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Das Schicksal der Menschheit hängt am seidenen Faden
Nach einer globalen Katastrophe haben die wenigen Überlebenden auf der Raumstation Außenerde Zuflucht gefunden. Doch nun droht die Raumstation zur tödlichen Falle für ihre Bewohner zu werden: Ein unbekanntes Virus breitet sich mit rasender Geschwindigkeit aus und fordert ein Todesopfer nach dem anderen. Wenn es Riley Hale – Ex-Tracer und jetzt im Enforcer-Team der Raumstation – nicht gelingt, rechtzeitig ein Gegenmittel zu finden, sind die letzten Menschen im Universum zum Tode verurteilt ...
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Seitenzahl: 623
ROB BOFFARD
ENFORCER
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Nach einer globalen Katastrophe haben die Überlebenden auf der Raumstation Außenerde Zuflucht gefunden. Eine Million Menschen kämpfen hier tagtäglich gegen Schmutz, Enge und die Ausweglosigkeit an. Eine von ihnen ist die ehemalige Tracer Riley Hale, die nach dem Tod ihres Vaters den Stompern, der Stationspolizei, beigetreten ist. Recht und Ordnung auf Außenerde aufrechtzuerhalten, ist Rileys größter Wunsch, denn nur so hat die Menschheit eine Chance fortzubestehen. Doch Riley ahnt nicht, dass sie sich schon bald der größten Herausforderung ihres Lebens stellen muss: Eine Gruppe Rebellen will unbedingt zur Erde zurückkehren, obwohl der blaue Planet inzwischen zu einer tödlichen Falle für die Menschen geworden ist, und um ihre Pläne durchzusetzen sind sie bereit, über Leichen zu gehen. Als sich dann auch noch ein unbekannter Virus mit rasender Geschwindigkeit auf der Raumstation ausbreitet und ein Todesopfer nach dem anderen fordert, steht das Schicksal der letzten Menschen endgültig auf dem Spiel …
Der Autor
Rob Boffard wurde in Johannesburg, Südafrika, geboren und verbringt seine Zeit als Autor zwischen London, Vancouver und Johannesburg. Als Journalist hat er in mehr als zwölf Ländern Artikel geschrieben, unter anderem für The Guardian und Wired. Außerdem schreibt er regelmäßig Kolumnen für das Online-Portal diezukunft.de. Von Rob Boffard ist im Heyne Verlag bereits der Roman Tracer erschienen.
Mehr über Rob Boffard und seine Romane erfahren Sie auf:
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Titel der englischen Originalausgabe
ZERO-G
Deutsche Übersetzung von Bernhard Kempen
Deutsche Erstausgabe 05/2017
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2016 by Rob Boffard
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung eines Motivs von Aphelleon/Shutterstock
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-18542-8V001
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Für meine Eltern
Prolog
Außenerde
Ein riesiger Ring von zehn Kilometern Durchmesser, dessen Kühllamellen durch das Vakuum schneiden. Der Kern im Zentrum des Rings, eine Kugel, die den Fusionsreaktor der Station enthält, schimmert im hellen Sonnenlicht. Fünfhundert Kilometer darunter dreht sich die Erde dunkel und lautlos.
Um für die eine Million Menschen, die darin leben, Schwerkraft zu erzeugen, rotiert Außenerde gerade schnell genug, um erdähnliche Verhältnisse zu schaffen. Die Drehung ist kaum zu spüren, in regelmäßigen Abständen feuern die Düsen der Station, um sie aufrechtzuerhalten. Außenerde kreist seit über einhundert Jahren im Orbit.
Eine Seite der Station explodiert.
Eine große Wunde öffnet sich im Ring, wie Haut, die von einem Messer zerteilt wird. Das Loch dehnt sich weiter aus, als das menschliche Auge wahrnehmen kann, reißt auf, bis eine kilometerlange Öffnung klafft. Der Druckverlust reißt alles nach draußen, verteilt es zu einer Wolke aus glitzernden Trümmern. Metallbruchstücke kollidieren, prallen gegeneinander.
Und die Körper. Es sind Dutzende. Sie wirbeln zwischen den Trümmern, krachen gegen größere Brocken, während sie von der Station fortgeschleudert werden. Einige bewegen sich noch eine Weile, Arme und Beine suchen vergeblich nach Halt, die Finger zu Klauen gekrümmt. Doch schließlich erstarren die Körper, einer nach dem anderen.
All das geschieht in absoluter Stille.
1 | Riley
Zwei Tage zuvor
»Sie haben Geiseln.«
Royos Stimme hallt durch den engen Zugangskorridor. Hinter ihm ist die große Doppeltür zur Recyclinganlage fest verschlossen. Darüber rotiert eine Lampe, die flackernde Schatten auf die versammelten Stomper wirft.
»Laut Dienstplan waren heute zwanzig Kanalisationsarbeiter drin, als es passierte«, sagt Royo und zeigt mit dem Daumen auf die Doppeltür. »Es ist unser Job, sie rauszuholen.«
»Wie viele Gegner?«, frage ich.
Ein paar Stomper blicken sich zu mir um, als könnten sie nicht glauben, dass ich tatsächlich ihre Uniform trage. Ich selbst kann es ebenfalls kaum glauben. Noch vor sechs Monaten hatte ich mir alle Mühe gegeben, allen Stompern so schnell wie möglich aus dem Weg zu gehen. Polizisten habe ich noch nie gemocht.
Royo sieht mich an. Auf seinem Kahlkopf spiegelt sich das rotierende Licht. »Wir haben keine Informationen über die Situation da drinnen. Das ist das Problem.«
»Was ist mit den Kameras?«, fragt eine Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um und erkenne Aaron Carver, der angelaufen kommt. Die obere Hälfte seines schwarzen Stomperanzugs hat er sich um die Hüfte gebunden, das perfekt gestylte Haar zurückgestrichen. Er trägt ein hellrotes Unterhemd, das seine ausgeprägten Oberarme freilässt. Hinter ihm nähert sich Kevin O’Connell, einen Kopf größer als alle anderen Stomper hier, mit kurz geschorenem Schädel und dunklen Bartstoppeln auf den Wangen.
Früher waren die beiden genauso wie ich Tracer – Kuriere, die Pakete und Nachrichten durch die Station befördern. Das war, bevor Royo uns in die Reihen der Stomper aufnahm.
Royo schüttelt den Kopf. »Nett von dir, dass du dich uns anschließt, Carver.«
»Das wollte ich um nichts in der Welt verpassen, Captain.«
Royo wendet sich wieder der Gruppe zu. »Auf der Ebene gab es zwei funktionierende Kameras, aber wer auch immer dort eingedrungen ist, hat sie sofort in Stücke geschossen. Gleichzeitig wurden alle Ausgänge verriegelt.«
Carver bleibt neben mir stehen, schwer atmend. »Ich war drüben an der Sektorengrenze, als ich den Anruf bekam«, sagt er zwischen zwei Atemzügen zu mir.
»Hast du dir Sorgen gemacht, wir könnten ohne dich anfangen?«, frage ich gedämpft.
Er legt mir eine Hand auf die Schulter, um sich an mir abzustützen, eine aufrechte Haltung anzunehmen. »Meine einzige Sorge war, dass ihr uns blamiert. Zum Glück bin ich rechtzeitig gekommen.«
»Möchtest du irgendetwas sagen, Carver?«, ruft Royo. Köpfe drehen sich zu uns herum. Mein Stomperanzug besteht aus dünnem Stoff, aber in diesem Moment fühlt er sich an den Schultern etwas zu eng an.
Carver lächelt breit. »Nein, gar nichts, Captain. Mach weiter.«
»Wie lauten ihre Forderungen?«, fragt einer der anderen Stomper, eine muskulöse Frau namens Jordan, die sich gegen eine Korridorwand lehnt. Ihr Pferdeschwanz ist so straff zurückgebunden, dass es aussieht, als könnten die Haare jeden Augenblick ihr Gesicht auseinanderreißen.
»Bevor sie die Kameras ausschalteten«, sagt Royo, »hielten sie einen Tabscreen hoch, auf dem ein Name stand.«
»Ein Name?«, fragt Jordan und kneift leicht die Augen zusammen.
Aber ich weiß bereits Bescheid. Wir alle. Ich knirsche mit den Zähnen, ohne dass ich es wirklich will.
»Okwembu«, sagt Kev. Seine Stimme ist leise, aber sie dringt mühelos durch den Lärm im Korridor.
Royo sieht ihn mit einem schiefen Lächeln an. »Großer Mann kapiert sofort.«
Janice Okwembu. Unsere ehemalige Ratsvorsitzende, die beinahe die Station vernichtet hätte, als sie mit einer Intrige versuchte, ihre Macht zu erweitern. Viele Leute wünschen sich ihren Tod. Nicht wenige haben versucht, zu diesem Zweck in ihr Hochsicherheitsgefängnis einzudringen.
Ich schätze, die Leute, die sich hier verschanzt haben, wollten nicht länger warten.
