Timelines - Luca Snow - E-Book

Timelines E-Book

Luca Snow

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Beschreibung

"Zeit heilt alle Wunden und reißt sie wieder auf." Sumoki und Nemo leben in Nagano und sind beste Freundinnen, obwohl sie völlig unterschiedlich sind. Bei einem ihrer Waldspaziergänge entdecken sie zwei Uhren, die sich wie ein Fluch an die beiden binden. Sumoki kann mit ihrer Uhr sieben Jahre in die Vergangenheit reisen und Nemo mit ihrer sieben Jahre in die Zukunft - ihre Seelen sind jedoch miteinander verknüpft, sodass sie bewusst immer in derselben Zeit leben müssen. Die beiden Mädchen müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob die gewohnte Vergangenheit oder eine ungewisse Zukunft der Schlüssel ist, um die tiefen Wunden in ihren Herzen endlich heilen zu können. Die verwirrte Zeitgöttin Tikato beobachtet das Geschehen jedenfalls mit großem Interesse...

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gegensätze

Der Tag vor dem Morgen

Zittern zum Beat

Erkenntnis

Glück im Unglück

Besucher

Chance

Der Brief

Göttin der Zeit

-Vorwort-

In dieser Geschichte spielen psychische Krankheiten eine große Rolle. Es war mir wichtig, einige Themen in diesem Zusammenhang zu enttabuisieren und Aufklärung zu betreiben. Ich bin mir sicher, man kann aus den beschriebenen Ereignissen positive Denkanreize mitnehmen, jedoch bin ich mir bewusst, dass für Menschen, denen es akut sehr schlecht geht, ein kleiner Trigger reichen kann, um sie auf schlimme Gedanken zu bringen. Wenn du also das Gefühl hast, dass dich harte Themen aktuell sehr stark mitnehmen, dann lese dieses Buch am besten erst, wenn es dir besser geht. Solltest du dich jedoch fälschlicherweise bereit gefühlt haben und von der Geschichte stark negativ getriggert worden sein, dann breche sie bitte ab und zögere nicht im Notfall nach Hilfe zu suchen. Du bist nicht allein. (Telefonseelsorge 24 Stunden erreichbar unter: 0800 1110111)

Ein besonderer Dank geht raus an meinen liebsten Kindred-Spieler, ohne den es diese Geschichte vielleicht gar nicht geben würde.

-Gegensätze-

Zeit heilt alle Wunden und reißt sie wieder auf. Wie eine unsichtbare Hand, die aus unserer Existenz ein Leben formt, schiebt sie uns unserem unausweichlichen Schicksal immer näher, ohne dass wir es verhindern können. Wenn es nach der Wissenschaft geht, ist die Zeit gemeinsam mit dem Raum erst durch den Urknall entstanden und welcher Zustand davor herrschte, ist bis heute eines der größten Mysterien der Menschheit. Wie könnte eine zeitlose Welt bloß ausgesehen haben? Wir können uns die Nichtexistenz der Zeit genauso wenig vorstellen wie die Nichtexistenz unserer Selbst; dies offenbart, wie abhängig wir von ihr sind. Dennoch ist sie nicht nur in die Fragen des Großen und Ganzen verwickelt, sondern ebenso in den Alltag eines einfachen Menschen. Ihren hohen Stellenwert in meinem Leben war ich mir sehr lange nicht bewusst; ich dachte vor allem immer nur dann über sie nach, wenn ich das unerklärliche Gefühl verspürte, dass sie langsamer verging, wenn ich wollte, dass sie schnell verging und sie schneller verging, wenn ich wollte, dass sie stillstand.

