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Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist eine der größten im Leben jedes Menschen, denn sie ist von unermesslicher persönlicher und gesellschaftlicher Tragweite. Immer mehr Menschen wägen ihre Einstellung und ihre Optionen in einem bewussten Prozess ab. Ellen Kuhn ist als Frau Mitte 30 repräsentativ für den Typus Mensch, der diese Entscheidung in dieser Lebensphase treffen muss, aber auch darf. Es ist das Buch einer Betroffenen. Ihre differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kinderthema hat intellektuelle und emotionale Tiefe und deckt aktuelle fachliche Facetten ab. Eine Vielzahl persönlicher Erfahrungen, Erlebnisse und Schilderungen von Frauen und Männern bereichern die Kontroverse. Folgen Sie Ellen Kuhn auf ihrem Weg rund um ihre eigene Kinderentscheidung und begeben Sie sich damit selbst in einen intensiven Reflexionsprozess. Egal, ob Sie bereits entschlossen scheinen, ob Sie Ihre Haltung schlicht nochmals herausfordern wollen oder ob Sie auf der Suche nach Hilfe oder Orientierung sind.
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Seitenzahl: 717
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Bei tredition ist bereits folgender Roman von Ellen Kuhn erschienen:
Keine Angst vorm Fliegen – der Roman
Auszeichnung zum Buch des Monats
Über die Autorin:
Ellen Kuhn, geboren 1986, aufgewachsen im Raum Stuttgart, lebt als Kosmopolitin und digitale Nomadin mit ihrem Lebensgefährten in unterschiedlichen Ländern rund um den Erdball.
Ellen Kuhn ist Autorin, Bloggerin, Foto-Künstlerin und Unternehmerin. Nach einem Betriebswirtschaftsstudium arbeitete sie einige Jahre als Managerin im Bereich Gesellschaftliche Verantwortung in einem internationalen Unternehmen, bevor sie sich in die Selbstständigkeit wagte. Das Studium fremder Kulturen ist zu einem Lebensinhalt geworden. Sie liebt es, die Welt auf den Ebenen der Psychologie, Soziologie und Philosophie zu durchdringen.
Mehr:
www.ellenkuhn.com
Ellen Kuhn
Erfüllendes Mutterglück oder kinderlose Freiheit?
Mein Weg zur Entscheidung
© 2021 Ellen Kuhn
Umschlag, Illustration: Philip Esch, eschdesigns
Foto Autorin: Sophia Schulze Bernd, miss sophie's fotowelt
Lektorat, Korrektorat: Dr. Joachim Materna
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-33996-5
Hardcover
978-3-347-33997-2
e-Book
978-3-347-33998-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d- nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Die vielleicht einschneidenste Entscheidung
2. Kinder als Erfüllungsgehilfen für den Sinn
Mein Lebensskript
Unser Sinnempfinden
Über Werte zum Sinn
Über Erfahrungen zum Sinn
3. Was uns prägt, beeinflusst und bewegt
Dirigenten unseres Lebens
Unser An-Trieb
Der gesellschaftliche Druck
4. Leben als Mutter – eine Stellenbeschreibung
Phase I. Schwangerschaft
Phase II. Geburt – Stunde null
Phase III. Säuglings-Phase – 0 bis 1 Jahr
Phase IV. Kleinkind-Phase – 2 bis 4 Jahre
Phase V. Kindergarten- und Schul-Phase – 5 bis 11 Jahre
Phase VI. Pubertät und Adoleszenz – 12 bis 21 Jahre
Phase VII. Erwachsene Kinder – 21 bis ? Jahre
Die Sache mit dem Blickwinkel
5. Was mute ich meinem Kind mit mir zu
Die gewaltigste Bürde
Bindung als sichere Basis für mein Kind
Formen der Liebe und ihre Intention
Grenzen
Hochsensibilität
Super-Mütter (und Super-Väter)
Betreuungsinfrastruktur
Finanzielle Stabilität
6. Die erfüllende Ergänzung der Partnerschaft?
Die acht Phasen
Vom Du zum Es
Der geteilte und veränderte Körper der Frau
Sehnsucht nach Anerkennung und Abenteuer
Neue Rollen: Dyaden, Triaden, Tetraden
Retter oder Zerstörer?
7. Freundschaften im Wandel
Drei Motive für Freundschaften
Frauenfreundschaften
Eine mit. Eine ohne
Beide mit
Konsequenzen
8. Unverfügbarkeiten
Das andere Kind
Das In-vitro-Kind
Das fremde Kind
Das Kind aus dem Eis
Der Partner zum Kind
Das zerrissene Kind
9. Mein Kind, ein Umweltproblem?
Individuelle und gesellschaftliche Reaktionen
Staatliche versus persönliche Sphäre
Kinderverzicht gleich Rettung der Welt?
Demographische Gegenargumente
Hilft uns die Ethik?
Staatliche Regulation
Alles vergebens?
Abwägung
10. Leben ohne (eigene) Kinder – Frauen berichten
Sicher von Anfang an
Keine bewusste Entscheidung
Neugier und Erfüllung
Schicksalhafte Familienbande
Kinderreich trotz kinderlos
Dazu ein paar Zahlen
11. Die Entscheidung
Die Fallstricke beim Entscheiden
Entscheidungsprozesse
Eine ganz persönliche Annäherung
I do it my way
12. Impulse und Denkanstöße von Entschiedenen
Literatur
Der Tanz, der in uns lebt,
ist wie ein Traum.
Nur wir können ihn träumen,
ihm physische Form geben
und ihn leben.
Und wenn wir unseren Tanz
nicht tanzen,
wer soll es sonst tun?
Gabrielle Roth
Prolog
Ich bin weiblich, 34 Jahre alt, Erstgeborene im Sternzeichen Löwe (Aszendent Schütze), 1,65 Meter groß, 55 Kilogramm schwer, braunhaarig, enthusiastisch, neugierig und vielseitig interessiert, sportlich, umtriebig kreativ und engagiert, gewissenhaft, perfektionistisch, (sehr) sensibel und empathisch, aber auch (sehr) verletzlich, sehne mich nach emotionaler und intellektueller Tiefe, lese am liebsten psychologische, soziologische oder philosophische Fachliteratur, kann mir aber auch als Couch-Potato Grey’s Anatomy reinziehen. Ich liebe es unterwegs zu sein, zu reisen und in fremden Kulturen zu wohnen, außergewöhnliche Persönlichkeiten und Lebensläufe ziehen mich magisch an. Ich fotografiere gerne besondere Strukturen und Makro-Ausschnitte der Wirklichkeit, zeitgenössische Kunst inspiriert mich. Ich koche und esse leidenschaftlich gerne, genieße durchaus auch einmal Fine Dining. Ich lebe seit meiner Kindheit vegetarisch, habe (deshalb) meist einen chronischen Eisenmangel, und leide seit der Pubertät unter Dysmenorrhoe. Geduld gehört nicht zu meinen größten Stärken, Ungerechtigkeiten jeglicher Couleur machen mich wütend. Ich bin ein bindungsfreudiger Mensch und lebe seit acht Jahren in einer glücklichen Beziehung. Hätte man mich vor 15 Jahren gefragt, wie mein Leben heute aussehen würde, so hätte ich ziemlich sicher geantwortet, dass ich wohl einen Job als Angestellte bei einer Firma inne hätte, vielleicht sogar mit Führungsverantwortung, vermutlich eine Wohnung oder ein Haus, verheiratet mit meinem damaligen Partner, mit ihm ein bis zwei Kinder, für die ich in Teilzeit arbeitend einen Großteil der Erziehungsaufgaben oder, wie man heute so schön sagt, „Care-Arbeit“ übernehmen würde.
Seit Erscheinen des feministischen Standardwerkes „Le Deuxième Sexe“ von Simone de Beauvoir im Jahre 1949 hat die Emanzipation der Frau Quantensprünge gemacht und die bewusste, freie Wahl des oben recht stereotyp skizzierten Lebensmodells in unserer Gesellschaft scheint tatsächlich vorhanden zu sein. Wir können theoretisch wählen, ob wir den immer noch als klassisch geltenden Weg „Familie mit Kindern“ einschlagen oder unser Leben mit anderen Inhalten füllen wollen. Allerdings hätte ich – wenn ich ehrlich bin – damals vermutlich doch recht unreflektiert Doppelhaushälfte, Mann und Kind realisiert.
Nicht dass ich in irgendeiner Weise wirklich traditionell erzogen worden wäre und die Lebensmaxime Mutter-Sein im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch aufgesogen hätte. Meine Mutter ist ein quirliges und sich immer wieder neu erfindendes Energie-Bündel, die immer wieder den Mut hatte, untypische, neue Wege einzuschlagen. Mein Vater ist ein Frauen respektierender und achtender Mann, dem meine Mutter zwar ab und zu ihre großen Leistungen in Haushalt und Kindererziehung diplomatisch vor Augen führen musste, der aber meine Schwester und mich in unserer Rolle als eigenverantwortliche und selbstständige Frauen in der Gesellschaft stets motiviert und unterstützt hat.
Wenn man eines über meine Eltern sicher sagen kann, dann, dass sie beide für sich und später gemeinsam ihr Projekt Kinder definitiv mit voller Inbrunst und Überzeugung umgesetzt haben – auch wenn man eine unbewusst gesellschaftlich-konventionelle Einflussnahme auf ihre Beweggründe natürlich nicht ausschließen kann. Nie hatten meine Schwester und ich in unserer Sozialisation auch nur ansatzweise das Gefühl, die beiden würden von uns erwarten, es ihnen gleichzutun. Natürlich aber haben sie uns das Modell Familie mit Kind ein Stück weit vorgelebt.