Royo hebt die Stimme. »Wir verhandeln nicht mit Geiselnehmern. Wir haben es nie getan und werden es nie tun. Aber was wir im Moment überhaupt nicht haben, ist … He! Schafft diese Leute hier raus!«
Ich blicke zum Eingang zurück. Der Korridor, der zur Recyclinganlage führt, kommt von der Hauptgalerie des Sektors Apogäum, ein riesiger Raum mit Laufstegen, die sich in unterschiedlichen Höhen durch alle Ebenen der Station ziehen. So viel Stomperpräsenz hat eine Menschenmenge angelockt, die den Eingang zum Korridor blockiert. Die Leute recken die Hälse, um etwas von der Aufregung mitzubekommen. Ich sehe Arbeiter in dreckigen Küchenuniformen, Techniker in Overalls, einige mit Tattoos, die aussehen, als ob sie zu einem Tracerteam gehören. An der Seite steht ein Mann in Lumpen, der sich an einem Handwagen mit allem möglichen Zeug festhält. Drei Stomper lösen sich von unserer Gruppe und rufen der Menge zu, sie solle sich zurückziehen.
»Wie ich gerade sagte«, fährt Royo fort, »brauchen wir genauere Informationen. Das heißt, dass wir Leute einschleusen müssen. Während Jordan hier die Führung übernimmt, soll unsere neue Tracertruppe« – er zeigt auf uns, und ich spüre, wie ein nervöses Kribbeln an meiner Wirbelsäule hinaufkriecht – »nach drinnen gehen und nachsehen, womit wir es zu tun haben.«
»Alles klar«, sagt Carver und rollt die Schultern. »Es wird auch Zeit, dass wir etwas zu tun bekommen.«
»Wartet mal, Moment«, sage ich und hebe eine Hand. »Du hast doch erwähnt, dass sie die Ausgänge verriegelt haben. Wie sollen wir also hineinkommen?«
Royo zeigt wieder sein schiefes Lächeln. Einige der anderen Stomper kichern leise.
»Der einzige mögliche Zugang wäre …« Ich verstumme, und gleichzeitig blicken Carver, Kev und ich auf den Boden. Die Metallplatten sind perforiert, und genau in diesem Moment erkenne ich, was sich darunter befindet.
Rohre. Die menschliche Abfälle von allen Habitaten des Sektors zur Anlage befördern. Rohre, durch die wir hineingelangen sollen.
Carver sieht Royo mit hochgezogenen Augen an. »Das kann nicht dein Ernst sein!«
2 | Knox
Morgan Knox steht am Rand der Menge und beobachtet Riley Hale.
Alle machen ihm Platz. Niemand will sich in der Nähe des Mannes mit dem verkrüppelten Bein aufhalten, dem Mann, der in dreckige, stinkende Lumpen gehüllt ist. Knox bemerkt kaum die Seitenblicke, die gemurmelten Beschimpfungen. Er steht nur da und beobachtet Hale, hält den Handgriff seines Wagens fest. Seine Fingerknöchel treten blutleer und weiß unter dem Dreck hervor.
Es ist nicht das erste Mal, dass er sie sieht – er hat schon seit Monaten über sie nachgedacht –, aber es ist das erste Mal, dass er sie so lange betrachten kann. Er war unterwegs, um Vorräte zu holen, und hat dann überrascht gesehen, wie Hale vor ihm die Galerie entlangrannte, in Richtung Recyclinganlage, wo sich die übrigen Stomper versammelten.
Sie hat ihm den Rücken zugekehrt. Ihr dunkles Haar fällt lockig bis zu ihren Schultern herab. Ihr schwarzer Stomperanzug ist ein wenig zu klein für sie, als hätte er ursprünglich jemand anderem gehört, und er kann die Konturen ihrer kräftigen Schultern und Oberarme erkennen. Unter dem Saum ihrer Hosenbeine blitzen ihre Fußknöchel in den grauweißen Tracerschuhen hervor.
Sie dreht sich um und sagt etwas zu einem ihrer Kameraden. Für einen Moment sieht er sie im Profil, in der flackernden Beleuchtung des Korridors. Nicht zum ersten Mal erwischt er sich bei dem Gedanken, dass sie recht hübsch ist.
Nein, denkt er und drückt den Handgriff des Wagens noch fester, als konnte er damit diesen Gedanken zerquetschen. Du bist nicht hübsch. Und du wirst es niemals sein.
Er spuckt einen dicken Speichelklumpen aus, der über den Boden hüpft. Er spürt, dass sich die Menge noch weiter von ihm entfernt, als wäre er ansteckend. Kein Problem für ihn.
Er hört Rufe. Er wendet den Blick von Hale ab und sieht, wie die Stomper die Menge zurückdrängen, den Leuten befehlen weiterzugehen. Das reißt ihn in die Wirklichkeit zurück, und er wendet seinen Wagen, indem er sein gutes Bein als Angelpunkt benutzt. Die Räder des Wagens sind alt und rostig, und sie quietschen, als er ihn über den Boden der Galerie schiebt. Er blickt nach oben zu den Laufstegen, die sich als Silhouetten vor der Deckenbeleuchtung abzeichnen, und geht weiter. Er darf sich nicht ablenken lassen. Es gibt immer noch sehr viel zu erledigen.
3 | Riley
Der Lärm im Korridor hat sich von laut zu ohrenbetäubend gesteigert. Befehle werden gerufen, Waffen gecheckt, Tabscreens konsultiert. Royo marschiert zu uns herüber, ignoriert den angewiderten Ausdruck auf Carvers Gesicht.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben«, sage ich, während ich auf die Gitterplatten hinunterstarre.
Royo schüttelt den Kopf. »Es gibt keine. Es ist, wie ich gesagt habe. Die Ausgänge sind blockiert.« Er geht weiter, durch den Korridor zurück, und wir reihen uns hinter ihm ein.
»Woher willst du wissen, dass sie nicht auch die Rohre abgeriegelt haben?«, frage ich.
»Das wissen wir nicht. Aber im Moment ist es der einzige Weg nach drinnen, den wir noch nicht ausprobiert haben. Was heißt, dass ihr an der Reihe seid.«
»Komm schon, Cap«, sagt Carver. »Du denkst doch nicht wirklich daran, uns da reinzuschicken?«
Royo bleibt vor einer Metallplatte an der Seite des Korridors stehen. Darauf steht in schwarzen Buchstaben: ZUGANG ZUR KANALISATION NUR FÜR BEFUGTES PERSONAL, darunter die gleiche Botschaft in kleinerer Schrift auf Hindi und Chinesisch. Neben dem Zugang gibt es ein Tastenfeld, dessen Ziffern mit der Zeit verblasst sind. Royo geht in die Hocke und tippt einen Code ein. Das Piepen wird vom Lärm der anderen Stomper übertönt.
»Ihr werdet da reingehen, euch einen Überblick verschaffen und dann Meldung machen«, sagt Royo. Er tippt gegen seinen Ohrhörer. »Ich will die ganze Zeit Kontakt halten, verstanden?«
Ich hätte meinen Ohrhörer fast vergessen. Jedes Mal wenn ich denke, ich hätte mich daran gewöhnt, wird mir bewusst, dass er immer noch da ist und meinen Gehörgang verstopft. Er besteht aus geformtem Kunststoff und ist so angepasst, dass er mir genau ins rechte Ohr passt. Er verbindet mich mit dem KOSSP: dem Kommunikationssystem der Stationsschutzpolizisten. Die Stomper hatten es bereits, bevor wir zu ihnen kamen, aber es war ein schlecht gewartetes Netzwerk, voller Fehler und Funklöcher. Es war Carvers große Aufgabe während der letzten paar Monate, es in Ordnung zu bringen – sein erster großer Beitrag zu dem, was er sein anständiges Leben nennt.
»Schick jemand anderen rein«, sagt Carver und verschränkt die Arme. »In meinem Vertrag steht nichts davon, dass ich durch Scheiße kriechen muss.«
»Das sehe ich genauso«, sage ich.
Royo steht auf. »Tracer gehen dorthin, wo für andere Leute Schluss ist. Das ist der Sinn eurer Truppe. Dafür haben wir euch rekrutiert.« Er tippt mit dem Fuß gegen die Metalltür. »Und versucht euch gelegentlich daran zu erinnern, dass im Moment zwanzig Personen mit Waffengewalt festgehalten werden. Wir wollen sie da rausholen. Was meint ihr?«
Carver und ich sehen uns an. Nach einer Weile nicken wir beide.
Ich blicke mich um, wobei mir etwas auffällt. »Wo ist Anna?«, frage ich.
»Miss Beck befindet sich derzeit auf einer atemberaubend wichtigen Mission weiter oben im Ring, meine Liebe«, sagt Carver und ahmt Annas Akzent gekonnt nach, einschließlich des Näselns, das für Leute typisch ist, die im Tzevya-Sektor aufgewachsen sind.
Royo wirft mir einen Blick zu. »Irgendeine Tracerbande steigt gerade in den Drogenhandel ein. Sie soll ihnen irgendetwas anhängen.«
Seine Worte machen mich wütend. Vor nicht allzu langer Zeit waren auch wir eine Tracerbande. Aber insgeheim bin ich froh, dass sie nicht hier ist. Das vierte Mitglied unserer kleinen Truppe ist die letzte Person, mit der ich mich jetzt auseinandersetzen möchte.
»Wir haben bereits eins der Rohre abgesperrt«, sagt Royo. »Nach hinten bildet sich ein übler Rückstau, aber Ebene drei wird einfach irgendwie damit klarkommen müssen.«
Er bückt sich und zieht die Bodentür auf. Dahinter ist es schwarz wie der Weltraum. Eine Sekunde später haut mich der Gestank fast um.