Wie sehr ich mir doch in diesem Moment gewünscht hätte, dass ich nicht an sie gebunden wäre. Ich wusste nicht genau, wie spät ich schon dran war, aber des ungeduldigen Wackelns von Sumōkīs Beinen nach zu urteilen, war sie bereits kurz davor, wieder zu verschwinden. Doch musste ich das hier noch vollenden; ein paar wenige Details fehlten noch. Die Feinheiten des kahlen Baumstammes, auf welchem sie saß; die Haarspange, die ihre blauen Haare von ihrem Gesicht fernhielt; das Vogelnest auf dem Baum neben ihr, der noch mit ein wenig Restschnee bedeckt war, sowie das alte, ausgefranste Fischerseil, welches um einen der Äste gewickelt war und fast bis zum Boden herunterhing. Mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, wurde ich immer hektischer, doch meine Hand hielt ich mit großer Mühe ruhig – nur ein paar Details, nur noch wenige Striche und-

Dann sprang Sumōkī auf ihre kurzen Beine und ging ein paar Schritte über den Waldboden.

Blitzschnell faltete ich das Stück Papier in meinen Händen, steckte es zusammen mit meinem Bleistift in meine Jackentasche und ließ mein Versteck hinter mir, um ihr zu folgen.

»Da bist du ja«, sagte Sumōkī matt, nachdem ich bei ihr angekommen war. Die Blicke, die von ihren blauen Augen ausgingen und über mein Gesicht wanderten, waren jedoch kein bisschen anklagend. »Ist alles in Ordnung? Du bist noch nie zu spät gekommen.«

»Ja...alles gut«, antwortete ich ein wenig aus der Puste. Meine Haare hingen vor meinen Augen; ich strich sie hektisch weg, um Sumōkī besser sehen zu können. »Ich bin nur ein wenig zu spät losgelaufen, weil ich-«

»Kein Problem«, fuhr sie dazwischen und kam rasch auf mich zu. So wie jedes Mal holte sie daraufhin ihre alte Polaroid-Kamera hervor, stellte sich neben mich und drehte die Linse zu uns um. Ich war noch immer von dem Blitzlicht geblendet, als sie bereits das gedruckte Bild herauszog und dieses hin und her schüttelte, damit es sich schnell entwickeln konnte. Sie verstaute daraufhin die Kamera erneut in ihrer Jackentasche und ging voraus entlang unserer täglichen Route; ich rieb mir noch einmal durch die Augen, wonach ich ihr schlussendlich folgte.

Während wir über die abgefallenen Blätter und ein wenig Restschnee vom Vortag stapften, sprachen wir kein Wort miteinander, aber das war okay; Sumōkī war nun mal sehr schweigsam und die Kraft, von selbst ein Gespräch zu beginnen, hatte ich nicht. Andere hätten es wahrscheinlich nicht verstehen können, warum sich zwei Mädchen jeden Nachmittag zum Spazieren trafen, nur um sich den ganzen Weg anzuschweigen - ich wusste es ehrlich gesagt selbst nicht so genau; wusste nicht einmal wirklich, wieso wir eigentlich Freunde waren – dennoch begab ich mich ausnahmslos jeden Tag zu unserem Treffpunkt, seit wir uns zufällig vor einem Jahr an genau diesem Fleck begegnet waren. Und die Vorfreude auf diese Zeit des Tages ließ die Zeit davor auch viel erträglicher werden.

»Sag mal...«, Sumōkī blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um; fast wäre ich auf sie draufgefallen, »...wieso hast du eigentlich diesen Stift in deiner Jackentasche?« Trotz der kalten Außentemperaturen schoss mir sofort Hitze durch meinen ganzen Körper.

»Ich...also...«, ich strich mir durch meine Haare, kratze mich dabei an der Schläfe und spürte bereits anhand des Kribbelns an meinen Backen, dass ich purpurrot anlief. »In der Schule...wir...wir haben-«

Doch bevor ich weiterreden konnte, hatte Sumōkī blitzschnell eine ihrer von Handschuhen ummantelten Hände in meine Jackentasche gesteckt und das kleine, zusammengefaltete Stück Papier herausgezogen.

