Equality - Luca Snow - E-Book

Equality E-Book

Luca Snow

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Beschreibung

Frieden oder Freiheit? Ihr habt die Wahl! Eines Tages erwacht Lilia urplötzlich ohne jegliche Erinnerung in der fremden Stadt Equality. Deren Bürgermeister teilt täglich 10 Millionen digitale Tokens gerecht auf seine 100.000 Bürger auf, was pro Person gerade mal zum Überleben reicht. Doch wenn die Bürger mehr als das wollen - wenn sie die Geheimnisse der Welt lüften und ihre eigene Existenz verstehen möchten - müssen sie die Bevölkerungszahl senken, um den Pro-Kopf-Anteil an Tokens zu erhöhen. Das Einzige, was Lilia in dieser beängstigenden Situation Halt gibt, ist ihre kleine Schwester Siletha. Allerdings streckt die größte Feindin der Stadt, die Gier, bereits ihre blutigen Hände nach den beiden Mädchen aus.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Alte Freunde

Das Fest des Friedens

Der Preis für meine Sünden

Die Arena der Gerechtigkeit

Das grüne Wunder

Der kleine Stern

Marry, Fuck, Kill

Heimkehr

Jenseits der Mauern

Der Bürgermeister

Epilog

-Prolog-

Was macht einen Menschen eigentlich aus? Wieso treffen wir alle unterschiedliche Entscheidungen und führen vollkommen verschiedene Leben? Mit anderen Worten: Was macht uns einzigartig? Der Kontostand kann sich jederzeit verändern, genauso wie Hobbys oder Interessen, und selbst das äußere Erscheinungsbild lässt sich je nach Bedürfnis beliebig anpassen. Dennoch existiert in uns etwas, das uns grundlegend von allen anderen Menschen unterscheidet: unsere Erinnerungen.

In jedem von uns steckt eine eigene Geschichte; Millionen – ach, was sag ich – sogar Milliarden von Bildern, Erlebnissen und Emotionen, die jede einzelne unserer zukünftigen Entscheidungen beeinflussen. Die Sammlung von Erinnerungen ist immer eine andere; darum machen unsere Erinnerungen uns zu einem Individuum.

Den Tag, an dem ich meine erste Erinnerung erhielt, bezeichne ich als den Tag meiner Geburt. Anders als du erblickte ich jedoch nicht als sorgenfreier, stinkender Fleischklumpen diese Welt, sondern mein Leben begann in der Gestalt eines kleinen Geschöpfes, welches in einem schwach beleuchteten Raum von der einen auf die andere Sekunde wie von einem Stromschlag getroffen in einem weichen Bett erwachte.

Ich verstand sofort, dass ich existierte. Mir war bewusst, dass ich auf einem Bett lag; die Haare, die von meinem Kopf meinen Körper entlang wucherten, hellblau und meine Kleidungsstücke grau waren – jedoch wusste ich weder wo ich war noch wer ich war oder was ich überhaupt war. Angst bereitete mir dies aber nicht; es war vielmehr die Neugier, welche in diesem Moment meine Gedanken beherrschte, also schaute ich mich gründlich in dem Raum um.

Über der einzigen Tür leuchtete eine kleine Lampe, die ihr schwaches gelbes Licht auf den hölzernen Boden und die blanken, weiß gestrichenen Wände warf. Ein paar Meter neben meinem stand noch ein weiteres Bett, das ich von den Holzbeinen bis zum Kopfkissen begutachtete. Dann fiel mir etwas auf: ein Wesen, das zusammengekauert in der Mitte dieses Bettes saß. Sein Körper war etwas kleiner als mein eigener; es trug dieselben grauen Kleider wie ich; seine Haare waren grün gelockt und sein Gesicht versteckte es hinter seinen zitternden Knien. Mein Herzschlag beschleunigte sich; schließlich war mir nicht bewusst gewesen, dass noch etwas anderes Lebendes außer mir selbst existierte.

»H-hallo...«, sagte ich zögerlich und richtete meinen Oberkörper auf. Eine Antwort bekam ich nicht; stattdessen verstärkte sich das Zittern meines Gegenübers – möglicherweise konnte es mir ja gar nicht antworten. Aus meinem Augenwinkel erkannte ich auf einmal einen hellblauen Schriftzug auf der Innenseite meines linken Unterarms.

»Lilia...was soll das bedeuten?« Ich blickte erneut hinüber zu dem Wesen auf dem anderen Bett.

»Hey...steht auf deinem linken Arm auch etwas drauf?«, fragte ich neugierig. Es wandte seine ängstlichen Augen zu seinem eigenen Arm und musterte diesen für einige Sekunden; dann blickte es mich erneut an und der Klang einer piepsigen, hellen, leicht wackelnden Stimme wanderte zu mir herüber.

»S-Siletha...auf meinem A-Arm steht Siletha.«

Ich dachte nach. Aus welchem Grund standen auf unseren Armen unterschiedliche Wörter drauf?

»Vielleicht...«, murmelte ich vor mich hin, als mir auf einmal eine Idee kam, »...vielleicht sind das unsere Namen!« Von dem Wesen kam weder eine zustimmende noch eine widersprechende Reaktion; es starrte vor sich auf seine herangezogenen Knie und schien gegen Tränen anzukämpfen. Ich hatte zwar Mitleid, doch trotzdem ging mir so langsam, aber sicher seine Verschwiegenheit gediegen auf die Nerven. Ich war doch auch verwirrt und verunsichert.

»Sag mal...«, begann ich ein wenig ungeduldiger, »...vor was fürchtest du dich denn eigentlich so sehr?«

»I-ich weiß nicht...ich weiß n-nicht...«, stotterte das kleine Geschöpf.

»Was weißt du nicht?«

»I-Ich weiß nicht, was das hier alles soll. Ich weiß nicht, wer ich bin...ich weiß überhaupt nichts...d-das macht mir alles solche Angst. Vor allem, weil ich nicht weiß, was hinter dieser Tür ist.« Es schaute flüchtig mit einem misstrauischen Blick auf die einsame Tür und verborg sein Gesicht daraufhin wieder vollkommen in seinen Knien. Gleichzeitig verlor es den Kampf gegen die Tränen; sie flossen unkontrollierbar vor sich hin und der schmächtige Körper des kleinen Wesens bebte so sehr, dass ich fast Angst hatte, es würde zerbrechen. Warum ich das Folgende tat, wusste ich selbst nicht – wusste nicht, wieso es mich überhaupt kümmerte – doch konnte ich aus irgendeinem Grund den Anblick des verzweifelten Wesens nicht ertragen und mein Körper bewegte sich wie von allein hinüber zu ihm. Ich setzte mich auf sein Bett und legte vorsichtig meinen rechten Arm um seine Schulter. Ich drückte das Wesen sachte ein wenig an mich heran, in der Hoffnung, seinen zierlichen Körper etwas zur Ruhe zu bringen. Seine lockigen Haare kitzelten meine Nase.

In seiner unmittelbaren Nähe hatte ich nun einen genauen Blick auf seine spitzen Ohren, spitzen Eckzähne und funkelnden grünen Augen. Aus Neugier tastete ich mit meiner freien Hand meine eigenen Zähne und Ohren ab, jedoch fühlten sich diese eher stumpf und rundlich an.

»Ich kann verstehen, dass du dich so fühlst«, sagte ich ruhig und rieb mit meiner Hand über seinen Arm. »Immerhin weiß ich nicht viel mehr als du. Hinter dieser Tür könnte alles sein...aber vielleicht befindet sich hinter ihr ja etwas Schönes, auch wenn wir es uns noch gar nicht vorstellen können.«

»A-aber was, wenn nicht?«, stotterte das Wesen und seine tränenden grünen Augen blickten genau in meine. »W-was, wenn dort draußen etwas ist, das mir noch viel mehr Angst macht?«

»Dann...dann werde ich dich davor beschützen«, sagte ich in selbstbewusstem Ton.

»Wirklich? Das kannst du?«, fragte es mit großen Augen.

»Das werde ich, versprochen!«

Mir war zwar genau bewusst, dass ich mir dem nicht sicher sein konnte, doch war diese kleine Unwahrheit für mich ein notwendiges Mittel zum Zweck, um nicht allein herausfinden zu müssen, was sich außerhalb dieses Raumes befand. Außerdem hatte das Weinen des kleinen Geschöpfes irgendetwas in mir wachgerüttelt, das von mir verlangte, ihm zu helfen. Ich packte es also an der Hand und ging mit ihm bis zu der Tür – sein Zittern war nun nicht mehr ansatzweise so stark wie noch kurz zuvor. Mit meiner linken Hand griff ich die Türklinke und drückte sie nach unten. Dann zögerte ich plötzlich. Was, wenn es recht hatte? Was, wenn dort draußen wirklich etwas Schlimmes lauerte?