Heute, in der Gegenwart, habe ich einen deutlich älteren Partner mit zwei Kindern aus erster Ehe, welche ein Jahr beziehungsweise drei Jahre älter sind als ich selbst. Seine Lebensplanung in Sachen Kinder ist abgeschlossen. Einige Zeit vor unserem Kennenlernen hat er sich bereits zu einer Vasektomie, also zur Durchtrennung der Samenleiter, entschlossen. Diese Entscheidung mündet in eine biologische Barriere für einen potenziell gemeinsamen Kinderwunsch, obwohl sie diesen heutzutage durch die moderne Medizin nicht gänzlich unmöglich macht und es durchaus auch noch die Option einer Adoption gäbe.
Natürlich lässt sich unsere Beziehung bei Weitem nicht auf diese Fakten reduzieren. Diese Partnerschaft hat sich zärtlich, liebevoll und fast schon klammheimlich in mein Leben geschlichen und hat eine lebensumfassende Revolution meines Daseins auf dieser Erde ausgelöst.
Nach bereits eineinhalb gemeinsamen Jahren waren wir die Entbehrung gemeinsamer Zeit durch unsere fordernden Berufe leid. Die Vision einer fünfmonatigen Auszeit reifte in unseren Köpfen. Wir sehnten uns danach, unserem unbändigen Lebenshunger nachzugeben, die Welt in uns aufzusaugen und unsere Zweisamkeit ungestört auskosten zu können. Während der organisatorischen Planung unserer Weltreise wurde uns klar, dass wir nach diesem Abenteuer nicht in das „alte“ Leben zurückkehren konnten. Wir kündigten unsere beiden gut situierten Jobs. Die Reise war ein Traum. Auf Bali packte uns eine Vision. Wie schön wäre es, mit Blick auf Palmen, Strand und Meer ein Buch über uns zu schreiben. Genau das taten wir. Aus der Passion Weltreise ist mittlerweile eine erfolgreiche Geschäftsidee geworden. Als digitale Nomaden leben wir immer mal wieder an anderen Orten dieser wunderbaren Erde und gestalten und organisieren maßgeschneiderte Weltreise-Unikate für unser gehobenes Kundenklientel.
Die Dimensionen, Prioritäten und Ziele meines Lebens haben sich grundlegend gewandelt. Ich habe begonnen, mich selbst zu entdecken, wahrzunehmen, was ich wirklich will, wie ich mein Leben gestalten möchte oder – ganz im Sinne des Psychoanalytikers Erich Fromm – wie ich meine Freiheit nutzen möchte.
Durch diese Beziehung bekam ich eine einmalige Chance. Eine, die ich erst jetzt so richtig begreife. Ich wurde durch die Schicksalsfügungen animiert, mein Lebensskript in Frage zu stellen, meine unbewussten Glaubenssätze zu reflektieren und mich auf einen intensiven Weg in mein Inneres zu begeben. Ich muss gestehen, dass ich diese Überlegungen vermutlich in keiner Weise angestellt hätte, wenn ich auf dem konventionellen Lebensweg geblieben wäre. Es bedurfte dieses glücklichen Erdbebens in meinem Leben. Dieser Mann, diese Partnerschaft, die Selbstständigkeit, das Leben in der Welt als Kosmopolitin haben mir die Perspektive eröffnet, ganz neu über eine der wichtigsten Fragen im Leben einer Frau nachzudenken: Will ich wirklich Kinder?
Ich habe (noch) keine Kinder. Auch wenn ich eine vielleicht überdurchschnittlich empathische Person bin, weiß ich natürlich nicht hundertprozentig, wie es sich anfühlen würde, eine Mutter zu sein. Aber damit bin ich in genau der gleichen Situation wie alle, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens ebenfalls für oder gegen ein erstes Kind entscheiden wollen oder müssen. Ich bin sozusagen der repräsentative Prototyp meiner Generation und Altersgenossinnen.
Meine Expertise generiert sich aus unzählbaren Beobachtungen von und Reflexionen über Elternschaft, aus sehr viel Zeit mit Kindern, aus Unmengen an Literatur in Form von Fachbüchern, Studien, Blogs, Artikeln und vor allem aus extrem vielen und sehr offenen Gesprächen mit Eltern. Mein Spektrum ist weit gefasst, von den glücklichen über die unglücklichen Eltern bis hin zu Paaren oder Frauen ohne Kinder, unter denen es natürlich ebenfalls glückliche wie unglückliche gibt. Und im Prinzip wird es jedem genau so ergehen, der vor der Kinder-Entscheidung steht – mehr Anhaltspunkt gibt es nicht. Die Möglichkeit, ganz offen über diese Frage nachzudenken, kann eine Chance sein, die ich nutzen will und zu der ich Sie gerne einladen möchte.
Dieses Buch ist der Versuch, die Komplexität dieser Entscheidung, die so erhebliche Tragweite hat, zu durchdringen. Meinen inneren Weg sichtbar zu machen. Die endlosen Facetten zu erkunden, von den intellektuell-rationalen über die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen bis hin zu den emotionalen. Eine Reise durch die bewussten und bewusst gemachten unbewussten Prozesse im Inneren meines Selbst.
Ich habe das Privileg, eine Wahl zu haben. Viele Frauen haben aufgrund ihrer Kultur und Religion von vornherein keine Wahl. Sie wachsen in totalitären Systemen auf, werden vergewaltigt, haben keine Bildung. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als Kinder zu bekommen, es so zu tun, wie ihre Gesellschaft es ihnen diktiert. Ich darf über diese Frage nachdenken, vielleicht dürfen Sie es auch. Jahrzehnte lang haben Frauen für diese Freiheit gekämpft, dass ich diese Wahl nun frei treffen darf. Dafür empfinde ich große Dankbarkeit.
Stets ist so ein Prozess des Schreibens über ein zentrales Lebensthema für einen selbst ein Ordnen von Gedanken, Erkenntnissen und Einstellungen, ein Prozess des Reibens mit sich selbst. Auf der anderen Seite erhoffe ich mir, Sie, liebe Leserinnen UND Leser, zu animieren, mit mir zu reisen, mit mir zu denken, mir zu folgen auf diesem Weg. Vielleicht mit der heimlichen, schüchternen Intention und vagen Hoffnung, auch Ihre eigenen Reflexionen anzuregen. Die bewusste Konfrontation mit dieser wichtigen Frage im Leben scheint mir mehr denn je notwendig.
1. Die vielleicht einschneidenste Entscheidung
“Unter Entscheidung versteht man die Wahl einer Handlung aus mindestens zwei vorhandenen potenziellen Handlungsalternativen unter Beachtung der übergeordneten Ziele.“ Das ist das Ergebnis einer Google-Recherche zum Stichwort Entscheidung.
Die zwei Handlungsalternativen scheinen in Bezug auf die Kinder-Frage eindeutig zu sein: entweder ja oder nein. Pragmatisch heruntergebrochen relativ banal. Im Alltag begegnen uns weit mehr Entscheidungen, die sich im Hinblick auf die Handlungsalternativen sehr viel mannigfaltiger darstellen.
Der Alltag unserer glücksmaximierenden Konsumgesellschaft ist durchtränkt von Alternativen und damit verbundenen Entscheidungen. Welches der 30 verschiedenen Shampoos ist das beste für genau meine Haare? Welche der 20 Joghurt-Sorten im Kühlregal pflegt meine Darmflora am nachhaltigsten? Welches Paar Schuhe passt am besten zu dem angestrebten Bild von mir selbst? Über die Manipulation unserer Entscheidungen mittels Werbung und über die strukturierte Analyse unseres Konsumverhaltens und Persönlichkeitsprofils durch die allseits bekannten Tech-Giganten könnte man Seiten füllen. Unsere subjektiv-bewussten Entscheidungskriterien und die uns unbewusst manipulierenden Faktoren im Hintergrund sind heutzutage vielfältiger als jemals zuvor. Die meisten der oben angerissenen Entscheidungen fällen wir unbewusst und gesteuert durch aktivierte Muster. Also durch im Laufe unseres Lebens erlernte und erworbene individuelle Regeln und Filter. Letztlich dient uns dieser Mechanismus der reflexartigen Reaktion bei manchen Entscheidungen zur Komplexitätsreduktion in einer immer vielschichtiger werdenden Welt, die von Informationen tsunamiartig überschwemmt wird. Nicht lange nachdenken, sondern intuitiv und impulsiv entscheiden, das kann bequem sein.
Es gibt aber Entscheidungen im Leben, denen der Einzelne je nach Persönlichkeit mehr Aufmerksamkeit schenkt – somit bewusste Gedankengänge anstellt, wozu oft auch das Einholen umfassender Informationen und der Austausch mit zentralen Personen aus dem sozialen Umfeld gehören (Familie, Freunde etc.). Kaufe ich diese Wohnung? Nehme ich diesen oder jenen Job an? Welche private Krankenkasse oder Versicherung passt am besten zu meinem Bedürfnisprofil? Sicherlich gehört für manche oder gar die meisten Menschen in diesen Entscheidungskomplex auch das Thema Partnerwahl. Bei dieser Art von größeren Projekten in unserem Leben wägen wir die eingangs im Google-Zitat genannten „übergeordneten Ziele“ sehr viel intensiver und umfassender ab.
Es scheint also so zu sein, dass es einerseits Entscheidungen gibt, die wir – aus welchen Gründen auch immer – eher unbewusst, reflexartig und automatisch treffen, und andererseits solche, über die wir uns definitiv bewusster, expliziter Gedanken machen. Obwohl es eigentlich naheliegt, die Entscheidung „Kinder ja oder nein“ zu der zweiten Kategorie von Entscheidungen zu zählen, habe ich den Verdacht, dass sie bei den meisten Frauen und Männern auch nach Jahrzehnten der Frauenemanzipation und Gender-Gleichberechtigungsdiskussion eher in die erste Kategorie fällt.