»Bei den Göttern«, sagt Carver, der Nase und Mund in der Armbeuge vergräbt. Kev gibt ein seltsames Geräusch von sich, etwas zwischen einem Würgen und einem angewiderten Stöhnen.
Ich drehe mich zu Royo um. »Sag mir bitte, dass du ein paar Vollgesichtsmasken dabei hast.«
Er schüttelt den Kopf. »Wir haben Atemmasken im Hauptquartier. Wir sollen sie nur bei Notfällen verwenden, nicht zum Schutz vor üblen Gerüchen.«
Ich schließe die Augen und zwinge meinen Mageninhalt, sich nicht von der Stelle zu rühren. Royo fordert einen Tabscreen an, der ihn von einem anderen Stomper gebracht wird. Als er ihn Royo gibt, bemerke ich, dass er mich anstarrt. Als ich den Blick erwidere, schlägt er die Augen nieder und verschwindet wieder im Chaos weiter hinten im Korridor.
Sechs Monate später bin ich immer noch die Frau, die ihren eigenen Vater und die Anführerin ihres Tracerteams töten musste, um Außenerde zu retten. Sechs Monate später behandeln mich die Leute immer noch wie eine Verrückte.
Oder wie eine Retterin. Oder beides.
Das gilt auch für andere Stomper. Ich habe kein Problem mit den Blicken – ich habe mich daran gewöhnt. Sie gehören zu meinem Job, und mein Job hilft mir dabei, mich von dem abzulenken, was geschehen ist. Er hilft mir dabei, leichter einzuschlafen.
Ich drehe mich wieder zu Royo um. Er tippt ein paarmal auf den Bildschirm und ruft den Grundriss der Recyclinganlage auf.
»Die Zugänge für die Wartungstechniker sind hier und hier«, sagt er und zeigt auf die schematische Darstellung. »Ich vermute, dass die Geiselnehmer nichts davon wissen, aber sie werden euch trotzdem bemerken, wenn ihr unvorsichtig seid. Ich will wissen, wie viele es sind, wo sie sich aufhalten und wie sie bewaffnet sind. Sobald wir diese Informationen haben, gehen wir mit Sprengsätzen durch die Tür und holen euch raus.«
Er schaltet den Tabscreen aus. »Carver, Hale, macht euch auf den Weg. O’Connell, du begleitest mich.«
»Moment … was?«, fragt Carver. »Seit wann ist Kev vom Scheißkriechdienst befreit?«
»Seit er zu groß für den Scheißkriechdienst ist«, sagt Royo. »Außerdem wollen wir nicht, dass er sich mit irgendetwas infiziert.«
»Ich bitte dich!«, sagt Carver. »Seine Operation ist doch schon Monate her.«
Er will Kevin in den Bauch boxen, in die Stelle, an der er die Narbe hat. Kev weicht zurück und grinst.
Wir haben eine Weile gebraucht, um uns vom Wahnsinn zu erholen, der vor einigen Monaten herrschte. Wir alle waren verletzt – Schnitte, blaue Flecke, gezerrte Muskeln. Carvers Schulter war ausgerenkt, und es waren etliche Stunden Physiotherapie nötig, bis er sie wieder belasten konnte.
Kev hatte es am schlimmsten erwischt. Die Bänder in seinem Fußknöchel waren gerissen, doch nachdem die Operation gut verlaufen war, gab es Komplikationen. Eine Lungenembolie, erzählte er uns, ein Blutgerinnsel, das sich in einer Beinarterie gebildet hatte und nach oben gewandert war, um sich in seiner Lunge festzusetzen. Ein paar Tage nach der ersten Operation brach er zusammen und verschüttete einen Becher mit Selbstgebrautem über den Boden des Quartiers seiner Familie. Notoperation, dann mehrere Monate in der Klinik – das war seine Belohnung, dass er mitgeholfen hatte, die Station zu retten. Erst in den letzten paar Wochen erlangte er seine Kräfte zurück.
Eine Zeit lang hatte ich mir große Sorgen um ihn gemacht, aber nicht nur wegen seiner körperlichen Verletzungen. Yao, seine engste Freundin, starb im vergangenen Jahr. Doch dann stürzte er sich in sein neues Leben. Von uns allen ist er derjenige, der sich am besten eingerichtet hat. Es ist, als wäre er als Polizist geboren worden, als wäre seine Zeit als Tracer nur ein Zwischenspiel gewesen. Ich habe sogar einmal mitgehört, wie er einigen anderen Stompern einen Witz erzählte. In unserem Tracerteam sagte er kaum ein Wort, wenn man ihm nicht vorher eine Frage gestellt hatte.
Royo mustert Carver und mich von oben bis unten. Er tritt näher heran, senkt die Stimme. »Wenn ich jemanden von meinen anderen Leuten da reinschicke, werden sie ihn erwischen. Ihr seid beweglich, ihr seid schnell, ihr habt eure Stinger, und ihr könnt euch aufeinander verlassen. Wir sind hier auf der anderen Seite der Tür, falls irgendwas schiefgeht.«
Ich nicke, als mir plötzlich der Stinger im kleinen Pistolenholster an meiner linken Hüfte bewusst wird.
Royo klatscht in die Hände. »O’Connell. Zu mir.«
Kev boxt gegen Carvers Oberarm, drückt meine Schulter. »Bleibt in Kontakt«, sagt er, tippt sich ans Ohr und folgt Royo.
»Riley«, sagt Carver leise, sobald sie außer Hörweite sind. »Ich kann das übernehmen, wenn du möchtest. Du musst da nicht reingehen.«
Ich blicke überrascht zu ihm auf, denke, dass er damit andeuten will, ich würde nicht damit klarkommen. Aber sein Gesicht zeigt ausschließlich Besorgnis, und meine Verärgerung verflüchtigt sich sofort.
»Keine Chance«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Wenn ich nicht dabei bin, um dir aus der Patsche zu helfen, würdest du damit uns alle blamieren.«
Er erwidert das Lächeln, dann kramt er in der Hosentasche und reicht mir eine Stomper-Taschenlampe. Die körnige Metalloberfläche fühlt sich eiskalt an. Ich schalte sie ein und aus, und er zuckt zusammen, als ihm das Licht ins Gesicht scheint.
»Willst du noch was vom Grauen Markt?«, fragt er mich.
»Zum Beispiel?«
Wieder kramt er in der Tasche und zieht einen kleinen Kasten hervor. Es ist gut, dass der Boden mit einer selbstklebenden Schicht überzogen ist, weil ich ihn beinahe fallen gelassen hätte, als mir klar wird, was es ist.
»Ich kann keine Bombe mitnehmen«, sage ich. Carver zieht die Augenbrauen hoch, gibt mir ein Zeichen, dass ich leise sprechen soll. Ich blicke über seine Schulter, aber niemand scheint mich gehört zu haben.
Ich halte Carver den Kasten hin. Während unserer Zeit als Tracer war er es gewesen, der für uns Dinge hergestellt hat, zum Beispiel geeignete Rucksäcke und Schuhe. Und gelegentlich hat er auch an etwas tödlicheren Sachen gebastelt.
Der Kasten ist eine Klebebombe. Das Ding ist handflächengroß und wurde aus einem kleinen Lebensmittelbehälter mit fest schließendem Deckel konstruiert. An der Innenseite des Deckels ist ein scharfer Dorn befestigt, der mit einer Chemikalie präpariert ist. Genau darunter, auf der anderen Seite des Kastens, befindet sich ein Klumpen Sprengpaste. Wenn man mit der Hand auf den Kasten schlägt, hat man noch vier Sekunden, um möglichst schnell zu verschwinden.
»Entspann dich, Ry«, sagt Carver. »Das Ganze ist nur ein Bausatz.«
Er hebt die andere Hand, in der die Sprengpaste liegt, ein glänzender blauer Klumpen. »Völlig harmlos«, sagt er. »Bis du beides zusammenbringst.«
»Und wozu genau werden wir das deiner Ansicht nach brauchen?«
Er zeigt ein verschlagenes Grinsen. »Benutz deine Fantasie.«
Ich schüttle den Kopf, aber ich weiß, dass er die Sachen nicht zurücknehmen wird. Ich stecke den Kasten in die linke Tasche meines Anzugs und die Paste in die rechte, so weit wie möglich voneinander entfernt. Von dem Zeug klebt noch ein kleiner Rest an meiner Hand, die ich mir am Bein abwische – nicht mehr als eine weitere dünne Schmutzschicht.
Carver deutet mit einem Nicken auf das Rohr. »Ladies first.«
Ich wende mich vom Gestank ab, nehme einen letzten Atemzug kühler Luft. Dann schiebe ich mich in die Finsternis des Kanalisationsrohrs.
4 | Prakesh
Prakesh Kumar nimmt zwei Stufen auf einmal, seine Arme schwingen.
Suki schreit ihn an, dass er sich beeilen soll. Er kann die grellen Lichter an der Decke des Luftlabors durch die offene Tür ganz oben sehen, und er hebt eine Hand, um seine Augen abzuschirmen.