»Alles in Ordnung?«, fragte es und ich bemerkte, wie sein Zittern wieder anfing, stärker zu werden – aber das wollte ich auf keinen Fall. Nachdem ich ihm die Angst ein klein wenig genommen hatte, sollte es sich nun auch auf mich verlassen können.

»Ja, alles super! Also...los geht’s«, sagte ich breit grinsend und hoffte, dass mein Gesichtsausdruck überzeugender aussah, als er sich anfühlte. Ich schluckte meine Angst herunter und drückte die schwere Tür nach vorne, bevor ich es mir noch anders überlegen konnte.

Sofort blendete uns ein helles weißes Licht. Meine Augen schmerzten, glühten fast; einige Sekunden lang konnte ich sie gar nicht öffnen...bis es mir schließlich gelang und sich große, bunte Umrisse in meinem Sichtfeld formten. Tausend Eindrücke prasselten auf einmal auf mich ein und mir wurde schlagartig bewusst, dass noch so viel mehr existierte als der kleine Raum, in welchem wir erwacht waren.

Mit jedem Blick, den ich auf eines der umliegenden, riesigen Gebäude warf, stieg meine pure Faszination. Sie verliefen teilweise bis hoch zum Himmel und einige ihrer Wände bestanden aus Fensterglas. Zu zweit waren wir nun auch nicht mehr – wir befanden uns in einer dichtgedrängten Menge aus unterschiedlichsten Geschöpfen, die ebenfalls mit staunenden Blicken die prachtvollen Gebäude begutachteten. Einige von diesen Fremden hatten – genau wie das Wesen an meiner Seite – spitze Ohren; ein paar andere waren mit dichtem Fell überzogen und besaßen Krallen oder Flügel; außerdem schien es Wesen zu geben, die zu einer Hälfte aus Haut und zur anderen Hälfte aus glänzenden Teilen bestanden. Obwohl wir uns alle äußerlich stark unterschieden, ließ mich das Gefühl nicht los, dass wir uns alle auf irgendeine Art und Weise ähnlich sahen, da wir verbindende Merkmale besaßen.

»Siehst du...«, sagte ich grinsend, »...war doch gar nicht so schlimm. Anscheinend sind wir nicht die Einzigen, die hier aufgewacht sind. Wir müssen das also nicht alles allein durchstehen.« Ich drückte die Hand des kleinen Wesens.

»J-ja...«, stotterte es mit großen Augen, woraufhin es meinen Arm umklammerte und sich ein wenig hinter meinem Körper vor den neugierigen Blicken der anderen versteckte, »...aber ich verstehe immer noch nicht, wo wir alle hergekommen sind. Wo waren wir davor? Was hat uns –«

Auf einmal ertönten Sirenen aus der Richtung des Himmels – in einer solchen Lautstärke, die meine Ohren pochend schmerzen ließ. Zudem hatte ich das Gefühl, als würde dieses grässliche Geräusch nicht bloß von außerhalb in meine Ohren eindringen, sondern inmitten meines Kopfes sein Unwesen treiben.

Die Menge um uns herum schien das Geräusch ebenfalls zu hören, denn ausnahmslos alle Anwesenden pressten

beide Hände gegen die Schläfen und blickten zum nun rot leuchtenden Himmel hinauf, aus dessen Höhen eine dunkle, verzerrte Stimme zu uns allen herabsprach:

»Willkommen...willkommen in meiner Stadt. Ich bin euer Bürgermeister und es erfüllt mich mit Freude zu sehen, dass ihr alle kerngesund aus eurem Schlaf erwacht seid. Sicher habt ihr viele Fragen...ich hoffe, sie euch mit meinen Informationen zumindest teilweise beantworten zu können.«

Vergeblich suchte ich den gesamten roten Himmel nach etwas ab, das zumindest danach aussah, als könnte es mit uns kommunizieren, doch diese Stimme schien offenbar aus dem Nichts zu uns zu sprechen.

»Ihr alle gehört zu einer Spezies, welche Menschen genannt wird, und dieser Ort wurde allein zu dem Sinn und Zweck erschaffen, dieser Spezies ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Was richtig, falsch, moralisch oder grausam ist, werde ich mir nicht anmaßen, für euch zu entscheiden, sondern das liegt allein in euren Händen. Es gibt lediglich ein paar wenige Spielregeln, die ihr beachten müsst.«

Voller Neugier blickte ich mich in der Menge um. Wir gehörten alle zur selben Art? Waren wir also in Wahrheit gleich?

»Am heutigen Tag sind exakt 100.000 Menschen in meiner wunderschönen Stadt erwacht. Eure Gemeinschaft wird täglich pünktlich zur sechsten Stunde 10 Millionen digitale Tokens von mir zur Verfügung gestellt bekommen. Diese werden gerecht unter euch aufgeteilt, sodass jeder Bürger genau 100 von ihnen erhält. Mit Tokens könnt ihr euch Nahrung, Wissen, Waffen und weitere Items kaufen, allerdings nur für den eigenen Gebrauch. Tokens sowie Items lassen sich nicht auf andere übertragen, und aufbewahren erst recht nicht. Pünktlich zur sechsten Stunde des Folgetags verschwinden also die Items, die ihr euch gekauft habt, und unbenutzte Tokens ebenfalls; diese sind dann nicht mehr einlösbar.«

»Was bedeutet das?«, fragte mich der Mensch an meiner Seite nervös und zog sanft aber anhaltend an meinem Arm.

»Das...das bedeutet, kein Mensch kann...mehr besitzen als ein anderer.«

»Als Menschen müsst ihr dafür sorgen, dass eure 100 Lebenspunkte nicht auf 0 sinken; anderenfalls wird eure Existenz unwiderruflich ausgelöscht. Wenn ihr eure 100 täglichen Tokens jedoch vollständig in Nahrung investiert, bleibt ihr auf ewig am Leben...vorausgesetzt natürlich, eure Körper werden nicht von Messern oder Kugeln durchlöchert; denn nicht nur der Entzug von Nahrung kann eure Lebenspunkte sinken lassen, sondern Verletzungen ebenso. Sicher ist euch schon die Stelle an euren linken Armen aufgefallen, in der eure jeweiligen Namen eingraviert sind.«

Das war wenigstens eine Sache, die ich mir selbst hatte erschließen können. Mein Name war also Lilia und der kleine Mensch, der mich begleitete, hieß Siletha.

»Unter der Hautoberfläche wurde euch allen ein Programm integriert, welches euch mit dem sogenannten Server verbindet. Dort befinden sich alle eure persönlichen Daten sowie ein Katalog mit allen existierenden Items. Wie ihr schnell bemerken werdet, sind in diesem Katalog Items aufgelistet, welche den Preis von euren jetzigen 100 Tokens weit übersteigen; allerdings wird sich an der Gesamtsumme von 10 Millionen Tokens, die ich euch jeden Tag zur Verfügung stelle, niemals etwas ändern – und daran, dass diese gerecht unter euch aufgeteilt wird, ebenfalls nicht. Wenn ihr als einzelner Mensch also mehr Tokens zur Verfügung haben wollt, muss die Bevölkerungszahl von 100.000 sinken.«

»Die Bevölkerungszahl muss...sinken?«, wiederholte ich leise und starrte auf den steinigen Boden. Auf einmal durchzog mich eine eisige Kälte und mein Körper begann zu zittern. »Bedeutet das etwa...wenn man mehr von diesen Tokens haben will, muss man...andere Menschen –«

»Seid euch eines jedoch stets bewusst: Mit 100 Tokens pro Kopf können alle Bürger sorgenfrei leben und ein harmonisches Miteinander führen, ohne dass auch nur ein einziger Mensch sterben muss. Frieden oder Freiheit, das Schicksal der Menschheit liegt allein in euren Händen. Herzlich Willkommen in Equality – der Stadt der ewigen Gerechtigkeit.«

-Alte Freunde-

Aus dem langen Zusammenleben mit anderen kann man eine Menge lernen. Beispielsweise sind die meisten Menschen glücklicher, wenn sie sich selbst Ziele setzen können. Dabei ist es nicht das Erreichen eines Ziels selbst, welches sie erfüllt, sondern lediglich die Hoffnung, ihr Vorhaben zu erreichen. Meiner Meinung nach führen die Menschen mit den ehrgeizigsten Vorhaben auch die erfülltesten Leben, da sie stets einen Halt haben, der sie dazu motiviert, morgens aufzustehen; das ist aber natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Ich selbst hatte mir nie wirklich große Ziele gesetzt, außer jeden Tag den größtmöglichen Spaß zu haben; möglicherweise war dies auch die Ursache, warum ich mich manchmal zu sehr in meinen Gedanken verlor. Aber es war nun mal meine Realität, dass die größte Herausforderung in meinem Leben für eine sehr lange Zeit allein daraus bestand, mich – wie an diesem Tag – banalen Alltagsentscheidungen zu stellen.

