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Wer darf leben, wer muss sterben? Yama, die weltberühmte Autorin, stellt in ihren Büchern grausame Fragen: Wer darf leben? Der rehabilitierte Mörder oder der rassistische Finanzhai? Das todkranke Kind oder der kerngesunde Rentner? Doch was niemand ahnt, ist, dass diese düsteren Szenarien weit mehr als nur fiktive Handlungsstränge sind. In den Tiefen ihres Kellers werden diese Entscheidungen wirklich getroffen - ein tödliches Spiel, bei dem das Monster in ihrem Kopf sie nicht loslässt. Und dann ist da noch Chio, ein junges Mädchen, das Yama blind verehrt und in einen Strudel aus Wahnsinn und Dunkelheit hineingezogen wird. Während Yamas innere Welt immer mehr aus den Fugen gerät, verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität mit verheerenden Folgen. Werden ihre dunklen Gedanken die Welt verschlingen?
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Seitenzahl: 148
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-Der Anfang vom Ende-
-Hölle auf Erden-
-Dunkler Ritter-
-Herrscherin in Not-
-Schlange im Nest-
-Tiefer Fall-
-Der wahre Kern-
-Stern und Teufel-
Existenz – was für ein seltsames Wort. Es beschreibt den Zustand des Seins, doch seine Bedeutung bleibt flüchtig, wie Rauch in der kalten Morgenluft. Oft fragte ich mich, ob es überhaupt sinnvoll sei, geboren zu werden. Was rechtfertigt die Last der Existenz, die wir alle tragen? Von dem Moment an, in dem wir das Licht der Welt erblicken, sind wir gefangen in einem Netz von Erwartungen, Zwängen und unausweichlichen Pflichten. Wir werden zu Spielern in einem Stück, dessen Drehbuch wir nie gesehen haben, mit Rollen, die uns fremd sind. Ist es nicht ironisch, dass wir nach einem tieferen Sinn suchen, in einer Welt, die vielleicht gar keinen hat? Schon immer hatte ich diese Einstellung. Meine frühesten Erinnerungen sind geprägt von der Sehnsucht nach Bedeutung, nach einem tieferen Verständnis.
Ich erinnere mich an einen besonderen Tag, als ich mit meiner Mutter und meiner Schwester über ein mir endlos vorkommendes, paradiesisches Feld spazierte. Der Himmel war klar und unendlich blau, wie ein Gemälde ohne Grenzen. Die Sonne schien warm und gütig auf uns herab und tauchte die Welt in goldenes Licht. Die Blumen blühten in leuchtenden Farben, jede einzelne ein kleines Wunder der Natur. Ihr süßer Duft erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Wind, dessen sanftes Rauschen die Gräser zum Tanzen brachte.
Meine Mutter hielt meine Hand fest. Ihre Berührung war warm und beruhigend. Ihre andere Hand hielt die meiner Schwester, die mit großen, neugierigen Augen die Welt um uns herum betrachtete. Es war ein Moment des vollkommenen Friedens; ein Augenblick, in dem die Zeit stillzustehen schien.
Wir gingen weiter, unsere Schritte leicht und voller Freude. Bald erreichten wir unsere Höhle, einen geheimnisvollen Ort, den wir oft besuchten. Der Eingang war von Efeu überwuchert und wirkte wie das Tor zu einer anderen Welt. Im Inneren war es kühl und schattig, die Stille war fast greifbar. Meine Mutter führte uns tiefer in die Höhle hinein. Die Dunkelheit umhüllte uns wie ein weiches Tuch, während das Licht von draußen zu einem fernen Schimmer wurde. Schließlich blieb sie stehen und wandte sich mir zu.
»Sprich, mein Kind, ist es dir wichtig, dass wir hier zusammen sind? Vereint in dieser Welt?«, fragte sie mit sanfter Stimme. Ich dachte kurz nach, dann lächelte ich und umarmte sie fest.
»Wo wir auch sind, solange wir es teilen, ist es mir egal«, sagte ich voller Überzeugung. »Selbst wenn wir gemeinsam im Nichts verschwinden.« Ein Schatten huschte über das Gesicht meiner Mutter, und bevor ich realisieren konnte, was geschah, packte sie mich fest. Ihre Hand traf mein Gesicht mit einer solchen Wucht, dass es mich aus der Erinnerung riss. Der Schlag hallte in meinem Kopf wider und brachte mich zurück in die Gegenwart, weg von der Illusion des Friedens und der Sicherheit. Die kühle, dunkle Höhle verblasste und wurde ersetzt durch die geschäftigen Straßen der Stadt. Der Kontrast war scharf und ernüchternd. Um mich herum strömten Menschen in alle Richtungen, hastig und ziellos zugleich. Die Luft war erfüllt von einem Gemisch aus Abgasen, Essen von Straßenverkäufern, und dem unverkennbaren Geruch von Asphalt nach einem kurzen Sommerregen.
