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"Vertraue niemandem!" Ises lernte schon als junges Mädchen, sich nur auf sich selbst zu verlassen: Von ihrer Mutter an die Schuldensammlerin Recha gegeben und zur Sucherin zu werden, prägte ihr Leben. Daran änderte auch Rechas Tod Jahre später nichts und weder ihre Waffenbruderschaft mit Bero noch ihre Freundschaft mit ihm und seiner Gefährtin Naledi heilen die inneren Wunden. Ises stellt sich der Vergangenheit erst, als ihre Mutter Dermenis spurlos verschwindet. Ihre Suche ist erfolgreich, eröffnet jedoch auch neue Fragen. Drängende Fragen, die sie veranlassen, nun auch nach der Herkunft und wahren Bestimmung des Bogens in ihrer Hand zu forschen. Eine Suche voller Gefahren!
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Seitenzahl: 530
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Für alle, deren Weg schwer war, ist oder werden wird. Für alle, die von Vergangenem verfolgt werden, im Wachsein oder Traum. Für alle, die die Hoffnung verloren haben, inneren Frieden zu finden. Für alle, die „alleine“ sind.
Findet die Kraft, weiterzugehen! Lasst das Vergangene nicht das Heute bestimmen! Findet Hoffnung in den kleinen Hoffnungsschimmern! Möge sich euch eine helfende Hand entgegenstrecken.
Vorwort
Schuod, jenseits des Ozeans, in einer vergessenen Zeit
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Der vorliegende Band stellt sowohl eine Fortsetzung als auch eine parallele Erweiterung zu
„Erbin der Götter – Naledi“
dar. Einige der Handlungsträger sind meinen Leser*innen daher noch aus Band 1 bekannt, andere kommen neu hinzu. Zusammen mit dem Pulk der Götter entstand so im Schaffensprozess wieder einmal eine Geschichte, in der sich viele Personen tummeln. Um den Wiedereinstieg zu erleichtern, habe ich daher der Erzählung sowohl eine Aufstellung der wichtigsten Personen als auch Beros „handschriftliche“ Liste der Götter und Symbole vorangestellt.
Jetzt aber wünsche ich viele (ent) spannende Lesestunden!
Die wichtigsten Figuren und Nebenfiguren (in alphabetischer Reihenfolge; Figuren aus längst vergangenen Zeiten sind kursiv gesetzt):
Bero
einstiger Sucher Rechas, Naledis Gefährte
Deanos
Ises' gottähnlicher Urururur-etc.-Großvater, Sohn des Gottes der Jagd
Ises
Protagonistin, trägt Deanos‘ Bogen, Tochter von Dermenis und einstige Sucherin Rechas
Lusor
Nachfahrin der gleichnamigen Göttin, „Gottgleiche“
Mamoro
Una-Neas Ziehsohn, da als Junge verwaist
Naledi
Nachfahrin der Naleydys, Beros Gefährtin
Naleydys
Nachfahrin der gleichnamigen Göttin, Semendamyras jüngere Tochter
Reycha
Tochter von Deanos und Semendamyra
Una-Nea
Mamoros Ziehmutter, Nachfahrin der Götter
Vagor
Beros einstiger „Schüler“, jetzt Waffengefährte
Die wichtigsten (Neben)Figuren, die (noch einmal) Erwähnung finden:
Lyff †
Ises' und Beros einstiger Lehrmeister
Recha †
einstige Schuldensammlerin, Xernes' Tochter
Semendamyra
Reychas Mutter
Xernes †
Rechas (siehe oben) Mutter, Nachfahrin der gleichnamigen Mondgöttin
Götter, Gottähnliche und deren Erben: siehe nächste Seite
Sufora
Zwillingsgöttin: Göttin der Weisheit
Xernes
Mondgöttin, Göttin des Wandel(n)s
Recha/Reycha
Göttin der Rache Göttin
Naledi/Naleydys Göttin der (Wieder)Geburt
Sufora
Zwillingsgöttin: Göttin der Klugheit
Gardomos
Gott der Nacht und Dunkelheit
Lusor
Göttin des Tages und des Lichts
Weys Gott der Vergebung
Deanos
Gott der Jagd
Anoris
Göttin der Liebe und Nachsicht
Tareiniton
Gott der Wasser und Gezeiten
Kelea Göttin des Gleichmaßes
Sufora als Zwillingsgöttin wird gelegentlich auch als Schlange in einem Kessel dargestellt.
„Reycha? Naleydys!“
Die Stimme ihrer Mutter hatte jene Klangfärbung angenommen, die zeigte, dass ihre Geduld endgültig erschöpft war. Es brauchte einiges dazu, denn obwohl sie keine Gottähnliche war, war auch sie mit einer wahrhaft endlos scheinenden Langmut gesegnet. Offenbar hatten sie es also beide zu weit getrieben, zumal die Feierlichkeiten anlässlich der Sonnwende anstanden; die Sonne war dem Horizont schon überaus nahe – höchste Zeit, sich umzukleiden.
Doch noch war der Wettkampf nicht vorbei – und diesmal würde sie gewinnen! Diesmal musste sie gewinnen! Die Schmach des letzten Wettstreits war nicht vergessen und schon gar nicht das stolze Lächeln ihrer Schwester, als sie, Reycha, ihren Bogen als Siegespfand hatte abgeben müssen. Ihren Bogen, das Erbe ihres Vaters!
Die Wut bohrte sich bei dieser Erinnerung erneut tief in ihre Eingeweide. Nun, heute würde das Blatt sich wenden und sie würde ihr Erbe zurückgewinnen. Der Bogen in ihrer Hand war folglich zwar nicht der ihres Vaters, aber er war neu, ebenfalls von Meisterhand gefertigt und reich verziert, noch dazu ebenfalls mit Zeichen, die jeden Schuss treffen lassen sollten.
„Damit wird mein Bogen wieder mein sein und diesmal nehme ich mir als Siegepfand ebenfalls das, was dir das Liebste ist: deine Selbstbestimmtheit, kleine Schwester!“, murmelte sie entschlossen. „Ein Jahr lang wirst du all meine Wünsche erfüllen müssen, selbst wenn sie deinen entgegenstehen! Das ist meine Rache!“
Jetzt durfte sie sich nur nicht von ihrer Mutter erwischen lassen. Nicht noch zuletzt, so kurz vor dem Ziel. Sie wäre in ihrer Ungeduld imstande, ihr den letzten Schuss schlicht zu verbieten oder – noch schlimmer – die Trophäe vorzuenthalten. Also wartete sie, bis ihre Schritte in Richtung des Gartens verklungen waren. Der Pfeil war bereits aufgelegt und sie blies den Atem aus, drehte sich um, trat aus dieser Drehung heraus hinter dem Baum hervor und spannte die Sehne, um gleichzeitig das Ziel anzuvisieren. Weder Mutter noch sonst jemand war zu sehen. Gut!
„Mein!“, hauchte sie.
Harto, ihr Kampfrichter, hatte diesmal die Symbole überall auf der Insel verteilt und sie war den anderen weit voraus. Ihr fehlte nur noch eines, um den Sieg davonzutragen: Naleydys‘ Stern, wie die anderen Symbole aufgemalt auf ein Stück Pergament, das vom sachten Windhauch leise bewegt wurde. Direkt an der Tür zu ihrem Elternhaus – wie passend! Nur noch Herzschläge trennten sie von ihrem Triumph, dann konnte sie Naleydys das, was sie ihr mit dem Raub des ererbten Bogens angetan hatte, heimzahlen.
Der Pfeil schnellte davon, kaum dass sie das Ziel erspäht hatte. Noch vibrierten Sehne und Bogen nach, während er unbeirrt seinen Weg auf das Symbol zu nahm. Sie grinste siegesgewiss und erwartungsfroh und rannte los, eine Hand an dem Beutel mit den übrigen, von ihren Pfeilen durchbohrten Siegeszeichen ... und stoppte abrupt, strauchelte und kämpfte schwankend um ihr Gleichgewicht. Denn schlagartig schien die Zeit stillzustehen, weil das Unmögliche geschehen war: Die Tür war aufgerissen worden und der Pfeil – ihr Pfeil, der stets unfehlbar ins Ziel ging! – hatte sich statt durch das Pergament und in die Tür in die Brust des jungen Mädchens gebohrt, das in der Türöffnung aufgetaucht war. Naleydys. Naleydys, die eigentlich noch drei weitere Symbole irgendwo auf der Insel hätte suchen müssen! Wieso war sie hier? Wieso hatte sie, die niemals gegen irgendwelche Regeln verstieß, ihrer Mutter nicht geantwortet? Viel wichtiger aber: Wieso trug sie ihren – ihren! – Bogen und Köcher? Nicht der jüngeren Naleydys stand es zu, bei der heutigen Zeremonie mit diesen Insignien zu erscheinen, der Bogen gehörte ihr!
Das Bild ihrer Schwester in der offenen Tür bannte sie regelrecht Das Lächeln, das gerade noch auf deren Lippen gelegen hatte, erstarb, ebenso wie die Natur um sie herum schlagartig zu verstummen schien. Naleydys, ruckartig mitten in der Bewegung gestoppt, senkte den Kopf und hob die freie Hand, als ob sie den Schaft des Pfeils greifen und herausziehen wolle. Dann aber verhielt auch sie und ihr Kopf hob sich wieder, einen Gesichtsausdruck zeigend, in dem Unglaube, Fassungslosigkeit und Schmerz in rasender Abfolge wechselten.