»Hmm, alsooo...«, brummte ich, denn mal wieder war ich der Qual der Wahl ausgesetzt. Sollte ich...nein, lieber den...oder doch vielleicht, »...ich glaube, ich nehme heute den Erbseneintopf.«

»Eine ausgezeichnete Wahl. Das macht dann bitte 50 Tokens, sehr verehrte Lilia.«

Ich drückte die Innenseite meines linken Armes auf den silbernen Sensor vor mir, verspürte das übliche leichte Zwicken, und bereits Sekunden danach manifestierte sich auf dem Tresen vor mir ein Löffel sowie eine braune Holzschüssel, aus welcher der heiße Dampf des gekochten Gemüses bis hin zur Decke des Item-Ladens wanderte. Sofort begann ich, die riesige Portion in mich reinzuschaufeln.

»Danke, Nova...genau das habe ich gebraucht«, sprach ich mit vollem Mund zu der blau leuchtenden und flackernden Dame hinter dem Tresen. »Verdammt, ist das lecker.«

»Ein Wunder, dass dir das Zeug noch nicht zum Hals rauskommt, nachdem du es schon hunderte Male gegessen hast«, sagte Siletha, verdrehte genervt ihre grünen Augen und stellte sich ebenfalls vor den Tresen. »Nova, ich hätte gerne...eine Pizza.«

Siletha legte ihren linken Arm auf den Sensor, woraufhin ein Teller mit einem kreisrunden Gericht auftauchte, welches ich...noch nie zuvor gesehen hatte. Was in aller Welt sollte eine Pizza sein, und wieso kannte ich das Gericht nicht? Verdutzt legte ich meine rechte Hand auf den hellblauen Schriftzug meines linken Armes. Siletha, Nova und der gesamte Shop verwandelten sich daraufhin zu purer Dunkelheit und das Menü des Servers erschien vor meinen Augen.

In dessen oberster Leiste standen alle meine Daten:

Name: Lilia - Größe: 1,78 m - Gewicht: 68 kg - aktueller Aufenthaltsbezirk: Rast.

Darunter befand sich meine Lebensleiste. Dank des Erbseneintopfes hatte ich inzwischen fast alle meine 100 Lebenspunkte wieder aufgefüllt; von meinen 210 Tokens, die ich jeden Tag erhielt, waren nun 200 aufgebraucht – 10 Stück sparte ich mir aus einem ganz bestimmten Grund immer bis kurz vor Tagesende auf. In die Suchleiste des Servers tippte ich das Wort Pizza ein und...dann begriff ich, wieso mir dieses Gericht nicht bekannt vorgekommen war.

Ich loggte mich aus dem Server aus und der Item-Laden erschien sofort wieder vor meinen Augen.

»Das...«, Siletha hatte gerade ihre spitzen Zähne in ein Stück des runden Teiggerichts gesteckt, »...das ist das leckerste Essen, das ich in meinem ganzen Leben gekostet habe. Ich wünschte, du könntest es auch probieren, Lilia. Dieser Geschmack, wie er sich in meinem Mund vermischt, das ist –«

»SAG MAL, SPINNST DU JETZT TOTAL?«, brüllte ich und warf versehentlich meine Schüssel mit dem Erbseneintopf um. Diese klapperte zu Boden, doch ich ignorierte sie – ich hatte in dem Moment wichtigere Probleme. »DU KAUFST DIR EIN LEVEL 2-GERICHT FÜR 150 TOKENS, DAS DIR NUR 30 BESCHISSENE LEBENSPUNKTE BRINGT?«

»A-aber es schmeckt so viel besser als die ganzen Level 1-Gerichte, da dachte ich, ich könnte doch ausnahmsweise mal ein bisschen –«

»Wie viele Tokens hast du noch übrig, Siletha?«

»Jetzt...keine mehr.« Sie schaute verlegen auf ihren Teller und vermied es, meinen zornigen Blick zu treffen.

»Und wie viele Lebenspunkte hast du?«

»Also, wenn ich die Pizza gegessen habe, bin ich bei 65. Ich brauche aber auch keine 100; schließlich stirbt man erst bei 0!«

»So eine Scheiße!«, hastig wandte ich mich der Frau hinter dem Tresen zu. »Ähm, Nova? Wie du sicher selbst siehst, hat meine kleine Schwester ziemlichen Mist gebaut. Sie ist offensichtlich noch nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Ist es nicht vielleicht möglich, diese Pizza gegen ein Level 1-Gericht einzutauschen?«

»Tut mir leid, Lilia, aber wurden die Tokens erst einmal für ein Item transferiert, lässt sich daran nichts mehr rütteln. O...und wie ich sehe, habe ich ohnehin nun Feierabend. Im Namen des Bürgermeisters wünsche ich euch eine angenehme Nacht.«

Von der einen auf die andere Sekunde löste Nova sich in Luft auf und die Lampen innerhalb des Item-Ladens erloschen. Lediglich der Eingangsbereich beleuchtete uns beide noch schwach, denn draußen war die Sonne noch nicht gänzlich untergegangen.

»Siletha...«, begann ich ruhig und kühl, »...ich bin so enttäuscht von dir. Wir hatten uns darauf geeinigt, nichts zu kaufen, was wir uns nicht leisten können. Hast du das etwa vergessen?«

»Aber ich kann es mir doch leisten!«

»Nein, kannst du nicht. Ich habe dir jedes Mal gesagt, du kannst mit deinen Tokens machen, was du willst, solange du deine Lebenspunkte auffüllen kannst, verdammt...aber mal wieder hast du nicht auf mich gehört. Du wirst wegen dieser einen dummen Entscheidung die ganze Nacht Fieberkrämpfe und Schmerzen haben. Bist du jetzt zufrieden?«

»Na und?«, entgegnete Siletha mir trotzig. »Dann geht es mir eben ausnahmsweise mal schlecht, aber wenigstens habe ich etwas Neues kennengelernt: den Geschmack einer Pizza. Dafür ertrage ich die Schmerzen gerne. Ich will nicht immer dasselbe Zeug essen, dieselben Bücher lesen oder dieselben Spiele spielen – es gibt doch noch so viel mehr!«

»Du bist so ekelhaft gierig, weißt du das eigentlich? Wärst du bloß mehr wie Mutter...dann würdest du mir mit deinem Verhalten auch keinen Kummer bereiten.«

Ich wusste bereits in dem Moment, als diese Worte meine Lippen verlassen hatten, dass sie Siletha hart treffen würden – jedoch ließ mich das aufgrund ihres Verhaltens völlig kalt.

»Lilia...«, sagte sie mit enttäuschter Miene, »...ich will doch einfach nur –«

»Hör mir gut zu! Morgen früh wirst du deine fehlenden Lebenspunkte sofort wieder auffüllen und dafür auf sonstige Freizeitaktivitäten verzichten, verstanden?«

»Das kannst du vergessen! Ich kann selbst entscheiden, was ich mit meinen Tokens mache. Das geht dich überhaupt nichts an.«

»DU TUST VERDAMMT NOCHMAL, WAS ICH DIR SAGE!«

»LEUTE!«, ein Mädchen war in den Item-Laden hereingestürmt und Siletha und ich erschreckten uns völlig. Sie trug ein rotes Gewand und anstelle von Haaren schmückten lodernde Flammen ihren Kopf.

»Fire...«, stammelte ich völlig überrascht, »...was ist denn los?«

»LILIA, SILETHA!«, rief eine tiefe Jungenstimme, dessen Besitzer etwas größer war als Fire. Er hatte den Raum nun ebenfalls völlig außer Atem betreten. Sein Name war Hugo und seine gesamte linke Körperhälfte bestand aus Metall, was man nicht nur optisch wahrnahm, sondern auch anhand des lauten Klirrens, das er mit seinen Bewegungen von sich gab. Hinter Hugo trottete eine dritte Person in den Raum. Diese blickte mit ihren leuchtenden gelben Augen ein wenig genervt auf ihre beiden jüngeren Begleiter. Ihre Statur war zwar unserer gleich, jedoch war sie im Gegensatz zu uns anderen mit Fell überzogen und hatte Schnurhaare, spitze Ohren und einen buschigen Schwanz.

»Jetzt schreit hier mal nicht so rum, oder wollt ihr etwa, dass der ganze Bezirk es mitbekommt?«

»Könnt ihr uns jetzt einfach verraten, was hier los ist?«, fragte ich gereizt. Meine Nerven waren in den vergangenen Minuten bereits genug strapaziert worden.

»O Cat, Cat, darf ich es erzählen? Bitte, bitte?«, fragte Fire und hüpfte dabei auf der Stelle, so wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war.

»Ja, verdammt, nun mach schon, bevor du den ganzen Laden anzündest«, antwortete Cat und rieb sich mit ihrer pelzigen Hand über die Stirn, als wolle sie sich dort einen Verspannungsknoten wegmassieren.