Ohne den Anschein erwecken zu wollen, wie der stets weit ausholende Philosoph Peter Sloterdijk bei den Ursprüngen unserer Menschheitsgeschichte beginnen zu wollen, wage ich dennoch einen Schritt auf die Meta-Ebene. Warum gehen wir manchmal Entscheidungen aus dem Weg und warum erkennen wir manchmal gar nicht, dass wir die Freiheit einer Entscheidung haben?
Der Psychologe Irvin D. Yalom hat eine eigene psychotherapeutische Richtung geschaffen, die existentielle Psychotherapie, in der es um den Umgang mit den aus seiner Sicht vier existenziellen Ängsten des Menschen geht, den sogenannten „letzten Dingen“: Tod, existentielle Einsamkeit bzw. Isolation, Sinnlosigkeit und Freiheit. In dieser Aufzählung mag es auf den ersten Blick verwundern, dass die Freiheit, die im allgemeinen Sprachgebrauch grundsätzlich eher positiv konnotiert ist und die wir in vielen Revolutionen erkämpft haben, eine der „letzten Dinge“ sein soll, vor denen wir uns doch im Allgemeinen fürchten. Folgt man Yaloms Argumentation, so wird relativ schnell augenscheinlich, weshalb uns die Freiheit so viel Angst macht. Freiheit bringt Verantwortung mit sich. Waren wir als Kinder stets behütet von unseren Eltern, die uns viele Entscheidungen (in aller Regel zu unserem Wohle) abnahmen, so gehört es als elementarer Bestandteil zu unserer späteren Individuation und Adoleszenz, zu lernen, mit Konsequenzen, falschen Entschlüssen und mit nicht realisiertem Potential zu leben. „Ich trage Verantwortung für das, was ich tue, und für das, was ich mich entscheide, zu ignorieren“, heißt es bei Yalom. Diese Verantwortung kann für uns mitunter sehr groß und belastend sein, wenn wir uns ihrer Tragweite bewusst werden. Denn solange dem modernen Menschen – im Sinne des Neurologen Viktor Frankl – nicht mehr seine Triebe und Instinkte sagen, was er tun muss, und die Traditionen (so auch die Religionen) nicht mehr vorschreiben, was er tun soll, weiß der Mensch nicht mehr, was er will, eigentlich genauer, für was er sich entscheiden will.
Wir scheinen orientierungslos zu sein durch fehlende innere und äußere Anhaltspunkte, an denen wir unsere Entscheidungen festmachen können. Wir fühlen uns im Sinne Yaloms hilflos gegenüber einem Abgrund der „Bodenlosigkeit“. Deshalb ist unser Alltag voll von unbewussten Entscheidungsvermeidungen, was beispielsweise in die Prokrastination, die Aufschiebung von Entscheidungen, mündet oder wir flüchten in die Konformität und tun das, was alle machen.
Erich Fromm führt in seinem nach wie vor hoch aktuellen Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ genau diese Ausflüchte auf, die wir als Menschen wählen, um uns nicht unserer Freiheit stellen zu müssen, um nicht entscheiden zu müssen. Die von Fromm beschriebenen Mechanismen sind zum einen die Zuwendung zu Autoritäten, also die freiwillige Unterwerfung. Dahinter steckt das infantile Bestreben, "Mama und Papa" irgendwo im Außen dieser so komplexen Welt zu finden und sich ihren Vorgaben anzupassen, sich an den Maximen einer Obrigkeit zu orientieren. Und dann der Mechanismus schlechthin, die Flucht in den Konformismus, also das zu wollen, was alle anderen wollen oder das zu entscheiden, was alle anderen entscheiden – meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Zugegebenermaßen eine gute Strategie, um sich dem „Bodenlosen“ nicht stellen zu müssen. Beim Lesen dieser Schrift habe ich unglaublich viele Male recherchiert, wann der Text veröffentlicht wurde: 1941. Erich Fromm hat mit seiner psycho-sozialen Analyse von Verhaltensweisen die Ursachen des Nationalsozialismus offengelegt, aber seine prinzipiellen Überlegungen sind zeitlos und gelten nach wie vor.
Flüchten wir also bei der Fragestellung „Will ich Kinder?“ in die oben beschriebenen Ausweichstrategien? Orientieren wir uns nach wie vor an dem, was alle machen, nach dem Motto „In meinem Alter bekommen doch alle Kinder“? Auch wenn wir als Gesellschaft aufgeklärter denn je sind, gebildeter denn je, konfrontieren wir uns mit der Frage, ob und warum wir in unserem Leben wirklich Kinder haben wollen, selten bewusst und ausreichend intensiv. Vielleicht rechtfertigen wir unsere Entscheidung vor uns selbst und anderen damit, dass wir uns ja damit beschäftigt und darüber nachgedacht haben. Aber letztendlich war es vielleicht nur innerhalb eines Systems der Konformität, ohne alle Aspekte und Konsequenzen mit all ihrer Tragweite auf unser individuelles Leben zuzulassen.
Aber was ist denn die Tragweite dieser Entscheidung? Da die Entscheidung für ein Kind bei vielen Menschen – auch in meinem früheren Denken – nach wie vor recht simpel, schnell und reflexartig gefällt wird, könnte man den Eindruck gewinnen, die Auswirkungen von Kindern auf das eigene Leben wären marginal – bis natürlich auf die, die eben alle landläufig kennen. Also Auswirkungen, die „normal“ sind. Die wir hinnehmen. Die wir akzeptieren. Denen wir uns schicksalhaft beugen. Gehört eben alles einfach dazu. Abgehakt. Vermeintlich.
Im Film „Eat Pray Love“ mit Julia Roberts, der auf dem gleichnamigen Buch von Elizabeth Gilbert basiert, sagt eine Freundin, welche eben ihren Säugling im Arm hält, zur Hauptdarstellerin, dass die Entscheidung für Kinder wie ein „Tattoo“ im Gesicht wäre. Vor meinem inneren Auge klappere ich meine Freundinnen und Bekannten mit Kindern ab und sehe einige bestätigend nicken und einige sich darüber echauffieren, nicht weil sie dem Ausspruch nicht zustimmen, sondern weil sie es als eine Art von Nestbeschmutzung und Blasphemie empfinden, ein Kind mit einer irreversiblen Körperverzierung zu vergleichen. Als ich den Film zum ersten Mal sah, habe ich die tiefe Wahrheit dieses Satzes nicht verstanden – ich war damals ungefähr 23 Jahre alt. Heute bin ich so weit, mir der Relevanz und Tiefe dieses Satzes – so glaube ich – bewusst zu sein. Denn vor allem in den letzten Jahren ist meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Elternschaft exponentiell angestiegen. Meine Erkenntnis: Ein Kind, erst recht zwei oder drei, verändert beziehungsweise verändern das Leben so nachhaltig, dass es einschneidender gar nicht sein kann. Nichts von alledem, was an normalen Auswirkungen erahnt und erwartet wurde, wird auch nur ansatzweise der Wirklichkeit gerecht. Es gibt keine Entscheidung auf der Welt, die sich intensiver auf das Denken, das Handeln, die Partnerschaft, den Beruf, Freundschaften und die Freizeitgestaltung auswirkt. Vor 10 Jahren hätte ich bei diesen Ausführungen – wie vermutlich viele Leser – gedacht, ja klar, weiß ich doch. Aber es ist ein eklatanter Unterschied, die Tragweite in allen Details wirklich ganz hautnah, bis in den tiefsten Winkel seiner Gedanken und Gefühle hineinzulassen, ihr zu erlauben, Besitz von einem zu ergreifen, eine hypothetische Projektion vorzunehmen in die eigene Zukunft.
Aber genau da scheint eine der besonderen Qualitäten dieser Entscheidung zu liegen. Die Projektion in die Zukunft, unsere empathischen Gedankenspiele und alle anderen Überlegungen bleiben theoretisch und fiktiv, so sehr wir uns auch anstrengen. Bei den meisten anderen Entscheidungen können wir probieren. Ganz banal beginnend bei der Hautcreme, aber sogar bis hin zum Hauskauf, unserem Job und der Partnerwahl. Wenn wir feststellen, das ist nichts für uns, der oder die war doch nicht der oder die Richtige, können wir unsere Entscheidung revidieren, wir können uns trennen, kündigen, verkaufen. Selbst ein Tattoo kann man heutzutage wieder entfernen lassen. Selbstverständlich könnte man rein theoretisch auch ein Kind zur Adoption freigeben, wenn man feststellt, dass es doch nichts für einen ist. Alleine der Gedanke ist für mich persönlich völlig absurd und schockiert mich. Und ich vermute, dass auch 99 Prozent der Leserinnen und Leser dieser Vorschlag im Halse stecken bleibt und sie ihn als menschenunwürdig, sadistisch, grausam bezeichnen würden, als etwas, das ethisch und moralisch nicht vertretbar ist. Auch wenn die zugrunde liegende Ethik eher ein gesellschaftliches, fiktives Konstrukt ist und somit von uns Menschen erfunden, erscheint uns in dieser Thematik die Abgrenzung von der Norm besonders schwer. Es ist vielleicht weniger eine Norm, sondern der Elterninstinkt, der uns verbietet, unsere Nachkommen einfach so wegzugeben. Auch rein sprachlich scheint es unmöglich zu sein, sich eines Kindes zu „entledigen“, nachdem man sich für dieses entschieden hat. Es gibt beinahe in allen Beziehungen des Lebens Ex-Verbindungen. Es gibt den Ex-Freund, die Ex-Frau, den Ex-Schwager, den Ex-Arbeitgeber und vieles mehr. Aber das Ex-Kind gibt es nicht. Oder um es ganz sarkastisch zu pointieren: Lieber misshandelt man seine Kinder aus lauter Verzweiflung und Überforderung, als dass man sich von ihnen trennt.