Ich saß auf einer alten Decke, die neben einem riesigen Geschäftsgebäude ausgebreitet war. Die massiven Glastüren des Gebäudes spiegelten das hektische Treiben auf den Straßen wider. Passanten eilten vorbei, jeder in seine eigene Welt vertieft, die Augen auf seine Ziele gerichtet, ohne den Blick zur Seite zu wenden. Die Stadt war ein lebendiges Mosaik von Geschichten, jede Person ein ungeschriebenes Kapitel.
Neben mir saß ein Mann in schäbiger Kleidung, sein Gesicht von tiefen Falten und Schmutz gezeichnet. Er hielt eine alte, abgenutzte Kaffeetasse in den Händen, in der ein paar Münzen klimperten, wann immer jemand achtlos eine weitere hineinwarf. Ich beobachtete die vorbeieilenden Passanten, von denen ihn die allermeisten ignorierten, als wäre er unsichtbar. In der Ferne hörte ich das Hupen der Autos, das Gemurmel der Menschenmengen und das gelegentliche Lachen eines Kindes. Jeder Anblick, jeder Geruch, jedes Geräusch wurde in meinem Geist gespeichert. Die Stadt war ein endloses Meer von Eindrücken, und ich versuchte, in jedem Tropfen eine Geschichte zu finden.
Eine Weile saß ich dort, vertieft in meine Gedanken und Beobachtungen, bis der Mann neben mir sich räusperte und mich ansprach.
»Verzeihung, junge Frau«, sagte er mit einer rauen Stimme. »Darf ich fragen, für was...naja, für was genau Sie das hier machen? Nicht, dass mir ihre Anwesenheit etwas ausmachen würde, im Gegenteil, aber für gewöhnlich machen Menschen eher einen großen Bogen um mich, wie...wie Sie ja selbst sehen.«
Ich wandte mich ihm zu und lächelte leicht. »Die wissen einfach ihre gute Gesellschaft nicht wertzuschätzen«, antwortete ich. »Aber sicher, ich sage es Ihnen gerne. Ich schreibe für eine Kulturzeitschrift und versuche, die verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen der Menschen in dieser Stadt einzufangen. Heute wollte ich mich in die Perspektive eines Obdachlosen versetzen, um Ihre Lebensrealität besser zu verstehen und für unsere Leser greifbarer zu machen. Ich will verstehen, wer Sie wirklich sind und nicht, was andere über sie denken könnten. Also vielen Dank, dass Sie mir dies ermöglichen.«
Er nickte langsam, seine Augen musterten mich neugierig. »Es ist gut, dass jemand unsere Geschichte erzählen will«, sagte er schließlich. »Wir sind ja auch nur Menschen, wissen Sie.«
»Das weiß ich...und ich hoffe, dass meine Worte anderen helfen können, das auch zu verstehen.« Wir saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander, während die Stadt um uns herum in ihrem hektischen Rhythmus weitertanzte. Jeder Mensch, der an uns vorbeiging, war ein flüchtiger Moment, ein winziger Teil eines größeren Ganzen. Und ich war nur eine Beobachterin, die versuchte, all das in Worte zu fassen.
Ein Mann in einem teuren Anzug kam die Straße entlang. Sein Blick war selbstbewusst und sein Gang fest, als gehöre ihm die ganze Stadt. Der Bettler neben mir hob die abgenutzte Kaffeetasse und fragte mit leiser Stimme: »Hätten Sie ein wenig Kleingeld übrig?«
Der Mann blieb stehen und blickte herab. Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen. Ohne ein Wort zog er eine glänzende Münze aus seiner Tasche und hielt sie über die Tasse. Doch anstatt sie hineinzulegen, spuckte er zunächst darauf und ließ sie erst dann in die Tasse fallen.
