November-Blues auf Wangerooge - Malte Goosmann - E-Book

November-Blues auf Wangerooge E-Book

Malte Goosmann

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Beschreibung

Kommissar Petersen hatte sich auf einen ruhigen und ereignislosen November auf der Insel gefreut, als ein bizarrer Mord dieser Hoffnung ein jähes Ende setzt. Während der zunächst sehr zäh verlaufenden Ermittlungen stößt er auf Machenschaften im Immobiliensektor. Die Anlage von Kapital auf den Inseln hat scheinbar eine hohe Anziehungskraft für Anleger. Ohne Rücksicht auf Verluste allerdings wird von einigen Akteuren die Gier nach dem Betongold skrupellos durchgesetzt. Die Ermittlungen gleichen einer Irrfahrt durch den Nebel, denn die Herkunft des Kapitals für diese Geschäfte liegt überwiegend im Verborgenen. Mit Hilfe seiner Kollegen aus Bremen und Oldenburg, versucht Petersen Licht ins Dunkel zu bringen.

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November-Blues

auf

Wangerooge

Petersens fünfter Fall

*******

Kriminalroman

von

Malte Goosmann

Copyright: © 2021 Malte Goosmann

Self-publisher

Cover Design & Buch-Layout : Monika Goosmann

Titelfoto: Malte Goosmann

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Jedwede Verwendung des Werkes darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung.

1

Der Wind peitschte den Regen durch die Straßen der Insel. Der Deutsche Wetterdienst hatte für den Abend eine Unwetterwarnung für die deutsche Nordseeküste rausgegeben. Es wurden Windstärken bis zu 10 Beaufort und in Böen bis 12 Bft vorhergesagt. Die Herbstferien der letzten Bundesländer waren Geschichte und die Insel war sich selbst überlassen. Nur wenige Lichter brannten in der Zedeliusstraße. Die meisten Lokale waren geschlossen. Viele der Betreiber waren in Regionen geflüchtet, in denen annehmbarere Temperaturen herrschten. Kanaren, Karibik und auch Thailand wurden von den Insulanern bevorzugt. Einige sprachen davon, dass die Insel jetzt 15 cm höher über dem Meeresspiegel liegen würde, da kaum noch jemand da war. Der große Anteil der Ferienwohnungen sorgte dafür, dass Wangerooge einer Geisterstadt glich. „Rollo-Town“ nannte es ein Alt-Insulaner, der damit auf die ständig runtergelassenen Rollos anspielte. Dahinter verbarg sich allerdings eine ernste Problematik, denn die steigende Anzahl der Ferienwohnungen führte für die auf der Insel lebenden und arbeitenden Menschen zu nicht mehr bezahlbarem Wohnraum.

Da der Wind auf Nordwest drehte, entschloss sich der Gemeindebrandmeister in Absprache mit den Verantwortlichen der Inselbahn, die Deichscharte auf der Insel zu schließen. Die Wettervorhersage ließ befürchten, dass die Insel wieder einmal große Sandverluste an den Stränden werde hinnehmen müssen. Der Bürgermeister blickte bei seinem Rundgang sorgenvoll auf die Nordsee. Größere Sandverluste würden wieder ein großes Loch in den Gemeindehaushalt reißen. Der Regen hatte sich verstärkt und spülte nun noch zusätzlich Sand auf die Promenade. Die unangenehm nasse Kälte kroch dem Bürgermeister langsam unter die Jacke. Fröstelnd suchte er jetzt schnell das Weite, so dass kein Mensch mehr zu sehen war. Die Insel versank im November-Blues.

Für einen Menschen auf der Insel war dieser November immer ein Höhepunkt im Jahr. Enzo Poppinga konnte jetzt völlig frei über die drei Appartementhäuser verfügen, deren Hausverwalter er war. Er selbst nannte sich „Facility Manager“. Die Männer in den Kneipen allerdings bezeichneten ihn schlicht als Hausmeister, was er natürlich nicht gerne hörte. Schnellen Schrittes ging er die Peterstraße entlang in Richtung „seiner“ Appartementanlagen. In der rechten Hand trug er einen blauen Wäschesack, was an sich sehr ungewöhnlich war, denn um diese Jahreszeit gab es keine Gäste in dieser Anlage.

Enzo Poppinga war ein Unikum auf der Insel. Sein Name verriet schon etwas über seine Herkunft. Enzos Mutter stammte aus Lecce in Apulien, Süditalien. Der Vater war Ostfriese und kam aus Esens in Ostfriesland. Die Mutter hatte als junge Frau ihren Bruder besucht, der in Esens eine Pizzeria betrieb, um dort in der Hochsaison auszuhelfen. Assunta del Gottardo, so hieß das junge Mädchen, war bildhübsch und versetzte die jungen Männer in Esens in Aufruhr. Viele, die sonst noch nie ein italienisches Restaurant betreten hatten, kamen nur ihretwegen. Kurzzeitig schnellte der Pizzaabsatz im „Ristorante Puglia“ kometenhaft in die Höhe. Alle wollten von ihr bedient werden. Sie, die viele an die junge Gina Lollobrigida erinnerte, war die Attraktion des Lokals. Ein freundliches Lächeln bekam jeder von ihr, aber mehr ließ sie nicht zu. Streng katholisch erzogen, wartete sie auf den Einen, ihren Märchenprinzen. Am ehesten kam diesem Idealbild Tammo Poppinga nah, ein großer kräftiger blonder Mann, der in Esens als Elektroinstallateur arbeitete. Fast ein ganzes Jahr hatte er um Assunta geworben, bis sie ihn erhörte. Schweren Herzens verließ sie ihre Heimat Apulien, um Tammo Poppinga zu heiraten. Neun Monate später brachte Assunta einen Sohn zur Welt. Sie bestand auf einem italienischen Vornamen für ihren Sohn, da sie ohnehin nur widerwillig den Namen Poppinga angenommen hatte, so kam es zu der etwas außergewöhnlichen Namensgebung.

Enzo Poppinga hatte sein Ziel erreicht. Langsam schloss er die Eingangstür des rot geklinkerten Appartementhauses auf. Es war mit seinen zwölf Wohnungen das größte der drei Häuser, die er verwaltete. Der Fahrstuhl brachte ihn in die oberste Wohnung, die ein großzügiges Penthouse-Appartement war. Nachdem er die Vorhänge der großen Panoramafenster beiseitegeschoben hatte, bezog er das riesige Bett mit seiner mitgebrachten Satinbettwäsche. Die Penthouse-Wohnung war der Star unter den zu vermietenden Appartements. Geschmackvoll eingerichtet, mit einem kleinen Whirlpool im Bad und der fantastischen Aussicht auf die Nordsee, versetzte dieses Appartement jeden Besucher, vor allem aber jede Besucherin, in eine euphorische Stimmung und genau das war es, was Enzo Poppinga beabsichtigte. Alles war für ein Schäferstündchen angerichtet. Im Kühlschrank stand eine teure Flasche Champagner und von Blumen-Wünsche hatte er Rosenblätter besorgt, die er stilvoll auf der Satinbettwäsche drapiert hatte. Zum Aufwärmen lag eine CD von Eros Ramazotti bereit und für den Hauptgang hatte er den Bolero von Ravel vorgesehen. Bei den Klängen von Ramazotti ging er in der Regel mit seiner weiblichen Begleitung an das Panoramafenster, betrachtete die Lichter der vorbeiziehenden Schiffe und zelebrierte dann seine Geschichten von Fernweh und Herzschmerz. Spätestens nach diesem Ritual war kein Halten mehr und der Abend entwickelte sich genau in die Richtung, die Enzo beabsichtigt hatte. Heute Abend erwartete er die Ehefrau eines Wangerooger Gastronomen.