»Ich bin nicht blind, Nemo«, sprach sie monoton. »Dachtest du, ich bemerke nicht, wenn du dich hinter einem dieser dünnen Bäume versteckst?«

»Du...du hast mich die ganze Zeit gesehen?«

»Die ganze Zeit.«

»Und wieso hast du...wieso hast du nichts gesagt?«

»Weil ich das Endprodukt sehen wollte.« Sie entfaltete das Stück Papier und blickte für einige Sekunden unbeeindruckt drauf. Alles in meinem Körper kribbelte und je mehr ich versuchte, das Brennen in meinen Wangen zu stoppen, desto stärker wurde es. Es war Jahre her, seit das letzte Mal jemand eine meiner Zeichnungen zu Gesicht bekommen hatte. Ich hielt diese Stille nicht aus; ich wollte mich am liebsten in Luft auflösen. Stattdessen riss ich ihr hastig das Stück Papier aus der Hand und steckte es wieder in meine Jackentasche.

»Es tut mir leid, ich habe dich einfach gezeichnet, ohne zu fragen, das war nicht in Ordnung. Das alles hier ist sowieso-«

»Sowieso was?«, unterbrach sie mich. Mit vor Unsicherheit und Verlegenheit tränenden Augen blickte ich sie an.

»Sowieso nur...Zeitverschwendung. Ich sollte mich lieber auf meine Schulleistungen konzentrieren, anstatt auf so einen Unsinn.« Sumōkī sagte nichts. Stattdessen ging sie einen Schritt auf mich zu, griff abermals in meine Jackentasche und steckte die Zeichnung dann in ihre eigene.

»Die gehört mir...schließlich bin ich die Person, die auf dem Bild zu sehen ist. Wenn du ein neues haben willst, musst du eben morgen nochmal eins zeichnen.« Verdutzt blickte ich sie an. Gefiel ihr diese - in meinen Augen maximal passable - Zeichnung etwa? Oder wollte sie eine neue, weil sie diese absolut furchtbar fand? Oder wollte sie...dass ich...einfach weitermachte? Fand sie es nicht schlimm, dass ich sie heimlich beobachtet hatte? Meine Wangen wurden erneut heiß – dabei hatte ich die Röte doch gerade erst unter Kontrolle bekommen.

Auf einmal bemerkte ich ein grelles blaues Licht aus meinem linken Augenwinkel. Es kam so plötzlich und sah so unnatürlich aus, dass ich zunächst dachte, es wäre einem merkwürdigen Flackern meiner Augen zu verdanken, doch anhand von Sumōkīs ebenfalls vor Schreck zusammenzuckenden Körpers verstand ich, dass es real war. Bevor wir jedoch herausfinden konnten, worum es sich handelte, war das blaue Leuchten auch schon wieder verschwunden.

»W-was war das?«, hauchte ich hervor und spürte, wie mein Herz gegen meinen Brustkorb klopfte.

»Keine Ahnung...komm, wir sehen nach.« Sie ging einen Schritt in die Richtung, aus der das Leuchten gekommen war, jedoch folgte ich ihr diesmal nicht.

»V-vielleicht sollten wir lieber davon wegbleiben...vielleicht war das...was Gefährliches.« Sumōkīs Blick war weder genervt noch wütend, als sie wieder zu mir zurückkam. Ihr schien aufgefallen zu sein, wie stark meine linke Hand zitterte, oder sie wusste es bereits, ohne es zu sehen, da ich diese Hand nie unter Kontrolle hatte, wenn mich die Angst überkam. Sie legte ihre rechte Hand über sie und ihre linke Hand darunter und blickte mir aus kurzer Distanz in die Augen.

