Blut, Stolz, Fernweh und andere Mysterien - Ellen Kuhn - E-Book

Blut, Stolz, Fernweh und andere Mysterien E-Book

Ellen Kuhn

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Beschreibung

Bereits in ihren ersten beiden Büchern hat sich Ellen Kuhn als scharfsinnige Beobachterin mit breit gefächerten Interessen gezeigt. Ihre Fähigkeit zu oft etwas anderen Gedanken mit philosophischem und psychologischem Tiefgang fusioniert in diesem Essayband zu einem bunten Potpourri an Themen, über die wir alle sicher schon einmal nachgedacht haben, aber sicher nicht in dieser Tiefe und unter diesen Blickwinkeln. Falls wir es nicht getan haben, ist es höchste Zeit, es zu tun. Ellen Kuhn kann Wissen vermitteln, Denkanstöße geben und gleichzeitig unterhalten. Von ihren Reflexionen über ihr bald zehnjähriges Leben als digitale Nomadin und der immer aktuellen Selbstwertfrage über die vielfältigen Facetten von Stolz, die besonderen Beweggründe für das Lesen und das Universum der weiblichen Menstruation bis hin zur Problematik, ob wir in diese sich so dramatisch verändernde Welt ein Kind setzten sollten. Klug, analytisch, emotional und inspirierend.

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Bei tredition sind bereits folgende Bücher von Ellen Kuhn erschienen:

Keine Angst vorm Fliegen – der Roman

Erfüllendes Mutterglück oder kinderlose Freiheit? Mein Weg zur Entscheidung

Über die Autorin:

Ellen Kuhn, geboren 1986, aufgewachsen im Raum Stuttgart, lebt als Kosmopolitin und digitale Nomadin mit ihrem Lebensgefährten in unterschiedlichen Ländern rund um den Erdball.

Ellen Kuhn ist Autorin, Fotokünstlerin und Unternehmerin. Nach einem Betriebswirtschaftsstudium arbeitete sie einige Jahre als Managerin im Bereich Gesellschaftliche Verantwortung in einem internationalen Unternehmen, bevor sie sich in die Selbstständigkeit wagte. Das Studium fremder Kulturen ist zu einem Lebensinhalt geworden. Sie liebt es, die Welt auf den Ebenen der Psychologie, Soziologie und Philosophie zu durchdringen.

Mehr über die Autorin:

www.ellenkuhn.com

Ellen Kuhn

Blut, Stolz, Fernweh und andere Mysterien

Essays

© 2024 Ellen Kuhn

Umschlag, Illustration: Philip Esch, www.eschdesigns.de

Foto Autorin: Melanie Knodel, www.melanieknodelfotografie.de

Lektorat: Dr. Joachim Materna

Korrektorat: Dr. Joachim Materna und Annette Nenner, www.annettenenner.de

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-384-16237-3

Hardcover

978-3-384-16238-0

E-Book

978-3-384-16239-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: [email protected].

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

1. Die Frage nach dem „Warum lese ich?“ nochmals neu gestellt

2. Ein Brief an den Schmerz

3. Stolz – Profilsuche eines Gefühls

4. Digitales Nomadentum oder „Gibt es doch einen Ausweg aus der sisyphosschen Existenz?“

5. „Ich muss an meinem Selbstwert arbeiten!“

6. Klima und Kinder – eine hoffnungslose Kombination?

7. Evolution (M)eines Zyklus

8. Obdachlosigkeit – eine existenzielle Begegnung

9. Plädoyer gegen den Geheimtipp

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Wir müssen wählen., was wir sein wollen, nicht ein für alle Mal, sondern immer und immer wieder, in jedem Augenblick für das ganze Leben.