»Ratten wie du sollten im Chaos verrotten«, sagte er verächtlich. Seine Stimme war laut genug, dass einige Passanten innehielten und neugierig zusahen. »Warum sollte ich mein hart verdientes Geld an Abschaum wie dich verschwenden, während du und deinesgleichen nichts anderes tut außer den Anblick unserer schönen Stadt zu beschmutzen?« Er richtete sich auf, warf die Schultern zurück und sah sich selbstgefällig um. »Ich bin steinreich und arbeite für dieses erfolgreiche Unternehmen«, erklärte er und deutete mit einer ausladenden Geste auf das riesige Geschäftsgebäude hinter uns. »Und gleich habe ich ein Date mit einer scharfen, erfolgreichen Frau. Mein Leben ist perfekt. Und was hast du, huh? Nichts als Dreck und Elend. Also tu der Welt einen Gefallen und beende dein erbärmliches Leben.«
Sein Lachen war kalt und hohl. Er trat einen Schritt zurück, als wäre die bloße Nähe des Bettlers ein Makel. Ich beobachtete die Szene schweigend durch meine dunkle Sonnenbrille. Die Worte des Mannes brannten sich in mein Gedächtnis ein. Der Bettler sagte nichts mehr, senkte nur den Blick und starrte auf die bespuckte Münze in seiner Tasse. Der Mann in dem Anzug wandte sich ab und setzte seinen Weg stolz fort, als hätte er gerade etwas Triumphales vollbracht.
Ich machte mir eine mentale Notiz: der Reiche, der seine Überlegenheit demonstrierte; der Bettler, der schweigend den Schmerz ertrug. Es waren die kleinen, scheinbar bedeutungslosen Momente, die oft die größten Wahrheiten über die menschliche Natur offenbarten.
Nachdem der Mann in dem teuren Anzug weitergegangen war, sah ich den Bettler neben mir an. Seine Schultern waren gesenkt, sein Blick starrte immer noch auf die bespuckte Münze in der Kaffeetasse. Einen Moment lang zögerte ich, dann sagte ich leise: »Möchten Sie mit mir nach Hause kommen?«
Er hob den Kopf und sah mich überrascht an. »Was? Bitte...was haben Sie gerade gesagt?«
»Ich lade Sie ein, zu mir nach Hause zu kommen. Sie könnten eine anständige Mahlzeit gebrauchen.« Verblüffung breitete sich auf seinem Gesicht aus, gefolgt von einem unsicheren Lächeln. »Meinen Sie das wirklich ernst? Jemanden wie mich wollen Sie als Gast empfangen?«
Ich nickte. »Ja, wirklich. Kommen Sie mit.« Er zögerte noch einen Moment, dann stand er langsam auf und folgte mir. Wir gingen durch die vollen Straßen der Stadt und die neugierigen Blicke der Passanten begleiteten uns. Nach einer Stunde erreichten wir schließlich mein Haus, ein modernes Gebäude mit klaren Linien und großen Fenstern. Die Außenwände waren dunkel, fast schwarz, und verliehen dem Haus einen Hauch von Geheimnis. Ich öffnete die Tür und führte ihn hinein. Das Innere war ebenso dunkel und modern eingerichtet, mit minimalistischen Möbeln und gedämpfter Beleuchtung, die Schatten an die Wände warf.
»Setzen Sie sich«, sagte ich und deutete auf den Esstisch aus poliertem Stahl und Glas. Während er Platz nahm, begab ich mich in die Küche und begann, eine Mahlzeit zuzubereiten. Die Stille war nur vom gelegentlichen Klappern von Töpfen und Pfannen unterbrochen. Bald erfüllte der Duft von frisch gekochtem Gemüse, Reis und Hähnchenfleisch den Raum. Ich deckte den Tisch sorgfältig, stellte Teller, Besteck und Gläser hin. Dann brachte ich die verschiedenen Speisen in das Esszimmer und stellte sie vor ihn auf den Tisch. »Bedienen Sie sich«, sagte ich mit einem Lächeln.
Er sah das Essen mit großen Augen an und griff dann vorsichtig nach einer Gabel. »Ich… danke Ihnen«, sagte er leise, bevor er den ersten Bissen nahm. Sein Gesicht hellte sich auf und ich konnte sehen, wie sehr er den Geschmack genoss. Es war offensichtlich, dass er schon lange nicht mehr so gut gegessen hatte.
»Das ist unglaublich«, murmelte er zwischen zwei Bissen. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt eine richtige warme Mahlzeit hatte.«
»Ich bin froh, dass es Ihnen schmeckt«, antwortete ich und beobachtete, wie er sich an dem Essen erfreute.