Blut färbte ihr reinweißes Gewand rot und ihre zierliche Gestalt ging in die Knie, langsam und wie von unsichtbaren Fäden gehalten. Und obwohl ihre Stimme allenfalls ein Hauch gewesen sein konnte, hörte sie die Worte überlaut, als würden sie ihr direkt in die Ohren geschrien:
„Warum? Es ... war doch nur ... ein Pfand!“
Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfuhr sie, Reycha, ließ sie ebenfalls auf die Knie sinken, und ein unheilvolles rotes Glühen schien ihre Brust zum Bersten bringen zu wollen. Es brannte und verbrannte sie, heiß wie die lodernde Glut, die so oft aus dem fernen Berg der Nachbarinsel quoll. Und das Zeichen der Gottähnlichen an ihrem Arm brannte beinahe noch heißer als dieses Feuer in ihrem Inneren, heißer als alles, was sie je gefühlt hatte.
Ihr Schrei erstickte in ihrer Atemlosigkeit, doch der Schrei ihrer Mutter hallte umso durchdringender und entsetzter.
Und dann riss die Finsternis sie mit sich.
„Nie zuvor hat ein Angehöriger einer göttlichen Nachfolge die Hand gehoben gegen das eigene Blut! Wir haben Reycha beobachtet und wir haben dir unsere Befürchtung nicht verschwiegen, Semendamyra: Schon von Kindesbeinen an hat sie erkennen lassen, dass die Gabe der Götter nicht an sie hätte vergeben werden dürfen. Sie neigt von jeher den Eigenschaften zu, denen eine Nachfolgerin entsagen muss: Sie ist neidisch, nachtragend und lechzt nach Vergeltung lässt die Rechte anderer nicht gelten und glaubt, sich über diese Rechte erheben zu dürfen. Wir haben dir und deinen Bitten nachgegeben und ihr mehr Chancen gelassen als allen anderen Schülern und Schülerinnen, haben sie geprüft und wieder geprüft, auch ohne ihr Wissen. Doch die heutige Prüfung war die letzte und das Ergebnis hast du nun selbst erlebt.“
„Sie war lediglich in den Bann dieses Wettstreits gezogen, mehr nicht!“
„Du sprichst aus, was alle hier sehen, verschließt aber die Augen vor dem, was es bedeutet! Ja, Reycha war und ist in einem Bann gefangen: in einem ewigen Wettstreit. Denn wenn es nicht um den Bogen ihres Vaters geht, geht es um irgendetwas anderes. Wir haben in ihr Herz gesehen, Semendamyra, und fanden darin zu viele der Eigenschaften, die ich vorhin nannte. Sie kann nicht ausbrechen aus diesen mächtigen Gefühlen, zeigt keinerlei Anzeichen, ihnen widerstehen zu wollen.“
„Ihr habt also ihr Herz gesehen? Das glaube ich nicht. Denn wenn dem so wäre, hättet ihr auch gesehen, dass es bloß ein Unfall war. Niemals würde Reycha ihrer Schwester beabsichtigt ein Leid zufügen! Ich war Zeugin, Weys, anders als du: Im Eifer des Wettstreits schoss sie ihre letzte Trophäe, mehr nicht! Wie hätte sie ahnen können, dass ausgerechnet in diesem Augenblick Naleydys in die Tür treten würde?“
Weys holte tief Atem, dann erhob er sich langsam aus seinem Stuhl, trat die beiden Stufen herab und auf die Mutter zu.
„Reycha handelt ständig in irgendeinem Eifer, unüberlegt und ohne die möglichen Folgen ihres Tuns abzuwägen. Vorausschauend abzuwägen! Wer schießt einen Pfeil ab in Richtung einer Tür, durch die jemand treten könnte? Sie hätte sich vergewissern müssen, dass niemand im Haus ist!“
„Während einer Waffenübung?“
„Du sagst es: Es war eine Waffenübung kein Kampf oder kriegerisches Geschehen, in dem es um Leben oder Tod ging. Das hätte ihr bewusst sein müssen. Noch ein Beispiel? Ihre Trophäe der Lusor hing an einem Baum unmittelbar neben einer Wasserstelle, wo Harto diesmal gleich noch vier weitere Trophäen für alle anderen Schüler sichtbar befestigt oder hinterlegt hatte. Hat sie sich vergewissert, dass kein anderer Prüfling in der unmittelbaren Nähe war? Nein. Ihre Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer Unfehlbarkeit hat die Grenze zur Selbstüberschätzung längst überschritten.
Es ist jedoch das Fundament unseres Handelns, Semendamyra: Stets die möglichen Folgen zu bedenken und zu gewährleisten, dass niemand ...“
„Spar dir das! Worte, die ich schon oft genug gehört habe“, wurde er unterbrochen.
Stirnrunzelnd beugte er sich daraufhin vor.
„Vorausschauendes Nachdenken, das Reycha vermissen lässt! Worte, die auch sie oft genug von ihren Lehrern gehört hat! Was erwartest du, sollen wir tun? Sollen wir ihr unendlich viele weitere Chancen geben, sich zu ändern und zu beweisen? Noch vor dem Morgengrauen, eigentlich noch vor der Mitternacht hätte sie als Nachfolgerin bestimmt werden sollen. Eine Nachfolge beinhaltet tiefe Ernsthaftigkeit, Pflichtgefühl und allem voran Entschlossenheit, der Übermacht an finsteren Bestrebungen alle innewohnende Willenskraft entgegenzusetzen! Zeigte sie diese, sei es auch nur ansatzweise? Nein. Sollen wir das Schicksal herausfordern, indem wir ihr die Nachfolge dennoch in die Hände legen? Welchen Dienst würden wir den Menschen erweisen, wenn wir das täten?
Unsere Aufgaben sind der Schutz des Volkes und die Fürsorge für alle, die unsere Hilfe erbitten oder auch nur zulassen. Solche Fähigkeiten können wir nur jemandem übereignen, der den Schutz und die Bedürfnisse anderer stets über die eigenen stellt.
Nein, ich gebe dir recht, der Worte sind genug gewechselt. Unsere Entscheidung war einmütig: Reycha wird der Segen der Götter entzogen. Was deine jüngere Tochter Naleydys angeht: Da sie überlebt hat, steht ihr die Nachfolge der Sterngeborenen weiterhin offen; sie kann sie in zwei Jahren erbitten, sobald sie alt genug ist.
Geh jetzt zu ihr, sie braucht dich. Der Segen mag ihre Wunde geheilt haben, doch eine andere Verletzung kann er nicht heilen, das können nur du und die Zeit.“
„Gehen? Und Reycha?“, reckte Semendamyra das Kinn. „Was werdet ihr mit ihr tun?“
„Was unsere Aufgabe ist: Wir werden ihr das Zeichen der Götter und den Segen der damit verbundenen Machfülle entziehen und sie ...“
„Und sie von hier verbannen, richtig? Ihr werdet sie von der Insel verweisen und sie zu einem Leben als Mensch verdammen, fern ihrer Heimat, fern ihrer Familie!“
„Seit wann ist es eine Verdammung als Mensch zu leben?“, mischte sich jetzt Kelea ein und erhob sich ebenfalls aus ihrem Stuhl. „Empfindest du selbst es so? Oder willst du damit sagen, dass wir unserer Aufgabe unserem Volk gegenüber nicht nachkommen? Wir entziehen ihr nicht unsere Fürsorge!“
„Ich will damit sagen, dass ihr ein junges Mädchen dazu verdammt, alles zu verlieren, das ihr etwas bedeutet!“, hob sie ihre Stimme und deutete mit dem Finger auf die totenbleiche Reycha, die wie erstarrt schräg hinter ihr in der Mitte des Kreises der Gottähnlichen stand und ihr Urteil schweigend abgewartet hatte.
„Niemand wird verdammt“, warf Weys gemessen ein. „Wir alle tragen jedoch die Folgen unserer Taten, deine Tochter ist keine Ausnahme. Nicht länger.
Reycha? Mit dem ersten Licht des neuen Tages verlässt du diese Insel. Du wirst sie niemals wieder betreten, doch wir verwehren niemandem, dich auf dem Festland zu besuchen.
Sobald du Letzteres betrittst, erlischt deine Macht, da du keine Nachfolgerin bist. Die Fertigkeiten, die du dank deines verstorbenen Vaters Deanos erworben hast, bleiben dir natürlich. Nutze sie und nutze sie weise! Dir bleibt die Chance, deinem Drang nach Rache, deinem Neid und der Wut zu entsagen, ebenso deinem Beutestolz und der unnachgiebigen Hatz, denn kein Lehrmeister ist besser als das Leben selbst. Möchtest du abschließend noch etwas sagen? Letzte Worte oder eine letzte Bitte?“
Erst jetzt hob Reycha den Kopf und etwas in ihren sonst so hellen Augen glomm dunkel auf.
„Letzte Worte? Ja. Eine letzte Bitte? Würde mir eine solche denn tatsächlich gewährt werden?“, erwiderte sie provozierend
„Sprich. Wir werden sehen. “
Sie reckte das Kinn, reckte ihre gesamte Gestalt.