Simone de Beauvoir

Prolog

Neulich las ich voller Begeisterung den Prolog des Lebenswerkes „The Hidden Order of Art“ von Anton Ehrenzweig. Er gab seiner Leserschaft darin eine charmante, scharfsinnig manövrierende Leseanweisung mit auf den Weg. Der Passus lautet übersetzt ungefähr so: „Der Grundgedanke dieses Buches kann auch dann verstanden werden, wenn der Leser nur einer der vielen Diskussionslinien folgt. Die anderen Aspekte verleihen der Argumentation lediglich stereoskopische Tiefe, aber keinen wirklich neuen Inhalt. Darf ich den Leser also bitten, sich nicht durch die Unklarheit einiger Inhalte irritieren zu lassen, aus dem Buch herauszunehmen, was ihn anspricht, und den Rest ungelesen zu lassen?“

Mich begeistern seine selbstbewusste Klarheit und gleichzeitige Bescheidenheit gegenüber seinem eigenen Werk. Seine Bitte an die Leserschaft hatte sicherlich inhaltliche Gründe. Heute, in Zeiten der Cancel Culture auch im Literaturbetrieb, erscheinen mir diese Worte jedoch in einem neuen, zusätzlichen Licht. Viele von uns Publizierenden sind sehr fragile Seelen. Vielleicht sind wir es sogar alle. Ich frage mich, wie viele Schreibende heute ähnliche Worte ihren Büchern, Artikeln und Essays voranstellen wollen, um die Leserschaft in eine konstruktive, wohlwollende Haltung zu ihrem Text zu bringen.

Auch ich habe ein sensibles und fragiles Autorinnenherz. Dieses Buch entspringt unter anderem dieser Sensibilität und Fragilität, die es aus meiner Sicht besonders macht. Gleichzeitig macht mich jedes Wort auch verletzlich.

Dieses Buch ist ein Experiment. Ich habe mich mit einer kleinen Auswahl von unterschiedlichsten Themen des Lebens befasst und versucht herauszufinden, wie sie in mir arbeiten.

Ich freue mich, wenn Sie zu den Menschen gehören, die eine unbändige Neugier daran haben, sich mit den Gedanken anderer zu befassen. Ich freue mich, wenn Sie mit mir im Geiste durch diesen bunten Gemüsegarten des Lebens laufen. Vielleicht reiben Sie sich auch am ein oder anderen Aspekt, dann freue ich mich, dass Sie sich selbst dazu abgrenzen können. Vielleicht inspirieren Sie die folgenden Essays auch in mancherlei Hinsicht und laden Sie zum Weiterdenken ein. Dann habe ich mein Ziel erreicht.

Ihre Ellen Kuhn

1. Die Frage nach dem „Warum lese ich?“ nochmals neu gestellt

Wenn man jahrzehntelang Buch um Buch verschlungen hat, glaubt man ein Stück weit, dass einen nichts mehr grundlegend überraschen kann. Aber dann kam dieses eine Buch, das meine Perspektiven als Leserin ins Wanken brachte. Eigentlich ist es unerheblich, ob Sie es selbst gelesen haben, denn meine Einsichten darüber lassen sich auch hervorragend mit Ihren eigenen, möglicherweise völlig diskrepanten Literaturerfahrungen mit ganz anderen Büchern abgleichen.

Führe ich Gespräche darüber, warum Menschen lesen, so sind die Gründe in der Regel klassisch. Bei belletristischen Werken sind das Argumente wie: In eine Geschichte eintauchen. Der alltäglichen Welt entfliehen oder eine kurze Pause vom Alltag nehmen. Sich mit verschiedenen Charakteren identifizieren. Andere Denk- und Handlungsweisen kennenlernen. Sich mit zum eigenen Leben ähnlichen Schicksalen solidarisieren. Sich fallen lassen und entspannen bei einer schönen, fantasievollen Geschichte. Eine poetische und ästhetische Sprache genießen.

In Bezug auf Sachbücher werden Aspekte genannt wie: Wissen aneignen. Sich mit einem Sachverhalt kritisch auseinandersetzen. Hilfe bei bestimmten Problemen im Leben finden. Andere Sichtweisen kennenlernen. Manchmal vielleicht auch nur den eigenen Standpunkt bestätigen. Argumentative Schärfe für Diskussionen erwerben. Sich weiterentwickeln.

Siri Hustvedt beschrieb ihre Motivation zum Lesen in einem Interview einmal mit der Zielsetzung, „innerlich Legion“ zu werden, womit sie durch viel Lesen auch einen emanzipatorischen Effekt gegenüber dem Patriarchat verstand.