Es klingelte an der Tür. Ich wischte mir die Hände an einem Tuch ab, schnappte mir einen Drink und ging in den Eingangsbereich, um die Tür zu öffnen. Vor mir erblickte ich den reichen Mann, der den Bettler zuvor beleidigt hatte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ohne meine Sonnenbrille würde er wohl niemals erahnen, dass er mir an diesem Tag bereits einmal begegnet war.
»Yama! Wie schön, dich endlich in Person kennenzulernen, es ist mir eine Freude! Ich habe mich schon gefragt, ob ich die richtige Adresse habe.« Er grinste und beugte sich vor, um mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben.
»Die Freude ist ganz meinerseits, komm rein«, sagte ich und reichte ihm den Drink. »Ich freue mich, dass du es geschafft hast.«
Gut gelaunt trat er ein, nippte an seinem Glas, schaute sich um...und erstarrte plötzlich. Sein Blick blieb auf dem Bettler hängen, der immer noch am Tisch saß und den letzten Bissen seiner Mahlzeit kaute. Die Augen des Bettlers weiteten sich vor Schreck, als er den Mann erkannte, der ihn nur wenige Stunden zuvor gedemütigt hatte. Dieser öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, aber dann schwankte er und fiel schwer auf den Boden. Der Drink rollte aus seiner Hand und hinterließ eine Spur von verschüttetem Gin.
Der Bettler sprang erschrocken auf und wich einen Schritt zurück, aber bevor er etwas tun konnte, sah ich, wie auch seine Augen glasig wurden. »Ich habe bei ihm die Dosis erhöht, deswegen ist er zuerst umgefallen«, sagte ich kühl, mehr zu mir selbst als zu jemandem im Raum, und schon sank der Bettler ebenfalls zu Boden. Ich blieb einen Moment lang stehen und betrachtete die beiden bewusstlosen Männer. Während ich darüber nachdachte, was ich als Nächstes tun würde, fragte ich mich, was der Bettler wohl träumte. War es eine Rückkehr zu glücklicheren Zeiten? Oder vielleicht ein Albtraum, gefangen in einer endlosen Spirale von Elend und Schmerz? Der Raum war nun still; das einzige Geräusch kam von der langsam tickenden Uhr an der Wand. Ich sah auf die beiden reglosen Körper und spürte eine unheimliche Ruhe in mir aufsteigen. Die Dunkelheit des Raumes schien sich zu vertiefen, während ich in die Abgründe meiner eigenen Gedanken eintauchte.
Als für den Bettler die absolute Dunkelheit verschwand und er seine Augen wieder öffnete, fand er sich in einem schwach beleuchteten, kühlen Raum wieder. Für einen Moment konnte er nicht begreifen, wo er war. Die Luft roch nach Feuchtigkeit und Schimmel, das einzige Licht drang durch schmale Ritzen in den Wänden. Er setzte sich mühsam auf und spähte in die Finsternis. An den Wänden bemerkte er dunkle Flecken, die wie Blut aussahen, und verrostete Ketten hingen von der Decke herab. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. War er etwa tot? War dies die Hölle?
Seine Gedanken waren wirr und ängstlich. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war, aber es war, als würde ein dunkler Nebel seine Erinnerungen verschleiern. Plötzlich fiel sein Blick auf eine junge Frau, die reglos auf dem Boden lag. Sie hatte eine blasse Haut und schwarze Haare, deren Spitzen mit verschmiertem Make-up verziert waren. Verletzungen zeichneten ihr Gesicht und ihre Kleidung war zerfetzt.
Der Bettler ging langsam und vorsichtig auf sie zu. Als er näherkam, bemerkte er, dass sie bewusstlos war. Ihr Atem war flach und unregelmäßig, ihre Stirn von Schweißperlen bedeckt. Sein Herz schlug schneller, als er sich fragte, wer sie war und vor allem was mit ihr geschehen war. Auf einmal durchzuckte ein panischer Schrei die Stille, denn die Frau erwachte mit einem Ruck. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, während sie sich umsah, als suche sie nach einem Ausweg aus der Dunkelheit. Ihre Stimme war heiser: »W-wo bin ich? Wer bist du? Lass m-mich hier raus!« Der Bettler hielt erschrocken inne, seine Hände zitterten leicht. Er wusste nicht, wie er antworten sollte. Die Situation war ebenso verwirrend wie beängstigend, und er spürte, dass etwas Unheimliches in der Luft lag, etwas, das weit über das hinausging, was er je erlebt hatte.
»Ich bin selbst hier gefangen...mein Name ist Mike«, sagte er sanft und versuchte, einen freundlichen Tonfall anzuschlagen.