Also steht de facto unverrückbar fest: Entscheide ich mich für ein Kind oder Kinder, ist diese Entscheidung irreversibel.
Es gilt aber noch einer weiteren Besonderheit dieser einzigartigen Entscheidung Beachtung zu schenken. Männer betrifft dieser Gesichtspunkt nicht so stark, da sie selbst in ihren Sechzigern, einige sogar in ihren Achtzigern, Väter werden können. Aber eine Frau hat – wie es so schön heißt – eine innere Uhr, die tickt. Das Risiko von Fehlbildungen und Komplikationen während einer Schwangerschaft erhöht sich mit steigendem Alter gravierend und irgendwann ist es von Natur aus schlichtweg unmöglich, schwanger zu werden. Auch wenn es prominente Frauen-Beispiele gibt, die in ihren Fünfzigern Zwillinge gebären, bleiben weitere Fragezeichen wie beispielsweise, ob ich den Schulabschluss meines Kindes in meinen Siebzigern erleben möchte, was in diesem Fall auch den älteren Vater betreffen würde. Das biologisch optimale Alter für eine Schwangerschaft scheint sich zwischen 20 und 30 Jahren zu bewegen. Laut statistischem Bundesamt betrug 2018 das Durchschnittsalter der Mütter bei Geburt des ersten Kindes 30 Jahre, während es 1970 im Mittel noch bei knapp über 24 Jahren lag. Demnach scheinen wir uns tendenziell mehr Zeit für diese Entscheidung zu lassen, aus welchen Gründen auch immer. Und auch wenn wir die Entscheidung beispielsweise durch ein Social Freezing, das vorsorgliche Einfrieren von unbefruchteten Eizellen, hinauszögern können, bleibt eine Tatsache: Sofern wir nicht an Wiedergeburt glauben, bleibt uns für das Projekt Kinder nur ein begrenzter Zeitraum. Die Uhr tickt wirklich.
Spielen wir die beiden Gesichtspunkte „Irreversibilität“ und „zeitliche Limitierung“ in ihrer Konsequenz noch etwas weiter durch.
Erster Fall. Ich entscheide mich für Nachwuchs. Irgendwann im Laufe meiner Elternschaft überprüfe ich meine Entscheidung im Nachgang nochmals, indem ich meine Erwartungen im kinderlosen Vorfeld gegen die Erfahrungswerte nach längerer Zeit des Eltern-Seins abgleiche, und stelle fest, dass ich mich nun anders, also gegen ein Kind entscheiden würde. Mit Sicherheit macht diese Erkenntnis das Leben für mich und auch für das Kind sehr viel schwerer. Manchmal unerträglich. Die israelische Soziologin Orna Donath hat im Jahre 2015 eine Studie mit dem Titel „Regretting Motherhood“ („Bedauern der Mutterschaft“) veröffentlicht. Mit dieser Terminologie umschreibt sie Mütter, die es anhaltend bereuen, Mutter geworden zu sein, und die die Rolle als Mutter negativ erleben. Alle befragten Frauen teilen nach eigenen Angaben das ausgeprägte Gefühl, in ihrer Rolle als Mutter gefangen zu sein. Die Frauen gaben an, dass sie ihre Kinder liebten, es aber gleichzeitig hassten, Mütter zu sein. Seit einigen Jahren rankt sich um den Begriff „Regretting Motherhood“ eine regelrechte Bewegung von Frauen, die dieser besonderen Erfahrung von Mutterschaft in der Öffentlichkeit Ausdruck verleihen. Da die Rückgabe ja biologisch, gesellschaftlich, ethisch und moralisch wie bereits oben ausgeführt ausgeschlossen ist, begebe ich mich in eine sehr schwierige Zwickmühle. Denn ist der Gedanke einmal zugelassen, der Virus des Zweifels einmal eingepflanzt, so ergreift er Besitz von mir, es wird mir möglicherweise extrem schwerfallen, alle negativen Auswirkungen der Elternschaft durch die positiven Effekte und Glücksmomente zu kompensieren. Es wird mich für eine lange Zeit sehr unzufrieden und vielleicht sogar unglücklich machen.
Fall zwei. Ich habe mich gegen Schwangerschaft und Kinder entschieden. Irgendwann in meinen Vierzigern realisiere ich, dass ich doch ein Kind will, nun ist es aber zu spät, da ich vielleicht aktuell keinen Partner habe oder der Organismus sich nicht mehr auf das Projekt einlässt. Je nachdem, welche allgemeinen psychologischen Ressourcen ich habe und wie ich mein Leben gestalte, wird mich dieser nicht realisierte Wunsch regelmäßig heimsuchen. Ganz im Sinne des Mottos, dass ich am Ende meines Lebens nicht die Dinge bereuen werde, die ich getan habe, sondern vielmehr die, die ich nicht getan habe.
Darüber hinaus gibt es noch ein wichtiges weiteres Charakteristikum dieser besonderen Entscheidung „Kind ja oder nein“.
Unsere Vorstellungskraft und Projektion auf eine zukünftige Situation haben eindeutig ihre Grenzen. Können wir wissen, wie es sich anfühlt, ein Kind in uns selbst auszutragen, wenn wir es nicht selbst erleben? Können wir wissen, wie es ist, wenn die kleinen Hände des eigenen Babys einen in der Badewanne umarmen, während es einen liebend mit seinen Kinder-Augen anblickt? Können wir wissen, wie es ist, das eigene Kind zu trösten, wenn es hingefallen ist? Und können wir vorher wissen, wie sehr wir darunter leiden, wenn dieses Geschöpf, das wir in uns erschaffen haben, leidet?
Eine meiner besten Freundinnen und Mutter eines Kindes sagte mir einmal, dass man sich als empathische Frau eigentlich rund um das Mutter-Sein alles oben Genannte im Vorfeld vorstellen, nachvollziehen und empfinden kann, lediglich im Hinblick auf den „Zombie-Mode“, wie sie ihren Zustand völliger Erschöpfung und Übermüdung nennt, in dem sie sich aber dennoch liebevoll und zugewandt um das Kind kümmert, gäbe es Grenzen dieser Empathie. Diesen Zombie-Mode hätte auch sie sich selbst vorher nicht in diesem Ausmaß vorstellen können. Alles andere ist theoretisch fühlbar und antizipierbar, wenn es ganz nah an sich heranlässt und ohne vorgefasste Meinung offen für alles ist. Viele Frauen glauben dies zu tun, indem sie ihre Freundin oder Schwester oder Schwägerin beobachten, wie diese mit ihrem Baby oder ihren heranwachsenden Kindern umgehen. Aber lassen sie dabei wirklich alle Gefühle zu, auch die unangenehmen? Oder blendet man die Bedenken nicht ganz schnell wieder mit einem „Bei mir wird das alles anders“ aus?
In dieser empathischen Fähigkeit scheint ein entscheidender Knackpunkt zu liegen. Wir müssen eine Entscheidung fällen, ohne wirklich ganz genau zu wissen, was sie wirklich für uns und unser Leben bedeutet. Sowohl im Falle „ja“ als auch im Falle „nein“. Aber nur weil uns eine letztendlich ganz exakte Extrapolation des Erfahrungswertes „Kind“ nicht gelingt, heißt das nicht, dass wir uns nicht in der Antizipation versuchen können. Die Erfahrungen von „Mutterschaft“ oder „Elternschaft“ im Alltag sind unglaublich vielfältig. Die schönen wie auch die schweren Situationen sind direkt vor unserer Nase. Ja, diese Momente sind so alltäglich, doch wir winken sie durch, da sie uns so unglaublich häufig begegnen. Oder wir erliegen unserer selektiven Wahrnehmung und nehmen nur das wahr, was wir sehen wollen.
Ich habe begonnen, das ganze Spektrum dieser Momente und auch die dahinter liegenden Beweggründe tiefer zu betrachten, mich ihnen schrankenlos und möglichst vorurteilsfrei auszusetzen. Sie ganz tief durch meine Gefühls- und Gedankenwelt wandern zu lassen.
Es mag fast schon selbstverständlich erscheinen, aber ich denke trotzdem, dass es darüber hinaus wichtig ist, sich auch den folgenden besonderen Aspekt der Entscheidung „Kinder ja oder nein“ einmal bewusst vor Augen zu führen.
Wenn wir eine Partnerschaft oder Freundschaft eingehen, dann lassen sich im optimalen Fall zwei Menschen bewusst auf etwas ein, das vielleicht auch nicht funktionieren kann und von dem man sich dann wieder trennen kann. Zum Zeitpunkt der Entscheidung für eine Ehe sind sich zwei mündige Menschen meistens bewusst im Klaren, dass ihre Handlung Konsequenzen hat, und sie übernehmen – wieder im optimalen Fall – die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Entscheiden wir uns für ein Kind, treffen wir für einen – zunächst – völlig fremden, unmündigen, nicht mitspracheberechtigten Menschen die Entscheidung, dass er bei uns und mit uns leben soll. Wir fragen ihn nicht vorher, das Kind hat keinen Einfluss darauf, in welches Umfeld und welche Umstände es geboren wird, sofern wir nicht an die spirituelle Lösung des „Wir suchen uns unsere Eltern selbst aus“ glauben. Wir betrachten die Entscheidung meist nur aus unserer Perspektive: „Will ich, wollen wir ein Kind in unserem Leben?“ Aber will das Kind auch mich und uns als Eltern? Oder im Falle von mehreren Kindern, welche Geschwister mute ich meinem Kind zu?
