

2021 /Novemberblues auf Wangerooge

*

2022 /Zerbrochen auf Wangerooge

*

2023/ Endstation Wangerooge

*

2024 /Todesangst auf Wangerooge

*

Alle Titel sind ebenfalls als eBooks

und Hörbücher erhältlich

*

Buch-Tipp:

Ein Winter auf Wangerooge

Petersens Kampf gegen die Pfunde

Eine Humoreske mit Illustrationen

von Monika Goosmann

*

1

Langsam füllte sich der Raum 221 in der Adolf-Reichwein-Oberschule in Bremen. Die letzte Elternversammlung für die Klasse 10b stand heute an. Am Ende des Schuljahres würde ein Großteil der Schüler in die Gymnasiale Oberstufe, auf Fachoberschulen oder in die betriebliche Ausbildung wechseln. Am Lehrertisch staute es sich. Die Erziehungsberechtigten suchten nach ihren jeweiligen Namen auf den kleinen Kärtchen, die ungeordnet auf dem Tisch standen. Als alle ihre Namensschilder und einen Sitzplatz gefunden hatten, eröffnete die Klassenelternsprecherin, Frau Holsterkamp-Münkenberg, die Versammlung. Haupttagesordnungspunkt war die bevorstehende Abschlussfahrt. Bevor dieser Punkt aufgerufen wurde, gab die Klassenlehrerin, Frau Wagschal-Menzel, zunächst einen kurzen Überblick über die allgemeinen Formalitäten am Ende des Schuljahres. Frau Wagschal-Menzel war eine mittelgroße Frau mit halblangen brünetten Haaren. Sie trug eine rote, recht modische Brille. Ein Accessoire, das aus ihrer sonst durchweg in sattem schwarz gehaltenen Kleidung herausstach. Neben ihr saß Benjamin Lies. Er unterrichtete in der Klasse die Fächer Englisch und Kunst und war für die Begleitung der Klassenfahrt vorgesehen. Lies, ein sehr gepflegt wirkender Mann Anfang Vierzig, verfügte aus Mangel an Kopfbehaarung nicht wirklich über eine Frisur, stattdessen zierte aber ein akkurat gestutzter dunkler Vollbart sein Gesicht. Der zweite Elternsprecher Karl Brummerloh, Malermeister und Besitzer einer eigenen Firma, musterte Lies. Das war also der beliebte Herr Lies, von dem alle nur so schwärmten, insbesondere die Schülerinnen. Nur ungern hatte Brummerloh sich zum zweiten Elternsprecher wählen lassen, aber die Mehrheit der weiblichen Erziehungsberechtigten wollte damals einen Mann, was ihn sehr wunderte, denn immerhin waren die Frauen in der Mehrheit gewesen. Er war sich dabei vorgekommen wie der „Quotenmann“.

Nachdem Frau Wagschal-Menzel mit den Formalitäten fertig war, übernahm wieder Frau Holstenkamp-Münkenberg die Sitzungsleitung. Eine Frau, der man anmerkte, dass sie das Geschäft der Sitzungsleitung beherrschte. Sie arbeitete beim Kanzler der Universität Bremen als Büroleiterin. Der Tagesordnungspunkt Abschlussfahrt wurde nun aufgerufen. Zuerst gab Frau Holstenkamp-Münkenberg dem anwesenden Schülersprecher das Wort. Knud, ein schlaksiger Junge mit langen blonden Haaren, gab in kurzen Sätzen das Meinungsbild der Klasse wieder. Das Meinungsbild innerhalb der Schülerschaft war geteilt. Eine Gruppe wollte nach Mallorca zum Chillen, wie es Knud ausdrückte. Die andere Gruppe wollte eine Fahrt in die Toskana machen. Nachdem Knud mit seiner knappen Ausführung durch war, meldete sich die Klassenlehrerin Frau Wagschal-Menzel zu den Vorschlägen aus der Schülerschaft.

„Eine Fahrt nach Mallorca kommt für mich nicht infrage. Ich habe das der Klasse auch schon so mitgeteilt. Die Erfahrungen vor der Pandemie haben gezeigt, dass solche Fahrten sich zu reinen ‚Sauffahrten‘ entwickeln können. Aus unserer Nachbarschule mussten mehrere Schülerinnen und Schüler auf Mallorca mit Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Gegen die Kolleginnen und Kollegen wurden Disziplinarverfahren wegen Aufsichtspflichtverletzungen eingeleitet. Ich stehe definitiv für eine solche Fahrt nicht zur Verfügung.“

Entschlossen blickte sie durch ihre rote Brille in die Runde und, als wolle sie ihren Standpunkt damit nochmals unterstreichen, schlug sie fast trotzig mit beiden Händen vor sich auf den Tisch.

Die Mehrheit der Anwesenden quittierte dieses recht emotionale Statement der Lehrerin ihrerseits spontan mit zustimmendem Klopfen auf den Tischen. Nach kurzem Schweigen stellte die Elternsprecherin, Frau Holstenkamp-Münkenberg, jetzt die Toskana Fahrt zur Diskussion. Eine alleinerziehende Mutter, von Beruf Altenpflegerin, problematisierte daraufhin die hohen Kosten einer solchen Reise. Dafür gab es von einigen Müttern ein verhaltenes Klopfen. Der zweite Elternsprecher Karl Brummerloh gab zu bedenken, dass die Klasse pandemiebedingt seit Jahren nun schon keine Klassenfahrt mehr gemacht habe. Diese Tatsache sollte die Versammlung doch bei der Kostenfrage berücksichtigen. Nach dieser Äußerung klopfte jetzt allerdings niemand. Macht doch, was ihr wollt, dachte Brummerloh und lehnte sich, mit über dem Bauch verschränkten Armen, schmollend zurück.

Nun sah Frau Holstenkamp-Münkenberg die Zeit für ihren Vorschlag gekommen.

„Ich finde, so schön eine Fahrt in die Toskana vielleicht auch wäre, passt das leider irgendwie nicht mehr in unsere heutige Zeit. Die finanziellen Nöte vieler Familien, insbesondere der alleinerziehenden Elternteile, lassen eine solche Fahrt aus Kostengründen nicht mehr zu. Auch der Elternverein, der gelegentlich für derartige Fahrten Zuschüsse gewährt, wird sicherlich in diesem Fall keinen Beitrag leisten. Ich habe mich dazu im Vorfeld bereits erkundigt. Ein weiteres Argument ist die Frage der Nachhaltigkeit. Eine vierundzwanzigstündige Busreise nach Italien ist klimapolitisch heutzutage nicht mehr vertretbar.“

Brummerloh verdrehte seine Augen. Das musste ja kommen, dachte er, das Totschlagargument.

Die Elternsprecherin kam jetzt zum Punkt.

„Ich schlage eine einwöchige Segeltour mit einem Plattbodenschiff durch das Niedersächsische Wattenmeer vor. Die Schülerinnen und Schüler würden dadurch angeleitet werden, Verantwortung zu übernehmen. Sie müssen sich nämlich gemeinschaftlich an allen Arbeiten an Bord beteiligen. Diese Arbeiten, und das belegen alle wissenschaftlichen Untersuchungen, tragen zur Charakterbildung bei. Außerdem lernen unsere Kinder viel über das einmalige Ökosystem des Wattenmeeres kennen. Auch sind die Kosten für eine solche Fahrt um ein Vielfaches geringer als zum Beispiel für eine Toskana Fahrt.“

Nach diesen Ausführungen herrschte für einen Moment Stille im Klassenraum. Jeder musste das eben Gesagte wohl erst einmal für sich prüfen.