Etwas exotischer sind dann schon Blickwinkel wie „Es gibt für mich keine andere Art, in der Welt zu sein, als lesend“. So als wäre das Lesen eine unverzichtbar zugehörige Facette des eigenen Wesens und man wäre unvollständig, würde man nicht lesen. Diese beeindruckende Aussage stammte von einem Antiquar im Ruhestand.

Und dann läuft mir irgendwann rein zufällig das Buch „Unendlicher Spaß“ des amerikanischen Autors David Foster Wallace über den Weg.

Als Einstieg möchte ich ein kurzes Porträt dieses Mammutwerks skizzieren, da dieses allein bereits Aspekte meiner folgenden Faszination und meiner Neubewertung des Lesens veranschaulicht.

Das Buch erschien 1996 auf Englisch. Es hat in der Printausgabe 1.552 Seiten, wovon sage und schreibe fast dreihundert Seiten Fußnoten sind, die teilweise kurze Erläuterungen zum Handlungsstrang darstellen, manchmal ganz eigene, vom Thema abschweifende Geschichten beinhalten, manchmal aber auch den Handlungsstrang weiterführen und deshalb essenziell wichtig für das Verständnis des weiteren Textes nach der Fußnote sind. Diese Fußnoten können aus wenigen Worten oder mehreren Seiten bestehen.

Soll ich beschreiben, um was es in diesem Buch geht, so komme ich schnell an meine Grenzen, denn es geht wahrlich um viel, vielleicht sogar um alles mal ein bisschen. Versuche ich, grob die wichtigsten Buchinhalte zu skizzieren – die ehrlicherweise für das Lesen dieses Buches recht unerheblich sind –, so geht es um drei Haupthandlungsstränge. Zum einen um eine Tennisakademie, zum anderen um ein Drogenentzugsheim, aber auch um die Machenschaften einer kanadischen Terroristengruppe von Rollstuhlfahrern („Assassins des Fauteuils Rollents“). Eine weitgefächerte, unspezifische Neugier auf so ziemlich alle Themen des Lebens scheint mir deshalb eine unabdingbare Voraussetzung, sich diesem Buch überhaupt zuwenden zu können.

Dieses Werk diskriminiert sich durch eine opulente Sprache, die einfach nur faszinierend ist. Teilweise entlehnt Foster Wallace Worte aus der Medizin und wagt Übertragungen auf gewöhnliche Alltagskontexte. Da ich mit einem Mediziner liiert bin, weiß ich, dass nicht alle diese Vergleiche glücken, sondern manche sogar schlichtweg falsch sind, was dem Laien allerdings kaum auffallen dürfte und der intendierten Wirkung auf den Lesenden keinen Abbruch tut. Wiederholt finden sich Worte, die sich weder im Duden noch in einer anderen Enzyklopädie nachschlagen lassen. Es scheint fast so, als habe Wallace eine höhere Vision von Verbalisierung vor sich, die mit den Mitteln der Sprache, auf die wir alle referieren, nicht erreicht werden kann. Er erspürt Wörter, denen er in ihre Existenz verhilft. Er ist der Geburtshelfer ganz eigener, von ihm erfundener Begriffe. Eine weitere Besonderheit sind Sätze, die teilweise über eine ganze Seite oder mehr reichen, in denen so viele Sachverhalte verwoben und dann möglicherweise noch von einer zweiseitigen Fußnote unterbrochen werden, dass man, um wirklich folgen zu können, mehrfach zum Anfang des Satzes zurückkehren muss.

Liest man Rezensionen zu diesem Buch, so ist es eigentlich schon mehr die Regel als die Ausnahme, dass Lesende nach circa 200, spätestens 300 Seiten, das Buch zur Seite legen und hoffen, dass sie vielleicht irgendwann wieder bereit für eine Wiederaufnahme sind. Ich pausierte nach etwa 250 Seiten. Einige fangen dann tatsächlich irgendwann wieder an. So auch ich.