»Juhuu!«, rief Fire enthusiastisch und ging daraufhin einen Schritt in Richtung von Siletha und mir. »Ihr werdet es vielleicht nicht glauben, aber Warleck ist hier! In Rast! Cat hat gesehen, wie er in die Hütte eurer Mutter gegangen ist. Das ist das erste Mal seit der großen Einteilung, dass wir Besuch aus einem anderen Bezirk bekommen! Ist das nicht aufregend?«

»Onkel Warleck ist hier?«, fragte Siletha und ein Grinsen überzog ihr Gesicht.

»Ist...ist er denn wahnsinnig?«, fragte ich entsetzt. »Er verstößt gegen die Bezirksverordnung. Wenn er erwischt wird, sperren sie ihn für mindestens 1000 Tage in den Käfig.«

»Dem ist er sich garantiert bewusst...«, sagte Cat, »...also muss es wohl einen wichtigen Grund geben, wieso er dieses Risiko eingeht.«

»Was könnte das bloß sein?«, fragte Siletha verwundert, und steckte sich daraufhin das letzte Stück ihrer Pizza in den Mund. Ich beäugte sie dabei irritiert, doch als Hugo erneut zu reden begann, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.

»Wir haben keine Ahnung«, sagte er deprimiert. »Dabei würde es uns so sehr interessieren.«

»Wieso finden wir es dann nicht einfach heraus?«, warf Cat in den Raum, wonach das erste Mal ein Lächeln, das fast ein Schmunzeln war, ihr Gesicht zierte. »In der Hütte eurer Mutter gibt es doch eine Dachetage, oder? Wir könnten durch das Fenster klettern und den beiden bei ihrem Gespräch ein wenig zuhören. Wenn es wichtig ist, sollten wir es immerhin auch erfahren.«

»O ja, super Idee, Cat!«, rief Fire und klatschte in ihre Hände, was winzige Funken erscheinen ließ.

»Aber...das wird Myrielle überhaupt nicht gefallen, wenn wir sie einfach so in ihrer Hütte belauschen«, sagte Hugo mit besorgter Miene.

»Quatsch, wir dürfen uns einfach nicht erwischen lassen...«, sagte Siletha, »...dann bekommen wir schließlich auch keinen Ärger.«

»Was ist mit dir, Lilia?«, fragte Cat und ich hatte das beklemmende Gefühl, als würden ihren Augen meinen Körper durchlöchern. »Bist du auch dabei...oder wirst du uns mal wieder bei deiner Mutter verpetzen?«

Ich verdrehte reflexartig die Augen, bevor ich mich davon abhalten konnte. Von allen Einwohnern Equalitys gab es wohl niemanden, der mich täglich so sehr zur Weißglut brachte, wie Cat – mit ihrem ständigen, penetranten Drang, irgendwelche Regeln zu brechen. Normalerweise hätte ich ihr direkt die Stirn geboten und sie freundlich daran erinnert, dass es so etwas wie Privatsphäre gab und man die zu respektieren hatte...doch dieses Mal war es anders. Ich wollte unbedingt wissen, warum Warleck hier war. Schließlich waren wir damals davon ausgegangen, ihn nie wieder sehen zu können...und so gewann in diesem Moment ausnahmsweise die Neugier gegen meine Vernunft.

»Na schön...ich komme mit«, sagte ich leicht widerwillig und verließ schlussendlich gemeinsam mit Fire, Hugo, Cat und Siletha den dunklen Item-Laden.

Draußen angekommen, erblickten wir das schimmernde Rot des Sonnenuntergangs, welches sich harmonisch mit den bunten Farben unserer Heimat mischte. Die meterhohen Pilze, auf welchen wir fünf meistens tagsüber herumsprangen, um uns die Zeit zu vertreiben, leuchteten wie Laternen im goldenen Abendlicht; der Braunton unserer hölzernen Hütten stach hervor wie zu keiner anderen Tageszeit und die letzten Sonnenstrahlen küssten die grüne Wiese mit ihrer restlichen verbliebenen Helligkeit. Rast war zwar mit Abstand der kleinste der sieben Bezirke von Equality, aber zugleich auch der schönste. Das war einer dieser hervorragenden Rast-Abende, den ich am liebsten eingefangen und irgendwo in mir aufbewahrt hätte, wo ich ihn jederzeit abrufen könnte, genauso wie er war: alles friedlich und in warmen Farben geschmückt, geprägt von dem Gefühl, jung und ahnungslos zu sein.

Wir gingen über einen der vielen Steinwege in Richtung der Bezirksgrenze, an welcher unsere Mutter ihre kleine, spärliche Hütte bewohnte. Als wir angekommen waren, kletterten wir einen der benachbarten Bäume hinauf und konnten von diesem aus durch das oberste Fenster steigen. Nachdem wir uns dann alle fünf leise – oder besser gesagt, so leise wie es in Begleitung von Hugo möglich war – auf der oberen Etage platziert hatten, legten wir uns flach auf unsere Bäuche, um ungesehen nach unten in den schmucklosen Innenraum der Hütte blicken zu können. Hugo war damit beschäftigt, so wenig Lärm wie möglich zu machen, Fire und Cat tauschten verschmitzte Blicke aus und Siletha schaute eifrig in Richtung Erdgeschoss, in der Hoffnung, Warleck schnellstmöglich zu erspähen.

Ich folgte ihrem Blick und erkannte an einem hölzernen Tisch unter uns zwei mir vertraute Personen. Eine davon war ein großer, dürrer Mann, dessen dunkles Fell vollkommen in schwarze Lederklamotten gehüllt war und dessen Reißzähne aus seiner langen Schnauze herausschauten. Seine blutroten Augen waren auf eine zierliche, wunderschöne, silberhaarige Frau gerichtet, welche ihm nackt gegenübersaß. Unsere Mutter legte keinen Wert auf Kleidung – anders als wir besaß sie keinerlei Scham. Außerdem war sie in einer weiteren Hinsicht eine Besonderheit in Rast, und vermutlich auch in ganz Equality: Sie gab nie mehr als die 100 Tokens aus, welche sie zum Überleben benötigte. Die restlichen Tokens ließ sie jeden Tag einfach ablaufen, ohne sie zu verwenden. Ich bewunderte sie dafür, wie sie der Versuchung all der Items widerstehen konnte. An manchen Tagen hatte ich sogar versucht, ihre Lebensweise zu imitieren, doch war es mir nie gelungen. Ich war – wie alle anderen auch – abhängig von den Dingen geworden, die mir Freude bereiteten, und konnte mich von diesen nicht mehr lösen, auch wenn ich gerne stark genug gewesen wäre, dies zu tun. Im Gegensatz zu mir war Mutter einfach perfekt, und das beneidete ich Tag für Tag.

»Ich bedauere dein Leid wirklich zutiefst...«, sprach sie mit ihrer sanften, gleichmäßigen Stimme zu ihrem Gegenüber, »...jedoch kann ich deinem Gesuch auf keinen Fall nachkommen. Ich bitte dich inständig, meine Entscheidung zu respektieren.«

»Du begreifst offenbar nicht, welch einzigartige Gelegenheit sich uns hier bietet«, entgegnete Warleck mit seiner tiefen, rauen Stimme. »Noch nie standen so viele äußere Bezirke geschlossen zusammen wie in diesen Tagen. Neighborhood, Angerion und wir von Dark-Town sind zu allem entschlossen, um dieses Regime zum Einsturz zu bringen. Selbst wenn diese Versager von Parados und Orgia nicht mit uns in den Kampf ziehen wollen, können wir es gemeinsam mit deiner Hilfe schaffen. Doch je länger wir diese Revolutions-Euphorie ausreizen, desto mehr Zweifel werden sich in die Köpfe meiner Verbündeten einnisten. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen, Myrielle. Entweder wir zerstören das Zentrum jetzt oder wir werden auf ewig von ihnen beherrscht werden.«

Stille trat ein. Fire, Hugo, Cat, Siletha und ich tauschten empörte Blicke untereinander aus. Das konnte Onkel Warleck doch nicht ernst meinen. Das, was er da vorhatte, war einfach unmöglich. Ich war auf einmal sehr beunruhigt, aber beim Anblick meiner Mutter, die Warleck so besonnen gegenübersaß, entspannte ich mich wieder ein wenig. Wenn ihm jemand diese wahnsinnige Idee ausreden könnte, dann sie.

Sie setzte ihr übliches Lächeln auf – ein Lächeln, das alle Sorgen verschwinden ließ – und legte ihre kleine Hand auf die mit Krallen bestückte Pranke von Warleck.

»Es ist wunderschön, dich nach all der Zeit wiederzusehen, alter Freund, doch befürchte ich, dass wir uns inzwischen gänzlich missverstehen. Ich habe keinerlei Absicht, das Zentrum zu stürzen. Mir ist dieses autoritäre System durchaus bewusst, jedoch beschützt es auch die schwachen Menschen, die in der alten Welt keinerlei Chance gehabt hätten. Auch wenn es einen hohen Preis kostet, das Zentrum schenkt jedem Bürger Equalitys das Leben...dir, mir und meinen Kindern. Ich spiele nicht mit dem Feuer.«

Warleck kniff seine Augen zusammen, ließ ein leises Knurren ertönen und löste sich von dem Griff meiner Mutter.