»Lass uns zusammen atmen, Nemo«, flüsterte sie, während sie ihre Augen schloss und tief durch die Nase einatmete. Ich tat es ihr nach und als meine Lunge prall gefüllt war, stieß ich die Luft durch den Mund wieder aus. Das wiederholten wir mehrere Male. Ich schaute auf die Bewegungen ihrer Nase und Lippen, beobachtete das kontrollierte Heben sowie Senken ihrer Brust und orientierte mich daran. Die Wärme ihrer Handschuhe war angenehm; ich traute mich, ebenfalls die Augen zu schließen und versuchte, mich vollkommen auf dieses Gefühl und meine Atmung zu konzentrieren. Ich spürte nach und nach wie mein Herz, meine Hand und alles in mir begann, sich zu beruhigen. Als ich meine Augen wieder öffnete, setzte mein Herz einen letzten kleinen Schlag aus, und dann normalisierte sich das Herzklopfen wieder endgültig.

»Solange ich da bin, wird dich die Angst niemals beherrschen...«, sagte Sumōkī ruhig und ließ meine Hand wieder los. Sofort fehlte mir die Wärme. »In deinem Kopf sitzen Nemo und die Angst gemeinsam an einem Esstisch, aber Nemo entscheidet, was gegessen wird, und die Angst hat sich an Nemos Wünsche zu halten, klar?«

Auf eine seltsame Art und Weise fand ich diese Verbildlichung so grotesk, dass ich schmunzeln musste. Dann holte ich noch einmal tief Luft und ging mit neuer Kraft in die Richtung, aus der das blaue Licht gekommen war. Diesmal war es Sumōkī, die mir folgte.

Wir gingen zu der Stelle und sahen zunächst nichts, was erklärte, wo dieses mysteriöse Licht hergekommen war, bis

Sumōkī anfing, unter den vielen Blättern nach einer Antwort zu suchen.

»Sieh mal...«, sagte sie nach wenigen Momenten des Raschelns und streckte einen kleinen runden Gegenstand in die Luft.

»Ist...ist das eine Uhr?«, fragte ich und musterte das Objekt – es sah ganz nach einer alten Taschenuhr aus. Das schwarze Gehäuse war vom Waldboden dreckig und an einzelnen Stellen mit matschigem Schnee befleckt, aber früher hatte es bestimmt wunderschön geglänzt.

»Scheint so...das Ziffernblatt ist blau.«

»Aber das Leuchten kam doch niemals von einer Uhr«, entgegnete ich kopfschüttelnd und begann nun ebenfalls unter den Blättern nach einer anderen möglichen Ursache zu suchen. Es dauerte nicht lange, dann spürte ich ebenfalls einen harten, kühlen Gegenstand an meinen Fingern.

»Hä...hier ist noch eine Uhr«, sprach ich, nun noch verwunderter als zuvor, als ich den Gegenstand von den Blättern befreite. »Sie ist auch blau.« Was hatte das bloß zu bedeuten? Solch eine merkwürdige, aber gleichzeitig wunderschöne Uhr hatte ich noch nie zuvor gesehen, und hier lagen gleich zwei davon auf einem Fleck?

»Läuft deine auch rückwärts?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. Ich blickte auf das blaue Ziffernblatt, das mit eleganten goldenen Zahlen und Zeigern verziert war – der Sekundenzeiger drehte sich so, wie er es tun sollte: in Richtung Uhrzeigersinn.

»Nein...meine läuft vorwärts.« Ich schleppte mich über die feuchten Blätterhaufen zu Sumōkī und blickte auf ihr Ziffernblatt...und tatsächlich, dieser Sekundenzeiger wanderte in die entgegengesetzte Richtung.

»Aber sieh mal«, sagte ich und deutete auf den Minutenzeiger. »Der läuft vorwärts und unsere Uhrzeiten sind identisch. Es müsste auch korrekt sein. Die Zeit passt.«

»Was? Es ist schon nach 6?«, fragte Sumōkī und wirkte dabei zum ersten Mal unruhig, als sie in den Himmel blickte. Ihre Augen weiteten sich, als hätte sie bis jetzt komplett vergessen, wo sie war. »Die Sonne geht ja schon unter. Ich muss nach Hause.« Sie sprang auf und lief zügig von mir weg, die Uhrkette von ihren Fingern baumelnd.