Enzo Poppinga war ein bildhübscher Mann, um die Dreißig. Groß gewachsen, die muskuläre Figur hatte er von seinem Vater, das südländische Gesicht ohne Zweifel von seiner Mutter. Die pechschwarzen Haare waren modisch kurz geschnitten, dazu gehörte ein markanter Dreitagebart, der ihn sehr gepflegt aussehen ließ. Die Frauen auf der Insel drehten sich nach ihm um, dem Sinnbild des „Latin Lovers“. Zudem hatte sich längst rumgesprochen, dass er ein leidenschaftlicher Liebhaber sei.

An den Theken der Insel wurde Enzo Poppinga naturgemäß völlig anders gesehen. Viele seiner männlichen Geschlechtsgenossen sahen in ihm eher eine Bedrohung, weil er etwas hatte, was sie nicht hatten. Aus diesem Grund tauchte Enzo auch nur selten in der Kneipenszene der Insel auf. Diskretion war für ihn wichtig. Gerede über fremdgehende Ehefrauen konnte er nicht gebrauchen. Wenn er denn auftauchte, hielt er sich merklich zurück und führte seine Verführungskunst ausschließlich mit den Augen aus. Der Wirt des „Störtebeker“ nannte ihn „Enzo the Lover“, der Schwede sprach vom „Schleicher“ und Strandwärter Jens Rackow titulierte ihn als „Insel-Papagallo“.

2

Heike Wohlers schloss die Wohnungstür ihres kleinen Zweizimmerappartements ab. Sie war froh, dass sie diese kleine Wohnung auf dem Gelände des Bundeswehrsozialwerks bekommen hatte. Normalerweise hätte sie sonst eine der möblierten Dienstwohnungen in der Wangerooger Polizeistation beziehen müssen. Ihr neuer Freund, der erster Wachoffizier auf der Fregatte „Hessen“ war, hatte ihr diese Wohnung besorgt. Der leichte Nieselregen erzeugte ein sehr ungemütliches Gefühl. Sie hasste dieses nasskalte Wetter. Ihre blonden Haare, die sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, waren schon ganz feucht. Das morgendliche Styling war für die Katz gewesen. Sie fluchte leise vor sich hin, als sie in die Friedrich-August-Straße einbog. Überhaupt war sie heute Morgen schon mit einem beklemmenden Gefühl aufgestanden. Ihr neuer Kollege Petersen sollte heute aus dem Urlaub zurückkommen und sie wusste nicht, wie sich ihr kollegiales Verhältnis gestalten würde. Insgeheim verfluchte sie sich schon dafür, dass sie sich auf die freie Stelle im Polizeiposten Wangerooge beworben hatte. Der langjährige Inhaber dieser Stelle, Onno Siebelts, war vor vierzehn Tagen in den Ruhestand gegangen. Es hatte deswegen eine große Feier mit viel örtlicher und überregionaler Prominenz im „Hotel Hanken“ gegeben. Auf dieser Feier hatte sie sich als Störenfried gefühlt. Kaum jemand hatte mit ihr gesprochen und ausgerechnet am nächsten Tag war ihr neuer Kollege Petersen in den Urlaub gegangen. Die Einweisung in die dienstlichen Gegebenheiten auf der Insel wurde freundlicherweise noch vom pensionierten Kollegen Siebelts durchgeführt, was ja durchaus nicht selbstverständlich war. In einem längeren Gespräch hatte Siebelts ihr die Ursache für die Verstimmung Petersens geschildert und danach konnte sie den Kollegen auch irgendwie verstehen. Die ganze Sache beruhte auf einer Kette von Missverständnissen und Irrtümern.

Nach der Trennung von ihrem Mann im beschaulichen Wildeshausen, einer Kleinstadt in der Nähe von Bremen, brauchte sie dringend eine Luftveränderung. Die Trennung war recht schmutzig verlaufen. Im laufenden Scheidungsverfahren stritt man sich um die Aufteilung der gemeinsamen Finanzen. Ihr Mann versuchte, mit den besten Anwälten alle Formen von Unterhalts- und Ausgleichszahlungen zu verhindern. Gott sei Dank war ihre Ehe kinderlos geblieben. Ein Streit um das Sorgerecht von Kindern hätte sie nur schwer ertragen können. Dann hatte sie im Amtsblatt von einer freien Stelle auf der Nordseeinsel Wangerooge gelesen. Gleichzeitig hatte sie bei einem Besuch auf dem Bremer Freimarkt den Marineoffizier Stefan Lüders kennengelernt, der in Wilhelmshaven stationiert war. Bevor dieser mit der Fregatte „Hessen“ zu einem Auslandseinsatz ans Horn von Afrika ausgelaufen war, hatte er ihr die Wohnung beim Bundeswehrsozialwerk auf Wangerooge besorgt. Das Bewerbungsverfahren für die freie Stelle auf Wangerooge war ein Desaster gewesen. Dass es bei dieser Stelle um die Leitung des Polizeipostens auf der Insel gegangen war, hatte sie anfänglich gar nicht begriffen. Erst später erfuhr sie, dass diese Stelle für den auf der Insel schon länger tätigen Hauptkommissar Lars Petersen vorgesehen war. Ohne ihr Wissen versuchte die Frauenbeauftragte beim Personalrat der Polizei, die Besetzung des Postens durch Petersen zu verhindern. Bei gleicher Qualifikation sei eine Frau zu bevorzugen, so die Argumentation. Aus dieser Sache entwickelte sich ein heftiger Streit zwischen dem Leiter der Polizeiinspektion Wilhelmshaven/Friesland sowie dem Polizeipräsidium Oldenburg auf der einen Seite und der Frauenbeauftragten des Personalrates auf der anderen Seite. Die Vorgesetzten von Petersen wiesen in längeren Schreiben auf Petersens erfolgreiche Ermittlungsarbeit hin. Auch ein Empfehlungsschreiben der Bundespolizei wurde angeführt. Als die Frauenbeauftragte nun Petersens Disziplinarverfahren in Bremen ins Feld führte, war für Heike Wohlers der Zeitpunkt gekommen, ihre Bewerbung zurückzuziehen. Nach einem längeren Einigungsverfahren wurde dann ein Kompromiss gefunden. Petersen wurde zum Leiter des Polizeipostens Wangerooge ernannt und Heike Wohlers bekam die zweite Planstelle, die sowieso angedacht war. Trotzdem war die Situation außerordentlich schwierig. Petersen fühlte sich gekränkt und hatte in seiner Verärgerung direkt nach der Verabschiedung von Onno Siebelts Urlaub eingereicht, der nun beendet war. Wie würden sie sich heute begegnen? Je näher Wohlers der Wache in der Charlottenstraße kam, desto stärker zog sich ihr Magen zusammen.