Als Erste meldete sich die Altenpflegerin und stimmte diesem Vorschlag ausdrücklich zu. Nach und nach kamen jetzt aus allen Richtungen zustimmende Äußerungen. Nur Brummerloh maulte halblaut etwas Unverständliches vor sich hin und auch Schülersprecher Knud zeigte wenig Begeisterung für diesen Vorschlag.

Da Frau Holstenkamp-Münkenberg ein Sitzungsprofi war, überließ sie nichts dem Zufall und verteilte sogleich Faltblätter von einem Bremer Veranstalter, der Touren mit einem historischen Weserkahn ins Niedersächsische Wattenmeer anbot. Das optisch gut aufbereitete Faltblatt schien einen großen Teil der Erziehungsberechtigten zu überzeugen, so dass sich am Ende der Versammlung eine klare Mehrheit für den vorgeschlagenen Schiffstörn aussprach.

2

Es war einer der ersten schönen Sommertage. Nur ein paar vereinzelte Wolken zierten den strahlend blauen Himmel. Die See war ruhig und glitzerte durch die Sonnenstrahlen. Die feuchten Spuren am Strand waren sichere Zeichen dafür, dass das Wasser ablief. Ein Containerschiff mit der Aufschrift Cosco Shipping durchpflügte gerade gemächlich die See. Die Strandkörbe waren fast wie am Schnürchen auf parallel verlaufenden Linien aufgereiht. Rentnerpaare und Familien mit Kleinkindern beherrschten die Strandkorbszenerie. Die erste Welle der Touristen hatte bereits um Ostern herum die Insel erreicht gehabt. Jetzt war wieder eine gewisse Ruhe eingekehrt. Lars Petersen stand zwischen Schirmbar und dem Schwimmbad und blickte gedankenversunken auf die See. Seine Gedanken gingen zu seiner Partnerin Susanne, die da draußen einen Kreuzer der Bundespolizei befehligte. Ihre Beziehung war vor ein paar Monaten auf eine harte Probe gestellt worden. Auf einer Fortbildung der europäischen Grenzpolizei Frontex im italienischen Brindisi hatte sie ihn mit einem Capitano der italienischen Küstenwache betrogen Diese Tatsache nagte noch immer schwer an ihm. Auf seiner Geburtstagsfeier anlässlich seines 60ten in Bremen war sie einen Schritt auf ihn zugegangen und hatte ihn um Verzeihung gebeten. Susanne hatte sich noch einmal reumütig für die heftige Ohrfeige, die sie ihm in Folge seiner derben Bemerkung über ihr Fremdgehen verpasst hatte, entschuldigt. In den Wochen und Monaten danach hatten sie sich sowohl in Cuxhaven als auch auf Wangerooge mehrfach getroffen. Dabei konnten sie zwar eine gemeinsame Gesprächsebene finden und wieder lachen, sogar auch ernsthaft streiten, ohne dass es zu einem erneuten Bruch kam, aber im sexuellen Bereich wollte es nicht mehr so richtig klappen. Petersen quälten wilde Fantasien. Die Bilder, die er sich vom Fremdgehen seiner Partnerin machte, hatten sich in seinem Kopf festgefressen. In einem gemeinsamen Kurzurlaub auf Helgoland, als sein Kopfkino erneut Thema zwischen ihnen war, hatte Susanne offensiv die Auseinandersetzung gesucht.

„Dieses Gerede von den Bildern in deinem Kopf geht mir gewaltig auf die Nerven. Dass du in deinem männlichen Selbstverständnis gekränkt bist, dafür habe ich ja Verständnis. Sogar, wenn du sagen würdest, dass mein Verhalten ein Trennungsgrund wäre. Aber diesen absurden Fantasien in deinem Kopf sollte man eigentlich mal auf den Grund gehen. Was hast du denn überhaupt für Vorstellungen? Sex Orgie in einer mediterranen Nacht, oder was? Mensch, das war ein simpler One-Night-Stand unter Alkoholeinfluss. So, und wenn du es genau wissen willst, der Sex mit dir war allemal besser. Punkt aus! Und nun will ich nichts mehr davon hören.“

Petersen war nach dieser Attacke völlig perplex gewesen, aber tatsächlich hatten sie sich danach wieder etwas angenähert, obwohl, es war einfach nicht mehr so wie früher geworden.

„Sheriff, schläfst du da im Stehen?“

Jäh wurde Petersen aus seinen Gedanken gerissen. Hinter ihm stand der Schwede, der schon sehr früh morgens die Speisen für den Tag vorbereitet hatte und gerade im „Diggers“ Feierabend machte.

„Nee, hab‘ nur gerade ein wenig Fernweh gehabt“, log Petersen. Nach einer kurzen Unterhaltung trat er den Rückweg zur Wache an. Unterwegs kaufte er sich in der Inselbuchhandlung noch seine Bremer Tageszeitung und den Inselkurier. Als Petersen in der Wache ankam, saß seine Kollegin Heike Wohlers an ihrem Schreibtisch und studierte eine Mitteilung des BKAs. Nachdem er seine Uniformjacke ausgezogen hatte, blickte er ihr über die Schulter.

„Was liest du denn da Interessantes?“

Heike Wohlers rollte mit ihrem Bürostuhl etwas zurück und deutete auf den Bildschirm.

„Das ist ein Artikel über Cold Cases, hoch interessant, sage ich dir.“

„Und?“ Petersens Gesichtsausdruck verriet Interesse.

„Mit neuen wissenschaftlichen Methoden werden heute erstaunliche Erfolge erzielt.“

„Klingt interessant. Aber ich habe hier was mit Texten dabei. Mir hat unser Buchhändler eben, als ich den Inselkurier gekauft habe, gesagt, dass in der neuen Ausgabe was für uns dabei sei.“

Wohlers blickte ihn fragend an. Petersen zuckte nur leicht mit der Schulter und schlug die Zeitung auf, um kurz darin zu blättern.

„Mmh, ich finde nichts, was uns angeht.“

„Soll ich mal schauen?“, bot Heike an.

„Stopp, ich hab hier was gefunden.“ Petersen tippte auf die vorletzte Seite.

„Hier sind zwei Leserbriefe, ich glaube, die meinte der Buchhändler.“

Er überflog den Text. Nach einer kurzen Lesepause schmiss er die Zeitung auf den Tisch.

„Ach, du Scheiße, volle Breitseite gegen uns. Lies selbst, Heike!“

Wohlers runzelte, während sie zu lesen begann, die Stirn. Nachdem sie fertig war, blickte sie zu Petersen auf.

„Jetzt haben wir den Salat.“

Petersen nickte, ging zur Kaffeemaschine und holte sich einen Pott Kaffee.

„Du auch?“, fragte er seine Kollegin.

„Danke, ich hab‘ hier noch meinen Grünen Tee. Was machen wir jetzt?“ Dabei sah Heike ihren Chef an und dachte, der Alte brütet schon wieder was aus, denn Petersen strich gerade intensiv mit der rechten Hand über seinen Drei-Tage-Bart, immer wieder das typische Zeichen dafür, dass er nachdachte.

„Da ist ja zwar viel Polemik drin, aber wir sollten die Punkte trotzdem einmal durchgehen.“

Heike Wohlers stimmte diesem Vorschlag kopfnickend zu.

„Hier werden als erstes unsere Öffnungszeiten bemängelt, vor allem, dass Samstagvormittag geschlossen ist.“

„Wie sollen wir das denn anders machen bei unserer dünnen Personaldecke?“, warf Wohlers verärgert ein.

„Okay, ich notier das trotzdem mal. So, dann kommt hier unser Dauerbrenner, brüllende Trunkenbolde vor einer Lokalität in der Zedeliusstraße‘. Es ist sicherlich nicht zu bestreiten, dass das ein Problem ist, das uns die ganzen Jahre begleitet.“

„Stimmt sicherlich, aber wir kommen doch, wenn wir gerufen werden.“

Petersen nickte und las weiter.