»Aber...was machen wir mit den Uhren?«, versuchte ich ihr hinterherzurufen, auch wenn ich es mit meiner schwachen Stimme nicht schaffte, zu brüllen.

»Bring sie morgen wieder mit, dann finden wir es heraus!«, rief sie im Laufen. »Morgen selbe Zeit!«

»Morgen selbe Zeit«, flüsterte ich leise vor mich hin, während ich beobachtete, wie sie sich immer weiter von mir wegbewegte, ihre blauen Haare wild um sie herumwehend, bis sie schlussendlich aus meinem Blickfeld verschwand.

Auf dem Nachhauseweg ließ ich meine Uhr immer wieder durch meine Finger gleiten und betrachtete sie von jeder Seite, jedoch schien nichts Besonderes an ihr zu sein, außer dass sie visuell so einzigartig war: das edle blaue Ziffernblatt, die geschwungenen goldenen Zahlen...sie sah zwar bezaubernd aus, doch ansonsten war es einfach eine stinknormale Uhr. Aber wenn die Uhren nicht das Leuchten verursacht hatten, was war es dann gewesen? Schließlich hatte ich so etwas noch nie zuvor erblickt. Sumōkī hatte jedoch gesagt, wir würden es morgen gemeinsam herausfinden, also steckte ich die Uhr in meine Jackentasche und gab mir Mühe, für heute mit dem Thema abzuschließen.

»Das duftet aber gut«, flüsterte ich vor mich hin, als ich zuhause angekommen war. Ich zog meine Schuhe aus, hing meine Jacke auf den Kleiderständer und folgte dem Geruch bis zur Küche. »Ich bin zuhause, Großmutter«, sprach ich zu der kleinen Frau, die gerade dabei war, das Geschirr zu spülen. Ihre grauen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden.

»Hallo, Nemo, hattest du einen schönen Nachmittag?«, fragte sie freundlich und drehte sich mit einem warmen Lächeln zu mir um.

»Ja...ja, sehr schön«, antwortete ich ein wenig verlegen. Ob ich das mit den Uhren erzählen sollte? Lieber nicht, nachher bereitete ich Großmutter noch Sorgen.

»Schau mal, dein Essen steht schon bereit«, sagte sie grinsend und deutete auf den hölzernen Esstisch.

»Vielen Dank«, sagte ich und führte eine kleine Verbeugung durch, woraufhin ich mich an den Tisch setzte. Ich blickte in meine Schüssel. Es gab heute Ramen; ich liebte Ramen. Ich faltete meine Hände zusammen, schloss kurz die Augen, bedankte mich gedanklich bei den Zutaten meines Gerichts, öffnete die Augen wieder und griff dann eifrig nach meinen Stäbchen, um die köstlichen Nudeln zu meinem Mund zu führen.

»Schmeckt super«, sprach ich mit vollem Mund und schlürfte daraufhin alle herunterhängenden Nudeln bis in meine Backen hinauf.

»Das freut mich sehr.« Meine Großmutter stellte die letzte saubere Schüssel in den Schrank und setzte sich dann zu mir an den Tisch. »Aber sag mal, wollte Sumōkī denn nicht zum Essen kommen?« Mir wurde wieder ein wenig heiß. Ich hatte gehofft, sie würde es nicht ansprechen. Aus irgendeinem Grund war es mir unangenehm zu erzählen, dass ich sie nicht einmal gefragt hatte.

»Sie musste leider schon früh nach Hause. Bestimmt hatte ihre Mutter bereits Essen für sie vorbereitet.« Das war wenigstens ehrlich, denn das vermutete ich wirklich – allerdings entsprach diese Annahme nicht ansatzweise der Realität.