„ Was Mutter sagte, stimmt: Ich hätte meiner Halbschwester niemals absichtlich etwas zuleidegetan, egal, wie heftig ein Wettstreit entbrannt wäre. Euer Urteil über mich stand jedoch offensichtlich längst fest. Wie ihr wollt. Ich bin die Tochter meines Vaters und werde nicht an meiner Verbannung zerbrechen! Ich werde im Gegenteil dafür sorgen, dass weder mein Name noch meine Herkunft in Vergessenheit geraten, vielmehr wird beides von sich reden machen, das schwöre ich! So viel dazu.
Nun zu euren Argumenten. Ihr wollt in mein Herz gesehen haben? Dazu sage ich nur, dass ihr in eure eigenen Herzen blicken solltet! Sind sie wirklich so frei von dem, was ihr mir unterstellt? Nach diesem Urteil bezweifle ich das und andere werden mir darin zustimmen, sobald sie meine Seite der Geschichte hören.
Die Folgen unseres Tuns tragen wir? Dann tragt fortan die eures Tuns: In mir vereinen sich die Blutlinien des Deanos und die der Sterngeborenen, da Mutter ein menschlicher Nachfahre aus entfernter Seitenlinie ist. Meine Macht sowie das Zeichen könnte mir daher nur einer nehmen: mein Vater. Doch wie ihr selbst soeben sagtet, ist er nicht mehr. Nur noch in mir und meinem Herzen lebt er fort und das hättet ihr gesehen, wenn ihr wirklich dort hinein geblickt hättet!
Aber wie schon gesagt: Euer Urteil stand längst fest. Ich werde mich dem beugen und morgen in aller Frühe wird die letzte mögliche Nachfolgerin des Deanos die Insel verlassen.“
Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und trat nun energisch vor, einen erstaunlich eisigen Ausdruck im noch so jungen Gesicht
„Meine letzte Bitte äußere ich daher als seine Tochter und ich bin schon gespannt, ob ihr sie mir verwehren wollt! Ich beanspruche das mir von meinem Vater verbliebene Erbe: Seinen Bogen und die Pfeile, die er noch mit eigener Hand gefertigt und mir geschenkt hat! Wie entscheidet ihr?“
Weys hatte langsam und tief den Atem eingesogen und drehte jetzt den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, um die Entscheidungen aller Anwesenden einzuholen. Bis auf zweimaliges Kopfschütteln und eine Enthaltung nickten sie alle, wenn auch teils nach merklichem Zögern.
„Ich stimme ebenfalls dagegen, aber wir sind überstimmt. Deanos' Bogen gehört damit dir, doch mach dir bewusst, dass er von jetzt an kein Insigne mehr darstellt. Deine Bitte raubt den von den Göttern gesegneten Gottähnlichen damit eines von bislang ...“ „Ihr wart es, die soeben die letzte direkte Nachfahrin verbannt habt. Lebt damit!", fiel Reycha ihm rüde ins Wort, trat auf den Tisch zu, auf dem der Bogen ihres Vaters nebst vollem Köcher lag und nahm beides an sich.
Weys sog erneut tief den Atem ein, dann nickte er mit schmalen Lippen.
„Es ist entschieden. Und du hast dich entschieden, wie es scheint. Verlass nun diese Rotunde, die Zeremonie wartet. Du hast Zeit bis zum ersten Morgengrauen, um dich von allen zu verabschieden und deine Habseligkeiten zu packen. Was immer du mitnehmen möchtest, um dein Leben auf dem Festland einzurichten, wird dir ...“
„Was ich brauche, habe ich nun. Es gibt nichts, was ich von euch oder irgendwem noch würde haben wollen, und es gibt niemanden mehr, von dem ich mich verabschieden müsste! Naleydys weiß bereits, dass ich mein Ungeschick bedauere, und anders als ihr, insbesondere anders als ihr beide, Weys und Kelea, hat sie mir vergeben. Sie weiß, dass es ein Unfall war und keine Absicht. Mutter weiß dies ebenfalls, denn sie war Zeugin dessen, was geschah und was hier entschieden wurde. Unser Abschied wird daher nur wenige Worte brauchen. Damit ist alles gesagt.“
Sie wandte sich ab, ohne den Kopf ehrerbietig geneigt zu haben, nickte ihrer Mutter lediglich kurz zu und schickte sich an, die offene Säulenhalle zu verlassen. Dann jedoch hielt sie noch einmal inne, als Semendamyra das Wort ergriff.
„Ihr setzt wahrhaftig euren Willen durch? Nun, dann hört auch meinen Willen: Ich werde meine kaum erwachsene Tochter nicht alleine gehen lassen! Nicht in ein Leben, das sie nicht kennt! Wenn ihr nicht länger Gerechtigkeit, maßvolle Nachsicht oder wenigstens Vergebung übt, ist meines Bleibens hier nicht länger. Wenn Reycha geht, gehe ich mit!“
„Ein ähnlich kurzsichtiges Verhalten. Das solltest du dir noch einmal... “
„Nein!“, fuhr sie Weys über den Mund „Auch mein Wort gilt! Reycha, wir gehen! Wenn Gottähnliche das, was sie den Menschen zugesagt haben, nicht einmal mehr ihresgleichen gewähren, sind wir bei den Menschen besser aufgehoben. Sie werden erfahren, was ihr hier und heute entschieden habt. Aus meinem Mund und bis ich eines Tages meine Augen für immer schließe. Ihr seid es, die sich den Menschen entfremden, nicht umgekehrt, und ich bin schon gespannt, wie viele von ihnen nun noch den Weg hierher suchen werden, um euren Rat einzuholen! Den Rat der Gottähnlichen, deren Herzen verhärtet sind, wo sie hätten vergeben sollen und deren Wille und Urteil bereits in Stein gemeißelt war, bevor sie die Mühe aufgewandt hätten, lehrend, belehrend und Vorbild zu sein!“
Das Tappen ihrer Füße verhallte in der eingetretenen Stille und das Schweigen der Nachfolger hielt an, bis ein ungewöhnlich kalter Luftzug vom Meer her durch die Halle strich.
„Haben wir richtig entschieden?“, ließ sich Kelea hören, die nun wieder in ihren Stuhl sank. „In Semendamyra vereint sich noch immer das Blut der Sterngeborenen mit dem der Rachegöttin. Ein Erbe, das in dieser Tochter wieder zutage tritt. Durften wir ihnen das verschweigen? Haben wir richtig gehandelt, als wir damit Deanos' Bitte entsprachen? Reycha? Du bist die gottähnliche Nachkommin und hast bisher dazu geschwiegen, auch zu ihren Worten.“
Die weißhaarige Nachfolgerin der Rachegöttin regte sich und stieß kopfschüttelnd einen tiefen, langen Seufzer aus.
„Semendamyras ältere Tochter trägt den Namen meiner Göttin nicht zu Unrecht und einmal mehr frage ich mich, ob Deanos mit dieser Namenswahl damals nicht ein Omen heraufbeschworen hat.
Ich habe zu ihren Worten geschwiegen, um ihre Auflehnung nicht noch weiter anzustacheln, Kelea. Wie sie es die vielen Male, bei denen ich ihr ins Gewissen geredet oder ihr Ratschläge gegeben habe, ebenfalls schon sehen ließ Sie war unbelehrbar. Vermutlich hätte ihr nur Deanos selbst noch helfen können ...
Ihr wollt meine Meinung hören? Wir alle wissen, wie inbrünstig sie sich nach Deanos' Heimgang in den Götterschlaf dessen Nachfolge herbeigesehnt hat, um sich von da an als Deana, der weiblichen Manifestation und Namensträgerin, in unseren Bat einreihen zu können. Vordergründig, denn wir alle wissen ebenfalls, dass sie ihre Entschlossenheit und Willenskraft für die falschen Wesenszüge und Ziele einsetzte.
Ich habe Verständnis für sie, denn sie ist jung und niemand kann besser nachvollziehen als ich, wie schwer es sein kann, dem Rachedurst und Gefühlen wie Wut und Hass zu widerstehen, doch auch ich habe gegen sie gestimmt. Deanos war ihr Vater und er hat ihr schon früh deutlich gemacht, dass die dunklen Seiten uns allen innewohnen. Ausnahmslos. Also: Nein, wir haben keinen Fehler gemacht, indem wir Deanos' Bitte entsprachen. Sieht dies überhaupt jemand anders! “
„Ich fürchte, das wissen nur die Götter!“, murmelte Sufora, warf einen Blick auf die Nachbarinsel, die auch in dieser Nacht vom Glühen des heißen Stroms aus dem Berg beleuchtet war. In einer unbewussten Geste strich sie sich gleichzeitig über das schlangenförmige Mal an ihrem Arm. „Racheeifer, Anmaßung und Überheblichkeit dürfen jedoch keine Wurzeln in uns schlagen. “
„Dann lasst uns hoffen, dass die Rache sich nicht eines Tages rächt!“, erwiderte Kelea und folgte ihrem Blick. „Die Götter mögen uns beistehen!“
Das flache Auslegerboot legte im ersten rosigen Schimmer des nahenden Morgens in aller Stille und Heimlichkeit ab. Und als es im Licht der aufgehenden Sonne am steinigen Ufer des Festlands anlandete und Reycha den Fuß in die seichte Meeresbrandung stellte, glomm das Mal des Deanos' an ihrem Arm auf. Mit einem scharfen Brennen verblasste es binnen eines einzigen Herzschlags zu einem kaum mehr sichtbaren Zeichen. Übrig blieb nur mehr eine einem Bogen ähnelnde Narbe mit einem feinen Strich, der senkrecht durch die Mitte führte. Semendamyra ächzte bei diesem Anblick, doch Reycha lächelte grimmig. Sie hatte recht behalten. Die Gottähnlichen mochten ihr mit dem Segen auch die Nachfolge genommen haben, doch das Zeichen hatten sie ihr nicht vollständig nehmen können. In ihrem Blut floss das Erbe des Gottes der Jagd und dank Semendamyra auch das der heilenden Sterngeborenen, wenn es auch nur noch wenige Tropfen sein mochten. Und das Erbe einer dritten Göttin!