»Sam«, antwortete sie leise.
Mike spürte, dass er vorsichtig sein musste. »Sam, kannst du dich noch an irgendetwas erinnern?«, fragte er behutsam. Sie schüttelte den Kopf und hielt sich die Hand an die Stirn, als würde sie versuchen, die Erinnerungen aus den finsteren Ecken des Raumes zu ziehen.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie schließlich. »Gestern Abend war ich draußen unterwegs. Eine Frau bot mir ein Getränk an, und dann... dann bin ich hier aufgewacht.« Die Erinnerung an die letzte Nacht schien wie ein Schatten, der sie umhüllte, und ihre Stimme zitterte vor Angst. Sie blickte sich ängstlich um, als ob sie hinter jeder Ecke eine weitere Gefahr vermutete. Mike legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter. »Da drüben ist eine Tür. Ich weiß nicht, wo sie uns hinführt, aber wir müssen –«
Beide zuckten zusammen, als plötzlich violettes Licht den gesamten Raum umhüllte und die Tür, auf die Mike gezeigt hatte, die noch vor wenigen Momenten offen gestanden hatte, wie von Zauberhand zufiel. Da Mike nun den gesamten Raum erkennen konnte, fiel ihm zu seinem Schrecken nun auch der bewusstlose Körper eines dürren Mannes ins Auge, der mit geschlossenen Augen mit dem Rücken an der Wand lehnte. Musik ertönte. Es waren schiefe Laute, die einer kaputten Spieluhr ähnelten, und im Takt dieser Melodie ertönte eine ihm bekannte Stimme, welche monoton die folgenden Zeilen vortrug:
»Zwei Leben hier, doch nur eines du kannst wählen,
Entscheide geschwind, das Gas wird dich quälen,
Nur fünf Minuten, die Mikes Schicksal weisen,
Ein Leben musst du retten, das andere entreißen.«
Die Worte bohrten sich tief in Mikes Verstand, während er spürte, wie sich ein überwältigender Druck in seiner Lunge ausbreitete und er husten musste.
»Was...was machen wir jetzt?«, flüsterte Sam mit zitternder Stimme. »Scheiße...ich...ich bekomme keine Luft.« Mike starrte auf den bewusstlosen Mann, während seine Gedanken panisch wirbelten.
»I-ich muss...eine Entscheidung treffen«, keuchte er schließlich, mehr zu sich selbst als zu Sam. »Aber ich weiß nicht, wie...ich...ich kann das nicht.«
Sam umklammerte seine Hand fest. »Bitte...du...du musst mich retten«, flehte sie, ihre Stimme schwach und von Husten unterbrochen. Mike wusste, dass jede Sekunde zählte. Seine Emotionen tobten in einem inneren Sturm, Zweifel und Angst kämpften gegen Entschlossenheit und Notwendigkeit. Er fühlte sich gefangen zwischen den grausamen Optionen, welche die Stimme ihm aufgezwungen hatte. Er konnte sich nun wieder genau an ihre Besitzerin erinnern, die ihn eiskalt in eine Falle gelockt hatte, nachdem er ihr blind vertraut hatte. Was war das hier für ein krankes Spiel? Was sollte das?
Er wankte schwach in Richtung des Ohnmächtigen und kniete sich neben ihm nieder. Die Sekunden verstrichen wie Stunden, während er hin- und hergerissen war zwischen den beiden erschütternden Möglichkeiten, das Gas sich immer weiter in seine Lungen presste und ihm mehr und mehr schwarz vor Augen wurde. Mike schloss die Augen und spürte die Last der Entscheidung auf seinen Schultern. Sein Atem ging in hastigen, unregelmäßigen Stößen. Schließlich öffnete er die Augen, die Entschlossenheit darin fest verankert. Er erblickte einen schweren Hammer neben dem Mann, der wohl extra für diesen Moment dort platziert worden war. Ihm gingen so viele Gedanken durch den Kopf und alles in ihm wehrte sich. Wieso sollte dieser Mann sterben? Wieso nur? Aber Sam töten kam nicht in Frage...doch warum eigentlich nicht? Warum wollte er lieber diesen Mann sterben lassen? Vielleicht hatte dieser eine Familie oder vielleicht war er ein viel besserer Mensch als Sam. Bevorzugte er sie, weil sie eine Frau war oder weil er sie jetzt seit wenigen Minuten kannte? Das ergab keinen Sinn, aber dennoch war es für ihn die einzig mögliche Entscheidung.