Lars Petersen saß im Dienstzimmer des Polizeipostens Wangerooge und starrte missmutig aus dem Fenster. Nieselregen, leichter Nebel, das waren die Zutaten, die er zu seiner Stimmung brauchte. Das ganze Besetzungsverfahren um die Stellenbesetzung war ihm gehörig gegen den Strich gegangen und er war kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen, und die Insel zu verlassen. Um alles zu überdenken, war er kurzfristig in den Urlaub nach Bremen gefahren. Dort war er mit seinem alten Musikerkollegen Merti zwei Tage um die Häuser gezogen. Am dritten Tag, als er halbwegs wieder nüchtern war, hatte er sich mit seinem Kumpel Jens Siebert vom OK (Sachgebietsleiter Organisierte Kriminalität) im Ristorante „Da Rocco“ getroffen. Siebert, ein Freund der direkten Ansprache, war ihn hart angegangen. Sein Selbstmitleid würde ihn ankotzen. Bestimmte Verfahrensregeln bei Besetzung von öffentlich ausgeschrieben Stellen gehörten nun mal zum Öffentlichen Dienst dazu. Das Gejammere über die Frauenbeauftragte sei daneben, die würden auch nur ihren Job machen. Es hätte keinen Sinn, gegen den Zeitgeist anzugehen. Schließlich hätten sich seine Vorgesetzten für ihn eingesetzt, was ja nun nicht selbstverständlich gewesen sei. Siebert hatte ihn dann beim dritten Grappa aufgefordert, mit der Situation professionell umzugehen. Und nun saß er an seinem Schreibtisch und sinnierte darüber, was „professionell“ zu bedeuteten hatte. Als ersten Schritt entschloss er sich, für seine neue Kollegin und sich, Kaffee zu kochen. Schmerzhaft erinnerte er sich an die alten Zeiten, als er mit Mona, seiner damaligen Auszubildenden, und Onno gemütlich zur morgigen Lagebesprechung zusammengekommen war, dem legendären Stuhlkreis. Aber was hatte Hauptkommissar Jens Siebert aus Bremen ihm mit auf den Weg gegeben: „Das Gejammer bringt dir nichts“.

Jetzt hörte er ein Klacken an der Außentür. Ihm wurde etwas flau in der Magengegend. Zwar hatte er Heike Wohlers auf dem Empfang für Onno Siebelts flüchtig gesehen, es aber vermieden, mit ihr zu sprechen. Mit einem halblauten „Moin“ betrat sie das Dienstzimmer. Petersen riss sich zusammen.

„Moin, immer reinspaziert in die gute Stube“, so begrüßte er die neue Kollegin, ein etwas platter Versuch, um die angespannte Stimmung aufzulockern. Er ärgerte sich über seinen blöden Spruch, konnte ihn aber nicht mehr ungeschehen machen. Heike Wohlers war größer, als er sie in Erinnerung hatte. Freundliches Gesicht, das aber eine gewisse Anspannung verriet, durchtrainierte Figur, er schätzte sie auf Ende Dreißig. Auch sie schien ihn zu mustern, denn es entstand eine kurze Pause. Petersen durchbrach die etwas peinliche Stille und reichte ihr seine Hand. „Ich bin Lars, ich denke wir sollten uns als Kollegen duzen.“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das hatte sie nicht erwartet.

„Ich bin Heike, auf gute Zusammenarbeit.“

Petersen deutete auf den gedeckten Tisch. „Wir haben auf dem Revier ein allmorgendliches Ritual, unsere Morgenrunde. Ich denke wir sollten das beibehalten. So können wir Abläufe und nächtliche Vorkommnisse gemeinsam besprechen.“

Heike Wohlers nickte und setzte sich. Sie war jetzt über den recht freundlichen Empfang doch etwas verwirrt. Hatte sie sich ein falsches Bild von Petersen gemacht?

Nach kurzer Kaffeepause fragte Petersen sie nach den Ereignissen der letzten Woche.

„Es war eigentlich recht ruhig hier. Onno hat mir die Insel gezeigt und dienstliche Abläufe mit mir besprochen. Ach ja, da war denn doch noch etwas. Im Kinderspielraum der Kurverwaltung wurden die Wände beschmiert. Es wurden Mädchen- und Jungennamen an die Wand geschrieben sowie männliche Geschlechtsteile an die Wände gemalt. Ich hab‘ das fotografiert, wenn du das sehen willst?“

Petersen schüttelte den Kopf. „Pubertärer Kleinkram, waren denn Schulklassen in Vorraum der Kurverwaltung?“

Heike zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, und wenn, sind sie ja schon weg.“

„Stimmt, anhand der Namen hätten wir aber die Schulklasse rausfinden können, Heime abtelefonieren, mit den Lehrern sprechen. Okay, ist jetzt aber zu spät.“

Heike Wohlers hatte verstanden. Petersen hatte ihr eine erste Lektion erteilt. Sie war gespannt, wie viele noch folgen würden.

3

Seit Tagen hing der Nebel über der Insel. Die Inselflieger hatten den Flugbetrieb eingestellt. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht schien aufgehoben zu sein. Aus der Ferne hörte man einige Möwen kreischen, die sich in diesen Tagen ausschließlich wieder mit der Nahrung aus dem Meer begnügen mussten. Es waren keine Touristen mehr auf der Promenade, denen sie die Pizzastücke aus der Hand stibitzen konnten. Schiffe waren in diesem Nebel nicht zu erkennen. Ab und zu konnte man die Warnsignale eines Typhons hören. Ein Mann bog jetzt mit seinem Fahrrad, vom „Café Pudding“ kommend, auf die Promenade ein. Gemächlich schob er sein Dienstfahrrad mit beiden Händen. Auf dem Vordergepäckträger lag ein Werkzeugkoffer, der das Schieben des Fahrrads erheblich erschwerte. In Höhe des „Strandkorbs“ stoppte Rainer Hinze. Langsam zog er aus einer seiner vielen Taschen eine Zigarette aus der Packung. Da kaum Wind wehte, hatte er keine Schwierigkeiten, sich die Zigarette anzuzünden. Er nahm einen tiefen Zug und zog den Reißverschluss seines blauen Segelparkas, den er über seiner Arbeitskleidung trug, zu. Danach setzte er sich wieder in Bewegung. Kurz vor dem „Friesenjung“ bog er links ab und strebte auf einen der Appartementblocks zu. Rainer Hinze war Elektromeister und arbeitete für einen auf der Insel ansässigen Elektrobetrieb. Heute hatte er den Auftrag, die Router in den einzelnen Appartements upzudaten, eine seiner leichtesten Übungen. Gestern hatte er geschlagene 3 Stunden an einer defekten Espressomaschine rumgeschraubt, um letztlich festzustellen, dass das Teil irreparabel war. Beim ersten Block stellte er sein Fahrrad ab und nahm seinen Werkzeugkoffer. Gestern hatte er sich von Enzo Poppinga einen Generalschlüssel für die Appartements geben lassen, da dieser heute aufs Festland wollte. Er beschloss, seine Arbeit im obersten Stockwerk zu beginnen. Gott sei Dank war der Fahrstuhl in Betrieb, so dass er den beschwerlichen Weg nach oben nicht zu Fuß anzutreten brauchte. Oben angekommen, schloss er die Tür des Penthouses auf. Schon im Flur hörte er relativ laute Musik. Wenn er sich nicht täuschte, erklangen aus den Boxen Al Bano und Romina Power mit Felicita. Hinze klopfte kräftig an die Tür zur Wohnlandschaft.