„Tröste dich, Mutter, Vaters Erbe wird weiterbestehen. Und die Rache für das, was sie mir und damit ihm angetan haben, wird nicht vergessen! Ich mag nicht den Pfeil der Rachegöttin tragen, doch ich trage ihren Namen. Und mit dem Pfeil in Deanos' Bogen lebt auch etwas von ihrem Symbol in mir fort ... Nenn mich also weiterhin Reycha, aber nenn mich künftig auch bei meinen neuen Beinamen: Deana Ises Ich bin Reycha Deana Ises von Schuod.“
„Ises? Die Bogenträgerin?“, kam es eigenartig erstickt.
„Ja. Vater hat mich nach meiner Geburt nicht nach ihr oder sich benannt, aber ich bin seine Erbin, jetzt mehr denn je“, hob sie ihren Bogen an und betrachtete die Verzierungen – Symbole, die ihr Vater noch eigenhändig hineingeschnitten hatte. Symbole eines Gottähnlichen, mächtiger als alle, die ein gewöhnlicher Sterblicher hätte schneiden, meißeln oder niederschreiben können.
„Und nun komm. Lass uns gehen und eine Unterkunft suchen. Danach werden wir überlegen, ob wir nicht all dem hier den Tücken kehren, auch dem Anblick der Inseln!“
„Und wo sollten wir hingehen? Sollen wir nicht wenigstens warten, bis sie meine Habe gebracht haben? Womit sollen wir unsere neue Wohnstätte einrichten?“
„Hast du schon jetzt Angst vor deinem eigenen Mut bekommen, Mutter? Dann lass mich dich beruhigen: Solange du bei mir bist, werde ich für dich sorgen. Wohin wir gehen sollten? Kelea erzählte mir einmal von einem Land jenseits des Meeres, weit von hier entfernt. Ein Festland, wohin sich schon andere deines Volkes begeben haben. Unseres Volkes. Mit Schiffen, größer als alle Schiffe, die die Inseln ansteuern. Meinetwegen warten wir auf deine Habe, dann aber folgen wir meinem Pfad ... Ich sehne mich danach, ganz neu zu beginnen.“
„Hallo Mutter.“
Die Gestalt, die soeben vor der Feuerstelle in die Hocke ging, um Scheite in die kleiner werdenden Flammen zu schieben, erstarrte. Nur für einen Moment zwar, aber es genügte, um mir zu zeigen, dass es nicht der Schreck war, so plötzlich angesprochen zu werden. Offenbar fühlte sie sich hier überaus sicher. Dennoch schob ich eine entsprechende Entschuldigung nach.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Die Tür war offen und du nicht da, also bin ich hereingekommen, um nicht im Nachtdunkel auf dich zu warten.“
„Ich bin nicht erschrocken, ich bin verärgert. Auf mich gewartet? Wohl eher mir aufgelauert! Wieso bist du gekommen? Und vor allem: Wie hast du mich gefunden?“, kam die abweisende Antwort.
Ihre Stimme hatte sich nicht verändert – im Gegensatz zu ihrem Äußeren. Ihre einst so glänzend schwarzen Haare waren schon fast zur Gänze grau geworden, sie war hagerer als damals und ihre Hände faltiger.
Ich überging ihren Vorwurf, auch wenn er sich in meine Brust bohrte.
„Dich zu finden war nicht leicht, es hat mich einige Mühe und Zeit gekostet. Weshalb hast du Kesto verlassen? Es war dein einstiges Heimatdorf!“
„Weshalb hast du es auf dich genommen, mich zu suchen? Du hättest dir die erwähnte Mühe sparen können“, stapelte sie das restliche Brennholz sorgfältig neben der Feuerstelle auf.
„Das fragst du? Nach all den Jahren? Nur wenige Wochen nach seinem ... nachdem sein Leben beendet wurde, hast du das Haus in Zagor verkauft und bist zurück nach Kesto gegangen. Ohne dich zu verabschieden, wie ich hinzufügen möchte.“
Ich hielt inne, blies lautlos den Atem aus und löste mich jetzt aus dem Schatten, den die lehmverputzte Wand in den abgetrennten Teil des Hauses warf. Schwert und Bogen samt Köcher hatte ich erst wenige Augenblicke zuvor auf der hinter der Wand befindlichen Truhe abgelegt – nach langem Zögern und ausschließlich, weil ich ihr nicht bewaffnet gegenübertreten wollte. Sie auf dem gedeckten Tisch abzulegen war mir unangebracht erschienen, also lieber außer Sicht deponieren. Obwohl hier kaum Veranlassung dazu bestand, mich ihrer zu bedienen, blieb doch das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Alleine das genügte, um mir meine Kampfausrüstung am liebsten sofort wieder zu greifen und zu verschwinden.
Andererseits gab es einen Grund, weshalb ich hier war, und die Einleitung war soeben gründlich misslungen.
Die alt gewordene Frau ... Nein, meine Mutter stieß den Atem mit einem eigenartigen Laut aus.
„Nicht genug damit, dass du mein Haus ungefragt betrittst, wartest du im Finstern des Nebenraums statt offen im Licht des Feuers! Wenn du nur gekommen bist, um mir Vorwürfe zu machen, kannst du gleich wieder gehen. Geh und komm nicht wieder, Ises, du gehörst hier nicht hin und mein Leben in Zagor ist vorbei, ich habe damit abgeschlossen.“
„Und mit mir, wie es aussieht.“
Mein unbedachtes Mundwerk! Sofort biss ich mir auf die Lippe, dann jedoch trat ich entschlossen einen Schritt vor, nahm eine breitbeinige Pose ein und verschränkte die Arme vor der Brust – um sofort wieder in eine entspanntere Haltung zu wechseln. So würde ich nicht weiterkommen.
„Wie geht es dir? Wie ist es dir ergangen?“, versuchte ich einen neuen Anfang.
Ein leises, spöttisches Auflachen erklang, dann richtete Mutter sich ein wenig mühsam auf, entledigte sich ihres warmen Schultertuchs, zündete einen in seinem Halter wartenden Kienspan an und wandte sich mir zu. Endlich.
Der müde Zug in ihrem faltig gewordenen Gesicht versetzte mir einen Stich, doch der unbeugsame Ausdruck in ihren noch immer klaren, grünen Augen bewies, dass das Leben sie nicht hatte brechen können. Grüne Augen wie die meinen, ich hatte sie von ihr geerbt. Dies und ihre Unbeugsamkeit?
„Ich kam und komme zurecht. Ich lebe von dem, was der Verkauf seines Hauses und Eigentums erbrachte. Ich lebe sparsam und mit dem, was ich dazuverdiene, reicht es. Vielleicht bleibt am Ende und nachdem man mich verscharrt hat sogar noch etwas übrig, auch wenn es nicht viel sein wird“, leierte sie herunter. „War es das? Dann geh endlich!“
Das soeben erst aufgekeimte Mitgefühl verschwand und machte Unmut Platz.
„Was ist mit dem Geld, das ich dir spätestens mit Ablauf eines jeden Jahres habe schicken lassen? Davon hättest du hinreichend sorgenfrei leben können, ohne dich irgendwem zu verdingen. Was immer ich entbehren konnte, habe ich zurückgelegt und dir durch einen zuverlässigen Boten nach Kesto gesandt. Bis der es vor zwei Jahren zum ersten Mal wieder mit nach Zagor brachte, wo ich es zinsbringend für dich anlegte. Als ich schließlich in Kesto nachsuchen ließ, hieß es, du seiest verschwunden, woraufhin ich mich nun selbst aufgemacht habe.“
„Nach zwei Jahren!“
Wut flammte in mir auf.
„Abgesehen davon, dass in diesen beiden Jahren viel geschehen ist: Ich stand in einer Schuld, schon vergessen? Ich war nicht frei, nicht Herrin über mein Wollen!“
Wieder lachte Mutter auf und diesmal war sie es, die die Arme vor der Brust verschränkte.
„Vergessen? Wie könnte ich?! Eine Schuld, die dir dennoch viel Geld einbrachte. Blutgeld, ein kleines Vermögen! Ich habe es nicht angerührt, Ises, und niemand hätte bei einer armen Frau wie mir so viel ... Erspartes vermutet. Es ist alles noch da, bis auf den kleinsten Kupferling. Geh in den Keller und entferne in der hinteren Ecke die losen Steine aus der Wand. Das darin befindliche Holzkästchen rührst du nicht an, denn es enthält den Rest seines Erbes. Ich habe es mir hart verdient. Alles andere nimm mit und geh als wohlhabende Frau wieder fort, denn ich will es nicht.“
Die Wut verlosch unter einem eisigen Schwall von Bitterkeit und Verletztheit. Ich fühlte, wie sämtliche Farbe aus meinem Gesicht wich.