Er nimmt die letzte Stufe und stürmt auf das Dach des Kontrollraumkomplexes, rennt hinter Suki her. Ihr Haar – in diesem Monat grün – flattert hinter ihr. Prakesh trägt immer noch seinen schweren Laborkittel, und nun reißt er ihn sich im Laufen von den Schultern, lässt ihn hinter sich zu Boden fallen. Sie laufen in einer schmalen Schlucht aus klobigen Luftaufbereitungsanlagen, die zu beiden Seiten leise summen.
»Hier entlang«, ruft Suki über die Schulter zurück. Er sieht, wie die Tränenspuren auf ihrem Gesicht im Licht schimmern. Er nickt, versucht seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
Sie kommen aus der Mündung der Maschinenschlucht und erreichen eine freie Fläche auf dem Dach. Prakesh sieht, dass sich hier weitere Techniker auf einer Seite in einer kleinen Gruppe zusammengekauert haben. Prakesh kennt nicht alle, doch dann bemerkt er Julian Novak von der Genomik und den neuen von der Wartung, Iko. Prakesh mag Julian nicht besonders. Der Mann ist träge und macht sich die Arbeit manchmal zu einfach. Er begrüßt Prakesh mit einem verhaltenen Nicken. Sein dunkles Haar hängt ihm ins Gesicht, und er kaut irgendetwas mit mechanischen Mundbewegungen.
Suki kommt unbeholfen zum Stehen, zeigt auf die andere Seite des Dachs, auf eine weitere Reihe von Luftaufbereitungsmaschinen. »Er ist da drüben. Wir haben ihn gefunden, als wir …« Sie verstummt, klappt zusammen und hält sich die Seite.
»Alles in Ordnung«, sagt Prakesh. Aber es fühlt sich nicht in Ordnung an. Ganz und gar nicht. Er spürt, wie sein Herz pumpt, wie der Schweiß sein Hemd tränkt. »Haben wir einen Namen? Wissen wir, wer es ist?«
»Es ist Benson«, sagt Julian, spricht um das herum, worauf er kaut.
Prakesh reißt die Augen auf. James Benson. Ein stiller, fröhlicher und harter Arbeiter. Er ist seit Ewigkeiten im Luftlabor – Prakesh erinnert sich, wie er vor Jahren bei irgendeinem Projekt mit ihm zusammengearbeitet hat.
»Hat er gesagt, warum er das macht? Habt ihr mit ihm gesprochen?«
Julian zuckt mit den Schultern.
Prakesh wird wütend. Wie kann der Mann so ruhig bleiben? Er verspürt den Drang, ihm zu sagen, dass er sich um die Sache kümmern soll, um zu sehen, ob er dann immer noch so selbstgefällig wirkt.
Aber das kann er nicht. Er hat jetzt die Verantwortung für das Luftlabor, und das heißt, dass es seine Sache ist.
»Seit wann ist er schon da oben?«, fragt er Suki.
Sie braucht einen Moment, bis sie antworten kann. »Zwanzig Minuten«, sagt sie. »Glaube ich.«
Prakesh greift nach ihrer Schulter. »Ich will, dass du ein Modell Sechs besorgst und hierherbringst. Und pass auf, dass er dich nicht dabei beobachtet.«
»Das wird nie funktionieren!«
»Tu es einfach, Suki. Und bring es nicht in Stellung, bevor ich es dir sage.«
Er geht weiter, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die Luftaufbereitungsanlage reicht bis an das Gebäude heran. Der Kontrollraumkomplex erhebt sich in einer Ecke des Hangars, sechs Stockwerke hoch, und Prakesh blickt auf das Luftlabor, das sich unter ihm ausbreitet. Er sieht den riesigen von Menschen angelegten Wald, der mit Algentanks durchsetzt ist. Von hier oben scheint es, als wäre jeder Quadratmeter für die Nahrungsmittelproduktion ausgenutzt worden. Prakesh erkennt dunkle Erde, braune Klettergerüste, das Smaragdgrün der Pflanzen, die blinkenden Lichter der hydroponischen Systeme.
Er blickt auf die Dachkante hinab. Zwischen der Lufterneuerung und dem Abgrund ist weniger als ein halber Meter Platz.
Prakesh nimmt einen tiefen Atemzug, hält die Luft an, dann stößt er sie durch die Nase wieder aus. Er stellt einen Fuß auf die Kante, schiebt seinen Körper um die Maschine herum, sucht mit der Hand nach einem Halt.
Benson ist noch ein gutes Stück entfernt. Er ist im mittleren Alter, hat den schlanken Körper und die kräftigen Arme von jemandem, der jahrelang schwere Säcke mit Erde und Kunstdünger geschleppt hat. Sein Gesicht ist aschgrau, die Augen sind geschlossen. Sein Haar wird von einem Luftzug aus der Anlage zerrauft, und genau vor ihm, nur einen Schritt entfernt, geht es zwanzig Meter in die Tiefe.
5 | Riley
Der Gestank im geleerten Rohr ist wie etwas Lebendiges. Er kriecht mir in die Nase und setzt sich dort fest, kribbelnd und brennend. Fast hätte ich gewürgt, schaffe aber, es zu unterdrücken. Der Boden des Rohrs ist uneben, ist von Riffeln und verbogenem Metall überzogen, mit vereinzelten Pfützen aus trübem Wasser.
Ich bin auf allen vieren schon ein Stück durch den Tunnel gekrochen, als ich höre, wie Carver hinter mir hineinspringt. Ich schalte meine Taschenlampe ein, als er landet, erhelle die Wände, die mit Dreck übersät sind.
»Royo hatte jedenfalls recht«, sagt Carver. »Kev würde hier niemals reinpassen.«
Ich blicke zurück, taste mit dem Lichtstrahl seinen Körper ab. Für mich fühlt es sich eng an, aber bei Carver sieht es aus, als wäre er in das Rohr gequetscht worden. Seine Schultern stoßen an die obere Rundung.
Wir machen uns auf den Weg. Als ich mich um eine Ecke zwänge, meinen Körper gegen die Wand drücke, um das Gleichgewicht zu wahren, rutscht meine Hand aus. Mein Unterarm landet in der Jauche, die sofort meinen Overall tränkt. Ich brauche jede Faser meiner Willenskraft, um nicht verzweifelt gegen die Wände zu hämmern.
»Alles in Ordnung?«, fragt Carver.
»Es könnte nicht besser sein«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Noch einmal nach rechts abbiegen, dann werden wir in der eigentlichen Anlage sein. An der nächsten T-Kreuzung müsste es ein Gitter geben, das wir anheben können.
Wir brauchen nicht lange, um diese Stelle zu erreichen. Das Patusch-Patusch der Maschinen dringt in das Rohr ein, ist eher zu spüren als zu hören. Auch der Gestank ist stärker geworden – was ich gar nicht für möglich gehalten hätte. Das Innere meiner Nase fühlt sich verätzt an.
Es knackt in meinem Ohr. Royo. »Tracertruppe, bitte melden.«
Ich blicke auf mein Handgelenk, auf das dicke, flexible Gummiband mit der kleinen digitalen Anzeige. Es ist die Ergänzung zu meinem Ohrhörer. Jede Stompereinheit hat ihren eigenen Kanal innerhalb des Systems, und unserer hat die Nummer 535.
Ich berühre das Band, tippe auf die Sendetaste. »Verstanden. Laut und deutlich, Captain.«
»Meldung.«
Ich spreche mit leiser Stimme. »Wir kommen der Sache näher. In zwei Minuten müssten wir innerhalb der Anlage sein.«
»Gut. Wir halten unser Team bereit …«
Dann rauscht es plötzlich in der Verbindung. Es lässt nach und ist nach etwa einer Sekunde vorbei. Es ist laut genug, um mich zusammenzucken zu lassen.
»… dieses Rauschen, Carver. Wann wirst du es endlich in Ordnung bringen?«, fragt Royo. Er klingt sogar noch verärgerter als sonst.
»Immer mit der Ruhe«, sagt Carver hinter mir. »Ich bin noch dabei herauszufinden, woher es überhaupt kommt. Die Frequenzen des KOSSP sollten eigentlich völlig abgeschirmt sein, damit wir keine anderen Funksignale …«
»Carver.«
»Ja, schon gut«, murmelt er. »Ich hoffe, du und Kev habt da oben ganz viel Spaß.«
Ich krieche um eine Ecke, und plötzlich ist ein Gitter über mir, das Lichtstreifen auf den Boden des Rohrs wirft.
»Wir sind da«, flüstere ich. »Es kann losgehen.«
»Verstanden«, sagt Royo.
Jemand läuft über das Gitter.
Das Licht wird verdunkelt. Ich sehe Stiefelsohlen, und das Geräusch der Schritte hallt durch das enge Rohr. Ich warte, bis sich der Besitzer der Stiefel entfernt hat, dann krieche ich weiter.
Ein Stück voraus kann ich den Ausgang sehen – ein weiteres Gitter, durch das Lichtstrahlen einsickern. Ich blicke mich um, als ich näher komme. Carver erwidert meinen Blick und nickt. Sehr langsam lege ich eine Hand an das Gitter und drücke.
Das Metall knarrt, als es nachgibt, und ich erstarre.
Keine Rufe, keine rennenden Füße. Ich stemme das Gitter ganz nach oben und ziehe mich durch die Öffnung.