»Das nennst du Leben? Wir werden in den äußeren Bezirken gefangen gehalten, als säßen wir im Käfig. Wer seine Liebsten in den anderen Bezirken besuchen will, wird bestraft; wer das System des Zentrums öffentlich infrage stellt, wird bestraft; wer mit anderen einvernehmlich um Tokens kämpfen will, wird bestraft. Jeder Bürger wurde vollständig seiner Freiheit beraubt und du unterstützt dieses Verbrechen allen Ernstes auch noch?«

»Diese Missstände löst man nicht, indem man das System zerstört, sondern man löst sie aus dem Inneren heraus. Sollte dein Wunsch in Erfüllung gehen – sollte es keine Ordnung geben – dann würden die Schwachen erneut unter den Starken leiden.«

»Das unterliegt allein der Entscheidung der Starken. Wenn sie kämpfen wollen, sollen sie auch kämpfen dürfen; wenn sie Frieden wollen, dann sollen sie den Frieden bekommen; wenn sie lieber in Parados anstatt in Dark-Town wohnen wollen, dann sollen sie das auch tun können. Zudem gibt es in dieser Welt noch so viele Geheimnisse, welche die Menschheit bisher nicht lüften konnte. Sollen wir also wirklich im Unwissenden bleiben, nur damit die Schwachen sich bis in alle Ewigkeit dumm und dämlich langweilen können? Das hat der Bürgermeister sich gewiss nicht unter Freiheit vorgestellt.«

Meine Mutter ließ den Kopf sinken und rieb sich einmal über ihr Gesicht. Ihr Blick wanderte kurz zur oberen Etage, wonach wir sofort ein Stück zurückrutschten. Mein Herzschlag pochte; hoffentlich hatte sie uns nicht gesehen. Ich wollte nicht, dass meine Mutter von mir enttäuscht war. Es gab für mich kein schlimmeres Gefühl. Doch zu meinem Glück löste sich diese Sorge, als sie erneut ihre ruhige Stimme erhob:

»Um Freiheit geht es dir also...es ist zwar bereits fast 3000 Tage her und die Stadt hat sich von diesen Wunden erholt, jedoch kannst du dich sicher genau wie ich an jene Zeit erinnern, als wir das letzte Mal unsere volle Freiheit ausschöpfen konnten. Was ist mit ihnen, Warleck? Was ist mit der Freiheit der tausenden von armen Menschen, die aus diesem Grund heute nicht mehr unter uns weilen?«

»Ich bedauere jeden einzelnen Toten, den unsere Stadt zu verzeichnen hat; doch lässt es sich nicht vermeiden, dass einige Menschen den Heldentod sterben müssen. Bedenke doch, wo wir wären, wenn alle 100.000 noch leben würden. Wir wüssten nichts über unsere Körper; über die Phsyik oder über die Natur. Keiner würde die Klänge der Musik kennen, sich individuell bekleiden oder sich mit Spielen die Zeit vertreiben können. Es wird immer gerne darüber geredet, wie schlimm das Töten doch sei, aber dass das Wissen und der Wohlstand von heute aus Gewalt resultiert, wird totgeschwiegen. Aber wem erzähl ich das alles eigentlich?«

Für einige Sekunden herrschte Stille. Die beiden blickten sich einen unnatürlich langen Moment in die Augen, bis die Lippen meiner Mutter sich wieder zu einem schwachen Lächeln formten. Ihr besänftigendes Gemüt schien ein wenig zu wackeln.

»Ich möchte dir eine Frage stellen, Warleck, und vielleicht wirst du mich dann endlich verstehen. Würdest du auch mich für dieses Wissen opfern? Würdest du die Kinder für dieses Wissen opfern?«

»Myrielle...natürlich nicht. Schließlich...ich meine...du weißt, dass ihr die Einzigen seid, die mir etwas bedeuten.«

»Wie kannst du es dann mit deinem Gewissen vereinbaren, des anderen Liebsten in Gefahr zu bringen, wo du doch selbst genau weißt, wie es sich anfühlt, Menschen zu haben, die einem wichtig sind?«

»Ganz einfach. Weil es nicht –«

»AUTSCH!«, schrie Siletha plötzlich.

Fire war schon die ganze Zeit hibbelig hin und her gerutscht und hatte meine Schwester schließlich mit ihren feurigen Haaren an der Wange verbrannt. Siletha war aufgesprungen und auf der Kante der oberen Etage ausgerutscht. Da es in der Hütte kein Geländer gab, stürzte sie hinab, stieß dabei noch einen kleinen Schrei aus und landete mitten auf dem hölzernen Tisch, der umgehend in dutzende Teile zerbrach. Warleck sprang erschrocken auf und stieß ein kleines Fauchen hervor, doch unsere Mutter blieb reglos auf ihrem Stuhl sitzen. Sie blinzelte nicht einmal.

»Hallo, Onkel Warleck«, murmelte Siletha peinlich berührt. »Hallo...Mutter.«

»Saubere Landung, Siletha«, sagte Warleck, der sich nun wieder eingekriegt hatte, und sein Blick wanderte hinauf zu Hugo, Cat, Fire und mir. »Scheint, als hättest du ungebetenen Besuch, Myrielle.«

»Ich weiß. Na los, kommt schon runter, Kinder!«, rief unsere Mutter nach oben – verärgert klang sie jedoch nicht. Daraufhin kletterten wir restlichen vier etwas verlegen die hölzerne Leiter nach unten. Ich reichte Siletha meine rechte Hand und zog sie wieder auf ihre dünnen Beine.

»Ihr seid ganz schön groß geworden«, sagte Warleck und musterte uns mit seinen roten Augen. »Macht euch keine Sorgen, wir waren ohnehin gerade fertig mit unserem Gespräch, nicht wahr, Myrielle?«

»In der Tat«, sagte unsere Mutter. »Richte den Bewohnern Dark-Towns einen freundlichen Gruß von mir aus.«

»O nein, ich gedenke noch nicht, aufzubrechen. In drei Tagen steht das Fest des Friedens an, und es würde mir sehr viel bedeuten, wenn ich dieses zum ersten Mal mit meiner Familie verbringen könnte. Natürlich bloß, wenn ich noch weiterhin erwünscht bin.«

»Na klar bist du das!«, rief Siletha mit strahlenden Augen. Unsere Mutter schaute für einen kurzen Moment zu mir und dann sofort wieder zu Onkel Warleck.

»Es ist zwar sehr riskant für dich, hierzubleiben...«, sagte sie ruhig, »...aber wenn du dieses Risiko auf dich nehmen willst, werde ich dich nicht daran hindern. Du darfst dich gerne in einer der freien Hütten einquartieren.«

»Mach dir keine Gedanken um mich. Ich kann gut auf mich Acht geben«, sagte Warleck, woraufhin er Siletha und mich freundlich angrinste und die Hütte verließ.

»Myrielle?«, Fire war mit gesenktem Kopf auf unsere Mutter zugegangen. »Es tut uns sehr leid, dass wir dich belauscht und auch noch deinen Tisch zerstört haben.«

»Es ist meine Schuld!«, warf Cat von der Seite ein. »Ich habe die anderen dazu angestachelt. Es war meine Idee, uns hier reinzuschleichen.«

»Das stimmt nicht!«, Hugo schaltete sich ebenfalls ein. »Ich wollte –«

»Kinder...«, unterbrach unsere Mutter sie gleichmütig und erhob ihre Hand, »...es ist alles gut, ihr braucht euch nicht zu entschuldigen. Sicher habt ihr euch bloß Sorgen gemacht...und den ollen Tisch da, den habe ich sowieso nie benutzt. Na los, geht in eure Hütten. Es ist schon spät.«

Fire, Hugo, Cat, Siletha und ich setzten uns in Bewegung, wonach meine Mutter jedoch erneut das Wort ergriff.

»Lilia? Bleibst du bitte noch kurz hier bei mir?«

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Ich hatte mir schon gedacht, dass ausgerechnet ich nicht ungeschoren davonkommen würde. Siletha warf mir noch einen letzten entschuldigenden Blick zu, bevor schlussendlich niemand mehr in der Hütte war außer mir und meiner Mutter. Ich stellte mich darauf ein, belehrende Worte entgegengeworfen zu bekommen – dass ich nicht verantwortungsbewusst und ein schlechtes Vorbild für die anderen wäre – doch gegen meine Erwartungen fasste mir meine Mutter an die Wange und strich sanft über sie herüber.