„Blutgeld ... Jetzt verstehe ich ... Nein, das stimmt nicht, denn ich verstehe es nicht, du wirst es mir erklären müssen! Warst nicht du es, die mich damals nur zu bereitwillig bei Recha zurückließ? Du wusstest, was aus mir werden würde, wenn du mich unter ihrer ... ,Obhut' lassen würdest! Sag jetzt nicht, dass es dir nicht durchaus auch recht war, im Tausch gegen mich deine Rache an ihm zu bekommen! Verdiente Rache, Mutter, darin sind wir uns noch immer einig und darum geht es nicht! Doch halte dich nicht für etwas Besseres als mich, denn auch wenn sein Blut nicht an deinen Händen klebt, sondern an denen des Suchers, macht dich das nicht weniger schuldig, denn er erledigte deinen Auftrag!
Was aus mir wurde, ist das, was hier vor dir steht! Was aus mir wurde, ist etwas, zu dem du seinerzeit zugestimmt hast! Wohlwissend, offenen Auges und erleichtert darüber, dass nicht du in eine Schuldigkeit gegenüber einer Schuldensammlerin wie Recha gerietest!“
Mutter senkte die Arme, ballte die Fäuste und verzog ihre Miene zu einer wütenden Grimasse.
„Wer bist du, dass du über mich urteilen zu dürfen glaubst? Wie selbstgerecht du geworden bist! Warst nicht du es damals, die mich dazu überredete? Warst nicht du es, die nur zu bereitwillig einwilligte, bei ihr zu bleiben? Zeige jetzt nicht mit dem Finger auf mich, Ises, wage es nicht!
Bei ihr wusste ich dich sicher vor ihm, denn glaub nicht, dass er auch nur noch einen einzigen Tag länger gewartet hätte! Wer hatte dich denn stets und hätte dich weiterhin vor ihm beschützt? Da war niemand, wie du dich erinnern wirst! Welche Wahl hatte ich denn? Und glaub mir, ich habe jedes erdenkliche Opfer gebracht, um dich zu bewahren, dir ein Leben zu ermöglichen, in welchem du nicht das würdest erdulden müssen, was ich erdulden musste!
Dich bei Recha zu lassen ... Ich tat es in dem Bewusstsein, dass du ab sofort unerreichbar für ihn sein und dich eines Tages selbst würdest schützen können.“
„Das habe ich niemals bezweifelt, doch das ist nicht alles, Mutter! Nicht ganz, du sparst wohlweislich etwas aus!“, zischte ich und trat vor, näher an sie heran. „Ich habe in all diesen Jahren diesen Moment wieder und wieder vor meinem geistigen Auge gesehen und ich weiß noch wie heute, was in deinen Augen stand. Was schon immer darin stand, wann immer du mich angesehen hast! Du hast nie die Liebe für mich gefühlt, wie eine Mutter sie für ihr Kind fühlen sollte. Denn wann immer du mich ansahst, hast du auch das gesehen, was er getan hat.
Du hast mich nicht gewollt und deine Entscheidung, mich zu bekommen, seine Frau zu werden und mich so vor dem Makel eines Bastardkindes zu bewahren ... Wie bald hast du es bereut, mich geboren und bei dir behalten zu haben? Die Wahrheit und keine Ausflüchte mehr, wenigstens dieses eine Mal!“
Sie schwieg und maß mich mit einem kalten Blick von oben bis unten.
„Antwort genug, Mutter: Du hast es bereut, doch es war zu spät.
Ich habe keine Worte dafür, wie dankbar ich dir damals war, dass du ihn erduldet hast. Versorgt zu sein konnte niemals ausgleichen, was er dir angetan hat und immer wieder antat. Ich war nicht blind, Mutter! Doch ich war auch an jenem Tag bei Recha nicht blind!“
„Was willst du andeuten?“, kam es zischend.
„Andeuten? Ich muss nichts andeuten, ich weiß es! Ich habe schon früh gelernt, zwischen den Worten anderer zu lesen, die Zwischentöne in ihren Stimmen zu hören. Ich habe früh gelernt, ihre Mienen zu deuten und ich weiß, was in deinem Gesicht stand, als du dein Geld wieder eingesteckt und dich mit einem kurzen Gruß von mir verabschiedet hast. Da war nicht nur die Erleichterung zu sehen, deinen brutalen Mann schon bald ein für alle Male loszuwerden, da war weit mehr: Du warst gleichzeitig endlich befreit von allem, was dich ständig an diese Jahre erinnerte! Leugne es nicht! Streite es jetzt nicht ab!“
Wir durchbohrten einander mit Blicken, spießten uns gegenseitig regelrecht damit auf. Etwas, das sie schon immer beherrscht hatte, ich hingegen nicht nur von ihr übernommen, sondern mit den Jahren geübt und vervollkommnet hatte. Ises, die Sucherin, war nicht mehr das unbedarfte, vorsichtige Mädchen von damals und obwohl meine Mutter mir lange standhielt, flackerte am Ende doch etwas in ihren Augen auf, ließ ihre Lider zucken. Ich hatte sie niedergerungen!
„Ja! Ja, ja, ja, ich war wie befreit!“, fauchte sie zuletzt mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich erkannte in diesem Augenblick meine Gelegenheit und war mit einem einzigen Schlag befreit von einer Last, die mich Jahre und Jahre erdrückt hat und unter der ich nicht atmen konnte. Doch urteile nicht über mich, solange du nicht das Gleiche durchgemacht hast wie ich, verstanden?
War es ein Opfer? Ja. Habe ich es um deinetwillen erduldet? Ja! Solltest du mir dankbar sein? Oh ja, das solltest du! Du schuldest mir ein Leben, denn wie hätte ich mein eigenes Kind umbringen können, das sich bereits spürbar in meinem Leib regte? Andererseits aber wäre ich auf der Straße und in der Gosse gelandet, hätte ich ihn nicht genommen. Kesto mag meine einstige Heimat gewesen sein, doch meine eigenen Eltern haben mich mit nichts von ihrer Schwelle davongejagt, als sie von meiner ungewollten Schwangerschaft, meiner Schändung erfuhren. Ich taugte nicht mehr für eine Verbindung mit einem großen Pelzhändler, er hätte mich trotz meiner Schönheit und Jugend nicht mehr genommen. Ihre einzige Tochter hatte ihnen mit einem Schlag all die schönen Aussichten ruiniert. Dass mir Gewalt angetan worden war, interessierte niemanden.
Wohin hätte ich gehen sollen? Zagor? In einer Stadt wie dieser wimmelte es von Frauen wie mir. Arbeit für eine Frau, die noch dazu alleine ist und einen Bastard erwartet? Ha! Nicht einmal in einem Hurenhaus hätten sie mich genommen, da die Schwangerschaft schon offensichtlich geworden war! Und welches Schicksal hätte dich später erwartet? Du bist alt genug, rechne es dir selbst aus.
Also ja, ich war zutiefst erleichtert, mich endlich von alldem zu befreien. Und ja, ich hatte mit dir tagtäglich den Grund für all das vor Augen. Aber wage es nicht, zu behaupten, ich hätte dich nicht geliebt!“, wurde sie nun laut. „Es mag Hassliebe gewesen sein, doch wäre es weniger als das gewesen, hätte ich dich noch in meinem Leib getötet oder nach deiner Geburt ausgesetzt und wäre verschwunden, um neu anzufangen, notfalls alleine! Dumm wie ich war, brachte ich es nicht übers Herz. Und da du kein Junge warst, konnte ich dich auch nicht ihm überlassen und verschwinden!
Und jetzt sag mir, warum du gekommen bist, und verschwinde endlich wieder. Es ist spät, das hier ist mein Haus und mein Leben, darin hat niemand anderes mehr Platz. Du schon gar nicht.“
Das Ächzen in meiner Kehle konnte ich unterdrücken, doch ich lauschte dem soeben Gehörten hinterher und kämpfte den Schmerz nieder, der ungeahnt heftig in mir tobte. Eigenartig genug denn nichts anderes hatte ich zu hören erwartet, ich hatte mich damals nicht getäuscht. Doch diese Worte jetzt unverblümt ausgesprochen zu hören, rammte mir ein Messer in die Brust und drehte es langsam und genussvoll.
„Weshalb bist du einfach gegangen, wenn du mich doch auch geliebt zu haben glaubst? Weshalb hast du nicht wenigstens irgendwann einmal eine Nachricht durch meinen Boten gegeben? Und weshalb hast du versucht, spurlos zu verschwinden? Alles nur, um nicht wieder erinnert zu werden?“, fragte ich heiser.