„So, jetzt steht hier noch, dass die mangelnde Polizeipräsenz Absicht sei, um die Bürger und die Gäste nicht einzuschüchtern.“

„Das klingt nach Verschwörungstheorie“, gab Wohlers zu bedenken, „als wenn der Bürgermeister oder der Gemeinderat uns Anweisungen geben würde, uns nicht zu zeigen.“

„Okay, abgehakt. Die Bürgermeister in meiner Amtszeit haben sich eher beschwert, dass sie nicht ausreichend informiert wurden. Im zweiten Brief kommt unser nächstes Dauerthema zur Sprache, das Radfahren in der Zedeliusstraße und auf der Oberen Strandpromenade.“

„Das ist aber auch wirklich ein Problem, Lars, aber wir können ja nicht den ganzen Tag dort kontrollieren.“

„Stimmt schon, ich nehme aber aus den Briefen jenseits der Polemik folgende Problembereiche wahr. Punkt eins, zu geringe Öffnungszeiten. Punkt zwei, Ruhestörungen vor allem in der Nacht. Punkt drei, Radfahren in den Fußgängerzonen. Soweit okay?“

Von Wohlers kam zustimmendes Nicken. Petersen musste grinsen, weil ihm ein Gag auf der Zunge lag und er überlegte, ob er ihn er bringen sollte.

„Du, Heike, vielleicht sollte ich noch mehr in die Kneipen gehen, dann bin ich bei den Ruhestörungen gleich vor Ort.“

Wohlers schüttelte sofort mit dem Kopf.

„Petersen, manchmal bist du einfach nur albern. Aber du weißt schon, dass du auf dieser Insel den Ruf des ‚Kneipenermittlers‘ hast?“

Petersen lachte kurz.

„Ja, ja, geschenkt, aber doch ganz schön effektiv “

„Lars, jetzt aber mal wieder ernst. Was machen wir mit diesen Kritikpunkten?“

Er grübelte einen Moment und kratzte sich den Bart.

„Ich weiß, das ist immer die gleiche Leier, aber Bremen macht dann immer so Schwerpunktkampagnen.“

Wohlers rollte mit den Augen.

„Jetzt kommt die Nummer mit der Symbolpolitik, kennen wir ja alles schon.“

„Trotzdem, stimmt ja, aber wir könnten uns pro Monat einen Punkt rausgreifen und den schwerpunktmäßig bearbeiten.“

„Genau, alles auf einmal geht nicht, solange wir nur zu zweit sind.“

3

Der Bus mit den Schülern der Klasse 10b der Adolf-Reichwein-Oberschule hatte den Hafen von Greetsiel erreicht. Der kleine malerische Krabbenkutterhafen war in ganz Deutschland bekannt. In jedem Hochglanzband über Ostfriesland wurde er als Sinnbild für die Schönheit der ostfriesischen Küste abgebildet. In zahlreichen Filmen, die in Ostfriesland gedreht wurden, diente dieser Ort als Kulisse für ein zauberhaft kitschiges Küstenbild. Von dieser malerischen Kulisse nahmen die Schüler der Klasse 10b aber nur wenig Notiz. Etwas verschlafen hingen sie noch in den Sitzen ihres Komfort-Reisebusses, als der Busfahrer auf die Pier des kleinen Kutterhafens zusteuerte. Heute lagen nur wenige Krabbenkutter im Hafen. Die meisten Schiffe waren auf Fangfahrt draußen auf der Nordsee oder im Wattenmeer. Ganz am Ende der langen Pier lag die „Roland“, der Nachbau eines Weserkahns. Das Schiff mit seinem dunklen Rumpfanstrich und den rot-braunen Segeln war als Plattbodenschiff konstruiert worden. Mit seinem maximalen Tiefgang von nur einem Meter fünfundzwanzig war es ideal für Fahrten ins Wattenmeer geschaffen. Ohne Probleme konnte man sich mit diesem Schiff im Wattenmeer trockenfallen lassen. Es verfügte über keinen langen Kiel, sondern war mit zwei Seitenschwertern ausgestattet. In früheren Zeiten, vor allem im 19. Jahrhundert, dienten solche Kähne zur Verteilung von Waren in der Weserregion bis hoch nach Bremen. Da die Weser während dieser Zeit zusehends versandete, war dieser Schiffstyp auf Grund seines geringen Tiefgangs besonders gut geeignet gewesen, den Schiffsverkehr nach Bremen aufrecht zu erhalten. Nach der großen Weserkorrektion verlor dieser Schiffstyp seine Bedeutung und verschwand aus dem Hafenbild. Der Nachbau wird heutzutage von einem Verein betrieben und erzielt vornehmlich Einnahmen durch Gästefahrten im Küstengebiet von Nord- und Ostsee.

Der Busfahrer parkte den Reisebus direkt am Anleger neben dem Schiff. Langsam kletterten die Schüler aus dem Bus und suchten nach ihrem Gepäck aus dem tiefliegenden Gepäckraum des Busses. Auf der Pier wurde die Klasse schon von den drei Besatzungsmitgliedern der „Roland“ erwartet. Bevor die Schüler mit ihren beiden Lehrern an Bord gingen, sollten die ersten Verhaltensregeln verkündet werden. Zwar hatten die Lehrkräfte die Regeln des Bordlebens mit der Klasse schon in Bremen besprochen, aber die Besatzung wollte auf Nummer sicher gehen, dass die Schüler die Regeln auch wirklich verstehen würden. Der Skipper, mit Namen Tim, war ein großer schlanker blonder Mann, der noch recht jugendlich wirkte. Bekleidet war er mit einem Fischerhemd, allerdings ohne weiße Streifen, wie sie sonst bei Shanty-Chören oft zu sehen waren. Dafür schmückte der Aufdruck eines großen weißen Ankers seine Brust. Rechts neben ihm stand eine junge Frau mit roten Haaren, die im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Auf dem Kopf trug sie eine dunkelblaue Strickmütze. Ihr Körper steckte in einer Latzhose aus Jeansstoff, darunter ein Carola Rackete-T-Shirt. Ihr Name war Lotta. Neben ihr stand ein stämmiger Mann mit einem rundlichen, äußerst freundlichen Gesicht, der allerdings deutlich älter als die beiden anderen Crewmitglieder war. Das war Jan. Sein blau-weiß geringeltes T-Shirt, war nur knapp in der Lage, seinen recht stattlichen Bauch zu bedecken. Auf Grund seines Körperumfangs war es nicht weiter verwunderlich, dass er auf dem Schiff die Rolle des Smutjes bekleidete.

Klassenlehrerin Regina Wagschal-Menzel hatte im Vorfeld nichts dem Zufall überlassen. An Hand einer Schiffsskizze hatte sie die Einteilung der Kojen bereits in der Schule vorgenommen. Ein Chaos bei der Kojen-Verteilung wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Sie war erfahren genug, um zu wissen, dass bei jeder Klassenfahrt die Zimmerverteilung großes Konfliktpotential beinhaltete. Probleme hatte es dann aber kaum gegeben, da die einzelnen Kojen an den Wänden des großen Salons angeordnet waren. Das ganze ähnelte einem Schlafsaal, was der Lehrerin nicht so wirklich behagte. Wie sollte sie nachts für Ruhe auf dem Schiff sorgen? Ihre ganze Hoffnung beruhte auf der Tatsache, dass die Klasse an Bord ordentlich mithelfen müsste und der frischen Seeluft, die ja bekanntermaßen müde macht.