Fassen wir also zusammen. Die besondere Entscheidung für oder gegen Kinder ist eine von enormer Tragweite für mein Leben, sie ist eine, die irreversibel ist, sie ist biologisch zeitlich limitiert, sie lässt sich nicht ausprobieren, sondern muss antizipiert werden, und sie betrifft nicht nur mich und meinen Partner, sondern auch ein Wesen, das kein Mitspracherecht hat.
Im Laufe der letzten Jahre habe ich in Bezug auf die Entscheidung „Kinder ja oder nein“ eine Unmenge an Gesprächen geführt, emotionale und faktische Informationen gesammelt, diese gegeneinander abgewogen, immer wieder neu bewertet und ständig ergänzt. So wird es jedem ergehen, der sich intensiv mit der Materie befasst. Ich möchte all das in eine Struktur bringen. Zunächst halte ich es für wichtig, mit zwei Themen zu beginnen, die meist unbewusst hinter allem stehen, aber für unsere Entscheidung von enormer Bedeutung sind – der Sinn des Lebens und unsere gesellschaftliche Prägung. Nur durch diese bewusst gemachten Einflussfaktoren kann ich und können Sie die konkreten Themenkomplexe im Folgenden besser interpretieren und verstehen. Und damit auch sich selbst.
2. Kinder als Erfüllungsgehilfen für den Sinn
Meist gehören folgende Situationen meiner Erfahrung nach zu denen, die man weder vor Freunden noch Bekannten und schon gar nicht vor Arbeitskollegen preisgeben möchte. Sie sind so intim, zeigen eine Verletzlichkeit, die man eigentlich noch nicht einmal selbst erleben, geschweige denn mit Menschen des nicht ganz engen Kreises teilen möchte.
Szenario eins. Man hat sich – wie und weshalb auch immer – für Nachwuchs entschieden. Zunächst ist man recht unbedarft, man hat Lust an der sexuellen Leidenschaft mit dem Partner, man hat sich auf ein Projekt eingelassen, das in der Vereinigung zweier Körper, zweier Individuen besteht, die in lustvoller Ekstase verschmelzen und ein neues Leben erschaffen. Ein fast göttlicher Akt. Der Sex ist bei vielen Paaren besser als je zuvor, die Frau hat meist eine unbändige Lust und beinahe noch häufiger das Bedürfnis nach dem Koitus als der Mann. Aber mit dem Schwanger-Werden will es nicht so recht klappen. Alle vier Wochen ist die Periode wieder da. Schon bald beginnt man damit, den Sexualakt zu planen. Die Frau eruiert – manchmal schon gemeinsam mit dem Frauenarzt – den besten Zeitpunkt für die Befruchtung rund um den Eisprung. Die einst noch sehr entspannte sexuelle Begegnung mit dem Partner wird zu einem weniger spontanen, sondern eher getakteten und geplanten Unterfangen. Zu Beginn hält die Lust noch an und beide können sich auch mit dieser Situation noch sehr gut arrangieren. Schließlich ist man erst am Anfang. Je länger der Prozess aber andauert, desto mehr dominieren statt Euphorie, Freude und Verlangen bald eher Frustration, Unzufriedenheit und Verzweiflung. Nun beginnen die ärztlichen Tests. Urin, Blut und Sperma werden untersucht. Vielleicht wird auf Hormonpräparate zurückgegriffen. Als Mensch mit positiver Grundeinstellung erhält man sich einen gewissen fassadenhaften Optimismus. Unter der Oberfläche dominiert bei vielen aber bereits eine tiefsitzende Panik. Bei allen anderen sieht es doch so leicht und unbeschwert aus, sind nur wir Versager? Unfassbar viele Paare erleben diese Phase, aber man spricht selten offen darüber.
Szenario zwei. Szenario eins ist in gewissen Anteilen oder bereits vollständig durchlaufen und schließlich doch von Erfolg gekrönt. Die Schwangerschaft ist da. Man kann es gar nicht fassen. Die Freude und das Glück sind perfekt, die eingetretene Schwangerschaft erzeugt eine tiefe Erleichterung, denn aufgeben hätte man nicht wollen und nicht können. Man wäre bereit gewesen, bis zum Äußersten zu gehen. Die engste Familie wird eingeweiht, um die Freude zu teilen. Aber die ersten zwei bis drei Monate bewahrt man oft überglücklich Stillschweigen vor dem Rest der Welt. Plötzlich, ganz aus dem Nichts, fühlt sich die Frau unwohl, als würde sie ihre Monatsblutung erwarten, Krämpfe und ein zuerst diskreter, dann stärkerer Blutfluss setzen ein, man weiß nicht, was los ist, hat keine Erklärung. Panik steigt auf, eine Befürchtung, eine Angst, die man noch nie in so einer Intensität gespürt hat, sogar nicht einmal eine Vorstellung hatte, dass man so empfinden könnte. Die Bestätigung kommt beim Frauenarzt. Eine unfassbare Trauer und Depression erfasst das Paar. Furchtbar. Grausam. Etwa 30 Prozent der Frauen sind in ihrem Leben von einer oder mehreren Fehlgeburten betroffen. Das Potential eines menschlichen Lebens stirbt. Und eine Vision.
Ich fühle den Schmerz dieser Frauen und Männer ganz tief in mir. Die Hoffnung auf die Erfüllung dieses unglaublich starken Wunsches, am Ende ein kleines Lebewesen in seinen Armen zu halten, das die Potenzierung einer Liebe zweier Menschen sein soll, wird aufs Tiefste enttäuscht. Ein Wesen, das so elementar und grundsätzlich zum eigenen Leben gehören sollte.
Was sich in diesen beiden tragischen Szenarien für mich offenbart, ist ein unbändiger und ultimativer Wille zur Fortpflanzung – biologisch grundsätzlich verständlich -, denn das ist die Art und Weise, wie sich die menschliche Spezies reproduziert und die Gattung Mensch weiter existiert. Es hört aber beim Wollen nicht auf, die potenzielle Nicht-Realisierung einer Nachkommenschaft kommt einer Tragödie gleich, einem Scheitern im Leben auf höchster Ebene, einer tiefen Aussichtslosigkeit, die ein Weltbild einstürzen lässt.
Doch warum ist das so? Warum sitzt dieses Leid so tief, wieso führt ein nicht realisierbarer Kinderwunsch zu einem derartigen Zusammenbruch im Leben mancher Menschen? Wieso beginnen Paare fast schon fanatisch und manisch, das Projekt Kind umsetzen zu wollen, bis hin zu mehrmaligen künstlichen Befruchtungen? Wieso nehmen sie das Risiko in Kauf, unter dem Druck zur Realisierung sogar ihre Beziehung und körperliche Gesundheit zu gefährden?
Mein Lebensskript
Einen Anhaltspunkt finde ich beim Psychiater Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, einer psychologischen Theorie der menschlichen Persönlichkeitsstruktur. Seiner Ansicht nach beeinflussen bestimmte Faktoren den Verlauf unseres Lebens. Dazu zählen das Erbgut, äußere Einflüsse, unsere getroffenen Entscheidungen und das sogenannte Lebensskript. Dieses Lebensskript entwickelt sich nach Berne in der Kindheit in einer fragilen und anfälligen Phase unseres Lebens. Hier wird unser Weltbild geformt. Wir beobachten unsere Eltern. Da sie unsere Eltern sind, leben sie uns ja implizit schon einmal vor, wie es ist, Kinder zu haben. Wir beobachten unser Umfeld. Wir bekommen, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen oder uns dagegen wehren können, Glaubenssätze, Vorstellungen und Einstellungen vermittelt, manchmal ganz unmerklich, manchmal bekommen wir sie förmlich indoktriniert. Das ist fast immer prägend, manchmal sogar ein Problem. Manche von uns versuchen eine sehr lange Zeit in ihrem späteren Leben, die negativen und destruktiven Prägungen durch Psychotherapie wieder loszuwerden.
Mein Lebensskript, das ich bis zu meinen Zwanzigern entwickelt hatte, war ganz klar. Ich hatte ein Bild von mir als Frau mit einem Mann und mindestens einem, eigentlich eher zwei Kindern. Auch wenn ich nie wirklich bewusst darüber nachgedacht habe, war das wie eine Programmierung, auf die mein System voreingestellt war. Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten viel an der Rolle der Frau in der Gesellschaft verändert hat, ist dennoch das häufigste Modell, mit dem man im Laufe seiner Sozialisation konfrontiert wird, das der Familie. Zwar habe ich eine ledige Tante – vielleicht unbewusst auch ein gewisses Vorbild -, aber 90 Prozent meiner Umgebung waren Eltern mit Kindern. Also war fast logisch schlussfolgernd für mich klar, dass ich diesem Beispiel folge. Nicht, dass ich mich in irgendeiner Weise dazu gedrängt gefühlt hätte oder dass man es offensichtlich von mir erwartet hätte, aber es hatte sich ganz einfach, ohne von der Norm und vom Standard abzuweichen, ergeben. Das Lebensskript war im Unterbewusstsein abgespeichert.
Wenn wir also bereits unbewusst unser ganzes Leben daran arbeiten, ein in der Kindheit entstandenes, manchmal zementiertes Lebensmodell zu realisieren, wird unsere Zufriedenheit und unser Glücksempfinden sicherlich steigen, wenn wir möglichst genau diesen Plan in die Tat umsetzen. Ob dieser Lebensplan, der meist auf der Planungsprogrammierung einer vielleicht zehnjährigen Miniaturversion von uns basiert, zum Zeitpunkt des Erwachsenseins tatsächlich noch aktuell ist, spielt dabei erst einmal scheinbar keine Rolle. Aber hier beginnen die Probleme. Ergeben sich Abweichungen von unserem Pakt mit dem Leben, beginnt die Unzufriedenheit. Da dieses Lebensskript – bis wir beginnen darüber wirklich nachzudenken – unser einziger Plan ist, unser Halt, unser Anker im Leben, betreten wir bei Nicht-Realisierung unsicheres Terrain oder fallen sogar ins Bodenlose. Wir stehen vor dem Nichts, wenn das, woraufhin wir unbewusst Jahre lang gearbeitet haben, nicht Realität werden kann. Die Panik, die die Dissonanz und Nicht-Erfüllung auslösen kann, gleicht einer schweren, inneren Naturkatastrophe.