»Mein Schatz, ich bitte dich, ab morgen wieder mit dem Training zu beginnen.« Für einige Sekunden war ich fest davon überzeugt, mich verhört zu haben. Waren diese Worte etwa wirklich aus ihrem Mund gekommen?

»A-aber du hast doch gesagt, ich soll nicht mehr weitermachen. Das Training an der Waffe würde mich nur dazu ermutigen, anderen wehzutun.«

»Ich weiß, was ich gesagt habe, und es war falsch und egoistisch von mir. Du hast Talent, Lilia – Talent in etwas, was ich aus meinem Leben verbannen wollte. Allerdings muss ich mir nun endlich eingestehen, dass Gefahren sich in dieser Welt niemals verbannen lassen. Wir wissen nicht, was in Zukunft passiert. Vielleicht bleibt es auch noch die nächsten 3000 Tage friedlich – vielleicht auch die nächsten 300.000 – aber früher oder später wird wohl der Zeitpunkt kommen, an dem du jene beschützen musst, die dir am wichtigsten sind. Ich habe Vertrauen in dich. Ich weiß, du wirst deine Schwester beschützen können, wenn es so weit ist.«

»Mutter?«, fragte ich und nahm ihr Handgelenk. »Wird Onkel Warleck wirklich einen Krieg mit dem Zentrum beginnen?«

Sie atmete tief durch und griff meine beiden Hände.

»Dein Onkel musste in der Vergangenheit viele Ungerechtigkeiten ertragen, die sein Verständnis von Richtig und Falsch ein wenig trüben. Doch glaube ich fest an seine Loyalität zu uns drei. Also mach dir keine Sorgen, mein Schatz...aber sei dennoch wachsam und nicht so leichtsinnig, wie ich es all die Zeit lang war.«

»Ich habe dich lieb«, sagte ich mit tränenden Augen und umarmte sie.

»Du und deine Schwester, ihr bedeutet alles für mich...«, flüsterte sie und erwiderte meine Umarmung zärtlich, »...und dieses Gefühl wird uns niemals jemand nehmen können.«

Nachdem ich die Hütte meiner Mutter kurz darauf verlassen hatte, stellte ich fest, dass die Sonne bereits untergegangen war – allein das Leuchten des Mondes spendete unserem kleinen Bezirk noch ein blasses Licht und ließ die Atmosphäre ganz anders erscheinen als tagsüber; ein wenig unheimlich und gleichzeitig auf schöne Weise traumähnlich. Ich schlenderte gedankenverloren über den Steinweg neben der Wiese entlang, bis ich schließlich die Hütte erreichte, in welcher ich gemeinsam mit Siletha wohnte. Nicht einmal einen Fuß hatte ich auf den hölzernen Fußboden gesetzt, als meine Schwester bereits hastig auf mich zugestürmt kam.

»Lilia!«, rief sie außer Atem. »Es...es tut mir so leid. Ich habe mich heute furchtbar verhalten. Ich wollte einfach nur sagen –«

Bevor sie jedoch auch nur ein einziges weiteres Wort ertönen lassen konnte, hatte ich sie bereits fest in meine Arme geschlossen.

»Sei schon ruhig, kleiner Stern. Ich verhalte mich immer wie eine absolute Oberzicke, wenn ich mir Sorgen mache. Dabei weiß ich doch ganz genau, wie du dich fühlst. Immerhin bin ich selbst schon mal ohne die vollen Lebenspunkte zu Bett gegangen.«

»WAS, ECHT? DU?«, Siletha löste sich aus meiner Umarmung und starrte mich ungläubig mit ihren großen, grünen Augen an. »Daran kann ich mich gar nicht erinnern!«

»Ja, echt...«, antwortete ich mit bedauerlicher Miene, »...und aus diesem Grund weiß ich auch, wie schlimm eine solche Nacht werden kann. Ich wollte dich diese Phase überspringen lassen, in der du aus deinen Fehlern lernst, aber so läuft es einfach nicht. Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen und seine eigenen Fehler machen. Es ist falsch, dich zu bevormunden. Das Einzige, was ich tun kann, ist dir meine Hilfe anzubieten.«

»Also darf ich von nun an machen, was ich will?«

»Du darfst machen, was du willst – solange du vorher mit mir darüber sprichst. Sag mal, Siletha, kannst du dich eigentlich noch an Drobus erinnern?«

»Drobus...«, nachdenklich kratzte sie sich an einem ihrer spitzen Ohren, »...er ist gestorben, oder? Ich kann mich bloß nicht mehr daran erinnern, wie...es ist schon so lange her.«

»Es war kurz nachdem das Zentrum die Kontrolle übernommen hatte und wir hier nach Rast eingeteilt worden waren. Eines Tages füllte Drobus seine Lebenspunkte ebenfalls nicht vollständig auf, um sich stattdessen etwas Teureres zu kaufen, und konnte danach...nun ja...nicht mehr damit aufhören. Er beschloss, künftig nur noch mit 90 Lebenspunkten zu leben – irgendwann reichten ihm 70, dann 50 und eines Tages bloß noch 10 Stück. Er hatte schreckliche Schmerzen – konnte kaum noch richtig atmen und laufen, bis er schließlich sein eigenes Leben aufgab, um ein Item für seine gesamten 210 Tokens kaufen zu können. Als der Tag und seine Lebenspunkte sich dann jedoch dem Ende neigten und er nichts mehr hatte, um sich Nahrung kaufen zu können, bereute Drobus seine Entscheidung. Letztendlich hatte auch dieses Item ihn nicht glücklich gemacht. Gier wird dich nie glücklich machen, Siletha. Sie nistet sich in dir ein, verbreitet sich in deinem Körper und lässt dich schlussendlich zugrunde gehen. Die Gier ist die größte Mörderin unserer Stadt; nur wegen ihr ist die Hälfte unserer Bevölkerung tot. Ich habe Angst, dass sie mir dich ebenfalls eines Tages raubt...du bist mein Ein und Alles, kleiner Stern. Ich kann dich nicht verlieren.«

»Lilia...«, flüsterte Siletha in mein Ohr, »...ich werde meine Lebenspunkte morgen wieder auffüllen und sie nie wieder unter 100 fallen lassen, versprochen.«

Ich blickte in ihre grünen Augen und grinste sie voller Herzenswärme an. In diesem Moment verstand ich, wieso meine Mutter stets ruhig und liebevoll mit uns umgegangen war, egal wie wir uns verhalten hatten – sanfte Worte können einen so viel besser von etwas überzeugen als unsinniges Gebrüll. Ich gab Siletha einen sanften Kuss auf die Stirn und strich ihr zart über die Wange.

»Leg dich ins Bett, es ist schon spät. Und falls die Schmerzen dich nicht schlafen lassen, kannst du mich jederzeit wecken. Du musst bloß bis zur sechsten Stunde am Morgen durchhalten, bis die nächsten Tokens kommen. Schlaf gut, kleiner Stern.«

»Du auch, Lilia«, sagte Siletha, wonach sie mich noch einmal fest drückte und dann zu ihrem hölzernen Bett huschte.

Ich hingegen ging zum anderen Ende der Hütte, an welchem mein eigenes Bett stand. Mein Oberteil aus braunen Blättern und meine Hose aus Baumwolle zog ich aus und schmiss sie auf den Boden; sie würden sich ohnehin in Luft auflösen, während ich schlief. Ich kuschelte mich unter die warme Bettdecke und ließ meinen Kopf auf dem weichen Kissen nieder.

Mit meiner rechten Hand griff ich an meinen linken Arm und öffnete den Katalog; 10 Tokens hatte ich noch übrig. Es gab eine Sache, die mir besonders wichtig war – ein Luxus, den ich mir immer kurz vor dem Schlafengehen genehmigte: Musik. Allein aus diesem Grund hätte ich garantiert niemals so leben können wie meine Mutter; auf Musik verzichten, das ging einfach nicht. Ich wählte im Katalog die Kategorie Unterhaltung aus, kaufte mir eine Musikbox und fügte bei der Song-Anzahl die Zahl 3 ein. Kurz darauf spürte ich das übliche Brennen an meinem Arm und ein kleiner, eckiger Kasten mit einem Bildschirm erschien in meiner linken Hand.

Über einem Bild von einer jungen Frau mit roten Haaren erschien der Songtitel Who We Are, darunter der Name der Sängerin des Liedes, eine gewisse Anna Helen. Ich drückte auf den Play-Button und die Musik ertönte.

Während die schönen Klänge ein angenehmes, friedliches Gefühl in mir auslösten, blickte ich hinüber zu Siletha – sie schien eingeschlafen zu sein. Vielleicht würde sie die Schmerzen besser wegstecken als ich seinerzeit. Von der Musik konnte sie jedenfalls nicht geweckt werden, schließlich war sie nur von demjenigen zu vernehmen, der auch für sie bezahlt hatte. Erneut schaute ich auf den Bildschirm. Anna Helen – wer das bloß war? Gab es abgesehen von uns noch weitere Menschen, die Musik und andere Items für den Bürgermeister herstellten? Und wenn ja, wo lebten sie? Etwa außerhalb der hohen Stadtmauern? Gab es noch weitere Städte, weitere Bürgermeister oder vielleicht ganz andere Welten?