Ich bin hinter einem Abwassertank herausgekommen. Es ist ein großer Metallzylinder, einer von Dutzenden, die an den Wänden des Raums aufgereiht sind und unter den Deckenlampen glänzen. Die Tanks sind ungefähr U-förmig um eine freie Fläche in der Anlage angeordnet. Hier ist der Gestank etwas erträglicher, wird vom beißenden Geruch nach Desinfektionsmitteln gedämpft.
Ich gehe zur Seite, bewege mich auf den Fußballen voran, und Carver kommt hinter mir durch die Öffnung. Er richtet sich auf, drückt sich an die Wand, zieht sich in den Schatten zurück.
Ich lege eine Hand auf die kalte Oberfläche des Tanks. Ich spüre, wie er summt und vibriert, während er das Abwasser umrührt, die guten von den schlechten Sachen trennt. Das Wasser wird mit Bakterien angereichert, die die Abfälle fressen, und der dabei entstehende Sauerstoff wird wieder ins System eingespeist. Wenn das Wasser sauber ist, fließt es zurück zu den Wasserspendern überall in den unteren Sektoren.
Ich luge um den Rand des Tanks. Die Geiseln kann ich nicht sehen. Aber ich sehe einen Mann mit einem Stinger, der genau auf unser Versteck zukommt.
6 | Prakesh
Eine ängstliche Sekunde lang weiß Prakesh nicht, was er sagen soll. Wenn er Benson aufschreckt, könnte der Mann von der Kante rutschen.
Dann macht Benson seine Sorgen zunichte. Die Augen in seinem grauen Gesicht öffnen sich, und er blickt zu ihm hinüber.
»Was wollen Sie?«, fragt er. Seine Stimme ist ruhig, als würde er Prakesh bitten, sich um eine Routineangelegenheit im Labor zu kümmern. Doch Prakesh kann den Blick nicht von Bensons Füßen abwenden, die bereits über der Kante hängen.
»Hallo, James«, sagt er, versucht es mit Lässigkeit und scheitert damit. »Ich hatte … äh … ich hatte gehofft, mit Ihnen reden zu können.«
»Ach ja? Worüber?«
Worüber? Prakesh hätte fast gelacht. Er spürt, wie seine Handfläche auf dem Metall der Luftaufbereitungsanlage schwitzt. Es gibt kein Handbuch für solche Situationen, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung, an der man sich orientieren könnte.
»Wir könnten darüber sprechen, warum Sie hier oben sind«, sagt Prakesh. »Wie wär’s damit?«
»Wissen Sie, wie lange ich schon im Luftlabor arbeite?«, fragt Benson und blickt in den riesigen Hangar hinaus.
Prakeshs Gedanken schwirren, als er versucht, sich zu erinnern. »Ich bin mir …«
»Seit zwanzig Jahren. Ich war schon hier, als der alte Xi Peng noch das Sagen hatte, lange bevor Sie kamen.« Er sagt es ohne Böswilligkeit, als wäre es einfach nur eine Tatsache, mit der er sich abgefunden hat. Prakesh vermutet, dass es so ist.
»Seit zwanzig Jahren«, wiederholt Benson. »Und neunzehneinhalb Jahre davon habe ich meinen Job verflucht.«
»Das können wir ändern«, sagt Prakesh. Er hört Lärm von unten. Er muss Bensons Aufmerksamkeit auf sich lenken. Wenn er springt, bevor das Modell Sechs bereit ist …
»Wirklich?« Benson lacht tatsächlich. »Wie? Glauben Sie, eine andere Aufgabe oder bessere Zeiten bei der Schichtplanung würden mich glücklicher machen?«
Prakesh setzt zum Sprechen an, aber Benson kommt ihm zuvor. »Ich habe niemanden. Ich habe nie irgendjemanden gehabt. Ich habe auch nie gedacht, dass ich jemanden brauchen würde. Aber es nutzt sich ab, wissen Sie?«
Er zeigt mit einem Finger auf die gegenüberliegende Hangarwand.
»Sie«, sagt er. »Für sie sind wir selbstverständlich. Wir geben ihnen Nahrung, ihnen allen, und sie behandeln uns wie den letzten Dreck.«
»James«, sagt Prakesh. »Sie müssen mir zuhören. Wir brauchen Sie. Ich brauche Sie.«
Benson geht nicht darauf ein. »Sogar Sie. Vor allem Sie. Nach Ihrem genetischen Durchbruch hätte man Ihnen die Leitung der gesamten verdammten Station übertragen sollen. Wie halten Sie das aus?«
»Man hat mich zum Leiter des Luftlabors gemacht«, sagt Prakesh. »Das genügt mir.« Es ist ihm irgendwie peinlich, als wollte er nicht über seine Erfolge reden. Er verspürt den verzweifelten Drang, sich über die Schulter umzublicken, während er wider Erwarten hofft, dass ein Stomper oder ein Ratsmitglied oder irgendjemand auf dem Dach erscheint, um in die Bresche zu springen.
»Ich habe Sie immer respektiert«, sagt Benson. »Sie scheinen ein anständiger Kerl zu sein. Aber ich will das alles nicht mehr. Sie können mich nicht dazu zwingen.«
Und bevor Prakesh irgendetwas tun kann, schließt Benson die Augen und tritt über die Dachkante.
7 | Riley
Der Mann ist in meinem Alter, sein Gesicht ist mit Aknenarben übersät, und er trägt ein altes Flanellhemd unter einer Kakijacke. Er kommt um den Tank herum, gegen den Carver und ich uns drücken, tief im Schatten.
Der Mann bleibt stehen, blickt sich über die Schulter um. Der Stinger in seiner Hand ist selbst gebaut, aus Ersatzteilen zusammengebastelt, aber durchaus in der Lage, einem den Tag zu versauen.
Ich spüre, wie sich Carver neben mir anspannt. Ich kalkuliere bereits den Angriffswinkel, die schnellste und leiseste Möglichkeit, ihn zu überwältigen. Wenn er auch nur einen Ton von sich geben kann …
»Wir brauchen hier keine Helden«, sagt jemand auf der anderen Seite des Raums, außerhalb meines Sichtfelds. Der Mann im Flanellhemd dreht sich um, läuft zurück. Ich atme langsam und tief aus.
Die Stimme ist schwach, aber ich kann die Worte gerade noch verstehen. »Alle bleiben schön am Boden, dann können wir alle unversehrt nach Hause gehen.«
Ich luge erneut um den Tank herum, blicke mich im Raum um. Ich erkenne einige der Geiselnehmer, die mir den Rücken zugewandt haben, und ein paar Leute, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen, aber ich kann mir keinen Überblick über die gesamte Anlage verschaffen. Carver schiebt sich an mir vorbei, legt mir eine Hand auf den Rücken, bewegt sich lautlos weiter zum nächsten Tank.
Ich höre eine andere Stimme – eine der Geiseln, vermute ich. Dann ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem schmerzhaften Ächzen.
»Ivan!«, zischt die erste Stimme.
»Tut mir leid, Mikhail.«
Carver hebt eine geschlossene Faust: Warte! Dann schaut er sich um, mustert die Umgebung und zieht sich wieder in den Schatten zurück.
Ich suche seinen Blick, zeige in die Richtung der Geiselnehmer und halte sechs Finger hoch, drei an jeder Hand.
Er schüttelt den Kopf, zweimal kurz, und hält eine ganze Hand und zwei Finger hoch. Sieben.
Ich wage einen weiteren Blick. Dann sehe ich ihn. Er war außerhalb meines Sichtfelds, weil er etwas abseits an der gegenüberliegenden Wand steht. Von hier aus kann ich seine Gesichtszüge nicht erkennen, aber er hat einen dichten Bart, der bis zum Bauch hinabreicht.
Carver tippt sich ans Ohr, sieht mich fragend an. Ich nicke, dann drücke ich die Sendetaste auf meinem Armband.
»Captain Royo«, sage ich mit leiser Stimme. »Hier ist Riley, bitte melden.«
»Royo hier. Was siehst du, Hale?«
Carver ist auf der Rückseite des Tanks weiter vorgerückt und wirft einen Blick um die andere Seite. Er schaut sich zu mir um, zeigt noch einmal sieben Finger und dann den hochgereckten Daumen.
»Wir haben es mit sieben zu tun. Sie haben Stinger, selbst gebaute Modelle. Ich sehe keine anderen Waffen.«
»Und die Geiseln?«
»Vorläufig geht es ihnen offenbar gut.«
Mikhail spricht wieder. »Wir wollen niemanden verletzen«, sagt er. »Solange es sich irgendwie vermeiden lässt.« Er befindet sich am Rand meines Sichtfelds. Sein Akzent ist zäh wie Sirup. Seine Haltung entspricht einem Mann in den Dreißigern oder Vierzigern, aber er hat ein viel älteres Gesicht, das von Runzeln und Narben durchzogen ist. Auf dem Schädel wächst ein Kranz aus grauen, langen, fettigen Haaren.
»Also sieben Gegner«, sagt Royo. »Kannst du …?«
Während er spricht, rauscht es plötzlich im Ohrhörer, so laut, dass ich mir das Gerät fast aus dem Gehörgang gerissen hätte.
Mein Herz hämmert. Ich schiebe mich um den Tank herum und bete, dass das Geräusch nicht weiter als bis zu meinem klingelnden Trommelfell reicht. Ich schalte das KOSSP auf einen toten Kanal.