„Moin, hier ist der Elektriker!“

La nostra canzone d'amore che va intonierte das italienische Duo.

Hinze versuchte es nochmal etwas lauter: „Hallo, ist da jemand?“

Keine Reaktion. Langsam öffnete er die Tür ganz und betrat das Penthouse. Wahrscheinlich hatte irgendjemand, vielleicht die Putzkolonne, vergessen, die Musik auszustellen. Er ging zu der sehr teuren Musikanlage und drückte auf den Off-Knopf. Nachdenklich blickte er aus dem Panoramafenster auf die Nordsee. Die See hatte das düstere Grau des Nebels angenommen. So eine Wohnung müsste man haben, dachte Hinze und drehte sich langsam nach links, in Richtung einer Nische, in der sich ein riesiges Bett befand. Mit weit aufgerissenen Augen vergaß er kurzzeitig zu atmen, denn was er dort sah, ließ sein Blut in den Adern gefrieren.

Diesmal hatte Heike Wohlers den Tisch für die morgendliche Runde im Revier gedeckt. Es duftete verführerisch nach Kaffee, als Lars Petersen das Dienstzimmer betrat. Das funktioniert ja schon mal, dachte er und grüßte sie mit einem kräftigen „Moin“. Da Heike Nachtbereitschaft hatte, fragte er: „War was los die Nacht?“

„Nee, alles ruhig, hat niemand angerufen. Ist ja auch November, nichts los auf der Insel.“

„Vorsichtig, November ist ein gefährlicher Monat. Die Insulaner sind unter sich und dann noch die Arbeiter von den Baustellen, da haben wir schon die eine oder andere Kneipenschlägerei gehabt.“

„Kann ich mir gar nicht so richtig vorstellen. Es macht alles einen so friedlichen Eindruck.“

Bevor Petersen antworten konnte, klingelte das Telefon. Jemand hatte die direkte Nummer des Reviers gewählt. „Polizeiposten Wangerooge, Petersen am Apparat“, meldete er sich.

Mit schwacher Stimme hörte er jemanden sagen: „Sheriff, du musst sofort kommen. Hier ist etwas Schreckliches passiert.“

„Wer spricht denn da überhaupt?“

„Hier ist Rainer, Rainer Hinze.“

„Rainer, wo bist du denn?“

Hinze gab kurz seinen Standort durch. Rainer Hinze war Petersen vom „Störtebeker“ bekannt, wo Hinze regelmäßig gegen 17 Uhr sein Feierabendbier trank. Er hatte nicht den Ruf, ein Scherzbold zu sein. Mit ernstem Gesicht wandte er sich an seine Kollegin. „Ich glaube, da ist irgendetwas passiert. Wir müssen los.“

Ungläubig blickte Heike Wohlers Petersen an. „Um diese Zeit, was kann das denn sein?“

„Rainer macht keine Scherze, ich kenne ihn. Nimm bitte zur Vorsicht den Spurenkoffer mit!“

Im Eilschritt verließen die beiden Beamten das Revier und hetzten in die Peterstraße. Vor dem ersten Appartementblock stand Hinze an sein Fahrrad gelehnt. Nervös zog er an seiner Zigarette. Er war leichenblass.

„Was ist los, Rainer?“, keuchte Petersen.

Hinze war kaum in der Lage, vernünftig zu antworten. Er stand augenscheinlich unter Schock. „Enzo, oberstes Stockwerk.“

Mit total zittrigen Händen gab er Petersen den Appartementschlüssel.

„Warte bitte auf uns oder komm‘ mit hoch.“

„Da geh‘ ich nicht noch mal hoch“, flüsterte Hinze kopfschüttelnd.

Petersen ahnte Schlimmes. Auch Heike Wohlers Miene hatte sich verfinstert. Schweigend fuhren sie mit dem Fahrstuhl ins oberste Stockwerk. Langsam schloss Petersen die Tür auf. Hielt dann aber inne.

„Ich vermute, dass da drinnen ein Tatort sein wird. Lass uns zur Vorsicht was über die Schuhe ziehen.“ Er öffnete den Spurensicherungskoffer und nahm vier Plastiküberzieher für die Schuhe raus. „Das Gemeckere von den Spusi-Jungs will ich mir nicht anhören.“

Heike Wohlers lächelte kurz. Bisher hatte sie nur mit Verkehrsunfällen zu tun gehabt, was schon schlimm genug war, aber ein Verbrechen auf Wangerooge? Sie konnte es kaum glauben. Langsam gingen die beiden in die Penthouse-Wohnung. Petersen blickte sich um. Hier deutete nichts auf ein Verbrechen hin. Einen Moment lang fiel sein Blick durch das große Fenster auf die graue Nordsee, als ein spitzer Schrei von Heike ihn aufschreckte. Er drehte sich erschrocken zu ihr um. Sie stand vor dem riesigen Bett und presste sich die Hand vor den Mund. Während Petersen sich langsam und hochkonzentriert dem Bett näherte, fixierte er bereits den Leichnam. Völlig nackt und blutüberströmt lag Enzo Poppinga auf der schwarzen Satin-Bettwäsche Das meiste Blut schien aus dem Kopf ausgetreten zu sein. Petersen drehte den Kopf des Toten vorsichtig etwas zur Seite, wobei er ihn nur mit den Gummihandschuhen berührte. „Kopfschuss“, murmelte er.

Sein Blick wanderte weiter an der Leiche entlang in den Bereich des Unterkörpers. Was er dort sah, ließ ihn erschaudern. Der gesamte Genitalbereich war mit einer roten Flüssigkeit übergossen worden. Es war deutlich zu sehen, dass dies kein Blut sein konnte. An den Armen und im Bereich der Unterschenkel hatten sich die ersten Leichenflecke gebildet. Petersen drückte mit seinem Daumen auf einen Fleck. Durch den Druck wurde der Fleck weiß. Als er wieder losließ, kam die ursprüngliche Farbe des Leichenflecks zurück. „Heike, machst du mal Fotos aus allen Richtungen, die Kamera liegt im Koffer. Ich vermute er ist seit ca. acht Stunden tot.“

Heike staunte über das, was ihr Kollege so draufhatte. Sie war jetzt aber froh, dass sie etwas tun konnte. Ihr Magen rebellierte. Das würde noch fehlen, wenn sie hier direkt vor Petersen auf das Parkett kotzen würde.

Petersen ging auf den Balkon und wählte die Nummer der Polizeidirektion Wilhelmshaven/Friesland. Dem wachhabenden Beamten schilderte er kurz die Lage. „Ich fürchte, wir brauchen hier das große Besteck“, schloss er seine Ausführungen.

Nachdem viele Fotos aus allen Richtungen geschossen waren, verließen sie die Wohnung, nicht ohne die Tür mit einem Polizeisiegel zu versehen. Auf dem Vorplatz vor den Briefkästen stand immer noch ein geschockter Rainer Hinze.