Als Sumōkī die Haustür öffnete, wurde sie nicht von dem Geruch von frisch gekochten Ramen oder sonstigem Essen begrüßt; stattdessen von dem brennenden Gestank von Zigaretten und Alkohol. »Du bist zu spät!«, keifte sie eine dürre, schwarzhaarige Frau an, die auf der Couch eines Wohnzimmers lag, das mit verfaultem Essen, benutzten Spritzen und überfüllten Aschenbechern zugemüllt war. Draußen ging die Sonne noch immer unter und tauchte den Himmel in wunderschöne warme Farbtöne, hier drinnen war aber nur wenig davon zu sehen, da die schäbigen Vorhänge zugezogen waren. Ein paar der letzten Sonnenstrahlen schienen schwach durch sie hindurch und mischten sich mit dem Rauch, der dauerhaft in der Luft hing; gemeinsam tauchten sie das Zimmer in ein dämmriges, vernebeltes Licht. »Verzeihung, Mutter«, antwortete Sumōkī kalt.

»Das kannst du dir sonst wo hinstecken!«, lallte die Frau und blinzelte ihre Tochter zornig an. »Hast du mir wenigstens meinen Vodka mitgebracht?«

»Nein, Mutter, ich darf doch keinen Alkohol kaufen.«

»Du kleine Lügnerin! Als ich 13 war, bin ich auch schon an alles rangekommen, spiel mir doch nichts vor! Du bist einfach nur ein unnützes, faules Gör, das bist du!«

»Ich gehe jetzt auf mein Zimmer, Mutter, gute Nacht«, sagte Sumōkī monoton und wandte ihren ausdruckslosen Blick ab.

»JA, GEH NUR, DU UNDANKBARES KLEINES DRECKSSTÜCK!«, plärrte ihre Mutter und ein Teller flog nur eine Haaresbreite an Sumōkīs Gesicht vorbei, woraufhin er an der Wand zerschellte. Ohne eine Miene zu verziehen, ging sie an den Scherben vorbei weiter in Richtung ihres Zimmers. »ICH HABE DIR DEIN LEBEN GESCHENKT, DICH AUFGEZOGEN, ICH LASSE DICH UNTER MEINEM DACH WOHNEN-«

Das Gebrüll wurde so dumpf, nachdem Sumōkī ihre Zimmertür geschlossen hatte, dass sie es nun wieder ignorieren konnte. Sie schloss ab, warf ihre Jacke, ihre Handschuhe und ihre restliche Kleidung über ihren Schreibtischstuhl und legte ihre Uhr auf den Nachttisch. Dann legte sie die Zeichnung sowie das Polaroid-Bild von uns beiden zu den anderen in die Schublade ihres Nachttisches und nahm zwei andere Gegenstände in die Hände.

Ihr Blick wanderte zunächst auf ihre linke Hand - auf ein weiteres Polaroid-Bild, welches vier grinsende Personen abbildete, die an einem hölzernen Tisch saßen: ein Mann mit kurzen blauen Haaren und einem kantigen Gesicht; eine schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren; eine Teenagerin, die passend zu ihrer Haarfarbe dunkel gekleidet und geschminkt war, sowie ein kleines Mädchen mit blauen Haaren und einem Teddybären im Arm. Sumōkī warf einen Blick auf das Bett, auf welchem sie saß, und sah eben diesen Teddy, nur in völlig anderer Form. Nachdem ihre Mutter ihn angezündet hatte, war es Sumōkī zwar gelungen, ihn zu retten, jedoch platzte die Stofffüllung aus dem ehemals plüschigen, heute mattierten und leicht verkohlten Körper heraus und die Arme, Beine sowie Augen ließen sich nur durch absolute Vorsicht zusammenhalten. Dann legte sie das Bild wieder in die Schublade und widmete sich dann dem Gegenstand in ihrer rechten Hand: einem Küchenmesser.

Sie betrachtete ihren Körper. Die vernarbten Arme und Beine; die vernarbte Brust; der vernarbte Bauch; die frisch verwundeten Hände, auf deren Rücken sich kaum noch Haut erkennen ließ und die Handinnenflächen, die noch frei von Verletzungen waren.