»Hast du das gehört?«, fragt jemand. Wer auch immer es ist, er kommt auf mein Versteck zu, mit lauter werdenden Schritten. Nicht gut. Ich drücke mich wieder gegen den Tank, zwinge mich, so still wie möglich zu sein. Carver ist in die Knie gegangen, so tief im Schatten, dass ich ihn kaum noch erkennen kann.
»Was ist los, Anton?«, fragt der Anführer von der anderen Seite des Raums.
»Hab was gehört«, sagt Anton. »Ich schaue nur nach.«
»Okay. Aber sei vorsichtig.«
Der Mann wird in wenigen Sekunden bei mir sein, und diesmal kann ich mich nicht darauf verlassen, dass er umkehren wird. Wenn ich losrenne, wird er mich hören. Wenn wir ihn ausschalten und die anderen ihn in den nächsten paar Minuten nicht wiedersehen, werden sie nach ihm suchen. Ich höre seine Schritte, die näher kommen, sehe seinen Schatten, der an der Wand größer wird.
Und dann ist auf einmal die Idee da.
Ich sehe, wie sich Carver bereitmacht, kaum mehr als eine schemenhafte Bewegung im Schatten. Ich gebe ihm ein Handzeichen, dann schüttle ich den Kopf.
Zwischen der Wand und dem Tank ist etwas mehr als ein Meter Platz. Ich drücke meinen Rücken gegen den Tank, hebe zuerst das eine Bein, dann das andere. Als ich mich in Stellung gebracht habe und einen Meter über dem Boden hänge, schiebe ich meinen Oberkörper etwas weiter am Tank hinauf. Dann ziehe ich die Beine abwechselnd nach und laufe die Wand hinauf, wobei ich mit den Füßen immer ein Stück unter der Hüfte bleibe.
Als Tracer lernt man eine Menge über Reibung. Reibung verschafft einem Halt. Mit Reibung kann man der Gravitation an Stellen trotzen, wo das eigentlich gar nicht möglich sein dürfte. Reibung – der perfekt ausgewogene Druck zwischen zwei Flächen – ermöglicht einem, sich mit der Hand an der Wand oder mit den Fingern an einer Kante festzuhalten, die halbe Sekunde länger, die man braucht, um sich hinüberzuziehen. Reibung erhält uns am Leben.
Ich gebe mir Mühe, mich vorsichtig zu bewegen. Wenn ich renne, durch die Station sprinte, mache ich mir keine großen Gedanken darum, wie viel Lärm ich verursache – im Gegenteil, je lauter ich bin, desto mehr Zeit haben die Leute, mich zu bemerken und mir aus dem Weg zu gehen. Aber wenn ich jetzt ein Geräusch mache, bin ich tot.
»Wenn da hinten jemand ist, kommen Sie jetzt raus«, sagt Anton. Seine Worte haben im engen Raum einen metallischen Klang. »Wir werden Ihnen nichts tun.«
Ich bin schon drei Meter hoch, aber das ist noch nicht genug, weil er mich sehen würde. Ich zwinge mich dazu, weiter aufwärts zu rutschen. Einen Fuß nach dem anderen. Ich spüre bereits ein Brennen in den Muskeln meiner Schenkel.
Anton kommt in Sicht. Er ist groß und muskulös, trägt einen zerlumpten blauen Overall. Er ist genau unter mir. Ich spüre, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterläuft. Wenn er aufblickt, kann er mich nicht übersehen. Er muss nicht einmal genau zielen. Ich habe das dringende Bedürfnis, zu Carver zu schauen, um mich zu überzeugen, dass er noch da ist, aber ich wage es nicht, den Kopf zu drehen.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, rutscht mein Schuh mit einem leisen Quietschen an der Metallwand ab.
Das muss er gehört haben. Auf jeden Fall. Jeden Augenblick wird er nach oben blicken und mir eine Kugel in den Körper jagen.
Aber er tut es nicht. Er schaut sich überall um, nur nicht über seinem Kopf.
Das Brennen in meinen Schenkeln ist zu einem lodernden Feuer geworden, zusätzlich zu den Schmerzen in meinen Knien und Fußknöcheln. Ich kann nicht bleiben, wo ich bin – wenn ich mich nicht nach oben oder unten bewege, werde ich genau auf ihn stürzen.
Ich zwinge meine Beine, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Er dreht sich um und geht in die andere Richtung weiter, um hinter den anderen Tanks nachzusehen. Wenn Carver sich nicht rührt, wird der Mann über ihn stolpern.
Vorsichtig blicke ich nach links. Carver ist nicht da. Er hat sich entfernt, an der Reihe der Tanks entlang. Ich kann ihn gerade noch ganz hinten erkennen. »Alles in Ordnung bei mir«, sagt er.
Meine Lunge fühlt sich an, als wollte sie sich aus meinem Oberkörper reißen, aber ich atme so leise wie möglich aus. Ich will mich wieder hinuntergleiten lassen, doch dann halte ich inne.
Hinaufklettern ist leise. Hinunterklettern ist immer laut. Ganz gleich, wie vorsichtig man es macht, man erzeugt deutlich mehr Lärm. Das könnte den Mann erneut herbeilocken, mit noch größerer Entschlossenheit.
Aber wenn ich nach oben gehe, kann ich es leise machen und mir sogar einen noch besseren Überblick über die Anlage verschaffen.
Sehr langsam schiebe ich mich weiter am Tank hinauf, laufe die Wand hoch, bewege mich bei jedem Schritt, als würde ich auf Glasscherben gehen.
»Was tust du da?«, fragt Carver. Ich antworte nicht.
Es scheint Stunden zu dauern, bis ich die obere Kante des Tanks erreiche. Es ist nicht einfach, mich hinaufzuziehen. Ich muss mich ausstrecken, und eine Minute lang drückt sich der Rand schmerzhaft in meinen Rücken. Doch dann gleite ich hinüber, mit dem Gesicht nach oben, löse meine Füße von der Wand.
Hier ist die Luft feucht und vom Gestank menschlicher Abfälle geschwängert. Die Stimmen unter mir klingen gedämpft. Nicht zu wissen, was hier vor sich geht, muss Royo in den Wahnsinn treiben. Er geht bestimmt auf und ab, ist wütend auf uns, weil wir so lange schweigen.
Überall Scheiße, wohin ich auch schaue, denke ich und muss mich zwingen, nicht zu lachen.
»Carver«, flüstere ich.
Carver antwortet sofort, verzweifelt vor Sorge, missachtet das KOSSP-Protokoll. »Riley, rede mit mir.«
»Ich bin oben auf einem Abwassertank. Sie haben mich nicht gesehen.«
»Du musst bleiben, wo du bist. Jetzt suchen zwei von ihnen nach uns. Sie haben gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt.«
Royo scheint alles mitgehört zu haben. »Tracer, Meldung. Wir sind bereit reinzugehen. Gebt mir die Positionen der Gegner, sofort.«
»Bleib dran«, flüstere ich und schiebe mich weiter über den Tank vor. Die Oberfläche ist konvex, und als ich mich dem Rand nähere, muss ich aufpassen, nicht abzurutschen, aber schließlich bekomme ich einen guten Überblick.
Die Abwassertanks ziehen sich an den Wänden entlang, umgeben von einem Gewirr aus Rohren und Ventilen. Die Geiselnehmer hocken verteilt auf dem Boden, unterhalten sich leise. Zwei inspizieren die Tanks rechts von mir, suchen nach Carver. Zwei weitere stehen neben den Geiseln, die in einer kleinen Gruppe auf dem Boden liegen. Mikhail ist drüben am Haupteingang.
»Habt ihr da hinten irgendwas gefunden?«, brüllt einer von ihnen.
Die Antwort kommt von genau unter mir. »Nichts, Mann. Das gefällt mir nicht.«
Der Fragesteller nickt, wendet sich den anderen zu. »Verteilt euch. Hier ist irgendjemand.«
Ich blicke nach unten. Und dann sehe ich eine Frau, eine der Geiselnehmer, die zu mir hinaufstarrt.
8 | Prakesh
»Jetzt, Suki!«, ruft Prakesh. »Tu es jetzt!«
Alles passiert gleichzeitig. Benson schreit – es ist der Schrei eines Mannes, dem bewusst geworden ist, was er getan hat, und sich verzweifelt wünscht, er könnte es zurücknehmen. Er streckt die Arme aus, als wollte er jemanden umarmen. Gleichzeitig hört Prakesh Metall über Metall schrammen, als Suki oder wer auch immer das Modell Sechs in Position bringt.
Benson verschwindet. Eine halbe Sekunde später ist ein eigenartiges Geräusch zu hören, als hätte ein Riese einen Schlag in den Bauch bekommen. Darauf folgt ein so scharfes Knacken, dass es von den Wänden des Luftlabors zurückhallt. Benson schreit erneut, und diesmal ist es ein Schmerzensschrei.
Prakesh schließt für einen Moment die Augen, dann blickt er über die Kante.
Das Modell Sechs ist zerstört, die Oberfläche eingedrückt. Es ist ein durchsichtiges, aufblasbares Treibhaus, zwei mal zwei Meter, eine leichtgewichtige Alternative zu den Modellen aus Stahl und Kunststoff, die sie vorher benutzt haben. Suki hat getan, was ihr gesagt wurde, hat es außer Sichtweite aufgepumpt und dann herbeigeschafft, als sie Prakeshs Ruf hörte.