„Schlimme Sache, aber jetzt kommst du erst mal mit auf die Wache und wir trinken zusammen einen Kaffee und du erzählst uns, wie du Enzo gefunden hast“, sprach Petersen ihn an. Hinze nickte und zielstrebig liefen die drei in Richtung Charlottenstraße.

Nachdem sie Hinze entlassen hatten und ein kleines Protokoll angefertigt worden war, schnauften beide Beamte erst einmal durch. Heike Wohlers fühlte sich unsicher und entschloss sich, dieses Gefühl auch zu artikulieren. „Ich war noch niemals bei einer Mordermittlung dabei, was passiert denn jetzt eigentlich?“

„Rechtsmediziner und Spusi werden eingeflogen und es kommen Ermittler auf die Insel, das wird kein Spaß.“

„Wie meinst du das?“

„Nun ja, die werden uns reinreden, als wären wir die Dorftrottel.“

Wohlers empfand Petersens Äußerungen als etwas überheblich. Wollte er vor ihr einen auf dicke Hose machen oder war er wirklich so gut, dass er eine Mordermittlung maßgeblich beeinflussen konnte? So richtig konnte sie ihn noch nicht einschätzen, zumal er sehr unzugänglich war und nichts Persönliches zuließ. Sie konnte sich denken, woran das lag. Wie eine unsichtbare Mauer stand die Sache mit der Stellenbesetzung noch immer zwischen ihnen und keiner wagte es, darüber zu sprechen.

Auch Petersen hatte Schwierigkeiten, seine neue dienstliche Partnerin einzuschätzen. War sie nach wie vor scharf auf seine Stelle? Was wollte eine so relativ junge Frau hier auf der Insel? Karrieretechnisch war das hier eine Sackgasse. Vielleicht eine ruhige Kugel schieben? Für ihr Alter wäre diese Haltung ein wenig früh gewesen. Er würde ihr erst einmal zeigen, wer hier der Chef war, ohne Mobbing, sondern ganz sachlich. Was hatte Siebert gesagt? „Professionell“, genauso würde er die Sache angehen.

Mitten in der Stille, in der beide über ihre gegenseitigen Vorbehalte sinnierten, klingelte das Telefon. Kriminalrat Wilbert aus Wilhelmshaven meldete sich. „Mensch, Petersen, schon wieder eine Leiche. Irgendwie ziehen Sie das Verbrechen auf Ihrer Insel an. Wer ist denn der Tote?“

„Hausmeister einer Appartementanlage“.

„Na, dann wird das ja wohl nicht so ein Riesending wie letztes Mal.“

„Wollen wir hoffen.“

„Also, aus Oldenburg kommen Spusi und Rechtsmedizin. Wegen des Nebels fliegen die Hubschrauber im Moment nicht. Ich muss sehen, wie wir die rüber kriegen. Da sag ich Ihnen noch Bescheid. Ich schicke Ihnen meinen jungen Kommissar Erhardt als unterstützenden Ermittler. Bei Ihnen ist im November ja nichts los. Die Kollegin Wohlers macht die Kleinarbeit und Sie kümmern sich mit Erhardt um die Mordermittlung.“

Petersen war in diesem Moment froh, dass er das Telefon nicht auf laut gestellt hatte. Die Kollegin Wohlers hätte sich bedankt. Nach Ende des Gesprächs gab er Wohlers eine kurze Zusammenfassung, ohne allerdings die Sache mit der Kleinarbeit zu erwähnen. Er wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen. Die angespannte Lage reichte ihm auch so.

„Was sind die nächsten Schritte?“, fragte Wohlers zaghaft.

„Wir müssen jetzt erstmal die Lebensumstände von Enzo Poppinga recherchieren. Da kann uns auch jemand von außen nicht helfen. Ich weiß nur, dass sie ihn in der Kneipe ‚the Lover, den Schleicher oder Papagallo‘ genannt haben. Irgendeiner hat auch mal vom ‚italienischen Stecher‘ geredet.“

„Was hat das denn nun zu bedeuten?“, fragte eine leicht pikiert blickende Heike Wohlers.

„Zusammengefasst gesagt, er war ein Frauenheld“, kam es trocken von Petersen.

Ungläubig blickte ihn seine Kollegin an.

„Und was hältst du von der roten Flüssigkeit im Genitalbereich?“

Petersen wiegte seinen Kopf hin und her. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Vielleicht eine Inszenierung, ich glaube aber, dass wir mehr über das Opfer wissen müssen, um dies zu beurteilen.“

In diesem Moment klingelte wieder das Telefon. Schade, dachte Heike Wohlers, jetzt war es gerade interessant geworden. Gerne hätte sie noch mehr an Petersens Überlegungen teilhaben wollen.

Kriminalrat Wilbert meldete sich. Die Hubschrauber konnten wegen des Nebels nicht fliegen. Die ganze Aktion wurde auf morgen verschoben. Auch Kriminaloberkommissar Erhardt würde erst am nächsten Tag anreisen. Für ihn wurde ein Zimmer in einer Pension in der Elisabeth-Anna-Straße gebucht.

„Ein Tag Verschnaufpause“, kommentierte Petersen den Anruf seines Chefs, „gut, dass der Erhardt nicht hier im Revier wohnt. Etwas Distanz macht es für uns leichter.“

Heike Wohlers verstand nicht genau, was er meinte. Aber sie war sowieso nicht betroffen, denn aus gutem Grunde wohnte sie außerhalb des Reviers. Distanz zu ihrem etwas undurchsichtigen, aber dennoch nicht inkompetenten, Kollegen würde auch ihr gut tun.

Nach Dienstschluss zog Petersen in Windeseile die Uniform aus. Er musste sich beeilen, denn der Mann, den er treffen wollte, hatte nicht ewig Zeit. Schnell schlüpfte er in die verwaschene Jeans und zog seine alte, speckige Lederjacke über. Zielstrebig eilte er in die Friedrich-August-Straße. Die grünen Schirme waren zugeklappt und die Kneipenbeleuchtung noch nicht eingeschaltet. Als er eintrat, schlug ihm der kalte Zigarettengestank des gestrigen Abends entgegen.

„Ich habe dich schon erwartet“, kam es links von der Empore. Am äußeren Ecktisch saß der Wirt, über ihm hing eine lange Aalreuse, links neben ihm eine Schaufensterpuppe in schwarzen Dessous. In der rechten Hand hielt er eine qualmende Zigarette. Sein starrer Blick ging raus in Richtung Brunnen auf den Platz vor der Kneipe.

„Ich sage gleich schon nein, bevor du anfängst“, murrte er, ohne seine Körperhaltung zu verändern. Nach wie vor wandte er Petersen nur seinen Rücken zu. Langsam ging dieser die Treppe zur Empore rauf und setzte sich zu ihm. „Du weißt doch noch gar nicht, was ich will“, kam es trotzig von Petersen.

„Hältst du mich für blöd? Der Tod von ‚Enzo the Lover‘ ist schon längst Tagesgespräch auf der Insel“, tönte es hinter dem Rücken hervor.