Am ersten Tag sollte es nur einen kleinen Törn geben. Da Greetsiel schon seit langem keinen direkten Zugang mehr zum offenen Meer hatte, konnten die Schiffe die See nur durch die Schleuse Leysiel erreichen. Die Schleuse lag etwa 4 Seemeilen vom Hafen Greetsiel entfernt. Der Vorhafen der Schleuse bot Haltepfähle, an denen die Schiffe, während sie auf die Öffnung der Schleuse warten mussten, festmachen konnten. Dieser Vorhafen würde das erste Ziel für den frühen Abend werden. Mit dem morgigen Hochwasser würden sie dann durchgeschleust und das erste richtige Ziel, die Insel Juist, könnte angepeilt werden. Diese langsame Herangehensweise bot der Besatzung, als auch den Lehrkräften die Möglichkeit, die Schüler langsam mit den anfallenden Arbeiten auf dem Schiff vertraut zu machen.

4

Im Polizeiposten Wangerooge starrte Hauptkommissar Lars Petersen aus dem Fenster. Es hatte sich eingetrübt. Dunkle Wolken hingen über der Insel und in wenigen Augenblicken würde es wohl anfangen zu regnen. Er musste sich eingestehen, dass die beiden Leserbriefe im Inselkurier doch mehr an ihm genagt hatten, als er zugeben wollte. Waren sie schlampig geworden? Hatten sie die Probleme, die in diesen Briefen angesprochen wurden, vernachlässigt, sie auf die leichte Schulter genommen? Immerhin hatten sie in letzter Zeit eine Messerstecherei aufklären und bundesweit gesuchte Räuber festnehmen können. Das hatte ihnen viel Lob und Anerkennung eingebracht, aber wenn die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht berücksichtigt wurden, standen sie dennoch schlecht da. Mit Wehmut musste er an seine beiden Kolleginnen des letzten Sommers denken, an Aylin Çelik und Martje Willms. Mit den beiden hätten sie jeden Tag die Zedeliusstraße dicht machen und alles kontrollieren können, was sich bewegen würde. Stopp, er musste sich jetzt selbst zur Ordnung rufen. Diesen Gedankenmüll sollte er lieber aus seinem Gehirn verbannen. Wahrscheinlich war er einfach nur beleidigt und ergab sich deshalb in Allmachtsfantasien.

Er drehte sich abrupt um, ging zur Kaffeemaschine und füllte seinen Kaffeepott. Aylin Çelik und Martje Willms hatten durch die Ereignisse auf der Insel einen enormen Karriereschub bekommen. Seine ehemalige Kollegin Mona Behrens, die bei der Abteilung OK (Organisierte Kriminalität) einen hohen Posten besetzte, hatte sich Aylin Çelik geschnappt und sie nach Oldenburg gelotst. Martje Willms war vom Kriminaldauerdienst in Wilhelmshaven in das Kommissariat von Jürgen Erhardt aufgestiegen. Sie hatte sich auf eine Stelle als Oberkommissarin beworben und diese Stelle auch bekommen, nicht zuletzt für ihre Verdienst bei dem Einsatz auf Minsener Oog. Das „Duo infernale“, wie sie sich mal genannt hatten, war getrennt worden. Ein leichter Bruch zwischen den beiden befreundeten Kolleginnen hatte sich in den letzten Wochen schon auf der Insel abgezeichnet. Petersen hoffte trotzdem, dass der Kontakt zu beiden nicht verloren gehen würde.

Seine Stammkollegin Heike Wohlers machte nach ihrer längeren Auszeit einen recht stabilen Eindruck. Es schien so, als ob sie bei ihrem Kletterkurs in den Alpen jemanden kennengelernt hatte. Danach zu fragen, traute er sich aber nicht. Er hatte sich einmal in die frühere Beziehung zu ihrem Fregattenkapitän eingemischt und sich dabei die Finger ordentlich verbrannt. Wenn man vom Teufel……

Wohlers betrat die Wache. Sie schüttelte sich kurz und hängte ihre Jacke an die Garderobe.

„So ‘n Schietwetter, bin auf den letzten Metern noch nass geworden. Habe übrigens zwei Fahrradfahrer in der Zedeliusstraße angehalten. Musste mir gleich einen Spruch einfangen.“

„Wie das?“

„Na ja, so unter dem Motto, ‚führt ihr jetzt die Befehle von Leserbriefschreibern aus‘.“

„Tja, das ist die andere Seite der Medaille. Da werden wir sicher noch den einen oder anderen weiteren Spruch kassieren.“

In diesem Moment läutete das Festnetztelefon. Petersen nahm den Hörer ab. Am Apparat war eine Fahrerin von den Inseltaxis der Inselflieger.

„Moin, Sheriff, komme gerade vom Westen. Ich weiß nicht, ob ihr das schon gesehen habt. Auf der Straße steht was geschrieben, in weißer Farbe.“

Etwas begriffsstutzig fragt er:

„Wie, was? Ich versteh‘ nicht.“

„Da steht was auf der Straße.“

„Ja, was denn?“

„Kein Taxiverkehr im Wattenmeer.“

Petersen stutzte, schüttelte ungläubig den Kopf und fragte dann nach dem genauen Ort.

Als das Gespräch beendet war, wandte er sich seiner Kollegin zu, die gerade ihren PC startete.

„Ich glaube, wir haben einen Fall von Graffiti auf der Straße.“

„Wie? Ich versteh‘ dich nicht.“

„Es hilft nichts. Wir müssen uns das wohl ansehen. Fahrräder klarmachen! Du darfst das E-Bike nehmen.“

„Ach, wie gütig, ganz der Kavalier der alten Schule. Diese Zeiten sind aber vorbei. Du, als der alte weiße Mann, nimmst natürlich das Bike bei deinem hohen Alter!“

Das hatte gesessen. Etwas angesäuert griff er nach seiner Regenjacke und stapfte missmutig nach draußen. Auf dem Weg zum Westen wurde kein Wort gesprochen. Petersen war beleidigt und Wohlers kämpfte gegen Regen und Wind und verfluchte die Tatsache, dass sie Petersen das E-Bike überlassen hatte. Ungefähr in Höhe des Neuen Leuchtturms sahen sie die Bescherung. In großen Buchstaben stand da sehr säuberlich geschrieben, Kein Taxiverkehr im Wattenmeer. Beide stiegen von ihren Rädern und bestaunten den Schriftzug. Petersen fotografierte die Parole von allen Seiten und murmelte fragend:

„Fridays for Future?“

Heike Wohlers, die sein Murmeln wohl nicht verstanden hatte, antwortete nicht. Da der Regen jetzt immer stärker wurde, traten sie den Rückweg an. Völlig durchnässt betraten sie die Wache. Petersen fuhr mit seiner Hand über seine Uniformhose.

„Scheiße, völlig durch, so kann ich hier nicht sitzen. Ich geh‘ mal eben nach oben und zieh’ mir eine andere Hose an. Was ist mit dir? Vielleicht finde ich irgendetwas von Susanne für dich.“

Wohlers nickte. So ein starkes Mitgefühl von seiner Seite hatte sie gar nicht erwartet. Während sie jetzt Kaffee für ihn und für sich Grünen Tee vorbereitete, ging er nach oben. Nach etwa fünf Minuten kam er wieder. Er hatte jetzt statt einer Uniformhose eine Jeans an und Heike reichte er eine Jogging-Hose von Susanne. Als sie aus dem Nebenzimmer wiederkam, mussten beide laut lachen. Ihr Aussehen wirkte ohne Zweifel gewöhnungsbedürftig. Beide korrektes Uniformhemd, darunter er mit verwaschener Jeans und sie mit Jogginghose aus Ballonseide.

„Wenn wir jetzt Publikumsverkehr haben, kriegen wir den nächsten Leserbrief“, prustete es aus ihr heraus. Petersen sah lachend an sich hinunter.