Als ich merkte, was ich da gerade tat, schüttelte ich mit meinem Kopf und ermahnte mich selbst. Des Öfteren

ertappte ich mich dabei, wie ich mir über solche Themen den Kopf zerbrach. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich bloß ein weiteres Mal an die Grenze meiner Vorstellungskraft geraten würde. Es gibt nun einmal Fragen, die sich nicht beantworten lassen und wenn man es versucht, ist es wie, als würde man versuchen, sich eine neue Farbe auszudenken. Trotzdem war es manchmal sehr schwer, mich davon abzuhalten. Es gab einen Drang tief in mir, zu verstehen, was für einen Sinn das alles hier hatte; ich schaffte es nicht immer, ihn zu unterdrücken, auch wenn ich wusste, dass ich mich damit nur frustrieren würde.

Aber dieses Mal gelang es mir, die Gedankenspirale aufzuhalten: Ich fokussierte mich wieder auf die Musik, denn wenn ich mich mit ihr umgab, konnte ich abschalten...mich einfach fallen lassen...einfach existieren, ohne denken zu müssen.

Aus dem Nichts ertönten laute Sirenen.

Siletha und ich sprangen erschrocken aus unseren Betten auf – völlig verängstigt sahen wir uns an. Ich verstand zunächst nicht, was vor sich ging, denn es war bereits so lange Zeit vergangen, seit wir dieses Geräusch das letzte Mal gehört hatten...doch gab es keinen Zweifel...es waren jene Sirenen...jene Sirenen von jenem Tag. Er war zurück.

»Bürger Equalitys...mehr als 3000 Tage sind vergangen, seit ich mich das letzte Mal an euch gerichtet habe...und ich muss sagen, ich bin ausgesprochen stolz auf euch. Ich habe euch die Freiheit geschenkt, ihr habt sie genutzt – sowohl den Krieg als auch den Frieden für euch entdeckt. Jedoch ist auch mir der Stillstand nicht entgangen, der in meine Stadt eingekehrt ist...was ich euch natürlich nicht vorwerfe, denn jede eurer Entscheidungen stand euch seit eurer Geburt völlig frei. Ich habe beschlossen, eine kleine Regeländerung vorzunehmen, die euch ein paar mehr Optionen zur Verfügung stellt. Einem von euch werde ich nun die Fähigkeit des Sammlers verleihen, mit welcher es möglich ist, Tokens von anderen Einwohnern zu erhalten. Der Sammler wird von mir persönlich bestimmt und es wird ein Mensch sein, von welchem ich sehr begeistert bin – ein Mensch, der sowohl Ehrgeiz, Loyalität als auch Besonnenheit in seinem Herzen trägt.«

»Ein Mensch, der Tokens von anderen Menschen erhalten kann?«, wiederholte ich in meinen Gedanken. »Ehrgeiz...Loyalität...Besonnenheit?« Das passte perfekt zu...nein, er sprach doch nicht etwa von...Warleck?

»Der Sammler kann selbst darüber entscheiden, ob er oder sie seine Identität offenbart; die restlichen Menschen können ebenso entscheiden, ob sie dem Sammler Tokens schenken, ihm diese verweigern oder ihn einfach töten, damit diese Regeländerung wieder zunichtegemacht wird. Wie ihr seht, die Grundsäulen meiner Stadt werden sich nicht verändern; ihr besitzt alle weiterhin die volle Freiheit über eure Entscheidungen und die Ungleichheit des Sammlers kann nur dann entstehen, wenn andere sich freiwillig benachteiligen wollen. Dieser Faktor ist entscheidend dafür, um die Gerechtigkeit zu bewahren. Der Sammler wird nun ein starkes Brennen in seinem linken Arm spüren, damit er weiß, dass ich ihn auserkoren habe. Frieden oder Freiheit, ihr habt die Wahl.«

Die Stimme des Bürgermeisters verschwand, doch sie schien für ein paar Sekunden noch in meinen Gedanken nachzuhallen. Ich starrte noch immer völlig entsetzt auf den Boden und versuchte zu verarbeiten, was ich gerade gehört hatte. Wenn dieser Sammler wirklich Warleck sein sollte, hätte er gewiss die Macht, das Zentrum anzugreifen. Wieso würde der Bürgermeister so etwas tun? Wollte er etwa keinen Frieden? Wollte er, dass Menschen starben?

»AAAAAUAA...LILIAA...MEIN ARM...ES...ES TUT SO WEH!«

Ein Gefühl des Schwindels trat augenblicklich in meinem Körper auf und ich verkrampfte. Das war doch nicht...ich konnte es nicht glauben...das durfte doch nicht sein! Ich suchte in meinen Gedanken nach einer Erklärung, nach einem sinnvollen Grund, wieso das hier nicht möglich sein konnte, aber ich fand keinen. Nichts und niemand konnte mir erklären, warum Siletha in diesem Moment auf dem Boden kniete und sich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck ihren linken Arm festhielt – nichts und niemand außer der Tatsache, dass ausgerechnet meine kleine Schwester vom Bürgermeister zur Sammlerin auserwählt worden war.

-Das Fest des Friedens-

Sag mir, fürchtest du den Tod? Entschuldige bitte diese persönliche Frage; es ist nur so, dass mir der unvorstellbare Gedanke daran, eines schönen Tages nicht mehr zu existieren, immer eine ungemeine Angst bereitet hat. Auch wenn Bürger Equalitys nicht zwangsläufig sterben mussten, der Tod war in unserer Stadt dennoch schon immer allgegenwärtig gewesen. Cat sagte immer, die Menschen hätten in der Vergangenheit bereits so oft bewiesen, wie dumm und unvernünftig sie wären, dass sie sich früher oder später ohnehin gegenseitig umbringen würden. Meine Mutter drückte sich zwar nie ganz so drastisch aus, aber immer, wenn ich sie auf meine Todesangst ansprach, legte sie mir ans Herz, mir meiner kostbaren Zeit bewusst zu sein und jeden Tag zu genießen, als wäre es mein letzter.

Nur die wenigsten Menschen waren wirklich dem Glauben verfallen, ewig in dieser Stadt leben zu können...und zu diesen Naivlingen gehörte ich sicher nicht. Also blieb mir überhaupt nichts anderes übrig, als mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, irgendwann sterben zu müssen – meine Familie und Freunde nie wieder zu sehen; meine blühende Heimat nie wieder betreten zu können; nie wieder die köstliche Würzung meines geliebten Erbseneintopfes zu schmecken; nie wieder das weiche, kitzlige Gras an meinen Fingerspitzen zu spüren; nie wieder diese einzigartige Unbeschwertheit zu empfinden, wenn ich auf einem Pilz herumsprang, und nie wieder den sanften, lieblichen Klängen der Musik lauschen zu können. Doch mit dieser Tatsache wollte ich mich einfach nicht abfinden; das konnte schließlich nicht alles sein. Es konnte doch nicht sein, dass von der einen auf die andere Sekunde einfach alles verschwand und es so wäre, als hätte die Welt nie existiert. Es musste noch etwas nach diesem Leben in dieser Stadt geben. Alles andere war schließlich völlig sinnfrei. Wenn wir so oder so eines Tages verschwinden würden, wieso waren wir dann überhaupt geboren worden? Manchmal, wenn mich diese Gedanken, Spekulationen und auch unbeschreiblichen Ängste überkamen und ich es nicht schaffte, sie auszublenden, suchte ich in meiner Verzweiflung vergeblich nach Antworten – und es war ausgerechnet einen Tag bevor das freudige Fest des Friedens gefeiert werden sollte, als meine Ängste aus irgendeinem Grund erneut die Kontrolle über meinen Geist gewannen.

»Sobald ein Mensch aufgrund von Verletzungen oder eines Nahrungsmangels seinen letzten Lebenspunkt verloren hat, verliert er sein Bewusstsein und stirbt. Der Körper verfällt daraufhin innerhalb eines Tages zu winzigen hellblauen Lichtstrahlen.«

»Ja, verdammte Scheiße, aber was passiert mit unserem Bewusstsein, nachdem wir gestorben sind, du beschissenes, nichtssagendes Buch?« Meine Hände waren zittrig, der

Schweiß tropfte mir von der Stirn und ein Engegefühl in der Brust hemmte meine Atmung. Es war schon einige Zeit vergangen, seit ich das letzte Mal Teile meiner kostbaren Tokens dafür geopfert hatte, das Gesetzbuch von Equality zu kaufen, aber vielleicht würde ich ja dieses Mal mit frischen Augen eine neue Erkenntnis erlangen – etwas verstehen, was andere noch nicht verstanden hatten. Ich blätterte und las...blättere und las...Stunde um Stunde. Ab und zu musste ich Abschnitte mehrmals lesen, auch wenn ich sie schon kannte, weil meine Aufmerksamkeit ein wenig nachließ – aber ich wollte jedes Wort aufnehmen und verinnerlichen, in der vergeblichen Hoffnung, irgendwie etwas darin zu finden, was mir bei den vorherigen Lesedurchgängen nicht aufgefallen war.