„Ist ja gut Alter, ich will ja nur wissen, mit wem der hier auf der Insel so verkehrt hat?“

„Und ich hatte schon nein gesagt. Ich muss dir doch wohl nicht wieder einen Vortrag über das Beichtgeheimnis eines Wirtes halten. Wenn ich all das weitererzählen würde, was sich hier so abends ereignet, dann kann ich den Laden zumachen. Die Verschwiegenheit eines Wirtes ist seine Geschäftsgrundlage.“

„Oha, jetzt geht’s ins Grundsätzliche. Ich habe einen Mord aufzuklären und ich kann dich natürlich auch ganz offiziell als Zeugen vorladen lassen.“

Der Magister, so nannte sich der Wirt nach Klaus Störtebekers Gesellen Magister Wygbold, lachte kurz auf und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Immer noch hatte er sich nicht zu Petersen umgedreht. „Soll ich dir die Geschichte des Studenten Hase erzählen?“

Petersen nickte. Er ahnte zwar, was kommen würde, ließ ihn aber gewähren.

„Also, der Student Hase sollte in einem Prozess gegen einen Freund aussagen. Er teilte dem Vorsitzenden Richter mit: ‚Mein Name ist Hase und ich weiß von nichts‘. “ Sein Gegenüber musste grinsen.

„Du solltest einen Volkshochschulkurs über die Bedeutung deutscher Sprichwörter abhalten.“

„Jetzt kapierst du endlich, dass ich ein Kneipenphilosoph bin.“ Der Magister drehte sich und unterstrich seine Ausführungen mit einer ausladenden Geste, wobei ihm eine ordentliche Portion Asche von seiner Kippe auf den Schoß viel.

„Nun lenk nicht ab, ich wollte was von dir wissen.“

„Und du kennst die Antwort. Was alle wissen, und das ist kein Geheimnis, dass Enzo ein Aufreißer war. Nicht umsonst habe ich ihn immer ‚the Lover‘ genannt. Aber das weiß ja jeder auf der Insel.“

„Kennst du Namen?“

„Da beißt du bei mir auf Granit.“

„Hatte er denn ein Beuteschema?“

Der Magister musste wieder lachen. „So wie du mit deiner Mona?“ Er spielte damit auf eine Affäre an, die Petersen mit seiner Praktikantin gehabt hatte und setzte noch einen drauf. „Ach ja, die Frauen sind bei dir ja jetzt älter geworden. Was ist denn nun mit der von der Bundespolizei, mit der du im Sommer hier warst?“

Petersen wurde die Richtung, in die das Gespräch jetzt lief, äußerst unangenehm. Der Magister sprach Dinge an, die er selbst noch gar nicht richtig verarbeitet hatte. „Ich bin hier jetzt nicht das Thema, was ist mit Enzo und den Frauen?“

„Mein Gott, mach es doch nicht so kompliziert. Er hat alles genommen, Insulanerinnen, ‚Touri-Frauen‘. So, und jetzt ist Ende im Gelände. Ich muss arbeiten.“ Er stand auf und sah auf die Uhr. „17:00 Uhr, Rainer kommt heute bestimmt nicht, für den ist der Tag gelaufen.“

Petersen schüttelte mit dem Kopf. Woher wusste der denn nun schon wieder, wer die Leiche gefunden hatte? Auf dieser Insel blieb auch wirklich nichts geheim, aber das könnte in dem vorliegenden Mordfall auch von Nutzen sein. Er folgte dem Magister runter an den Tresen, bestellte sich ein kleines Jever und ließ seine Gedanken kreisen.

4

Am nächsten Morgen musste einiges organisiert werden. Die Hubschrauber mit Rechtsmedizin und Spurensicherung waren für 10 Uhr avisiert. Oberkommissar Erhardt würde mit der Fähre gegen 12:30 Uhr eintreffen. Heike Wohlers hatte mehrere Fahrten mit dem Taxi der Inselflieger vom Flughafen zum Tatort gebucht. Petersen versuchte verzweifelt, Angehörige von Enzo Poppinga ausfindig zu machen, was ihm aber bisher nicht gelungen war. Auch die Suche nach dem eigentlichen Arbeitgeber des Toten gestaltete sich recht schwierig. Zur Not müssten sie das kleine Büro, das sich im Erdgeschoss des ersten Appartementhauses befand, mit dem Generalschlüssel, den Petersen von Rainer Hinze bekommen hatte, öffnen. Von dieser Möglichkeit war er nicht so recht angetan. Gefahr war nicht im Vollzuge. Um keine Schwierigkeiten zu bekommen, wollte sich Petersen hierfür das Okay des Arbeitgebers von Poppinga holen.

Petersen, den die Vielzahl der Aufgaben schon nervten, blickte verärgert in Richtung Heike Wohlers, die augenscheinlich seelenruhig in einem Ferienprospekt blätterte.

„Das ist nicht dein Ernst, dass du jetzt deinen Urlaub planst, oder?“, raunzte er seine Kollegin unfreundlich an.

Die ließ sich nicht beirren und blätterte weiter. Plötzlich drehte sie sich zu Petersen um. „Ich hab’s. Man kann diese Appartements über eine Hausverwaltungsagentur mit Sitz in Oldenburg buchen.“

Petersen, der über seine Unfreundlichkeit peinlich berührt war, murmelte halblaut: „Entschuldigung.“

Heike Wohlers musste grinsen. Der Punkt ging an sie. Allerdings ließ es sich Petersen nicht nehmen, selbst in Oldenburg anzurufen. Dort zeigte man sich sehr betroffen über den Tod von Poppinga und versprach, jemanden nach Wangerooge zu schicken. Mit der Öffnung des Büros von Poppinga war die Agentur einverstanden. Nachdem Petersen sich Gesprächsnotizen für die Ermittlungsakte, die von Oberkommissar Erhardt zu führen war, gemacht hatte, begab er sich auf den Weg zum Tatort, um dort die Teams aus Oldenburg in Empfang zu nehmen. Er nahm den Umweg über die völlig verwaiste Promenade. Auch am Strand war keine Menschenseele zu sehen. Der Strand wies schon die erste Abrisskante auf, obwohl es erst November war und wahrscheinlich noch weitere Sturmfluten folgen würden. Von Ferne hörte er schon das Dröhnen der Hubschrauber. Er blickte noch einmal auf die graue Nordsee. In der Ferne sah er einen Kreuzer der Bundespolizei durch die Wellen gleiten. Instinktiv musste er an Susanne denken, die auf einem dieser Schiffe ihren Dienst tat. Warum hatte das mit ihnen im Sommer nicht geklappt? Auf Helgoland waren sie sich nähergekommen. Aber ab einem bestimmten Punkt hatte sie abgeblockt. In ihr schien sich wohl eine starke Angst entwickelt zu haben, verletzt zu werden, dabei wollte er gar nicht auf Teufel komm mal raus mit ihr in die Kiste springen. Im Sommer, als sie ihn auf der Insel besucht hatte, war sie plötzlich verschwunden, als er Bier holen gegangen war. Diese Reaktion hatte wiederum ihn verletzt, weil er überhaupt nicht wusste, was er nun falsch gemacht hatte. Sie hatte ihm danach einen kurzen Brief geschrieben und versucht, ihr Verhalten zu erklären, aber so richtig schlau war er aus ihren Zeilen nicht geworden. Danach hatte es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben.