„Folgender Tenor: ‚Verwahrlosung im Wangerooger Polizeirevier. Familie Flodder hat auf der Wache Einzug gehalten‘.“

Nachdem sie beide sich beruhigt und ihre Heißgetränke zu sich genommen hatten, wurde Heike Wohlers wieder dienstlich.

„Wie bewerten wir diesen Graffiti-Spruch auf der Straße?“

Petersen runzelte die Stirn.

„Vielleicht tatsächlich Klimaaktivisten ‚Fridays for Future‘ oder Ähnliches?“

„Oder ‚Letzte Generation‘?“

„Die hätten sich dann da doch wohl eher festgeklebt, oder?“

„Stimmt, aber gibt es solche oder ähnliche Gruppen denn auf der Insel überhaupt?“, sah sie Petersen fragend an.

„Keine Ahnung. Ich denke, das müssen wir rauskriegen und mal etwas über den Hintergrund der Parole erfahren.“

„Wie genau meinst du das?“

„Na, ja, auf Juist zum Beispiel gibt es zwei Wassertaxi-Linien. Einmal von einem örtlichen Gastronomen und, soweit ich weiß, von der Reederei Frisia. Das sind kleine Boote mit einem extrem niedrigen Tiefgang. Die können dann völlig unabhängig von der Tide die Insel anlaufen und das in sehr kurzer Zeit.“

„Aha, also für Leute, die wenig Zeit haben. Wie viel Personen passen da denn drauf?“

„Unterschiedlich, je nach Bootstyp neun bis zwanzig Personen.“

„Ist denn sowas auch für Wangerooge geplant?“

Petersen nickte.

„Die Bahn hat bereits so ein Schiff angeschafft. Die ‚Watt Sprinter‘, darauf sollen bis zu 54 Personen Platz haben.“

„Und warum fährt das Boot noch nicht?“

„Ich denke, sie haben noch keinen vernünftigen Anleger dafür. Bei dem Tidenhub im Hafen brauchen die schon eine Art Pontonanleger. Ohne diesen Anleger können die nur bei Hochwasser fahren. Auch haben sie Probleme mit der Gangway.“

Heike Wohlers wusste nicht so genau, was ihr Kollege damit meinte, entschloss sich aber, nicht weiter nachzufragen. Petersen hatte inzwischen den Telefonhörer in der Hand. Er drückte die Mithörtaste.

„Gemeinde Wangerooge, Ria Bahr am Apparat.“ Ria Bahr war die Allgemeine Vertreterin des Bürgermeisters. Ohrmann, der bisherige Bürgermeister, war nach der Einleitung eines Abwahlverfahrens durch den Gemeinderat zurückgetreten.

„Moin, Ria, hier Petersen, Polizei Wangerooge.“

„Moin Lars, was verschafft mir die Ehre.“

In kurzen Worten schilderte Petersen die Sache mit dem Schriftzug auf der Straße nach dem Westen.

„Können wir mal eben bei dir vorbeikommen?“

„Nicht sofort, habe noch eine Besprechung. So in gut einer Stunde?“

„Okay.“

Heike grinste ihn an. „Da hast du aber Glück gehabt, so wie wir jetzt aussehen, könnten wir nicht zur Gemeinde gehen.“

„Stimmt, hatte ich ganz vergessen. Aber bis dahin sind unsere Hosen wohl trocken.“

Knapp eineinhalb Stunden später im Büro des Bürgermeisters wurden sie schon erwartet. Ria Bahr bot den beiden Beamten ein Glas Wasser an.

„Einer der Fahrer des Gepäckdienstes hat eben auch wegen des Spruchs auf der Straße zum Westen angerufen“, eröffnete sie das Gespräch. „Ich werde Anzeige wegen Sachbeschädigung erstatten. Kann ich das hier jetzt machen?“

Petersen nickte.

„Ich werde gleich einen von meinen Leuten dahinschicken, um das Geschmiere zu übermalen“, fuhr Ria fort.

Petersen räusperte sich.

„Ist dir denn irgendetwas bekannt, dass es gegen die Wassertaxis Widerstand gibt?“

Ria Bahr schüttelte den Kopf.

„Wir hatten einen privaten Mitbewerber, ähnlich wie auf Juist. Aber das haben wir abgelehnt. Hier auf der Insel ist die Deutsche Bahn unser Partner.“

„Keine kritischen Stimmen im Gemeinderat oder von Umweltverbänden?“, bohrte Petersen weiter.

„Nee, eigentlich ging es nur um Detailfragen, nichts Grundsätzliches.“

Als Heike Wohlers und Petersen wieder auf der Promenade standen, waren beide etwas ratlos. Wohlers brachte es auf den Punkt.

„Viel schlauer sind wir jetzt auch nicht.“

Dem hatte Petersen nichts hinzuzufügen.

5

Die Nacht im Vorhafen der Schleuse Leysiel war überraschend ruhig verlaufen. Regina Wagschal-Menzel war angenehm überrascht. Sie hatte eher mit einer turbulenten Nacht gerechnet. Aus ihrer Erfahrung wusste sie, die erste Nacht auf Klassenfahrten war immer die härteste. Vielleicht lag es an der Umgebung. Das Schiff, die kleinen Kojen, die ungewohnten Geräusche könnten die Ursachen für die ruhige Nacht gewesen sein. Ihr Kollege Benjamin Lies tippte da eher auf die Generation Smartphone. Durchweg alle Schüler daddelten bis spät in die Nacht an ihren Geräten und ein Wechseln zum Beispiel in die Schlafzimmer der Mädchen war auf diesem Schiff schlechterdings nicht möglich, da alle Kojen an den Außenwänden des großen Salons nebeneinander angeordnet waren. Außerdem waren die Kojen jeweils nur für eine Person ausgelegt.

An diesem ersten Morgen ihres Törns wurden sie durchgeschleust. Skipper Tim hatte im Vorfeld bereits die Klasse im Umgang mit den Fendern eingewiesen. Alles klappte und kein Fender ging verloren. Das schöne Schiff kam tatsächlich ohne Schrammen an der Außenhaut durch die Schleuse. Das relativ breite Fahrwasser hinter der Schleuse lud dazu ein, die Schüler an die Bedienung der Segel zu gewöhnen. Jede Gruppe musste eine Schot bedienen. Um die Schüler nicht zu überfordern, wurden nur das Großsegel und die Fock gesetzt. Mit halbem Wind machte die „Roland“ immerhin einige Knoten Fahrt. In der Ansteuerung des engen Juister Fahrwassers ließ Skipper Tim die Segel bergen und schmiss die Maschine an. In diesem engen Fahrwasser wollte er mit dieser untrainierten Mannschaft kein Risiko eingehen. Im Hafen von Juist wurden die Schüler der Klasse 10b noch einmal gefordert. Das Anlegemanöver musste sitzen. Die Gruppe, die für die Fender zuständig war, wartete auf Anweisungen von Skipper Tim.

„Anlegen mit Steuerbordseite!“, kam das Kommando auch schon. Die Jugendlichen, die eher mit der Backbordseite gerechnet hatten, wechselten schnell die Seite und befestigten die Fender an der Reling. Von der Pier aus boten sich einige Segler an, die Leinen in Empfang zu nehmen, auch das klappte reibungslos. Die beiden Lehrkräfte waren stolz auf ihre Klasse, auch Skipper Tim sparte nicht mit Lob.