Nach einer sehr langwierigen und schmerzhaften Trennung von meinem ersten langjährigen Partner realisiere ich heute, dass auch ich damals zu einem Teil damit gekämpft habe, dieses Lebensskript ein Stück weit loszulassen. Diese Loslösung war aus vielen Gründen schwer, aber einer der emotionalen Schmerzpunkte war sicherlich, dass ich wusste, dass für mich durch die Trennung von ihm gleichzeitig das Familien-Projekt in sehr viel weitere Ferne gerückt war. Ich hatte an mein Lebensskript bereits ein erstes Fragezeichen angeheftet. Auch wenn die Stichworte Familie und Kinder nie akut und explizit ein Thema zwischen mir und meinem damaligen Partner waren, so war es dennoch in der Beziehungs-DNA eingeschlossen.
Was passiert, wenn ich irgendwann beginne, dieses Lebensskript in Frage zu stellen? Was, wenn ich realisiere, dass ich die Freiheit besitze, mein Leben neu zu definieren, es an neuen Erkenntnissen auszurichten? Was, wenn ich die Freiheit habe, meinen Lebensentwurf auf den Prüfstand zu stellen und ihn infolgedessen anzupassen? Zunächst einmal macht dieser Gedanke Angst, kurz scheint der Boden unter den Füßen zu schwanken, Haltgebendes muss losgelassen werden. Obwohl das sicherlich auch Typ-Sache ist. Der Gedanke der Neuorientierung kann für neugierige Menschen auch etwas Belebendes und Vitalisierendes haben. Aber in jedem Fall brauche ich alternative Anhaltspunkte für die Neuorientierung, denn Familie und Kinder waren doch bisher für mich so etwas wie mein Lebensziel, ein großer Teil meines Lebenssinns.
Unser Sinnempfinden
Unweigerlich mit dem Lebensskript verbunden ist also das Empfinden für Sinn in unserem Leben. Der Neurologe Viktor Frankl ist der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Diese psychologische Richtung befasst sich zentral mit dem Sinnempfinden. Nach Frankl hat der Mensch ein angeborenes Bedürfnis nach Sinn und strebt danach, Sinn zu finden. Er hat einen Willen zum Sinn. In einer Welt, in der es unverständliches Leiden gibt, in der wir gewisse Zusammenhänge nach wie vor nicht erklären können, in der wir eigentlich nur ein kleines, zufälliges Atom in einem unendlichen Universum sind, suchen wir Menschen nach einem Modell, welches unser Dasein im Allgemeinen erklärt und auch ganz speziell unserem individuellen Leben einen Grund oder Zweck gibt. Es also sinnvoll macht. Unserem Leben einen Sinn zu geben, erlöst uns von einer tiefen Last, die wir im Angesicht der Nichtigkeit unserer Existenz manchmal empfinden. Grundsätzlich ist der Sinn in Frankls Verständnis nicht einfach so da, sondern er wird gefunden, es handelt sich um einen aktiven Prozess. Frankl war im Konzentrationslager Auschwitz. Er hat grausame Erfahrungen machen müssen, die wir uns sicherlich nicht einmal ansatzweise vorstellen können. Wir können aber von seiner Expertise lernen. In der tiefsten Sinnlosigkeit der Judenvernichtung fand er etwas, das ihm Halt gab. Er imaginierte, wie er die Erlebnisse, den Alltag, die Konfrontation mit den dunkelsten Seiten im Menschen und mit der schier grenzenlosen Hoffnungslosigkeit des Konzentrationslagers irgendwann einem breiten Publikum berichten würde. Er sah sich in den schwersten Stunden dieser menschenunwürdigen Zeit bereits vor dieser zukünftigen Zuhörerschaft. Für ihn lag der Sinn, zu überleben und durchzuhalten, darin, sein Leiden umzudeuten, es zu etwas Wertvollem zu machen, die Qualen einem höheren Zweck zu unterwerfen. Oder wie man heute sagt, diese schreckliche Situation für sich zu reframen und damit sinnvoll zu machen.
Grundsätzlich suchen wir Menschen seit Jahrhunderten nach DEM EINEN Sinn im Leben. Philosophie, Religion und Esoterik produzieren Unmengen an Literatur mit dem Ziel, einer der zentralsten Fragen unseres Menschseins auf die Spur zu kommen, Antworten zu geben. In diesem Zusammenhang muss man zunächst eine wichtige Unterscheidung treffen.
Es gibt zwei Arten von Lebens-Sinn, denen wir im Hinblick auf unser Leben begegnen. Den einen könnte man als kosmischen Sinn bezeichnen, einen übergeordneten Sinn, eine Vorstellung von unserem Leben, die außerhalb unserer eigenen Person liegt. Religionen, Philosophie oder Esoterik bieten uns dieses übergeordnete Konzept an. Der kosmische Sinn ist demnach eine Theorie oder ein Modell, das dem menschlichen Leben an sich Sinnhaftigkeit verleiht, welches das Dasein des Menschen auf der Erde erklärt und ihm eine Bedeutung zuweist. Grundsätzlich scheint es einen einzigen, ultimativen und universellen Sinn aber nicht zu geben. Es gibt keinen globalen Übersinn, der zu allen Individuen in den unterschiedlichsten Kulturen passt. Das ist frustrierend, denn eigentlich wünschten wir uns insgeheim, wir würden irgendwann einem Menschen begegnen, der uns absolut, schlüssig und widerspruchsfrei definiert, das ist der Sinn. Aber das ist eine Illusion.
Auf der anderen Seite gibt es den irdischen, ganz persönlichen Sinn. Manche empfinden diesen Sinn darin, dass sie den kosmischen Sinn, also die Maßgabe und Leitlinien des übergeordneten Sinns, in ihrem Leben verwirklichen, beispielsweise indem sie religiösen Vorstellungen folgen. Aber auch ohne einen kosmischen, religiösen, spirituellen Überbau kann man einen ganz weltlichen Sinn für sein persönliches Leben finden. Nach Frankl kann man diesen weltlichen Sinn nur individuell für sich definieren, jeder für sich. Hier beginnt die Schwierigkeit, aber auch die wunderbare Freiheit – es liegt in unserer Hand, uns mit diesen Fragen aktiv zu konfrontieren und zu beschäftigen.
Wenn der weltliche Sinn etwas Individuelles ist, welche Anhaltspunkte habe ich, um mich auf diese sehr persönliche Suche zu machen? Wann und wodurch habe ich das Gefühl, dass mein Leben sinnvoll ist?
Über Werte zum Sinn
Einen guten Zugang zu dem, was uns im Leben wirklich wichtig ist, erhält man unter anderem über die eigenen Werte. Werte sind deshalb wichtig im Zusammenhang mit dem Sinnempfinden, weil sie uns sagen, wie wir unser Leben gestalten wollen, das heißt nach welchen Maximen wir ein gutes, beziehungsweise sinnvolles Leben führen. Werte sind moralisch und ethisch als gut empfundene Wesensmerkmale von Personen oder Gemeinschaften. Werte sind teilweise tief in unserem Inneren, in unserer Grundessenz verankert, teilweise sozialisiert und durch die Kultur beeinflusst, in der wir leben. Werte sind Tugenden, Normen, Grundüberzeugung oder Charaktereigenschaften. Welche Werte für uns wichtig sind, verändert sich im Laufe unseres Lebens, allerdings sind Werte recht stabile Indikatoren und werden nicht wöchentlich verändert. Manche Werte sind uns lebenslang wichtig und wir gestalten unser Leben so, dass wir ihnen gerecht werden. Der Philosoph Michael Bordt beschreibt das besondere Wesen unserer Werte folgendermaßen: „Wir können uns nicht zwingen, etwas wertvoll zu finden. Wir produzieren unsere Werte nicht, sondern wir finden uns als Menschen vor, denen bestimmte Dinge wichtig sind, und können daran erst einmal wenig ändern. Wenn wir über unsere Werte nachdenken, dann sind wir Entdecker, keine Erfinder. Wir können uns nur sehr beschränkt willentlich vornehmen, etwas wertvoll zu finden“.
Realisieren wir im Außen und Innen ein Leben, das kongruent mit unseren aktuellen Werten ist, dann empfinden wir unser Leben meist als sinnvoll oder Sinn erfüllt. Beziehungsweise vielleicht sogar umgekehrt, wenn wir im Außen kongruent mit dem inneren Ideal, das wir von einem guten Leben haben, unser Leben gestalten, so fragen wir uns seltener nach dem Sinn. In diesem Zusammenhang lohnt es sich immer mal wieder, sich seine ganz individuelle Werte-Hierarchie bewusst zu machen, sie vielleicht sogar zu notieren. Dieser kommt man auf die Schliche, wenn man sich fragt, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Zunächst im Kleinen, beispielsweise eine gute Leistung zu erbringen. Wenn man dann hinter dieses Bedürfnis blickt, warum es mir wichtig ist, eine gute Leistung zu erbringen, offenbart sich, dass ich möglicherweise besonders gewissenhaft und genau sein möchte. Frage ich wiederum nach dem Warum, so offenbart sich möglicherweise, dass es Perfektion ist, die ich realisieren möchte. „Durch die Warum-Frage forschen wir nach dem Grund dafür, etwas wertvoll zu finden. Wir kommen mit ihr der Struktur auf die Spur, in der unsere Werte miteinander verbunden sind.“, sagt Bordt.