Ein großes Containerschiff der Reederei Maersk näherte sich dem Wangerooger Fahrwasser. Das Rotoren-Geräusch der Hubschrauber war verstummt. Er musste sich beeilen. Die erste Taxifuhre würde gleich hier eintreffen. Smoke on the Water dröhnte jetzt der Klingelton seines Handys. Heike meldete sich. Sie hatte die Adresse des Vaters von Enzo Poppinga in Esens ausfindig gemacht. „Okay Heike, ruf die Kollegen in Esens an. Sie müssen dem Vater die traurige Nachricht überbringen. Er soll bloß nicht hierherkommen. Die Leiche geht sowieso heute Nachmittag nach Oldenburg. Wenn wir was wissen wollen, melden wir uns.“

„Alles klar, Lars, ich kümmere mich drum.“

Das erste Taxi kam die Peterstraße entlanggefahren, voll besetzt mit mehreren Beamten. Petersen gab ein kurzes Zeichen, damit der Fahrer den Eingang finden konnte. Nach einer kurzen Begrüßung fuhr er mit den Kollegen der Spurensicherung nach oben und schloss die Wohnung auf. Leichter Verwesungsgeruch lag in der Luft. Petersen war froh, dass er die Beamten allein lassen konnte, denn die nächste Fuhre mit der Rechtsmedizin musste eingewiesen werden. Der Flur vor der Penthouse-Wohnung wimmelte jetzt von Männern in weißen Schutzoveralls. Kurz warf er einen Blick in die Wohnung. Die Spurensicherung hatte bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Kleine Tafeln mit Ziffern waren schon ringsum um die Leiche aufgestellt. Mitten im Raum war eine Kamera installiert, die in der Lage war, den Tatort zweidimensional darzustellen. Jedes kleinste Detail wurde aufgenommen und konnte später zur Auswertung herangezogen werden, ohne dass man zum Tatort zurückkehren musste. Er schaute auf die Uhr. Langsam musste er in Richtung Bahnhof aufbrechen, um Oberkommissar Klaus Erhardt in Empfang zu nehmen. Es war schon recht merkwürdig, dass Kriminalrat Wilbert einen so unerfahrenen Mann auf die Insel schickte. Erhardt hatte zwar schon eine kleine Rolle bei Petersens letztem Fall gespielt und war bereits bei den Vernehmungen eines Bulgaren in Oldenburg dabei gewesen. Die Hauptarbeit hatte aber die gemeinsame Ermittlungsgruppe aus Bremen und Oldenburg geleistet. Warum also schickte Wilbert diesen Mann? Entweder war dieses Verbrechen auf der Insel für ihn von nur geringer Bedeutung oder aber Petersen sollte diesem Mann etwas beibringen. Normalerweise würde er diese Sache mit seinen Kollegen besprechen. Aber er wusste nicht, wie Heike Wohlers zu Wilbert stand. Sie in seine Gedanken einzuweihen, schien ihm zu riskant. Eine gute Sache hatte aber die Entsendung von Erhardt. Er war der Hauptsachbearbeiter und musste somit die Ermittlungsakte führen. So blieb Petersen viel Schreibarbeit erspart, konnte aber trotzdem die Fäden in der Hand behalten. Jedenfalls war dies seine Hoffnung.

Petersen hatte den Bahnhof erreicht. Wie häufig hatte er hier schon Anwärter abgeholt und immer hatte sich mit diesen jungen Kollegen eine besondere Geschichte verbunden. Neulich erreichte ihn eine Postkarte von seiner letzten Auszubildenden, Rieke Hinrichs. Sie war jetzt im Ausleseverfahren für das SEK in Hannover. Das Pfeifen der Lokomotive riss ihn aus seinen Gedanken und kündigte das Einfahren des Zuges an. Außer ihm standen nur zwei weitere Personen auf dem Bahnsteig, nicht zu vergleichen mit dem Gewimmel in der Hauptsaison. Mit einem leichten Quietschen der Bremsen kam der Zug zum Stehen. Nur wenige Personen stiegen aus. Ein großer blonder Mann mit schwarzer Brille, der einen Rollkoffer hinter sich herzog, steuerte direkt auf Petersen zu. Er sah jünger aus, als er gedacht hatte.

„Moin, Sie sind bestimmte Kollege Petersen, Klaus Erhardt mein Name.“

Sie schüttelten sich die Hände. Petersen, der sonst kein Freund des vorschnellen Duzens war, überwand sich. „Moin, willkommen auf der Insel, Lars mein Name. Wir sollten uns duzen, wenn es recht ist.“

„Ich bin Klaus, auf gute Zusammenarbeit. Kriminalrat Wilbert hat mir viel von dir erzählt. Ich bin gespannt auf unsere Zusammenarbeit.“

„Was der wohl erzählt hat?“, dachte Petersen, verzichtete aber auf jeglichen Kommentar. Erhardt wollte zuerst ohne Verzögerung zum Tatort, was in Petersens Augen ein gutes Zeichen war. Kurz stellten sie den Koffer im Revier ab. Petersen machte Erhardt mit Kollegin Wohlers bekannt. Als sie wieder los wollten, unterbrach Wohlers: „Da ist noch was, Lars, da war ein merkwürdiger Anruf. Jemand hat über der See ein helles Licht gesehen, eine Art Feuerball.“

Petersen stutzte und überlegte kurz. „Das könnte natürlich ein Signal aus einer Seenotsignalpistole sein. Ruf mal eben zur Sicherheit bei der Zentrale der DGzRS (Seenotretter) in Bremen an. Die Nummer hängt am Brett.“

Petersen bat Erhardt um einen Moment Geduld. Die Seenotleitung in Bremen bestätigte die Beobachtung. Über einhundert Anrufe, auch von Schiffen, waren aufgelaufen. Sogar die Seenotrettungsboote von Neuharlingersiel und Langeoog waren ausgelaufen. Nach Rücksprache mit dem Olbers-Planetarium in Bremen schlossen die Wachleiter der Seenotzentrale nicht aus, dass die Beobachter einen verglühenden Meteoriten gesehen hatten.

Erhardt hatte das Gespräch mit der Seenotleitung aufmerksam verfolgt. „Junge, Junge, sehr interessant, aber so ein Ding möchte ich nicht auf den Kopf bekommen.“

Petersen und Wohlers nickten.

Als Petersen und Erhardt in der Appartementanlage eintrafen, waren die Kriminaltechniker fast fertig und auch die Rechtsmedizin wartete darauf, dass die Leiche in den Leichensack gelegt werden konnte. Petersen hatte den Transport zum Flugplatz durch ein Fuhrunternehmen organisiert. Der E-Karren wartete schon vor der Anlage. Die beiden Kommissare durften die Penthouse-Wohnung jetzt ohne Schutzanzüge betreten. Der Verwesungsgeruch war stärker geworden. Petersen beobachtete seinen jungen Kollegen, der jetzt sehr nah an die Leiche herangetreten war. Na, wieviel Leichen hast du schon gesehen, dachte er und schon passierte es. Erhardt musste sich übergeben. Die anwesenden Beamten blieben cool, einige grinsten verstohlen. Petersen hatte sein Pokerface aufgesetzt und reichte seinem Kollegen ohne Kommentar ein Taschentuch. Erhardt, dem die Situation sichtlich peinlich war, wischte sich den Mund ab. Da sich ein weiteres Würgegefühl ankündigte, verließ er die Wohnung und ging an die frische Luft. Gerade rechtzeitig erreichte er noch das Blumenbeet am Eingang. Der Fahrer des E-Karrens beobachtete die Szenerie ziemlich teilnahmslos.