Benson ist mit großer Wucht aufgeprallt und hat das Dach aufgerissen. Wäre es nicht ganz so straff aufgepumpt gewesen, hätte er es glatt durchschlagen. Aber es war genug, um ihn seitlich abzulenken und seinen Sturz zu bremsen. Er hat sich das Bein gebrochen – Prakesh kann erkennen, dass der Knochen den Stoff seiner Hose durchbohrt hat. Benson windet sich vor Schmerzen, umringt von Technikern, die nach Tragbahren und Medkits rufen. Niemand sieht ihn an, außer Suki, die den Eindruck macht, als müsste sie sich übergeben.
Langsam, sehr langsam zieht sich Prakesh aufs Dach zurück. Er legt die Hände auf die Knie und beugt sich hinunter. Ihm ist ungewöhnlich schwindlig. Depression, denkt er, ohne dass er genau weiß, worauf sich dieser Gedanke bezieht, bis er sich erinnert, was Benson gesagt hat. Das darf nie wieder passieren. Ich muss den Technikern mehr Beachtung schenken. Ich werde Benson helfen, was auch immer er braucht …
Als er Applaus hört, hebt er den Kopf. Die Techniker auf dem Dach jubeln, kommen auf ihn zugerannt. Nur Julian Novak bleibt zurück, immer noch kauend, mit völlig neutralem Gesichtsausdruck. Dann ist Prakesh von strahlenden Gesichtern und aufgeregten Stimmen umgeben, und seine Gedanken wenden sich von Julian ab.
9 | Riley
Bevor ich mich wieder auf den Tank zurückziehen kann, hebt die Frau ihren Stinger. »Da oben! Auf dem Tank!«, ruft sie.
»Wo?«
»Der dritte von rechts! Bei den Rohren.«
»Nur einer?«
»Passt auf die Geiseln auf!«
»Jemand soll feuern!«
Ich höre das Knallen der Stinger, wie die Kugeln vom Metall abprallen. Ich liege auf dem Rücken, suche hektisch nach einem Fluchtweg. Ich muss mich bewegen – ein einziger Querschläger vom Dach oder einem Rohr könnte mein Ende sein.
Carver ist wieder in meinem Ohr. »Riley! Ich komme!«
»Nein!«, rufe ich, um die Schießerei zu übertönen. »Das ist meine Sache.«
Ich bereue die Worte, sobald ich sie ausgesprochen habe. Eine Stingerkugel schlägt gegen den Tank genau vor mir, lässt Funken sprühen. Die Kugeln sind nicht dazu gedacht, Metall zu durchdringen, aber sie können ziemlich großen Schaden an allem anrichten, das weicher ist. Eine weitere Kugel saust vorbei, ich spüre die Hitze an meinem Fußknöchel, den sie nur knapp verfehlt.
Royo brüllt mir ins Ohr. »Hale, wir hören Schüsse! Ich brauche ein Update!«
Ich versuche mich so flach wie möglich auf den Tank zu drücken. Vielleicht kann ich an der Rückseite hinuntergleiten und wegrennen. Ich könnte meinen Stinger ziehen und das Feuer erwidern. Aber ich bin eine schlechte Schützin, war es schon immer, und wenn ich in einer Schießerei zu zielen versuche, werde ich dabei einfach sterben. Ich krame in meinen Hosentaschen, suche nach irgendetwas, das mir helfen könnte. Ein halber Proteinriegel. Eine winzige Batterie. Ich kann mich nur auf meinen Tastsinn verlassen und will mir bereits die Niederlage eingestehen, als meine Finger etwas anderes berühren.
Der Kasten. Carvers Klebebombe. Ich hatte sie ganz vergessen.
»Das Klebeding«, sage ich, in der Hoffnung, dass er mich im Lärm über das KOSSP hört. »Wie groß ist der Knall?«
»Nicht groß genug, um sieben bewaffnete Personen auszuschalten!«
»Mach mir noch mehr Mut!«
»Wenn du das Ding hochgehen lässt, bekommst du eine mächtige, konzentrierte Explosion von ein oder zwei Metern Durchmesser. Vielleicht auch weniger. Aber ich verstehe nicht, wie …«
Ich habe mich bereits herumgedreht und bewege mich auf allen vieren zur Kante. Mitten durch den Tank verläuft ein vertikaler Grat, eine Schweißnaht, die die beiden Hälften zusammenhält. Bevor ich richtig darüber nachdenken kann, krieche ich auf dem Bauch herum, ducke mich, als eine weitere Stingerkugel das Metall über meinem Kopf trifft.
»Hale!«, ruft Royo. »Geht in Deckung. Wir brechen jetzt durch.«
Ich hantiere mit dem Kasten, ziehe den Deckel auf und drücke die Paste hinein. Ich klappe den Deckel wieder zu und klatsche das ganze Ding auf die Naht.
Ich rolle mich zur Seite des Tanks und lasse mich fallen. Eine Sekunde später explodiert die Klebebombe.
10 | Riley
Die Bombe sprengt nicht nur ein Loch in den Tank. Sie reißt ihn völlig auf, lässt die Schweißnaht aufplatzen.
Der Knall trifft meine Ohren genau in dem Moment, als die Druckwelle meinen fallenden Körper erschüttert, gefolgt vom beißenden Gestank nach Scheiße und Pisse. Ich höre die erschrockenen Schreie der Geiselnehmer, als eine Flutwelle aus Abwasser auf sie zurollt. In meinem Kopf blitzt ein Bild auf, wie die Geiseln am Boden vom Dreck überschwemmt werden.
Ich drehe mich im Fallen, ziehe die Arme an, treffe auf den Boden, rolle mich ab, richte mich im Strom auf allen vieren auf. Es ist nicht genug Abwasser, um die Anlage völlig zu überfluten, aber es breitet sich in einer großen, zähflüssigen, schäumenden Welle aus. Das Ganze ist dunkelbraun, fast schwarz, mit unförmigen Klumpen, die in der Gülle schwimmen. In der Ferne ertönt eine Alarmsirene.
Ich bin auf den Beinen, renne los, als es einen weiteren gewaltigen Knall gibt. Die Tür zur Anlage explodiert nach innen, und Stomper stürmen in den Raum. Kev ist unter ihnen, sprintet zur Seite, versucht die Geiselnehmer von der Flanke anzugreifen. Seine Füße erzeugen große Wellen in der Brühe, während er rennt. Er rammt einen der Bewaffneten mit der Schulter, wirft ihn um, dann streckt er einen anderen mit einem Faustschlag nieder. Der Boden ist ein Durcheinander aus braunem Matsch und schreienden, kriechenden, rutschenden Körpern. Carver brüllt mir etwas ins Ohr.
Mikhail. Ich brauche eine Minute, um ihn im Chaos wiederzufinden. Er hat seine Waffe erhoben, zielt damit auf den nächsten Stomper.
Um ihn geht es. Ich kann nicht jeden einzelnen Geiselnehmer ausschalten, nicht auf einem so schlüpfrigen Boden, nicht inmitten dieser chaotischen Schießerei, aber wenn ich ihren Anführer erwischen kann …
Ich renne bereits, das Meer aus Jauche steigt an meinen Schienbeinen hoch, tränkt meine Hose. Mikhail feuert. Der Stomper stößt einen erstickten Schrei aus, wird auf den Rücken geworfen, als die Kugel ihn mitten in die Brust trifft.
Mein Fuß tritt auf etwas Glitschiges, und mit üblem Entsetzen spüre ich, wie ich vornüber stürze. Instinktiv rolle ich mich zusammen. Der feuchte Dreck dringt durch meinen Anzug und das Hemd darunter, berührt schließlich meine bloße Haut, schockierend kalt.
Doch dann habe ich mich abgerollt und komme wieder auf die Beine, renne weiter. Im ersten Moment sehe ich Mikhail nicht mehr – nur Stomper und Geiseln, die über den Boden rutschen. Dann finde ich ihn wieder. Er ist fast an der Tür, stößt Stomper zur Seite, als sie versuchen, ihn zu packen.
»Bewegt euch!«, schreie ich, während ich einer Geisel ausweiche. Ihre riesigen, angsterfüllten Augen sind das Einzige in ihrem Gesicht, das nicht völlig verdreckt ist.
Mikhail ist jetzt durch die Tür. Zwei Stomper verfolgen ihn, aber sie sind nicht schnell genug, und sie dürfen es nicht riskieren, auf ihn zu schießen. Eine Kugel, die danebengeht, könnte sich in die Galerie verirren.
Ich stürme durch die Tür, die jetzt nicht mehr als ein Gebilde aus zerfetztem Metall ist. Als ich die Dreckbrühe hinter mir lasse und meine Füße festen Boden berühren, beuge ich mich vor und verlagere meinen Körperschwerpunkt, lasse die Arme schwingen und beschleunige auf Höchstgeschwindigkeit.
Glaubst du, dass du schnell bist, Mikhail? Mal sehen, ob du mir davonlaufen kannst.