Meine Wiederaufnahme von „Unendlicher Spaß“ hatte ehrlicherweise mit dem nagenden schlechten Gewissen zu tun, vor diesem Buch kapituliert zu haben. Wenn man an dieser Stelle den Gründen, weshalb wir Menschen lesen, noch ein paar Gründe hinzufügen möchte, dann gehört dazu sicherlich auch, dass wir durch das Lesen bestimmter Werke der Weltliteratur unser Selbstverständnis oder Selbstbild beeinflussen wollen. Wenn wir beispielsweise zum erlesenen Kreis derer gehören wollen, denen es gelungen ist, sich dieses oder jenes Werk der Weltliteratur komplett einverleibt zu haben. Oder weil wir uns beweisen wollen, dass wir in der Lage sind, ein solches Leseerlebnis intellektuell und unter Beweisstellung unserer Hartnäckigkeit durchzuhalten. Vielleicht gehören Bücher wie „Ulysses“ von James Joyce und „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust ebenfalls in dieses Spektrum. Auch wenn es ohne Zweifel noch viele andere Gründe gibt, letztere Bücher zu lesen.

Was mich allerdings von Anfang an an die Lektüre band, waren die vielen literarischen Leckerbissen aus Foster Wallaces Feder. Wenn er es schafft, über schier unendlich viele Seiten hinweg das Innenleben eines suchtkranken Mannes zu verbalisieren, der auf seine Dealerin wartet. Nicht einfach das Warten in ein bis zwei Absätzen zu beschreiben, sondern es über das Aushaltbare hinaus auf nahezu dreißig Seiten auszubreiten. Als Lesende gemeinsam mit dem Mann in der Ungeduld, der Hoffnung, der Vorfreude und der Qual des Wartens zu verharren, bis man mit jeder Faser seines Körpers mitwartet und in die Untiefen des fast schon existenziellen Wartens eintaucht. Man spürt die Stimmung und die Gedanken des Süchtigen. Man ist eigentlich schon fast der Süchtige. Oder wenn er die Innenwelt einer depressiven Frau bis in ihre letzten Abgründe hinein beleuchtet, die sich gerade das Leben nehmen wollte und in die Psychiatrie eingeliefert wird. Oder wenn er uns in die Welt des Drogenkonsums und Alkoholismus mitnimmt und Facetten sichtbar macht, die man noch nie zuvor irgendwo so plastisch erfahren hat. Oder wenn er in die komplexe mentale Dynamik eines Tennisspiels eintaucht und Aspekte benennt, die sich vielleicht sogar dem Bewusstsein eines Profispielers entziehen.

In diesen speziellen Passagen schafft es Foster Wallace, das Innenleben einer Person, Begegnungen von Menschen oder unterschiedlichste Begebenheiten auf solch tiefen Spektralebenen wahrzunehmen und in so außergewöhnlich treffende Wortkleider zu fassen, die einen fassungslos machen ob der Sichtbarmachung einer tiefen Wahrheit, die man selbst möglicherweise vorbewusst erahnt, aber noch nicht mal annähernd verbalisieren könnte. In diesen Situationen begreifen wir etwas über uns selbst, über unsere Mitmenschen, über die Gesellschaft, über das Leben selbst. Manchmal geht Foster Wallace sogar weit über das hinaus, was wir in uns abgleichen können. Er eröffnet in uns Welten, die sich selbst einem sehr wahrnehmungsgeöffneten Menschen entziehen. Die vielleicht sogar nur er allein in allen Dimensionen und Facetten erspürt hat. Immer wieder begegnen einem in diesem Buch diese literarischen Delikatessen, allerdings bei Weitem nicht am laufenden Band. Es bedarf der besonderen Geduld eines Trüffelschweins, denn diese Glanzstücke liegen manchmal mehrere Dutzend oder gar hundert Seiten auseinander. Man weiß nie, wann sie wieder an der Reihe sind.

Wenn ich mich gelegentlich über Literatur austausche und höre, dass Lesende auf die Längen innerhalb eines Buches hinweisen und diese Feststellung eindeutig einen kritisierenden Charakter hat, muss ich schmunzeln. Im Foster-Wallace-Werk kämpft man sich durch fast hundert Seiten, die sich an der Enfield Tennisakademie darum drehen, ein seiner Fantasie entsprungenes, fiktives Strategiespiel namens Eschaton in all seinen Facetten und Details auszubuchstabieren. Langatmig wäre noch eine schmeichelnde Umschreibung. Wenn es daran in der Metaebene etwas zu bewundern gibt, dann die Akribie und den unerschütterlichen Willen des Autors, jeden Winkel dieses eigens für sein Werk erdachten Spiels transparent zu machen. Allein vor diesen Ansprüchen sich selbst gegenüber verneige ich mich, auch wenn es eines großen Durchhaltevermögens bedarf, sich dieser Detailliebe auszusetzen. Oder wenn es ebenfalls über Hunderte von Seiten um recht belanglose Gespräche zwischen zwei Männern geht – einer von beiden aus der Gruppe der Rollstuhlterroristen –, die einen Aufstand diskutieren, aber nie wirklich vorankommen. Von Länge kann man dabei nicht mehr sprechen, es fühlt sich wie eine unendliche Ausdehnung des Raum-Zeit-Kontinuums an.