Oben schritt Petersen noch einmal durch die Wohnung und fragte dort einen Techniker: „Habt ihr eigentlich ein Handy gefunden?“

„Nee, leider nicht, außer seinen Papieren, Schlüsseln und mehreren Packungen Kondomen hatte der nichts dabei“, antwortete der Angesprochene mit einem hintergründigen Lächeln.

Petersen verabschiedete sich von den Kollegen aus Oldenburg und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder nach unten, wo er einen völlig aufgelösten Kollegen antraf. Kreidebleich stützte dieser sich an der Hauswand ab.

„Mir ist das fürchterlich peinlich, Kollege Petersen“, stammelte er.

Etwas großväterlich klopfte Petersen ihm auf die Schulter. „Das kann schon mal passieren. Nur als kleiner Tipp, vielleicht musst du ja auch mal bei einer Obduktion dabei sein. Die Profis schmieren sich immer irgendetwas in die Nase, Menthol oder Minze. Das hilft gegen diesen Geruch. Ich weiß, wovon ich spreche. So jetzt gehen wir zur Wache, trinken einen starken Kaffee und machen uns einen Plan.“

Petersen wählte mit seinem Kollegen einen kleinen Umweg über die Promenade. Die frische Seeluft würde beiden gut tun. Aus der Ferne hörten sie das Motorengeräusch der Hubschrauber. Der erste hob ab und nahm Kurs auf Oldenburg. Wahrscheinlich war die Leiche im ersten Hubschrauber und würde nun in die Oldenburger Außenstelle des Instituts für Rechtmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover verbracht werden. Die Zedeliusstraße bot einen traurigen Anblick. Viele Lokale waren geschlossen. Nur im „Café Treibsand“ brannte Licht, auch die Inselbuchhandlung hatte geöffnet, aber auf der Straße war niemand zu sehen. Petersen zeigte kurz in die Elisabeth-Anna-Straße, wo sich die Pension befand, in der Kollege Erhardt einquartiert war.

Im Revier begrüßte sie Heike Wohlers mit frischem Kaffee, was Petersen eine Bemerkung abnötigte: „Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht, Kollege Erhardt, die weibliche Kollegin ist nicht zum Kaffeekochen verpflichtet.“

Erhardt winkte ab. Auf Gender-Diskussionen hatte er jetzt überhaupt keine Lust. Auch Heike Wohlers fand die Bemerkung Petersens unpassend. Um die etwas peinliche Situation zu entkrampfen, berichtete sie von einem Anruf der Seenotzentrale. „Die Europäische Weltraumorganisation ESA hat bestätigt, dass ein kleiner Asteroid im Raum Bremen/Oldenburg in die Erdatmosphäre eingetreten war und dabei wohl auseinandergeplatzt war. Die ESA vermutet, dass Teile des Asteroiden vor Helgoland in die Nordsee gestürzt seien.“

„Nochmal davongekommen“, knurrte Petersen, der jetzt einen Flipchart-Ständer vor den Schreibtischen aufbaute. Er unterteilte das erste Blatt in zwei Spalten. „Was wir wissen“, stand über der ersten und „was zu tun ist“, stand über der zweiten Spalte. Erhardt war etwas unwohl, als er sah, wie Petersen die Initiative an sich riss. Eigentlich war er ja der Hauptsachbearbeiter.

Petersen schien seine Bedenken zu ahnen. „Ich mache das jetzt, weil ich schon einige Vorkenntnisse über Enzo Poppinga gesammelt habe“, nahm er Erhardt den Wind aus den Segeln. „Enzo Poppinga, zweiunddreißig Jahre alt, war angestellt bei einer Hausverwaltungsfirma in Oldenburg. Er betreute drei Appartementhäuser, ein Haus mit zwölf Wohnungen und zwei mit je neun Wohnungen. Über sein Leben auf der Insel ist wenig bekannt, außer, dass er augenscheinlich ein ‚Womanizer‘ war.“

„Woraus schließt du das?“, warf Erhardt ein.

„Ich zitiere jetzt einige Bezeichnungen über ihn, die auf der Insel kursierten: ‚Enzo the Lover, der Schleicher, Insel-Papagallo und weniger freundlich, Insel-Stecher‘. Wohlgemerkt, die Begriffe sind mir genannt worden.“

Heike Wohlers ärgerte sich über diese erneute Wiedergabe von Inselklatsch. „Das sind doch Gerüchte und könnte ‚Machogelaber‘ sein, keine harten Fakten“, gab sie zu bedenken.

Erhardt nickte zustimmend, was Petersen wiederum ärgerte.

„Dann frage ich mich, was macht ein Hausmeister in einer Penthouse-Wohnung, die ihm nicht gehört und die er auch nicht gemietet hat.“

„Vielleicht wollte er sich einen schönen Abend machen.“ Diese Bemerkung von Heike Wohlers reizte Petersen.

„Er liegt da in Satin-Bettwäsche, bei italienischer Musik und zwei Champusgläsern. Das macht man nicht nur für sich. Ich wette, dass die Rechtsmedizin uns Beweise für Geschlechtsverkehr liefern wird.“

„Das ist zum jetzigen Zeitpunkt Spekulation“, meldete sich Erhardt wieder.

Petersen kochte vor Wut. Zwei unerfahrene Beamte wollten ihm Paroli bieten. Er legte nach: „Natürlich gibt es noch wenig harte Fakten, aber wir müssen unsere nächsten Schritte planen. Ich zitiere unseren großen Vorsitzenden, Kriminalrat Wilbert: ‚Über das Motiv zum Täter‘.“

Jetzt dreht er durch, dachte Heike Wohlers.

Erhardt allerdings nickte zustimmend, als der Name seines Vorgesetzten fiel.

Petersen fuhr fort: „Dass der Genitalbereich mit einer farbähnlichen Substanz übergossen war, deutet auf ein sexuelles Motiv hin. Dies ist reine Spekulation. Aber gute Ermittlungsstrategien arbeiten am Anfang eben mit Arbeitshypothesen.“

Dagegen ließ sich wenig sagen. Wohlers und Erhardt schienen jetzt doch beeindruckt zu sein.

„Die rote Farbe könnte ein Symbol für Rache bzw. Eifersucht sein“, spekulierte Petersen weiter. Seine Mitstreiter schienen sich von den Theorien des Lars Petersen etwas eingeschüchtert zu fühlen.

„Haben wir ein Handy gefunden?“, wechselte Erhardt das Thema.

Petersen schüttelte mit dem Kopf. „Nein, aber seine Nummer werden wir rausfinden, wenn wir morgen in sein Büro gehen. Damit sind wir beim Thema. Was ist morgen zu tun?“

Petersen nahm jetzt einen roten Edding und notierte in der rechten Spalte: Handynummer, Verbindungsdaten.

„Darum kümmere ich mich“, meldete sich Erhardt, „Wilhelmshaven hat uns Unterstützung zugesagt.“

Wohnung, notierte Petersen.