Sumōkī schloss ihre Augen und begann, in die dünne Haut ihrer linken Hand zu schneiden, zuerst langsam, doch je intensiver das Brennen zunahm, desto tiefer ging sie hinein - hinein in eine Welt, in der sie in der Lage war, etwas zu spüren, durchströmt von Energie, durchströmt von Leben, durchströmt von Wut. Sumōkī ließ ihren Rücken auf ihr Bett sinken und schlenderte gemeinsam mit der Klinge entlang ihrer Haut, als würde sie mit ihr tanzen, als würde die Klinge sie führen, sie beschützen. Die Blutperlen fühlten sich wie Seide an, wie ein Kleid, das sich bei jeder Drehung im Tanz elegant um die nackten Beine wickelte. Dann erschien das Feuer – das Feuer, dem sie nicht entweichen konnte, das sie aus dieser schöneren Welt verbannen wollte, zurück in den Abgrund, in dem es nichts zu spüren gab. Es wurde so heiß, aus Energie wurde Unerträglichkeit und sie ließ das Messer schließlich auf das Bett fallen.

Sie fühlte sich, als hätte sie die Dimension gewechselt, als sie auf ihre linke Hand blickte und in der sich anschleichenden Dunkelheit gerade noch erkennen konnte, wie das Blut ihre helle Bettwäsche dunkelrot färbte. Doch irgendwie war es auch hypnotisierend.

Plötzlich wurde Sumōkī so müde; die Energie der letzten Sekunden war für sie von dem einen auf den anderen Moment wie etwas geworden, das nie dagewesen war – sie spürte nur noch Leere. Diese überwältigende Leere, die jedes Mal zurückkehrte, vollkommen gleich, mit wie viel Schmerz sie diese bekämpfte. Sie erhob sich und griff nach den Taschentüchern auf ihrem Nachttisch, doch als sie sich gerade eins nehmen wollte, bemerkte sie ein leichtes blaues Schimmern. Ungläubig blinzelte sie einmal – es kam tatsächlich von dieser Taschenuhr. Jedoch schimmerte nicht das Ziffernblatt, sondern ein Schieberegler an der Seite, der erst jetzt, im Dunkeln, richtig zu erkennen und uns deswegen draußen nicht aufgefallen war. Ohne groß drüber nachzudenken, erhob sich Sumōkī, ihre Erschöpfung plötzlich wieder von Neugier abgelöst, ging auf die Uhr zu und schob wie hypnotisiert den Schieberegler nach unten, wonach ihr gesamtes Zimmer, inklusive sie selbst, in einem Meer aus blauem Licht ertranken.

-Der Tag vor dem Morgen-

Während ein Mensch träumt, ist er meist vollkommen davon überzeugt, dass alles, was er im Traum erlebt, der Realität entspricht, sei es auch noch so absurd. Wenn er schließlich wieder aufwacht, stellt er sich die Frage, wie um alles in der Welt er nicht realisieren konnte, dass dies alles ein Traum gewesen war. Die Eindeutigkeit, was wirklich oder unwirklich ist, ist also für einen Menschen nicht in jeder Situation gegeben.

Nachdem Sumōkī langsam ihre Augen geöffnet hatte, betrachtete sie zunächst ihren eigenen kleinen Körper, den keine einzige Narbe zierte. Daraufhin fiel ihr ein Teddybär ohne Gebrauchsspuren ins Auge, der neben ihr im Bett lag, wonach sie ein zweites Bett sah, das in der anderen Ecke des Zimmers stand. Dann drehte sie ihren Kopf ein wenig nach links und der Anblick, der dort auf sie wartete, elektrisierte sie von Kopf bis Fuß. Sofort warf Sumōkī sich ihre Bettdecke vom Leib und stürmte auf die schwarzgekleidete junge Frau zu, die gerade dabei war, sich vor dem Spiegel zu schminken.