Die Handlungsdichte und das Tempo von Erzählungen werden von Lesenden selbstverständlich äußerst diskrepant wahrgenommen. Einigen kann es gar nicht schnell genug gehen, Krimis und Thriller sind hier sicher das Genre der Wahl, um das Bedürfnis nach einem unaufhörlichen (Adrenalin-)Kick zu befriedigen. Diesen Lesenden kommt man besser gar nicht erst mit blumigen Beschreibungen der Umgebung oder mit dem Ausmalen von Charakteren. Wieder andere lieben es, sehr viel länger in die Tiefen eines Moments, einer Situation, einer Interaktion einzutauchen. Es gibt unter den Autorinnen und Autoren dieser Welt wahre Meister in dieser Disziplin. Zu ihnen zählen sicherlich Jonathan Franzen, Zadie Smith, Richard Powers, Isabel Allende, David Mitchell, Siri Hustvedt und Zeruya Shalev, um nur ein paar meiner diesbezüglichen Lieblinge zu nennen. Aber auch bei ihnen gibt es für die Intensität einer Szene ein gewisses Höchstmaß, auch wenn ich nicht konkret benennen kann, wie man dieses mathematisch oder rein faktisch definieren könnte. Ich empfinde bei den genannten oder ähnlichen Autorinnen und Autoren rein subjektiv die gewählte Länge einer Szene im Hinblick auf die Gesamtkomposition eines Buches als stimmig.

Foster Wallace überschreitet dieses vielleicht intuitive, universelle Empfinden für akzeptable Länge – sicher nicht nur meinem Gefühl nach – maßlos. Und hier beginnt die Reibung. Wir sind es gewohnt, Lektüren aus der Hand zu legen, wenn ihr wie auch immer für uns individuell definierter Mehrwert nach einer gewissen Zeit nicht sichtbar wird. Diesem darauffolgenden Abbruch einer Lektüre liegt eine ganz spezielle Ausgangsvoraussetzung zugrunde, nämlich, dass ein Buch uns zu dienen hat. Es muss unserem diffusen, unbewussten oder auch klar definierten Nutzen entsprechen. Oder wie man heute sagt, der „Benefit“ muss gewährleistet sein. Viele Lesende versuchen deshalb auch, immer ähnliche Literaturformen zu wählen, um diesen ganz speziellen Gewinn zu garantieren. Daran ist nichts zu kritisieren, lediglich ist dieser Umstand zu konstatieren.

In diesem Faktum steckt allerdings eine sehr wichtige Dynamik zwischen Schreibenden und Lesenden, die ich anhand dreier Anekdoten beschreiben will.