„Begreifst du es immer noch nicht? Das war ein Grund, ja. Ich wollte all das aus meinem Leben verbannen, obwohl ich tiefinnerlich wusste, dass das nicht möglich ist. Man kann es verdrängen, aber irgendwann holt es einen doch ein. Und sei es des Nachts in den Träumen. Wenn nur die Wahrheit dich dazu bringt, endlich wieder zu verschwinden, dann sollst du sie hören: Ich wollte vergessen! Alles, auch dich! Ich hatte meine Pflicht und Schuldigkeit als Mutter längst getan und wollte nicht, dass wir uns je wiedersehen, weil ich nicht ertrage, was du bist, heute noch weniger als damals. Ich würde es nicht noch einmal ertragen nach jenem Tag.“
Ich runzelte die Stirn. Nach jenem Tag? Nach dem Tag, als sie mich sang- und klanglos in Rechas Haus hatte stehen lassen? Ich hatte niemals irgendjemandem die Einzelheiten erzählt, doch jede einzelne Sekunde war mir im Gedächtnis geblieben.
„Nach jenem Tag? An dem du mich mit zu ihr nahmst?“
„Auch. Weitaus mehr aber der, an dem ich ihn fand. Wer immer der Sucher war, der ihn getötet hat, er hatte einen Tag gewählt, an dem ich nicht zu Hause war. Er hatte dafür gesorgt, dass jeder annehmen musste, dem Vater sei wieder einmal sturzbetrunken gewesen und sein Tod ein Unfall. Alles deutete darauf hin, dass er wie so oft zu viel Wein getrunken hatte und dann im Rausch die steinerne Treppe hinuntergefallen sein musste. Da war Blut an den untersten Stufen und er lag da, sein Körper seltsam verrenkt. Sein Schädel war blutverschmiert und der Lehmboden darunter getränkt. Alles war meisterlich hergerichtet, bis hin zu dem zerbrochenen, leeren Weinkrug, der verloschenen Kerze neben seiner Hand, dem verspritzten Wachs, dem grausig verrenkten Fußknöchel und dem Gestank nach Wein, den er ausströmte. Ein Gesamtbild, als sei das Morden ein Handwerk wie jedes andere und das Ergebnis ein Meisterwerk; niemand hatte auch nur den geringsten Zweifel an der Ursache seines Todes.
An diesem Tag konnte ich mir erstmals in allen Einzelheiten ausmalen, worauf du dich eingelassen und womit du dich einverstanden erklärt hattest. Recha von Zagor würde eine ebensolche meisterliche Mörderin aus dir machen und du würdest die Kunst des Tötens und anschließenden Verschleierns lernen und ausüben. So, wie ich dich kannte, bis hin zur Perfektion. Bare Münze für das Leben eines Menschen. Oder für dessen Verschwinden, dessen Gefangennahme – was auch immer!
Ich war einer Hölle entkommen, meine Tochter jedoch hatte sich freiwillig in eine solche begeben, um zu einer Handlangerin der dort regierenden Dämonen zu werden. Ich sollte die Frau sein, die dich geboren hatte? Unmöglich! Und bevor du fragst: Nein, nicht das schlechte Gewissen oder ein Schuldgefühl sprechen aus mir, sondern das Grauen, dass ich etwas wie dich geboren haben soll. Etwas, das sich voller Begeisterung zu bleiben bereiterklärte, obwohl es doch gehört hatte, dass ich versuchte, einen Mörder zu dingen. Obwohl es doch wusste, dass es ebenfalls zu einer Mörderin werden würde. Werden wollte!
Was immer du bist, nicht ich habe dich in meinem Leib getragen und zur Welt gebracht. Wessen verfaulte Frucht auch immer du bist, du bist nicht meine Leibesfrucht! Du bist wie dein Vater und hast nichts mit mir gemein!“
Ich starrte sie an. Atemlos, sprachlos, nicht wissend, was ich darauf hätte antworten sollen. Sie schwieg ebenfalls, hielt meinem Blick noch eine kleine Weile stand, dann wandte sie sich mit einer abweisenden, verachtungsvollen Geste ab.
„Wie auch immer, es ist vorbei. Selbst meine Hassliebe für dich ist dahin, da ist nichts mehr, nicht einmal mehr Mitleid oder Reue. Ich habe nichts mehr übrig, für niemanden. Weder für dich, noch für die Welt da draußen. Indem ich alldem den Rücken gekehrt habe und hier neu anfing, habe ich auch die Tür hinter mir geschlossen, die die letzte Verbindung zu dieser Vergangenheit darstellte. Ich hatte sie geschlossen – bis du hier aufgetaucht bist, ungebeten und vor allem unerwünscht! Du hast mich gezwungen, das Ganze noch einmal zu fühlen, doch das war das letzte Mal!
Und jetzt nimm deine Sachen und geh, wie du gekommen bist: verstohlen und unbemerkt. Der Tod klebt an dir wie eine schleimige, faulige Masse und folgt dir auf den Fersen wie ein drohender Schatten. Ich möchte nicht, dass dich irgendjemand hier sieht und mit mir in Verbindung bringen könnte. Was mich angeht, werde ich dich wieder vergessen haben, sobald du durch diese Tür dort gegangen bist. Es gibt keine Ises von Zagor mehr für mich. Und für dich gibt es keine Dermenis mehr. Aus wessen Bauch du einst gekrochen sein magst, es war nicht der meine.“
Sie wandte mir den Rücken zu, trat ans Fenster und blieb dort wartend stehen, die Arme wieder vor der Brust verschränkt. Die eingetretene Stille dröhnte in meinen Ohren und das Knacken der brennenden Scheite sowie das Knistern der Flammen wurden überlaut.
Ohne ein weiteres Wort nahm ich meinen pelzgefütterten Umhang wieder von ihrem Lager, ebenso wie den prallgefüllten Beutel mit Münzen, den ich ihr hatte dalassen wollen. Das Dunkel der Nacht würde mich erneut verbergen und ich stand schon in der offenen Tür, als ich doch noch einmal innehielt. Für das, was in meinem Inneren tobte, hatte ich keine Begriffe, doch ein Letztes würde ich nicht ungesagt lassen:
„Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann, dass man Wahrheiten nicht verleugnen kann, Mutter. Man kann zudem weder die Zeit zurückdrehen noch Worte zurücknehmen, die man einmal ausgesprochen hat.
Ich bin gekommen, um jetzt, da ich frei bin, für dich da zu sein, dich zu mir zu holen. Frieden mit dir schließen wollte ich, obwohl du mich all die vielen Jahre nicht einmal ... Lassen wir das, denn wie du schon sagtest, es ist vorbei. Du hast mich aus deinem Leben gestrichen. Gut. Doch anders als du glaubst, kannst du zwar vor aller Welt verleugnen, meine Mutter zu sein, nicht aber vor dir selbst oder vor mir. Ich bin in deinem Leib herangewachsen und was ich tat, tat ich für dich und mich. Weil ich nach all den Jahren für dich da sein wollte als dein Schutz und deine Hilfe – mein einziges Ziel in all den Jahren.
Ich gehe. Niemand hat mich kommen sehen, dafür habe ich gesorgt. Doch glaube nicht, dass ich so schnell aufgebe! Du hast nur eine Tochter, wie ich nur eine Mutter habe. Denk darüber nach, ob dir damit letztlich nicht doch etwas geblieben ist auf dieser Welt und in diesem Leben.“
Die Schatten der Häuser hüllten mich ein und die Schatten der Bäume hießen mich willkommen, als ich den Wald jenseits der Felder erreichte, wo ich die Tiere angebunden und zurückgelassen hatte.
Ich hatte Hunger, doch ich würde ohnehin nichts herunterwürgen können. Meine Kehle war wie zugeschnürt und mein Magen ein einziger Knoten. Die Kälte machte mir nichts aus, ein Feuer war schnell entfacht und die mitgebrachten Felle würden mich wärmen. An Schlaf war hingegen nicht zu denken, denn den Rest der Nacht würde ich mit Sicherheit damit verbringen, den Schmerz wieder in mir einzuschließen.
Jahrelange Übung würde mir dabei helfen.
Die Luft war nach der langen Nacht eisig. Entsprechend zeitig hatte ich mein Lager abgebrochen und erreichte schon am frühen Morgen des nächsten Tages den Waldrand. Das Dorf lag friedlich in der sanften Senke vor mir und da der Winter bislang mit Schnee sparte, wunderte es mich kaum, dass die ersten Männer schon wieder unterwegs in meine Richtung waren, um noch mehr Holz zu schlagen. Zwar hatte ich gestern bemerkt, dass nicht ein Haus ohne hinreichende Brennholzvorräte war, doch bei dieser ungewöhnlichen, klirrenden Kälte wollten sie ihre Feuer wohl auch über Nacht nicht ausgehen lassen.
Ich beschloss, sie hier zu erwarten, zügelte meine Stute und sofort blieb auch mein Packtier stehen.
Die Ersten hatten mich bald entdeckt und nun blieb der, der eines jener riesigen Rückepferde am Zügel führte, hinter den anderen zurück.
„Wer bist du und was willst du hier?“, rief der Mann, der die Gruppe anführte, schon von Weitem.
Ich wartete schweigend, bis sie nahe genug waren, dann schob ich die pelzgefütterte Kapuze vom Kopf, um sie mein Gesicht sehen zu lassen.
„Euch auch einen guten Morgen. Ich bin Reisende und suche eine Unterkunft, in der ich eine Weile bleiben kann. Wie heißt eure Siedlung?“
Er verlangsamte, blieb dann stehen und musterte mich misstrauisch, die Axt auf der Schulter behaltend. Im Gegensatz zu mir schien er keine Veranlassung zu sehen, die Kapuze seiner Schulterhusse abzustreifen. So konnte ich nur erkennen, dass er noch vergleichsweise jung war – gemessen an den Männern in seiner Begleitung.