Für den Abend hatte Regina Wagschal-Menzel in einer bekannten Pizzeria auf Juist mehrere Tische reserviert. Aus der Klassenkasse wurde eine Runde Pizza für alle gesponsert. Die Jugendlichen hatten mächtigen Hunger von der Arbeit an der frischen Luft und hauten ordentlich rein. Kein Stückchen Pizza ließen sie übrig. Auf dem Teller von Lehrer Lies lag allerdings ein Reststück seiner Pizza. Er achtete sehr auf seine Figur und aß niemals alles restlos auf, eine Marotte von ihm. Nach dem Essen war Freizeit bis 22 Uhr angesagt. Sehr schnell verstreuten sich die Grüppchen über die Insel. Nur am Hafen saß eine Schülerin alleine auf einer Bank. Sie starrte unentwegt auf ihr Tablet, ab und zu blickte sie aufs Meer. Liana Lorch war ein groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit langen blonden Haaren. Sie trug eine große Brille mit auffällig blauem Gestell. Für ihr Alter, 16 Jahre, war sie auffallend weit entwickelt und höchst attraktiv. In der Klasse nahm sie eine Sonderstellung ein. Erst die Überredungskünste ihrer Mutter, als auch die ihrer Klassenlehrerin, hatten sie überhaupt dazu bewogen, an dieser Klassenfahrt teilzunehmen. Mit dem ersten Blick auf ihre Kleidung konnte man erkennen, dass sie nicht unter Geldknappheit litt. Liana hatte bereits einen eigenen Kanal auf Instagram und mit über 20.000 Followern war sie einer der Shooting-Stars in der Influencer-Szene. Sie war nicht mit den üblichen Schmink- und Körperpflege-Videos unterwegs, sondern hatte sich auf den Bereich Second-Hand-Mode spezialisiert. Einmal in der Woche präsentierte sie in ihrem Kanal Neuheiten aus dieser Szene. Mittlerweile wurde sie von einer Kette von Second-Hand-Läden gesponsert und verdiente regelmäßig Summen im vierstelligen Bereich. Die Schule ließ sie in gewisser Weise nebenherlaufen und tat nur das Nötigste, um nicht sitzenzubleiben. Frau Dr. Lorch, ihre alleinerziehende Mutter, eine bekannte Rechtsanwältin, war nicht unbedingt begeistert von den Aktivitäten ihrer Tochter. Mit großer Sorge beobachtete sie, dass ihre Tochter ein völlig isoliertes Leben führte. Liana stand unter dem immensen Druck, immer etwas abliefern zu müssen. In der Klasse war sie krasse Außenseiterin. Zwar himmelten sie die Jungs insgeheim fast alle an, aber ihre arrogant wirkende Ausstrahlung verlieh ihr eine gewisse Unnahbarkeit und führte dazu, dass sie gemobbt wurde. Hinter ihrem Rücken machte man sich lustig über ihre Instagram-Filmchen. Ihre Initialen LL für Liana Lorch hatten einige Mitschüler, aufgrund der Second-Hand-Mode, gnadenlos in „Lumpen-Luder“ umgewidmet.

Begleitlehrer Benjamin Lies schlenderte auf dem Deich entlang, als er Liana dort auf der Bank am Hafen sitzen sah, steuerte er direkt auf sie zu. Nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte, fragte er sie, warum sie sich so von der Klasse isoliere.

„Mir gibt das alles nichts, dieses pubertäre Gehabe“, formulierte sie in altkluger Manier. „Mir sind andere Dinge wichtiger. Schließlich verdiene ich ja mit meinem Kanal auch schon eine Menge Kohle.“

Lies, der Liana sehr attraktiv fand, versuchte es, ganz einfühlsam, noch einmal.

„Aber bei dieser einen Woche Klassenfahrt könntest du dich doch ein wenig mehr in die Gruppe einfügen.“

„Warum? Noch anderthalb Monate und dann sehe ich die alle eh nicht wieder.“

Lies rückte jetzt etwas näher an das Mädchen heran.

„Aber diese Woche auf engstem Raum kann für dich schwierig werden, das weißt du schon, oder?“

Sie zuckte mit ihren Schultern.

„Das bin ich gewöhnt.“

Lies war nun etwas ratlos. Er legte seinen Arm dezent um ihre Schultern.

„Liana, wenn etwas ist, kannst du dich jederzeit an mich wenden.“

Sie blickte ihm kurz in die Augen und nickte, ohne aber etwas zu sagen.

Im selben Augenblick hörten sie Stimmen hinter sich. Ein Mädchen und ein Junge aus der Klasse kamen zur Bank gerannt. Zwar wunderten sie sich ein wenig über die leichte Umarmung zwischen Lies und Liana, aber ihre Aufmerksamkeit galt im Moment einer ganz anderen Sache.

„Herr Lies, Herr Lies, Sie müssen sofort kommen, Dennis und Kevin sitzen total betrunken vor der ‚Spelunke‘!“

Benjamin Lies löste sofort seine Umarmung und sprang auf.

„Die ‚Spelunke‘, was ist das?“

„Das ist eine Kneipe, da hinten am Ortseingang, von hier aus auf der rechten Seite.“

Lies ging sofort mit den beiden Schülern in Richtung Ortseingang. Er konnte nicht mehr hören, wie Liana „typisch“ murmelte.

Mittlerweile war auch Frau Wagschal-Menzel am Eingang der Kneipe eingetroffen. Auf den beiden kleinen geklinkerten Podesten, die die Treppe zur Kneipe einsäumten, sah sie die Bescherung. Kreidebleich saßen Kevin und Dennis auf den Steinen, rechts und links lag Erbrochenes. Hatten sich ihre beiden Schüler in dieser Kneipe volllaufen lassen? Völlig erbost stürmte sie die Treppe hinunter und betrat die Kneipe. An dem langen Tresen saßen nur wenige Leute. Aus den Lautsprechern ertönte laute Musik. Der Mann hinter der Theke war mit dem Spülen der Gläser beschäftigt, als er von Wagschal-Menzel frontal angefahren wurde:

„Sie haben doch wohl den beiden Jugendlichen da draußen keinen Alkohol ausgeschenkt und sie so richtig abgefüllt?“ Der Angesprochene stellte in aller Gelassenheit die Gläser auf die Spülfläche und fixierte die aufgebrachte Lehrerin.

„Bleiben Sie erst einmal ganz ruhig, junge Frau, bevor sie solche Anschuldigungen raushauen.“

Der Spruch mit der „jungen Frau“ brachte sie nur noch mehr auf die Palme. Aber völlig unaufgeregt fuhr der Mann hinter der Theke fort:

„Die waren zwar hier, aber schon voll wie ein Eimer. Die wollten Bier und Schnaps haben, was ich selbstverständlich verweigert habe. Ich musste mich noch wüst als Spießer beschimpfen lassen, als ich die rausgeschmissen habe. Da können Sie die Gäste hier am Tresen alle befragen.“

Auf den Barhockern wurde stumm genickt. Jetzt musste Frau Wagschal-Menzel wohl oder übel den Rückzug antreten.

„Dann entschuldigen Sie, ich bin so sauer auf die beiden, da hab‘ ich wohl überreagiert. Ich fürchte, die haben da auch noch in ihren Eingang gekotzt. Das ist mir alles sehr peinlich. Geben Sie mir einen Eimer Wasser, ich spüle das mal eben weg.“

„Geschenkt, Entschuldigung angenommen. Kümmern Sie sich lieber um ihre beiden Schüler. Ich spüle die Kotze schon weg, gehört zum Service.“

Einige Schüler der Klasse waren draußen hinzugekommen. Benjamin Lies ordnete nun den Rückzug an. Zwei kräftige Schüler hakten ihre Klassenkameraden unter und so ging es langsam hinunter zum Hafen. Mit hochrotem Kopf eilte die Klassenlehrerin derweil ihren Schülern hinterher. Am Anlegeplatz direkt vor der „Roland“ wurden die beiden angeschlagenen Schüler dann erst einmal zum Ausnüchtern auf eine Bank gesetzt. An Bord beratschlagten die beiden Lehrkräfte später mit Skipper Tim, wie sie auf den Vorfall reagieren sollten. Eine Option war zweifelsohne, die beiden Schüler nach Hause zu schicken. Aber ohne Begleitung? Die beiden Lehrkräfte hatten dabei ein mulmiges Gefühl. Skipper Tim schlug vor auf den nächsten Hafenaufenthalt, der in Norderney vorgesehen war, zu verzichten.