Stellt sich heraus, dass Werte wie Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sehr weit oben in einer Prioritätenliste stehen, so sollte eine gewisse rote Warnlampe angehen, wenn man sich mit der Entscheidung für Kinder befasst. Stehen dagegen Familie, Altruismus, Nächstenliebe, Hingabe in den Top Ten, so hat die Realisierung eines Kinderwunsches beste Voraussetzungen, ist also im wahrsten Sinne des Wortes sinnvoll.
Ich befasse mich immer wieder mit dieser Frage und die aktuelle Hitliste der wichtigsten Werte in meinem Leben sind: Liebe und Partnerschaft, Freiheit und Unabhängigkeit, Weiterentwicklung, Anerkennung, Stabilität und Struktur, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Authentizität, Gesundheit, Kreativität, Zielorientierung und Effizienz sowie Freundschaften. Das sind selbstverständlich nur Schlagworte, hinter denen sich ein lebendiges Netzwerk aus unzähligen Situationen, Ausprägungen und Erfahrungswelten verbirgt. Nehme ich mich wirklich ernst – und sollte sich nicht jeder ernst nehmen? – , so muss ich mir eingestehen, dass Kinder zu diesen Werten (aktuell) nicht sehr gut passen. Das ist aber nicht schlimm, sondern eine wertvolle Erkenntnis. Im Übrigen haben sich meine Werte seit Jahren nicht gravierend verändert.
Noch interessanter wird es, wenn man einmal beginnt zu überprüfen, wie sehr man beispielsweise Werte wie Freiheit oder Stabilität zur Zeit in seinem Leben tatsächlich verwirklicht sieht. Oder anders gefragt, gestalte ich mein Leben augenblicklich so, dass ich qualitativ und quantitativ ausreichend Raum für meine Freiheit habe? Oder habe ich ausreichend Zeit für meine Partner- oder Freundschaften? Ist mir Familie wichtig und gebe ich der Entfaltung dieses Wertes ausreichend Raum? Ist die Realisierung vieler dieser Werte im Alltag sehr gering, so entsteht durch diese bewusste oder unbewusste Diskrepanz zumindest eine große Unzufriedenheit, wenn nicht sogar ein Gefühl von Sinnlosigkeit. Ich lebe an mir selbst und einem guten und damit glücklichen und sinnerfüllten Leben vorbei.
Der Wert Familie scheint mir unter den Werten besonders erwähnenswert zu sein, schließlich ist Familie ja meist unmittelbar mit dem Projekt Kind verknüpft. Natürlich kann mir Familie wichtig sein, aber mir reicht es möglicherweise vollkommen aus, ihn über Kontakte zu Geschwistern, Eltern oder sogar über Freunde – auch die können Familie sein – auszuleben. Nennen wir es „Familie light“. Gehört aber in meinem Verständnis ein eigenes Kind zu diesem Komplex Familie, ist es nicht so leicht, dies zu realisieren, wie zum Beispiel mit den Werten Freiheit, Zuverlässigkeit oder Kreativität, die in Eigenregie vergleichsweise einfach herstellbar sind. Denn wenn ich nicht einfach als zukünftig Alleinerziehende zur Samenbank gehen und mich künstlich befruchten lassen möchte (was aktuell nur in wenigen Ländern der Welt möglich ist), sondern das Projekt Nachwuchs innerhalb einer stabilen, funktionierenden Partnerschaft verwirklichen möchte, benötige ich in aller Regel einen gewissen Vorlauf, um den potenziellen Vater kennenzulernen, die gemeinsame Lebens- und Kinderplanung abzuklopfen, alles in die Tat umzusetzen. Oder zumindest dieses Ziel anzuvisieren unter Berücksichtigung und im Bewusstsein dessen, dass unser Leben kein Reißbrett ist.
Sollte ich also als Frau realisieren, dass Familie ein wichtiger Wert für mein Leben ist – und in der Regel kommt dieser Wert nicht ganz plötzlich im Leben auf, sondern ist bereits vorhanden, ohne dass ich ihm möglicherweise Raum geschenkt habe -, dann ist es sicher sinnvoll, mich rechtzeitig mit der Gestaltung meines eigenen Lebens zu befassen, mir dies ganz sachlich bewusst zu machen und Entscheidungen zu treffen, die diesen Weg bahnen und möglich machen. Also mich beispielsweise nicht über Jahre 60 bis 80 Stunden pro Woche ausschließlich der Karriere widmen und meine anderen Bedürfnisse verdrängen und ignorieren, sondern mein Augenmerk auch auf die Gestaltung von Beziehung und Partnerschaft zu legen. Die Basis für die Realisierung von Nachwuchs zu schaffen.
Aber was, wenn sich meine Werte im Laufe des Lebens doch einmal eklatant verändern und wie kann ich das antizipieren?
Das Leben ist ein Fluss, dessen Verlauf selten vorhersehbar ist. Wir geraten in Situationen und treffen auf Menschen, die uns manchmal in den Grundfesten unserer Haltung zur Welt erschüttern. Wir erleiden Schicksalsschläge. Manchmal haben sich Frauen vielleicht gegen Kinder entschieden, da zum Beispiel die eigene Erziehungserfahrung und das Verhältnis zu den Eltern so furchtbar war, dass sie es auf keinen Fall einem Wesen antun wollen, etwas Ähnliches zu erleben. Oder es war wie erwähnt unvorstellbar, dass es etwas Wichtigeres als Karriere geben könnte. Dann treffen wir aber irgendwann auf einen Partner, der uns zeigt, dass es auch anders sein kann, dass es andere Schwerpunkte im Leben geben kann und unsere Werte geraten ins Wanken. Oder es gibt andere Schlüsselerlebnisse, die unser Denken verändern. Wir wollen wider Erwarten unbedingt eigene Kinder, sind aber biologisch nicht mehr in der Lage dazu. Bio-Uhr abgelaufen. Oder wir sind eigentlich recht sicher, dass wir Kinder wollen und treffen auf einen Partner, der keine Kinder bekommen kann oder will. Das Leben ist nicht berechenbar oder gar beherrschbar. Wir können uns ihm und uns nur immer wieder und wieder annähern. Und das, was uns aktuell in der jeweiligen Lebenssituation wirklich wichtig ist, zum Maßstab machen und nicht das, was irgendwann in Zukunft eintreten könnte.
Über Erfahrungen zum Sinn
Zurück zum Sinn im Leben. Es geht also darum, möglichst kongruent und im Einklang mit unseren Werten zu leben. Unser Leben so zu gestalten, dass wir unsere Werte möglichst gut realisieren können.
Aber vielleicht ist die theoretische Herangehensweise nicht meine Stärke, da ich meine Werte für mich selbst schlecht analysieren kann und nicht der kontemplative Typ bin?
In diesem Fall können wir uns auch auf eine andere, mehr pragmatische Weise dem Sinn in unserem Leben nähern. Es gibt viele Lebensbereiche und Tätigkeiten, in denen sich ganz praktisch Sinnerfahrungen machen lassen, die eigentlich auch gelebte Werte sind.
Wir können solche Sinnerfahrungen einerseits in der privaten Sphäre mit Familie und Kindern, in Beziehungen, Partner- und Freundschaft sowie in Hobbys finden und andererseits in der öffentlichen Sphäre wie in Arbeit und Beruf, aber auch durch ehrenamtliche Tätigkeit.
Innerhalb dieser Bereiche können wir über bestimmte Erfahrungen Sinn finden und verspüren.
Beispielsweise, wenn wir uns selbstlos in den Dienst einer Sache oder Person stellen, also altruistisch handeln. Der Philosoph Will Durant schreibt in seinem Werk „On the Meaning of Life“: „Widme dich einem Werk, arbeite dafür mit deinem ganzen Körper und Geist. Der Sinn des Lebens liegt in der Möglichkeit, etwas zu erschaffen oder einen Beitrag zu etwas zu leisten, das größer ist als wir selbst.“ Das kann in der privaten Sphäre die Pflege der Eltern, die Erziehung der Kinder sein oder in der öffentlichen Sphäre die Arbeit in einem Kinderheim oder das Engagement für den Umweltschutz. Es steckt eine tiefe Befriedigung darin, die Welt als einen Ort zu hinterlassen, an dem es sich ein wenig besser leben lässt. Seine Zeit und Energie anderen Menschen oder einer Idee zu widmen. Alles was ich tue, wird sich besser oder schlechter anfühlen, je nachdem ob es besser oder schlechter mit meinen Werten harmoniert.
Auch uns selbst zu verwirklichen, ermöglicht die Erfahrung von Sinn. Der Philosoph Søren Kierkegaard fordert uns auf, „Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist“ und Friedrich Nietzsche appelliert „Werde, der Du bist“. Auch wenn diese weisen Appelle bereits vor über 120 Jahren niedergeschrieben wurden, zeigen sie genau das, was auch Frankl postuliert: „Verwirkliche deine ganz eigene Essenz“. Menschen, die in eine Sinnkrise geraten, erleben nach Frankl oft eine Diskrepanz zwischen den eigenen Fähigkeiten, Potentialen, Erwartungen, Bedürfnissen und dem, was im realen Leben verwirklicht beziehungsweise gelebt wird. Vielleicht sind wir beispielsweise unglaublich künstlerisch begabt, unsere Eltern hielten diese Gabe aber für eine brotlose Kunst und zwangen uns deshalb, unser Innerstes zu verleugnen und Bankangestellter zu werden. So wird früher oder später dieses Potential in uns rebellieren. Entweder streikt der Körper irgendwann, sendet uns somatische Signale oder wir stürzen in eine psychische Dysbalance oder wir hören vermehrt den Ruf unseres Gewissens, das uns darauf hinweist, dass wir an uns vorbei leben. Individuelle Selbstverwirklichung bedeutet nicht, dass wir am Ende in einer Welt von inkompatiblen Individualisten leben, sondern impliziert, dass jeder mit seinem ganz besonderen Wesen seinen Beitrag zum großen Ganzen leistet. Eine Pluralität von verwirklichtem Potential.