„Unser Dorf heißt Osden, aber eine Herberge wirst du hier vergebens suchen. Und du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Mein Name ist Ises. Und der deine?“
Der Kopf unter der Kapuze neigte sich kaum merklich zur Seite.
„Augen wie die deinen habe ich schon einmal irgendwo gesehen. Und die Waffen, die da an deinem Sattel hängen ... Sie sprechen Bände, anders als dein Name. Also noch einmal: Wer bist du? Eine Reisende sicher nicht.“
Ich lächelte leise und legte nun ebenfalls den Kopf schräg.
„Augen wie die meinen, aha. Nun, Männer wie dich habe ich ebenfalls schon einmal gesehen: zwei Beine, zwei Arme, einen Kopf. Und Waffen wie die auf deiner Schulter ebenso. Wenn du wissen willst, ob ich die Meinen zu benutzen weiß, dann ja. Wenn du aber fragen willst, ob ich sie in deinem Dorf dort zu nutzen gedenke, dann lautet meine Antwort: Nur, wenn man mich bedroht und somit dazu nötigt.
Eine Herberge gibt es also nicht, aber vielleicht gibt es ein leer stehendes Haus. Oder jemanden, der mich und meine Tiere gegen Bezahlung für ein paar Tage oder Wochen bei sich aufnehmen würde. Ich zahle gut für ein warmes Obdach und gutes Essen und ich kann in Haus und Hof mit anfassen.“
„Deine Ausrüstung sieht ganz danach aus, als könntest du auch einfach weiterreiten!“, rief der Mann mit dem Rückepferd am Zügel von hinten.
„Und deine Worte klingen ganz danach, als hättest du Angst vor einer alleinreisenden Frau! Meine Frage war leicht zu beantworten und bislang fand ich die Gegebenheiten stets so vor, dass jeder, Mann oder Frau, eigenständig entscheiden durfte, ob er oder sie mich beherbergen möchte. Aber meinetwegen, dann frage ich mich eben von Haus zu Haus durch und halte euch nicht länger auf. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Redrof!“
Ein leiser Schenkeldruck und Blaida setzte sich folgsam in Bewegung.
„Mein Name ist nicht Redrof“, kam es prompt von ihrem Wortführer.
Ich wandte den Kopf.
„Nicht?“
„Nein.“
„Nun, da du ihn mir nicht nanntest, obwohl ich mich dir vorgestellt habe, nahm ich an, du hast ihn entweder vergessen oder er gefällt dir nicht. Also habe ich einen für dich gewählt. Redrof passt zudem zu dir: der Redselige, Auskunftsfreudige.“
Inzwischen waren vier weitere Männer aus dem Dorf auf dem Weg und würden uns bald erreichen. Obwohl keiner der Umstehenden feindselig wirkte, blickten sie doch alle argwöhnisch unter ihren Kopfbedeckungen hervor. Und als der, den ich Redrof genannt hatte, mir nun in den Weg trat und die freie Hand hob, wie um nach Blaidas Halfter zu greifen, zügelte ich mein Pferd noch einmal.
„Deine Waffen, dein unerschrockenes Auftreten und gesamtes Gebaren, deine Sorglosigkeit, alleine auf Reisen zu gehen, und nun auch der kalte Glanz in deinen Iriden ... Du bist eine Sucherin. Wir mögen eine kleine, einsam gelegene Dorfgemeinschaft sein, doch auch wir wissen, was ihr seid und vor allem, was ihr tut. Ihr bringt nichts als Scherereien und daher seid ihr hier nicht gelitten. Du tätest besser daran, weiterzureiten.“
„Wie schnell ihr Dörfler doch stets mit euren Urteilen seid!“, funkelte ich ihn an und zupfte am rechten Zügel, woraufhin Blaida ihm die linke Seite zudrehte. Mich leicht aus dem Sattel zu ihm hinbeugend betrachtete ich sein Gesicht forschend.
„Ich war eine Sucherin, Redrof. Ich weiß mich also zu verteidigen. Um dir und deinen Freunden hier eure Angst aber zu nehmen: Ist euch aufgefallen, dass ihr längst in der Überzahl seid? Dass ich weder das Schwert gezogen habe noch den Bogen in der Hand halte?
Wie wäre es also, wenn du kurz nachdenkst? Gehen wir es gemeinsam durch: Habe ich mich euch und eurer Siedlung offen genähert? Ja. Was hätte ich davon, wenn ich mir ein ganzes Dorf zu Feinden machen würde? Nichts. Was hätte ich andererseits davon, wenn ich mir hier wie beabsichtigt friedlich ein Quartier suche, um eine Weile zu bleiben, bevor ich genauso friedlich weiterreise? Ich hätte für eine Weile ein Dach über dem Kopf, anstatt weiterhin die immer eisiger werdenden Nächte unter freiem Himmel zu verbringen. Dazu jeden Tag eine warme Mahlzeit, die ich nicht erst jagen, erlegen und zubereiten muss.
Ich bin hier nicht gelitten? Nun, ich bin Entbehrungen gewöhnt und habe gelernt, Feuer zu machen; ich könnte also weiterreiten, da ich Winternächte wie die derzeitigen kenne. Was ich jedoch möchte, ist, meine Reise für eine Weile zu unterbrechen.
Und du solltest niemals wieder einfach so vor das Pferd einer Sucherin treten, ehemalig oder nicht! Du magst eine Axt auf der Schulter tragen, doch noch bevor du meine Stute damit hättest verletzen können, hätte ich dich kampfunfähig gemacht!“
„Drohst du mir? Wie vereinbart sich das mit ...“, begann er grollend, doch ich fiel im mit einem betonten Seufzen ins Wort.
„Keine Drohung, Redrof. Ich habe nicht nach meinen Waffen gegriffen, weil mir um mich trotz eurer Überzahl nicht bange ist. Doch ich sähe es als Bedrohung an, wenn ich annehmen müsste, dass jemand Hand an mein Pferd zu legen gedenkt! Nimm es also als Versprechen, meine Stute zu verteidigen. Also sei so gut und nimm deine Hand wieder herunter. Blaida steigt gerne einmal und ihre Hufabdrücke in deinem Gesicht wären sicher nicht die einzigen Folgen.“
Ich richtete mich wieder auf und musterte abwartend sein Gesicht.
Er folgte meiner Bitte – in betont langsamer Weise und mit einem unerschrockenen, winzigen Lächeln. Und obwohl das Misstrauen nach wie vor in seinen dunklen Augen stand, schien er meine Worte zu erwägen. Kurz betrachtete er nun auch Blaida, bevor er zu einem Entschluss gekommen zu sein schien.
„Ich begleite dich. Ihr könnt vorausgehen, ich folge euch, so bald es geht.“
„Bist du sicher?“, fragte wieder der mit dem riesigen Arbeitspferd am Zügel.
„Ja. Sie hätte in der Tat nichts davon, mich einen Kopf kürzer zu machen. Und da ich weiß, dass es in unserem Dorf nichts zu holen gibt für sie, sollten auch alle anderen hinlänglich sicher vor ihr sein.“
Er setzte sich in Richtung der Häuser in Bewegung, ohne darauf zu achten, ob ich ihm folgen würde. Also nickte ich den Übrigen zu und folgte ihm schmunzelnd, meine wärmende Kapuze rasch wieder über den Kopf ziehend.
„Hast du keine Angst, ich könnte dich hinterrücks ...“, begann ich und ließ das Ende bewusst offen.
„Im Grunde kommt nur eine Person infrage, bei der du dich nach Obdach erkundigen könntest“, überging er meine Bemerkung jedoch. „Zwei genau genommen, aber die Eine ist ... abweisend. Sie will lieber für sich bleiben und in Ruhe gelassen werden. Bleibt nur noch Una-Nea. Sie ist verwitwet und sicher über ein Zubrot dankbar, zumal ihre Söhne und Töchter fern von hier leben. Du wirst ihr mit Höflichkeit und Freundlichkeit begegnen, gut für Essen und Obdach zahlen und ihr wo immer es geht zur Hand gehen. Ich selbst werde mich davon überzeugen.“
Er schritt kräftig aus und obwohl die dicke, oberschenkellange Jacke und die Schulterhusse nicht viel von ihm sehen ließen, war doch deutlich, dass er kräftig gebaut war.
„Es freut mich, dass du nicht länger Angst vor mir hast und sogar den Mut beweist, mir den Rücken zuzukehren. Daher ein weiterer Rat: Halte dir den Rücken immer frei!“
„Drei“, hörte ich ihn sagen.
„Drei was?“
„Ich zähle mit, wie oft du um meine Sicherheit besorgt bist.“
Ich lachte leise auf und folgte ihm dann eine Weile schweigend. Erst als wir den Ortsrand erreichten und er seitlich abschwenkte, stellte ich meine nächste Frage – halb in der Erwartung, den Namen meiner Mutter zu hören.
„Wer wäre die andere?“
Ohne sich umzudrehen, antwortete er zunächst nur mit einem Schnauben.