„Norderney ist ein gefährliches Pflaster. Die Insel gilt auch als Partyinsel. Dort sind viele Truppen wie Kegelvereine und ähnliches unterwegs. Wir sollten uns stattdessen im Wattenmeer trockenfallenlassen. Da kann niemand weg. Was Sie mit den beiden Schülern disziplinarisch machen, können Sie ja immer noch in Bremen entscheiden.“

Frau Wagschal-Menzel und Benjamin Lies stimmten diesem Vorschlag nach kurzer Beratung zu. Als nächster möglicher Hafen wurde daraufhin Spiekeroog ins Auge gefasst. Eine Insel mit eher ruhiger Atmosphäre und wahrlich keine Partyhochburg.

6

Petersen war genervt. Kaum war er aus der Dusche raus, röhrte sein Privathandy Smoke on the Water. Während er sich noch abtrocknete, suchte er halb nass nach seinem Handy im Schlafzimmer. Er fand es auf dem Nachttisch. Die Nummer von Ihno Menkens, seines Zeichens Hafenmeister, erschien auf dem Display.

„Moin, Ihno, was gibt es? Ich bin gerade aus der Dusche raus.“

„Oh, soll ich später anrufen?“

„Nee, lass hören!“

„Als ich heute Morgen sehr früh Brötchen geholt habe, hab‘ ich es gesehen.“

„Was hast du gesehen?“

„Na, ja die Schmiererei auf der Straße.“

„Ihno, du sprichst in Rätseln, nun mal Butter bei die Fische.“

„Zwischen Westturm und Hafen steht auf der Straße gemalt:

Kein Taxiverkehr im Wattenmeer.“

„Nicht schon wieder! Gestern war das am Neuen Leuchtturm. Ich komm‘ nachher mal vorbei.“

Als Petersen eine halbe Stunde später runter ins Revier kam, saß Heike Wohlers bereits an ihrem Arbeitsplatz. Er begrüßte sie mit einem kurzen „Moin“.

„Da ist schon wieder was auf die Straße gemalt worden, diesmal zwischen Westturm und Hafen, der gleiche Spruch.“

Wohlers drehte sich mit ihrem Stuhl zu ihm.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein, müssen wir da wieder hin?“

„Ja, wenigstens eine oder einer. Du weißt ja, sonst heißt es wieder, wir kümmern uns nicht. Ich fahr da mal hin.“

„Okay, hier kam übrigens gerade eine Anzeige rein, Diebstahl auf der Baustelle im Haus Meeresstern. Neuwertige Haushaltsgeräte und ein Pedelec sind gestohlen worden. Ich bereite einen Zeugenaufruf vor und geh‘ da gleich mal eben hin. Also, Präsenz zeigen.“

Bei ihren Worten grinste sie. Petersen hatte verstanden. Augenscheinlich hatten die Leserbriefe sie doch getroffen, gleiches galt aber auch für ihn.

Auf dem Deich blies ihm ein steifer Westwind ins Gesicht. Es war momentan trocken, aber der Wind machte ihm, trotz E-Bike, zu schaffen. Kurz vor dem Westturm bog er links in Richtung Hafen ab. Gleich hinter dem leichten Anstieg sah er die Bescherung. Ohne Zweifel die gleiche Schrift, die gleiche Parole Kein Taxiverkehr im Wattenmeer. Nachdem er mehrere Fotos mit seinem Diensthandy gemacht hatte, fuhr er weiter in Richtung Hafen. Hafenmeister Ihno Menkens kam gerade von der Steganlage zurück. Wie immer hatte er seine graue Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen.

„Moin, Sheriff, du brauchst mich gar nicht zu fragen. Ich hab‘ nichts gesehen. Es muss nachts passiert sein. Wir haben noch relativ lange an Bord der Yacht da drüben gesessen und ein paar Jever getrunken.“

„Okay, hast du denn mal irgendetwas von einer Umweltgruppe auf der Insel gehört, die so etwas gemacht haben könnte?“

Ihno schüttelte den Kopf.

„Hier draußen krieg ich ja sowieso nicht so viel mit. Aber klar ist natürlich, dass, wenn die Wasser-Taxis kommen, es im Fahrwasser viel Unruhe gibt. Langsam fahren die ja nicht gerade und mit Wasserstoff ja auch noch nicht.“

„Okay, ich sag‘ mal eben bei der Gemeinde Bescheid, dann hau‘ ich wieder ab.“

Die Bürgermeister-Vertreterin zeigte sich wenig begeistert über Petersens Anruf. Nun musste sie wieder einen Mitarbeiter der Gemeinde zum Übermalen losschicken.

Auf dem Rückweg nahm er den Weg über die Straße Zum Westen. Der Schriftzug am Neuen Leuchtturm war bereits übermalt worden. Diesmal hatte Petersen wenig zu treten. Der Rückenwind schob ihn, wie von Geisterhand, voran. Er grübelte vor sich hin. Auf dem Festland, so hatte er es zumindest aus den Medien, setzten sich die Aktivisten auf die Straße oder klebten sich fest. Hier auf der Insel gab es aber keine sichtbaren Aktionen gegen den Gemeinderat oder die Deutsche Bahn, die den neuen Taxiverkehr mit dem Watt Sprinter ja betreiben wollte. Alles etwas merkwürdig, fand er. Als letzte Möglichkeit, etwas mehr herauszufinden, blieb ihm aber immer noch seine Spezialität, die Kneipenermittlung.

Petersen entschloss sich, recht früh in den „Störtebeker“ zu gehen. Vielleicht saßen einige Insulaner zum Knobeln am Brett, dann könnte er sich mal unauffällig umhören. Dem Magister, dem Wirt der Kneipe, würde das natürlich nicht passen, aber egal. Als Petersen die Kneipe betrat, raunzte ihn der Magister auch sofort an.

„Eigentlich müsste ich dir Lokalverbot erteilen! Die polizeiliche Präsenz führt doch zur Einschüchterung der Bürger.“

Aha, daher wehte also der Wind. Sein langjähriger Kumpel hatte augenscheinlich die Leserbriefe im Inselkurier auch gelesen. Die Männer am Brett lachten.

„Alter Schwede, Hammerbriefe, Sheriff, volle Breitseite“, sprach ihn der Schwede an. Petersen nickte nur, ihm fiel nichts zur Entgegnung ein.

Plötzlich schwenkte der Magister um.

„Also, Leute, nun hackt mal nicht so auf unserem Sheriff rum, der macht schon so ein depressives Gesicht. Ich glaub‘, er braucht erstmal ein Aufbaubier.“ Mit einem breiten Grinsen stellte er ein frisch gezapftes Jever-Pils auf die Theke.

Petersen nahm einen großen Schluck, wischte sich den Schaum von den Lippen und fragte wie beiläufig in die Runde:

„Wer schmiert denn eigentlich neuerdings diese Parolen gegen die Wassertaxis auf die Straße?“

„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, ereiferte sich der Magister, „da reicht man dem die Hand und schon fängt der wieder mit dem Ermitteln an. Ich fasse es nicht!“

Prompt rief jetzt der Schwede mal den Magister zur Ordnung.

„Nun sei doch einfach mal ruhig.“ Dann wandte er sich Petersen zu.