»Alter!«, raunzte sie als Sumōkī fest ihre Hüfte umschlang. »Ich hätte mir fast die Backe angemalt. Was ist denn los?«

Doch Sumōkī antwortete nicht. Sie umklammerte wie paralysiert den Körper des anderen Mädchens. War alles etwa nur ein schrecklicher Traum gewesen? Ein schrecklicher Traum, der sich angefühlt hatte wie Jahre? Es musste sein, schließlich war ihre Schwester, die sie in diesem Moment umarmte, real. Sie spürte ihren Puls durch ihre Bauchdecke, die Wärme ihrer Haut, ihr schwarzes Haar, das sie im Gesicht streifte, sowie das Zappeln, mit dem sie versuchte, Sumōkī von sich abzuschütteln. All das war echt.

»Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?« Sie löste ihr Bein mit einer hektischen Bewegung, bei der sie fast stolperte; Sumōkī stand daraufhin bloß wie angewurzelt da. »Haaalloo, Erde an Nervensäge, ich rede mit dir.« Nicht ein Laut entwich Sumōkīs Mund. Ihr Blick war starr auf ihre Schwester gerichtet.

»O Mann, du hast echt ‘nen Schaden manchmal.« Sie füllte die letzte rosa Stelle ihrer Lippe mit schwarzer Farbe, wandte sich dann von dem Spiegel ab und öffnete die Zimmertür. »In fünf Minuten gibt es schon Frühstück, zieh dich wenigstens mal vernünftig an.« Sie schloss die Tür und ließ Sumōkī fassungslos in dem Zimmer zurück. Diese ging daraufhin zum Spiegel und erblickte sich selbst in ihrem blauen Schlafanzug. Das merkwürdige Empfinden, als hätte sie diesen seit Ewigkeiten nicht mehr getragen, durchdrang sie, auch wenn sie wusste, dass sie ihn jeden Tag anhatte. Und war sie eigentlich schon immer so klein gewesen? Sie hatte das Gefühl, als müsste sie viel größer sein als die Gestalt, die sie im Spiegel anstarrte. Wieso war sie nur so verwirrt? Sie schloss die Augen fest, zählte bis drei und öffnete sie dann wieder. Doch alles sah noch genauso aus wie vor wenigen Sekunden. Fremd und zugleich extrem vertraut, als würde man nach Jahren in die Flure seiner Grundschule zurückkehren.

Sie kramte aus ihrem Schrank eine gemütliche Hose sowie ein T-Shirt mit einem darauf abgebildeten Einhorn heraus, zog sich um, nahm ihren Teddybären und umklammerte ihn fest. Dann verließ sie zusammen mit ihm im Arm ihr Zimmer. Das Haus war blitzeblank geputzt und der Geruch, den sie vernahm, kündigte frischgebackene Croissants an. Sumōkī kannte den Geruch nur zu gut, so aßen sie immerhin jeden Sonntag. Dieser Geruch bedeutete für sie Geborgenheit und langsam glaubte sie, wieder in der Realität anzukommen. Sie wurde etwas lockerer. Es war wahrscheinlich nichts weiter als dieses seltsame Phänomen gewesen, das man manchmal erlebt, wenn man aus einem intensiven Traum aufwacht und kurzzeitig keine Orientierung hat. Doch so langsam fühlte sie sich wieder wie sie selbst; der Boden unter ihren nackten Füßen erdete sie. Als sie dann jedoch an dem Esstisch ankam, versetzte sie ihr Körper erneut in eine Schockstarre. Sofort fiel ihr ein großer, sportlicher Mann mit blauen Haaren und einem kantigen Gesicht ins Auge, der auf einen kleinen Laptop starrte, auf welchem den Geräuschen nach zu urteilen ein Fußballspiel lief.

»Vater...«, flüsterte Sumōkī so leise, dass niemand sie hören konnte.

»Sicher, dass du nur Haferflocken möchtest, Liebling?«, ertönte dann die fröhliche Stimme einer schlanken Frau, die eine Schüssel vor ihrem Mann abstellte.

»Auf jeden Fall, solange die Frage für die Nummer 1 noch offen ist, kann jede Mahlzeit entscheidend sein.«