„Ah. Noch jemand, der namenlos unter euch lebt.“
„Mutter.“
Nun gut, dann hatte ich wohl danebengelegen.
„Mein Name ist Mamoro“, setzte er hinzu. Offenbar hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, nach Gutdünken und wahl- und zusammenhanglos auf Fragen zu antworten.
Ich musste einen Moment lang in meinem Gedächtnis kramen, dann glaubte ich, eine vage Erinnerung gefunden zu haben.
„Der Beschützer?“
Wieder schwieg er dazu und bog zur Seite hin ab, was uns direkt auf eines der Häuser am Rand der in der Kälte erstarrten Felder zuführte.
„Und Mutters Name ist Dermenis.“
Zum ersten Mal seit Langem hatte ich mich nicht völlig unter Kontrolle und Blaida schien das zu spüren. Sie tänzelte kurz und als ob er auf jedes noch so kleine Geräusch horchen würde, wandte er nun rasch den Kopf. Noch immer war nicht viel von seinem Gesicht unter der Kapuze zu erkennen, doch seine Wachsamkeit war nicht zu übersehen.
„Ein seltener Name“, brachte ich heraus und gab mich schnell wieder ungerührt. Es konnte unmöglich zwei Frauen dieses Namens in dieser kleinen Siedlung geben.
„Selten, richtig. Dort ist es. Ich gehe voraus. Wenn Una-Nea dich abweist, wirst du weiterreiten."
Wie konnte er meine Mutter als die seine bezeichnen? Egal, wie alt er nun wirklich war, das war unmöglich.
Blaida verhielt folgsam, kaum, dass ich sie gezügelt hatte. Und er wartete nach dem vernehmlichen Klopfen ebenso regungslos, nach wie vor ohne seine Kopfbedeckung abzustreifen.
Es dauerte mehrere Augenblicke, dann wurde die Tür geöffnet.
„Moro! Was führt dich so zeitig am Tag zu mir?"
Eine klare, leise Stimme, der man Freude und Freundlichkeit anhörte. Noch stand er so, dass er ihre Gestalt verdeckte, doch jetzt endlich hob er die Hand, um seine Kapuze vom Kopf zu schieben.
„Das Anliegen einer Reisenden. Einer Sucherin, das solltest du wissen“, entgegnete er, trat beiseite und wandte sich dann mir zu.
Seine dichten Haare waren pechschwarz und gerade so lang – oder kurz, je nachdem, wie man es nahm – gehalten, dass die zahlreichen Wellen einen wirren Schopf ergaben. Und da sein Gesicht nicht länger verschattet war ... Er sah mich aus Augen an, deren Grün noch intensiver leuchtete als alle mir bekannten, und mit einem Blick, der durchdringender kaum sein konnte.
Ich brauchte einen Moment, um meine Aufmerksamkeit von ihm auf sie zu lenken. Diese Una-Nea war ... alt? Die ersten Eindrücke passten eigenartigerweise nicht zueinander, denn sie wirkte alt und doch nicht alt: Ihr Gesicht zeugte deutlich davon, dass ihr das Leben einiges abverlangt hatte. Ihre weißen, teils offenbar noch weißblonden Haare waren in dicken Flechten um ihren Kopf gewunden und ihre durchaus hochgewachsene Gestalt war rüstig, was den Betrachter die leichte Schiefstellung ihrer Schultern fast übersehen ließ. Das Auffallendste an ihr war jedoch ihr Gesicht. Sie musste eine absolute Schönheit gewesen sein, doch abgesehen von den Falten um die Augen und auf der Stirn zog sich ein feiner Strich über ihre Wange. Eine Narbe, die nahezu senkrecht mittig durch ihre rechte Augenbraue und hoch bis zwei oder drei Fingerbreit in ihre Stirn führte. Eine Narbe, wie ich sie schon so oft gesehen hatte. Oder anderen zugefügt. Eine Verletzung, die ihr Auge erstaunlicherweise verschont hatte.
„Nun, dann sollte sie für sich selbst sprechen können, nehme ich an“, holte sie mich aus meiner Musterung heraus.
„Das kann sie, allerdings. Mein Name ist Ises, doch anders als Mamoro sagte, war ich Sucherin. Ein kleiner Unterschied, der jedoch bei den Leuten keinen Unterschied zu machen scheint.
Ich bin auf der Durchreise und suche für eine Weile eine Unterkunft. Ich zahle angemessen und fasse mit an, wo immer nötig.“
Auch sie musterte mich eingehend, bevor sie zu einer Erwiderung ansetzte. Diese richtete sie jedoch nicht an mich, sondern an meinen Begleiter.
„Und da bringst du sie zu mir.“
Eine sachliche, gelassen vorgebrachte Bemerkung.
„Ja. Sie behauptet zwar, nicht auf Händel aus zu sein und versicherte, kein Interesse daran zu haben, sich hier jemanden zum Feind machen zu wollen, doch ich vertraue deiner Menschenkenntnis mehr als ihren Worten. Und da Mutter niemanden unter ihrem Dach duldet ... Falls du sie abweist, wird sie weiterreiten.“
Ich rückte mich ein wenig im Sattel zurecht und hob eine Augenbraue, schwieg allerdings zu dem Umstand, dass sie weiterhin über mich redeten, als sei ich nicht anwesend.
Diesmal flog ihr Blick über meine Waffen, blieb kurz an ihnen hängen. Ich hatte sie offen am Sattel festgebunden und das Schwert trug ich sogar an seinem Gurt, doch sie schien nicht sonderlich beeindruckt.
„Ises. Irre ich mich, oder bedeutet dieser Name ,die Bogenträgerin?“, deutete sie mit einem Kopfnicken in Richtung meiner Lieblingswaffe. Nun trat sie auch vollends aus dem Haus – eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in einem knöchellangen, warmen Kleid ohne jeden Zierrat. Wenn man von dem ledernen Gürtel absah, an dem zwei kleine Beutel baumelten. Sie schien leicht zu humpeln, doch selbst das tat ihrem Auftreten und ihrer Rüstigkeit keinen Abbruch.
„Es erstaunt mich, dass du die Bedeutung meines Namens kennst. Aber ja, soweit ich weiß, trifft das zu.“
„Soweit du weißt. Ich versichere dir, dass dies zutrifft Eine ehemalige Sucherin also. Wer war dein Herr?“
„Eine Herrin. Ihr Name war Recha.“
„Von Zagor!“, fügte sie an und fixierte mich kritisch.
„Du hast von ihr gehört?“, versetzte ich, meine Verblüffung verbergend.
„Wer in ganz Tendra hat nicht von ihr gehört?! Es spricht nicht eben für dich, ihre Sucherin gewesen zu sein ... Es gab da allerdings einen unter ihren Suchern, der einen etwas besseren Ruf genoss als alle anderen. Sein Name war Lyff.“
Je weiter sie sprach, desto aufmerksamer wurde ich. Und desto wachsamer.
„Lyff, richtig. Er war mein Lehrer und ich seine letzte Schülerin. Dafür, dass du in einem weit abgelegenen, kleinen Dorf lebst, bist du erstaunlich gut informiert über derlei Einzelheiten. Woher weißt du von ihm?“
Sie lachte leise auf, schüttelte jedoch den Kopf.
„Ich habe nicht immer hier gelebt und Rechas Ruf wie auch der ihrer Sucher ging nun mal in rasender Geschwindigkeit von Mund zu Ohr, von Ort zu Ort. Wie lange gedenkst du, zu bleiben?“
„Das kann ich noch nicht abschätzen. Mich drängt nichts zum Aufbruch oder dazu, zu einer bestimmten Zeit irgendwo anzukommen. Nicht wirklich.“
Die sicher bald bevorstehende Geburt von Naledis und Beros Zwillingen verdrängte ich erfolgreich, auch wenn eine Art von Sehnsucht blieb. Ich hatte viel Zeit für die Suche nach meiner Mutter benötigt – weitaus mehr als gehofft! – doch die beiden waren in guten Händen und das hier war wichtiger.
„Dich drängt also nichts. Und was hat dich hergeführt?“
Nun ließ ich ein erheitertes Schmunzeln auf meinem Mund erscheinen.
„Mein Weg der mich von hier aus nach Norden führen wird. Weitere Fragen werde ich dir nicht beantworten, also: Wie ist es nun? Moro neben dir erdolcht mich seit Minuten zunehmend mit seinen Blicken und für gewöhnlich mag ich solches Verhalten nicht sonderlich.“
Sie atmete einmal langsam und tief durch, dann nickte sie, während auch über ihr Gesicht ein kurzes Schmunzeln huschte.
„Wir versuchen es. Sobald ich dir jedoch sage, dass du gehen sollst, wirst du deine Habseligkeiten packen und von dannen reiten. Egal, wie lang oder kurz dein Aufenthalt hier bis dahin war. Die Winter hier sind selten lang doch auch daran werden wir die Dauer deines Aufenthaltes nicht festmachen.“
„Einverstanden. Meine Pferde?“
„Ich teile mir die Scheune hinter dem Haus mit Moro, dort kannst du sie unterstellen.“
„Was verlangst du für Obdach, Essen, Unterstand und Futter?“
„Die Hälfte von dem, was du in einer guten Herberge zahlen würdest, denn du wirst überall mit anfassen, um mir mein Leben ein wenig zu erleichtern.“
„Einverstanden.“