„Ich glaub‘ nicht, dass das welche von der Insel waren. Auf dem Festland sind das doch meist Studenten oder Gymnasiasten. Haben wir hier doch gar nicht. Nach der 10. Klasse müssen die doch ins Internat nach Esens, wenn sie Abitur machen wollen, oder?“

Zustimmendes Gemurmel.

„Am Wochenende sind die aber meistens wieder auf der Insel“, warf Strandwärter Rackow ein. Petersen sah sich jetzt bemüßigt, etwas richtigzustellen.

„Dass wir uns richtig verstehen. Ich will hier nicht ermitteln. Mich interessiert einfach nur, ob es hier solche Gruppen gibt.“

Die meisten Anwesenden zuckten mit den Schultern.

„Gehört habe ich jedenfalls bisher noch nichts darüber“, gab der Schwede jetzt abschließend nochmal seinen Senf dazu.

Letztlich war Petersen jetzt genauso schlau wie vorher. Er trank noch ein paar Bier und ging enttäuscht nach Hause.

7

„Reise, Reise“, klang es durch das Schiff, das seemännische Signal für den Aufbruch. Die Stimmung an Bord hatte sich nach dem Vorfall auf Juist verschlechtert. Vor allem die Ansage von Frau Wagschal-Menzel, auf einen Hafenstopp auf Norderney verzichten zu wollen, löste bei den Schülern keine Begeisterung aus. Einigen von ihnen war nicht verborgen geblieben, dass die Insel auch „Ballermann des Nordens“ genannt wurde. Die Möglichkeit, dort Party machen zu können, wurde ihnen dadurch genommen. Dennis und Kevin, die durch ihre Kotzerei auffällig geworden waren, hatten damit alles verdorben. Auch der Versuch der beiden Klassensprecher, ihre Lehrerin umzustimmen, war gescheitert. Warum sollte die gesamte Gruppe für das Fehlverhalten der beiden „Kotzer“ büßen? Aber Frau Wagschal-Menzel blieb hart. Ihr war das Risiko einfach zu groß.

Liana Lorch hatte schlecht geschlafen. Irgendwann in der Nacht meinte sie, ein Blitzen wahrgenommen zu haben. Ihr Schlafsack war halbgeöffnet und lag zum Teil fast neben ihr, was sie sich eigentlich nicht erklären konnte.

Das Ablegen von Juist war erst am späten Vormittag geplant, so dass noch genügend Zeit für ein ausgiebiges Frühstück gegeben war. Skipper Tim wollte dann mit auflaufend Wasser in Richtung Dornumer Watt segeln, ein Wattengebiet vor Baltrum. Dort wollte er das Schiff trockenfallenlassen. Die Schüler zeigten wenig Begeisterung für den Plan, eine Nacht im Wattenmeer verbringen zu müssen. Frau Wagschal-Menzel versuchte den Schülern mit der Aussicht auf eine Bord-Fete, die Unternehmung schmackhaft zu machen. Nach dem Frühstück wurde das Ablegemanöver besprochen. Jede Gruppe hatte eine Aufgabe zugewiesen bekommen. Zum Erstaunen aller klappte das Manöver ohne irgendwelche Pannen. Die „Roland“ lief nun unter Maschine aus dem Juister Hafen und folgte dann dem Fahrwasser Richtung Osten. Skipper Tim erläuterte das Manöver des Segelsetzens. Die Schüler mussten die Schoten bedienen, um die Segel zu setzen. Der raume bis achterliche Wind, erklärte der Skipper im Fachjargon, sei für ihren Ost-Kurs sehr günstig. Die Segel wurden in Schmetterling-Stellung gebracht. Tim wies noch einmal auf die Gefahr des Umschlagens des Großbaums hin. Ganz gemächlich begann die „Roland“ unter Segeln durch das Wattenmeer zu gleiten. Einige Schüler genossen das Segeln, andere wiederum starrten unentwegt auf ihre Smartphones und tuschelten rum. Im Fahrwasser kam ihnen der „Töwerland-Express“, das Wassertaxi, das von einem Gastronom auf Juist betrieben wurde, entgegen. Dazu erklärte Skipper Tim sogleich, dass mittlerweile die Reederei Frisia, die den normalen Fährbetrieb zu der Insel unterhielt, selber ins Wassertaxi-Geschäft eingestiegen war. Durch diese kleinen schnellen Boote würde die Fahrzeit auf 20 bis 30 Minuten verkürzt werden.

Am Bugspriet des Schiffes saß Liana ganz alleine mit ihrem Tablet. Ihre langen blonden Haare wehten im Wind. Nur Benjamin Lies saß in ihrer Nähe und beobachtete das anrauschende Wassertaxi. Er konnte die Tränen nicht sehen, die Liana in diesem Moment über ihre Wangen liefen. Sie hatte, wie immer jeden Morgen, ihren Instagram-Kanal kontrolliert und die Follower-Zahlen registriert. Danach wechselte sie zu ihrer Facebook-Seite und was sie dort sah, ließ sie für einen Moment erstarren. Jemand hatte zwei Fotos auf ihrer Seite platziert, die ohne Zweifel von letzter Nacht stammten. Sie war tatsächlich während des Schlafs fotografiert worden. Das erste Bild zeigte sie mit komplett entblößter Brust, auf der Seite liegend. Das zweite zeigte ihren Schritt, nur mit knappem Slip bedeckt. Die Bildunterschrift hatte es ebenfalls in sich.

Das Lumpen-Luder braucht es! Wer besorgt es ihr?

Diese Fotos konnte nur einer aus ihrer Klasse gemacht haben. Oder vielleicht eine Person von der Besatzung? Wohl kaum, denn den Spitznamen „Lumpen-Luder“ musste sie schon in der Schule ständig ertragen. Sie wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Jemand aus ihrer Klasse betrieb Cyber-Mobbing gegen sie. Gelesen hatte sie schon viel darüber, aber jetzt war sie selbst ein Opfer geworden. Liana wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg und überlegte, was zu tun war. Rechts gegenüber sah sie Benjamin Lies sitzen. Er war immer sehr verständnisvoll, für ihren Geschmack manchmal allerdings etwas zu aufdringlich. Sollte sie ihn einweihen? Sie musste die Bilder löschen, aber wie? Konnte sie es sich erlauben, ihren gesamten Facebook-Account zu löschen? Bevor sie sich jemanden anvertrauen würde, wäre das bestimmt die bessere Lösung. Um einen Beweis in den Händen zu behalten, machte sie noch einen Screenshot von der besagten Seite und dann war es mit ein paar Klicks auch schon erledigt, ihr Account war gelöscht.

8

Petersen kam heute etwas später ins Revier. Nach seiner Nachtbereitschaft, die ruhig verlaufen war, erledigte er am Morgen einige Einkäufe und erkundigte sich noch einmal im Rosenhaus und bei einem Gemeinderatsmitglied der Grünen wegen der Sache mit den Wassertaxis. Aber neue Erkenntnisse hatte er dabei nicht gewonnen. Als er das Revier betrat, brühte Heike Wohlers sich gerade einen Grünen Tee auf.

„Moin, Lars, warst du einkaufen?“

„Joo, hab‘ mich dann noch ein wenig wegen der Taxis umgehört. Die Sache scheint hier auf der Insel kaum diskutiert zu werden. Irgendwie bin ich auch bescheuert, dass ich der Sache so nachgehe. Diese Schmierereien auf den Straßen sind doch eigentlich nur ‚Peanuts‘.“

„Ja, okay, aber der Tatbestand der Sachbeschädigung ist schon gegeben.“

„Geschenkt! Mich wundert aber trotzdem, wie wenig die Sache hier diskutiert wird. Selbst Ihno sprach von vermehrter Unruhe für das Wattenmeer, wenn die Taxis kommen werden.“