»Alle Items sind jederzeit über den Server abrufbar und können gegen den jeweiligen Preis erworben werden. Eine Ausnahme bilden hierbei Nahrungs- sowie Heilungsitems, welche nur zwischen 6 und 20 Uhr ausschließlich in den Item-Läden erworben und auch nur in diesem Zeitraum konsumiert werden können. Je teurer die Items, desto höher ist ihr Level. Bürger können zwar die Items des nächsthöheren Levels einsehen, die sie sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht leisten können; alle Level darüber bleiben bis zum Levelaufstieg jedoch verborgen. Insgesamt gibt es 10 Level.«

Diese Stellen kannte ich inzwischen fast auswendig, und ich erwartete in den Gesetzen, die die Items betrafen, auch eigentlich keine Informationen zwischen den Zeilen mehr, die mir etwas über den Tod sagen würden. Die Ungeduld gewann also und ich blätterte einige Seiten nach vorne; immer mal wieder stoppte ich trotzdem und las einzelne Abschnitte ganz. Mein Mund formte die Wörter mit, die ich schon so oft gelesen hatte.

»Erworbene Items sind allein für den Käufer verwendbar. Je nach Verwendungszweck des Items ist es also nicht möglich, Items anderer Bürger zu berühren, zu sehen, zu schmecken, zu riechen oder zu hören. Ausnahmen bilden kollektive Items, welche man gemeinsam kaufen kann. Beispiele hierfür sind Musikanlagen, Gesellschaftsspiele und Fahrzeuge. Freie Items wie Häuser, Betten und Straßen stehen jedem Bürger ohne Bezahlung zur Verfügung.«

Je weiter ich las, ohne das zu finden, was ich suchte – auch wenn ich selbst nicht genau wusste, was das war – desto frustrierter wurde ich. Ich blättere, blätterte und blättere, überflog die Seiten, bis ich schließlich wieder bei dem letzten der 1000 Gesetze angekommen war:

»Die Bevölkerungszahl kann zwar jederzeit gesenkt werden, sie zu erhöhen ist jedoch unmöglich. Die 100.000 Menschen, welche vom Bürgermeister willkommen geheißen wurden, sind auch die einzigen Bürger, welche jemals den erstmaligen Genuss unserer Stadt spüren durften.«

»Das bringt doch alles nichts«, flüsterte ich vor mich hin und klappte das dicke Buch zu. Ich legte es auf meiner Brust ab und das Gewicht half mir sogar ein wenig, mich zu beruhigen. Es war wie ein Anker, der mich davon abhielt, völlig aus der Haut zu fahren. Mein Atem verlangsamte sich und die Frustration verblasste nach und nach, doch ein Gefühl der Enttäuschung nahm ihren Platz ein. Ich wusste zwar selbst, dass ich in diesem ollen Schinken niemals die Antworten finden würde, die ich suchte, aber immer, wenn ich die unzähligen Seiten durchforstete, spürte ich wenigstens einen winzig kleinen Funken irrationale Hoffnung – Hoffnung, die mir Kraft spendete, in Phasen, in welchen mich die Hoffnungslosigkeit zu verschlingen drohte. Dann konnte ich mir wenigstens einreden, ich tat etwas, um weiterzukommen, anstatt nur herumzusitzen und auf einen ungewissen Tod zu warten – aber wenn ich am Ende dieser Lese-Sessions dann trotzdem nie etwas Neues über das Leben und diese Welt gelernt hatte, machte es mich doch ein wenig traurig.

»Schaut mal, Leute!«, ertönte plötzlich die Stimme von Cat in meinem Ohr. Ihr ekelhafter, arroganter Unterton befreite mich schlagartig aus meinen Gedanken. Sie, Siletha, Hugo und Fire waren auf den Pilz geklettert, der neben dem stand, auf welchem ich eigentlich meine Ruhe gesucht hatte. »Lilia liest sich mal wieder das Gesetzbuch durch, um uns unter die Nase zu reiben, wie ach so vernünftiger und reifer sie ist als wir.«

»Halt die Schnauze, Cat!«, fauchte ich zu ihr herüber, doch begann sie daraufhin bloß, gehässig zu grinsen. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, mich nicht mehr über Cats permanente Sticheleien aufzuregen, aber wenn sie mir in einem meiner verletzlichsten Momente etwas unterstellte, was einfach nicht der Wahrheit entsprach, wurde ich unwillkürlich wütend.

»Seid bitte nicht gemein zueinander«, sagte Hugo traurig und senkte seinen metallenen Kopf.

»Hugo hat Recht«, sagte Fire und begann auf dem Pilz auf- und abzuspringen, was sie immer weiter in die Lüfte steigen ließ. Ihre Flammenhaare wehten dabei auf hypnotisierende Art und Weise im Wind hin und her.

»Lasst uns...einfach...ein bisschen...Spaß haben!«

»Keine Lust...«, sagte ich und klappte mein Buch wieder auf. Allerdings las ich mir die Gesetze kein zweites Mal durch – dafür hatte ich keine Nerven – sondern lauschte bloß verträumt den Worten und dem freudigen Gelächter der anderen. Eigentlich wollte ich gerade auch nichts anderes tun, als mit ihnen von Pilz zu Pilz zu springen und nicht mehr in meinen Gedanken zu verweilen, die sich sowieso nur wiederholten – aber in diesem Augenblick war es mir lieber, in purer Langeweile zu versinken als einen weiteren Spruch von Cat abzubekommen.

»Hey, Lilia!«, rief Siletha plötzlich zu mir herüber und deutete mit ihrem Zeigefinger zum Tor, welches zur Brücke zwischen Rast und dem Zentrum führte. »Ist das da hinten nicht Limus?«

Mein Blick fiel auf eine schwarzgekleidete Gestalt mit dunklen Haaren – sein Äußeres stach innerhalb unserer grünen Heimat deutlich heraus. Hastig blickte ich mich um. Dank des hohen Pilzes, auf dem ich nun stand, konnte ich schnell das ganze Dorf nach einer bestimmten anderen Person absuchen, die mir aufgrund ihres ähnlichen dunklen Erscheinungsbildes schnell ins Auge fiel.

»Siletha!«, rief ich hektisch meiner kleinen Schwester zu. »Schau, dort drüben. Warleck ist vor Mutters Haus. Renn zu ihm und versteck ihn in einer Hütte. Ich werde in der Zwischenzeit versuchen, Limus irgendwie abzulenken. Wenn er Warleck außerhalb seines Bezirks sieht, dann bekommt nicht nur er, sondern vielleicht auch Mutter riesige Probleme.«

»Wird gemacht«, antwortete Siletha, wonach unsere Freunde uns hinterherschauten, wie wir von Pilz zu Pilz sprangen und innerhalb von Sekunden den weichen Boden erreichten. Mein Buch hatte ich auf dem Pilz hinterlassen – entweder ich würde es nachher noch abholen oder es würde spätestens morgen früh sowieso von allein wieder verschwinden. Im Moment gab es Wichtigeres, welches meine Aufmerksamkeit verlangte. Siletha sprintete hastig den kleinen Weg hinauf, der zur Hütte unserer Mutter führte, während ich mich geschwind in Richtung der großen, dünnen Gestalt aufmachte, welche sich mit langsamen Schritten durch unser Dorf bewegte. Kurz bevor ich angekommen war, bremste ich abrupt ab, um möglichst unauffällig zu wirken.

»Grüß dich, Lilia«, sagte Limus freundlich, als er mich aus einigen Metern Entfernung erkannte.

»Heeeeeeey«, entgegnete ich auf eine ziemlich...peinliche Art. Limus blieb daraufhin stehen und ich stellte mich ihm so gegenüber, dass sein Blick nicht Siletha und Warleck finden konnte.

»Es ist schön, mal wieder hier zu sein«, sagte er freudig und seine violetten Augen funkelten mich an – mein seltsames Verhalten schien ihn nicht zu stören. Plötzlich durchzog mich neben der leichten Panik, da ich ihn ablenken sollte, noch ein zweites, gegensätzliches Gefühl – dieses sonderbare Kribbeln, das immer dann in mir auftauchte, wenn sich der mit einem weißen Hemd, einer schwarzer Anzugweste und violetten Diamant-Ohrringen geschmückte schmallippige, große junge Mann mit den verwuschelten schwarzen Haaren in meiner Nähe befand. Mein Herz raste und es war nicht mehr nur der Aufregung und des körperlichen Aufwands bedingt.