Die Schatten der Laufstege schneiden den Boden in Stücke. Im Bereich außerhalb der Recyclinganlage tummelt sich die Menge – die Menschen, die sich in jeder Galerie und jedem Korridor von Außenerde drängen, ein zähflüssiger menschlicher Morast. Mikhail stößt immer noch Leute aus dem Weg, pflügt durch die Menge. Ich mache das Gleiche, versuche ihn im Auge zu behalten, rufe seinen Namen, während ich mich durch die Menschenmenge kämpfe.
Niemand versucht ihn aufzuhalten. Alle begaffen die Szenen in der Anlage. Er ist jetzt am Rand der Galerie, entfernt sich weiter, rennt in einen der Korridore, die von hier wegführen. Ich sehe, wie er sich dabei über die Schulter umblickt. Ich arbeite mich immer noch durch die Menge voran. Wenn ich mich nicht innerhalb der nächsten fünf Sekunden befreien kann, werde ich ihn verlieren.
»Nein!«, schreie ich, als er aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich bin wütend auf die Leute in der Menge. Sie stehen reglos wie Statuen da, bewegen sich erst, wenn ich gegen sie drücke und sie an der Schulter zur Seite ziehe.
Auf dem allgemeinen Kanal des KOSSP schreien sich die Stomper gegenseitig Befehle zu. »Carver?«, rufe ich in der Hoffnung, dass er mich im Chaos hört.
Der Lärm wird leiser, wird durch seine Stimme ersetzt, die ruhiger klingt, als sie sein sollte. »Ich verstehe dich, Ry.«
Meine Worte dringen abgerissen aus meinem Mund, während ich renne. »Ich verfolge Mikhail. Wir sind auf der untersten Ebene und laufen auf die Brennöfen zu. Du musst ihm den Weg abschneiden.«
»Unmöglich. Ich bin weit hinter dir.«
»Kev?« Ich spüre ein Stechen, das sich in meiner linken Seite ausbreitet, mich mit jedem Schritt piekst, während ich renne.
»Er ist hier. Er schlägt jemanden mit dessen eigenem Stinger zusammen.«
Ich antworte nicht, teils, damit mir nicht der Atem ausgeht, teils, weil ich weiß, was er als Nächstes sagen wird, obwohl ich nicht will, dass er es sagt.
»Du wirst Anna rufen müssen.«
Der Korridor macht eine scharfe Biegung. Ich bin viel zu schnell und springe gegen die Wand, um meinen Schwung abzufangen und in derselben Bewegung die Richtung zu ändern. Ich sehe Mikhail wieder, wie er sich an einer Gruppe von Leuten vorbeidrängt, die vor der Tür zu den Brennöfen stehen. Er rennt daran vorbei, auf die Treppe am hinteren Ende zu.
»Sie ist heute auf einem anderen Kanal. Äh … drei vier neun«, sagt Carver.
Ich muss einen Blick auf mein Armband werfen, während ich mich durch die Kanäle schalte. Ich schieße über die 349 hinaus und muss ein Stück zurückgehen.
»Anna, hier ist Riley, bitte melde dich.«
Zunächst ist gar nichts zu hören, nur das Stampfen meiner Füße. »Anna«, wiederhole ich. »Riley hier. Hörst du mich?«
»Was willst du?«, fragt Anna. Ihr spröder Akzent kommt sauber über die Verbindung. Sie klingt, als wäre sie gerade nach einem kleinen Nickerchen aufgewacht.
»Wo bist du?«, will ich wissen.
Sie hält kurz inne, bevor sie antwortet. »Auf Ebene sechs in Neu-Deutschland.«
Mikhail hat die Treppe erreicht, nimmt jeweils drei Stufen auf einmal. Ich komme näher, bin aber noch lange nicht nahe genug. »Ich habe hier jemanden, der in deine Richtung rennt«, sage ich. »Er nimmt jetzt die Treppe an der Grenze zu Apogäum. Du musst ihn für mich ausschalten.«
Schlagartig rauscht es wieder in meinem Ohr, und fast hätte ich den KOSSP-Empfänger herausgerissen und gegen die Wand geschleudert.
Der Lärm bricht ab, und Anna kichert. »Was ist los? Ist er zu schnell für dich?«
»Tu es einfach«, sage ich, als ich an der Tür zu den Brennöfen vorbeisprinte. Ein Schwall trockener Hitze schlägt mir entgegen, und dann bin ich an der Treppe.
»Wenn du mir Befehle geben willst, darfst du ihn weiterhin allein jagen.«
Ich höre Mikhail über mir. Seine schweren Schritte lassen das Treppenhaus erzittern.
»Nicht jetzt, Anna, wirklich nicht«, sage ich, und die Worte brennen sich in meine Seite. »Er kommt von unten zu dir. Mittelalt, langes Haar, dunkler Overall, Rucksack.«
Anna gähnt. Ich höre es wie ein kleines, anschwellendes Ausrufezeichen über die Verbindung, und ich möchte hineingreifen, um ihr eine zu scheuern.
»Ich werde sehen, was ich machen kann«, sagt Anna.
Der untere Teil der Treppe ist mit Müll und verbogenen Metallstücken übersät. Ich nehme die Stufen, so schnell ich kann, weiche Gaffern mit großen Augen aus, verfolge den Lärm der donnernden Schritte von Mikhail über mir. Er hat viel zu viel Vorsprung. Anna könnte rechtzeitig hier sein, vielleicht aber auch nicht. Ich muss den Abstand verringern.
Ich kämpfe mich hinauf, so schnell ich kann, während meine Schenkel schreien. Das Treppenhaus ist dunkel und eng, die Hälfte der Leuchtkörper ist kaputt. Knapp unter Ebene 3 arbeitet eine Frau mit einem Plasmaschneider. Ich rieche es, bevor ich es höre, den ätzenden Geruch nach Ozon, und ich muss mir die Hand vor die Augen halten, als ich vorbeistürme. Ich blicke bereits zur nächsten Treppenflucht hinauf, als ich es erkenne.
Der Absatz über mir schließt nicht bündig mit der Wand ab. Es gibt eine Lücke. Anderthalb Meter breit, eine offene Stelle hinter dem Geländer am Rand des Treppenabsatzes. Mir war gar nicht bewusst, dass wir auf dieser speziellen Treppe sind – die Lücke reicht von Ebene 1 bis Ebene 6 hinauf, nachdem die Bautrupps sich hier Material geholt haben, während die Station errichtet wurde.
Ein hüfthohes Geländer, mit Rost gesprenkelt, trennt den Absatz von der Lücke. Bevor ich genauer darüber nachdenken kann, springe ich. Mein rechter Fuß landet genau auf dem Geländer, und ich benutze ihn, um mich zur Wand zu katapultieren. Ich fliege durch die Luft.
Wenn ich es nicht hinbekomme, wenn ich meinen Körper nicht genau im richtigen Moment um einhundertachtzig Grad drehen kann, werde ich abstürzen, schreiend bis zum Boden hinunterfallen.
Mein linker Fuß trifft auf die Wand, jagt eine Schockwelle bis in mein Knie hinauf.
Die Zeit verlangsamt sich, bleibt stehen.
Ich kann jedes Detail erkennen. Die raue Struktur des Metalls. Meine Hose, die sich straff über mein Bein spannt, als mein Knie durchgebeugt ist. Das Gefühl in meiner Hüfte, als ich anfange, mich zu drehen.
Das Wort, das mir durch den Kopf geht, ist Reibung. Mein Fuß muss in festem Kontakt mit der Wand bleiben. Wenn nicht, bin ich erledigt.
Als die Zeit dann wieder schneller läuft, kommt der Schrei von meinen Lippen, drängt sich hinaus, während ich mich von der Wand abstoße und mich herumwerfe, genau die richtige Menge an zusätzlicher Energie in meine Bewegungen hineingebe. Ich reiße die Hände hoch, so hoch wie möglich.
Meine Handflächen schlagen gegen die Kante des Treppenabsatzes über mir. Es folgt ein Sekundenbruchteil, in dem ich umhertaste, doch dann übernimmt mein Körper. Ich schwinge nach vorn, und als ich zurückpendle, benutze ich meinen Schwung, um mich hinaufzuwuchten. Eine Sekunde später habe ich mich über das Geländer gezogen. Meine Arme brennen, und ich spüre tatsächlich, wie das Blut durch meine Adern pumpt, aber ich bin am Leben. Und ich kann Mikhail hören, der jetzt viel näher ist. Sein Atem hallt von den Wänden zurück, heiß und keuchend.
Ich achte nicht auf das Pochen in meiner Brust oder das Stechen, das meine Seite in loderndes Feuer hüllt, und jage ihm durch den Korridor hinterher. Fieberhaft gehe ich meinen geistigen Lageplan von Neu-Deutschland durch. Wohin führt dieser Korridor? Zu den Habitaten? Oder ist dies der Sektor, in dem sich auf den oberen Ebenen die Kantine befindet?
Die Deckenlampen flackern, dann gehen sie ganz aus, tauchen den Korridor in Finsternis. Als sie wieder anspringen, ist Anna Beck da, vor Mikhail, rennt genau auf ihn zu, hat ihre Schleuder wie einen Schild vor sich erhoben.
Sie lässt los, und die Schleuderriemen schießen mit einem hellen Knall nach vorn. Das, womit auch immer sie die Schleuder bestückt hat, saust durch die Luft, viel zu schnell, als dass ich es sehen könnte, und trifft Mikhail mitten in die Brust.
11 | Knox