Deshalb kann auch Kreativität sinnstiftend sein, also etwas Neues zu erschaffen. Das kann die Entwicklung eines Kunstwerks, eines Produkts oder einer Idee sein. Natürlich ist auch die Zeugung eines neuen Menschen ein kreativer Akt.
Innerhalb dieser Palette der sinnenhaften Verwirklichungsmöglichkeiten ragt der Themenkomplex Familie bzw. Kinder in Punkto Sinngebung erneut heraus.
Seit Jahrtausenden gebären Frauen Babys und sorgen so für die Erhaltung unserer Art. Nach wie vor ist das Lebensmodell Familie allseits gegenwärtig und hält sich in unserem Gesellschaftssystem als Norm, an der wir uns orientieren. Entscheiden wir uns also bewusst oder unbewusst für Kinder, beziehungsweise lassen wir uns schlichtweg im Strom des Konformismus treiben, so wird uns im Rahmen der Verwirklichung dieses Projektes scheinbar ganz automatisch etwas mitgeliefert: der Sinn. So glauben wir zumindest. Und nicht nur das. Der Lebenssinn Familie und Kinder scheint oft gegenüber allen anderen Sinn-Optionen genauso automatisch die beste und herausragendste aller Möglichkeiten zu sein. Sie steht vermeintlich und unantastbar über allem. Die bereits erwähnte Frauenbewegung Regretting Motherhood mit dem Motto „I regret“ („ich bereue“) wird die Erfahrung Kinder retrospektiv sicher nicht mehr unter dem Stichwort Lebenssinn subsumieren, aber auch sie gingen, möglicherweise sogar unbewusst, ursprünglich davon aus, das Projekt würde diese wichtige Funktion für sie auf Dauer erfüllen.
Es wäre allerdings ein Trugschluss zu glauben, dass sich mit der Sinnerfüllung über Nachkommenschaft die Frage nach dem Sinn im Leben ein für alle mal gelöst hat. Für viele verschiebt sich die Sinnfrage dann wieder auf einen späteren Zeitpunkt, nämlich dann, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen, man dann im Alltag wieder auf sich allein gestellt ist und erneut mit voller Wucht mit den Rahmenbedingungen unserer menschlichen Existenz konfrontiert ist. Manchen hilft in dieser Phase, wenn man im Oma- und Opa-Dasein seine Erfüllung findet und den Kinder-Sinn weiterführt. Aber viele holt im kinderentleerten Haus die Sinnfrage wieder ein.
Das soll in keiner Weise andeuten, jeder Mensch, der sich für ein Kind entscheidet, würde schlicht und einfach nach einem bequemen Weg der Sinn-Realisierung suchen. Nein. Seinen Lebenssinn über eine Familiengründung zu realisieren darf, soll und muss existieren. Aber es gibt gleichwertige Sinnerfüllungen, ohne dass ich diesen Stellenwert gegenüber Familie und Kind rechtfertigen muss und ohne dass ich mich deswegen minderwertig fühlen muss. Das klingt für viele von uns einleuchtend. Wir verstehen es, können es bestätigen. Aber fühlen wir es wirklich, ohne einen leisen Widerspruch in unserem Inneren?
„Entweder das Leben hat einen Sinn, dann behält es ihn auch unabhängig davon, ob es lang oder kurz ist, ob es sich fortpflanzt oder nicht; oder das Leben hat keinen Sinn, dann erhält es auch keinen, wenn es noch so lange dauert oder sich unbegrenzt fortpflanzen könnte. Wäre das Leben einer kinderlos gebliebenen Frau aus diesem Grund allein wirklich sinnlos, dann hieße das, dass der Mensch nur für seine Kinder lebt und der ausschließliche Sinn seiner Existenz in der jeweils kommenden Generation gelegen ist. Damit wird aber das Problem nur verschoben. Denn jede Generation schiebt es dann ungelöst der nächsten Generation zu. Worin anders sollte dann der Lebenssinn der einen Generation liegen, als in der Aufzucht der nächsten? Etwas an sich Sinnloses zu perpetuieren, ist aber selbst sinnlos. Denn ein an sich Sinnloses wird nicht bloß schon dadurch sinnvoll, dass es verewigt wird.“ Weise Worte von Viktor Frankl.
Das Kinderprojekt ist eines, das dem Leben definitiv einen intensiven Sinn geben kann. Aber nicht muss. Und es gibt eine unfassbare Fülle an Wegen, dem Leben Sinn zu geben, auch wenn man keine Kinder hat. Auch ein Leben ohne Kinder kann extrem sinnvoll sein und nicht verloren oder leer.
Wie sehe ich ganz persönlich meinen Lebenssinn in meiner aktuellen Lebenssituation? Ein wenig halte ich es mit Johann Wolfgang von Goethe und seinem Aphorismus „Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst“. Oder auch mit den eleganten Worten des Schweizer Psychoanalytikers Peter Schellenbaum „Der Sinn wird aus dem Leben, das sich vollzieht, geboren, nicht umgekehrt.“ Deshalb sehe ich selbst in ganz vielen kleinen und großen Dingen Sinn im Leben, ich gebe sie dem Leben beziehungsweise erkenne in ihrem Dasein deren Sinnhaftigkeit an.
Das kann für mich die Verschmelzung und Einheit mit meinem Partner sein. Das kann eine tiefe Begegnung mit einem Menschen sein, den ich überhaupt nicht kenne, dem ich aber auf eine Art und Weise begegne, dass ich mich mit ihr oder ihm tief in unserem Menschsein verbunden fühle. Selbst wenn ich dieser Person nie wieder begegne. Das kann ein emotionales Gespräch mit einer Freundin sein, der ich durch eine schwere Zeit helfe oder mit der ich mich in einem Moment ihres tiefsten Glückes mitfreue. Das kann ein Buch sein, dessen inspirierende Gedanken mich in einen nachhaltigen Dialog mit mir selbst bringen und die ich dann nach außen trage. Das kann eine Stunde als ZUMBA®-Trainerin sein, in der ich Frauen und Männern eine Zeit des ausgelassenen Glücks schenke und ihnen Abstand zu den Sorgen des Alltags beschere. Oder wenn ich beim Tanzen meine gesamte Umgebung vergesse und völlig eins mit mir und der Musik bin. Das können Reisen sein, die es mir ermöglichen, in fremde Kulturen einzutauchen, sie an mich heranzulassen und in wirklichen Kontakt und Austausch mit ihnen zu treten. Das kann eine Reise sein, die ich für einen Kunden gestalte, in der ich das Gefühl habe, durch meine Empathie genau das getroffen zu haben, was dieser Mensch gerade braucht und was ihn glücklich macht. Das kann ein Projekt zum Wohle unserer Umwelt sein oder die Förderung von Bildung für benachteiligte Kinder, die ich mit meinem persönlichen Engagement oder finanziell unterstütze. Das kann eine Wanderung durch die Natur sein, in der ich eins werde mit Mutter Erde. Das kann dieses Buch sein, in dem ich meine Gedanken offen lege und vielleicht jemandem in einer entscheidenden Lebensphase einen Input zum Weiterdenken gebe. All das vermittelt mir das Gefühl, Wellen zu erzeugen. Auch wenn ich keine Kinder habe, werde ich in ganz vielen Menschen weiterleben, sie werden einen Teil von mir weitertragen. Und wenn ich irgendwann ein oder mehrere Kinder haben sollte, werde ich mich der Sinn-Frage dennoch immer wieder stellen.
Der Philosoph Karl Jaspers sagte, dass Menschsein ein nie abgeschlossener Prozess der Verwirklichung von Möglichkeiten individuellen Selbstseins ist und er verwendete oft die Metapher des „Auf-dem-Wege-sein“. Ich mag diese Vorstellung des stetigen Wachsens und des Prozesses, immer wieder aufs Neue sein ureigenes Potential zu entdecken, zu erfühlen und zur Realisierung zu bringen. Zum Wohle meiner Selbst und zum Wohle meiner Mitmenschen und somit der Welt. Diese Gedanken passen sehr gut in die Vorstellung, die ich von meinem Leben habe.
Wie geht es Ihnen damit, liebe Leserinnen und Leser? Haben Sie sich bereits mit Ihrem eigenen Lebensskript, Ihrem unbewussten Lebensentwurf befasst, ihn erforscht, sich mit ihm konfrontiert? Welche Vorstellung vom Leben haben Sie vielleicht unbewusst in Ihren Gedanken und Gefühlen abgespeichert? Passt dieser Plan zu dem Menschen, der Sie heute sind? Ist es ein Konzept, das Sie sich für dieses – je nach Glauben – einzige Leben wünschen? Oder wäre es an der Zeit, es zu adaptieren?
Welche Werte sind Ihnen wichtig? Nach welchen Maßstäben wollen Sie Ihr Leben leben und sehen Sie diese in Ihrem derzeitigen Leben verwirklicht?
Gehören Familie und Kinder für Sie zu einem sinnvollen Leben? Oder gibt es andere Bereiche, Inhalte und Sphären, in denen Sie Ihr Leben als sinnvoll empfinden, und genügt das, um ein gutes, glückliches und sinnerfülltes Leben zu gestalten und zu führen?
Der ein oder andere mag vielleicht beim Vergleich der Werte der Versuchung erliegen, meine Momente des Glücks und des Lebenssinns als zu oberflächlich, zu flüchtig zu empfinden.
Wie wenig dieser Vorwurf stimmt, wird dem klar, der all dies plötzlich nicht mehr hat.