Die Autorin Juli Zeh machte im deutschen Podcast „Hotel Matze“ vor einiger Zeit ihren Schreib- und Veröffentlichungsprozess transparent. Sie beschrieb dabei drei Phasen. In der ersten Phase schreibt sie nur und ausschließlich für sich selbst. Dabei werden der Text und sie zu einer Symbiose, die in einem geschützten Raum entsteht. Diese Phase ist eine sehr fragile, denn sie offenbart sich als Schöpfende darin und macht sich dadurch auch sehr verletzlich, weshalb kein Außenstehender diese Einheit stören darf. Die zweite Phase ist die, in der sie sich an gewählte Außenstehende wie ihren Mann und ihre langjährige Lektorin wendet. Nun wird bei der Überarbeitung dieses Werks das Außen, die Lesenden, mitgedacht. Der Text wird korrigiert und modifiziert, für ihr Publikum „hergerichtet“. In dieser Phase beginnt sie, langsam Abschied von ihrem Werk zu nehmen und trennt sich von der sehr persönlichen Nähe zu ihm. Der dritte Schritt ist die Veröffentlichung. Ihre Identifikation mit dem Text reduziert sich weiter. Sie trennt sich innerlich von ihm, um sich selbst mit harscher, möglicherweise sogar unsachlicher Kritik arrangieren zu können und diese nicht auf sich als Person zu beziehen. Das Buch beginnt nun, ein Eigenleben zu entwickeln, das sich ihrer Kontrolle vollständig entzieht. Auch wenn es in diesem Fall um den persönlichen Umgang einer Autorin mit der Veröffentlichung an sich geht, so wird dennoch sichtbar, dass das, was Zeh schreibt, und das, was ihre Fans zu lesen bekommen, zwei nicht völlig, aber dennoch in gewissen Komponenten unterschiedliche Werke sind. Und dabei geht es nicht nur nur um Orthografie und Grammatik.

Die zweite Perspektive ist eine, mit der ich mich in den Memoiren „Das Leben und das Schreiben“ von Stephen King nochmals intensiver befasst habe. King ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Horrorautoren der Welt. Es scheint eingängig, dass man, wenn man eine solch große Reichweite erreicht, natürlich auch den Geschmack des Gros der Lesenden getroffen hat und weiter treffen muss. Zufällig oder intendiert. In der Literaturhistorie gibt es nur sehr selten Fälle, in denen Publizierende rein zufällig genau das in einem kreativen, intuitiven Erguss produzieren, was eine unfassbar große Menge an Menschen interessiert. Vielleicht ist Harry Potter so ein Beispiel, wo die Kreation der Autorin Joanne K. Rowling zufällig und punktgenau mit einem außerordentlich großen Interesse in der Bevölkerung harmonisch zusammenfiel. Oft ist es aber kein Zufall. Hört man King zu, so werden die Lesenden während des Entstehungsprozesses eines Werkes permanent mitgedacht. Am ehesten vergleichbar einer Marktanalyse, werden die Bedürfnisse der Kundschaft eruiert und das Produkt dann genau darauf passend gemacht. Die Frage „Kommt das an?“ ist dann relevanter als „Ist das wirklich das, was ich schreiben möchte oder muss?“. Das „muss“ steht hier für die These, dass es im Schaffensprozess eines jeden Autors eine innere Notwendigkeit gibt, gewisse Dinge auf eine ganz bestimmte Weise niederzuschreiben, so als kämen sie aus dem Unterbewusstsein oder entsprängen einer höheren oder tieferen Erkenntnis. Mein subjektiver Eindruck ist, dass King zu den schreibenden Personen gehört, die die Lesenden in einem sehr hohen Maß bereits während des Schreibens berücksichtigen und sich ganz gezielt in ihre Erwartungen und Bedürfnisse hineinversetzen. Was zum einen nicht verwerflich ist und zum anderen nicht in Abrede stellt, dass er selbstverständlich unabhängig davon innerhalb seiner Genres herausragende Talente und Fähigkeiten besitzt.

Ich las vor Kurzem von einem Autor, dessen Name mir leider entfallen ist, der sehr erfolgreich Kriminalromane schrieb. Nebenbei veröffentlichte er hin und wieder ein paar weniger bekannte Werke experimenteller Gegenwartsliteratur. Nicht die preisgekrönten, renommierten und einträglichen Thriller waren es am Ende seiner Schaffenszeit, sondern die wenig verkauften Exemplare eines Nischenproduktes, die ihm ganz persönlich am wertvollsten erschienen. In diese hatte er mehr von sich selbst einfließen lassen.

Diese drei Beispiele offenbaren für mich den Grundkonflikt von Literaturschaffenden. Inwiefern können Schriftsteller/-innen während des Schreibens wirklich das zu Papier bringen, was deren kreativem, originärem Empfinden entspringt, und inwiefern muss man bei einer Veröffentlichung die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse einfließen lassen, aus merkantilen Gründen oder aus dem Bedürfnis nach einer höheren Reichweite und größerer Anerkennung? Im Optimalfall schlägt sich beides nieder. Je nach Künstler/-innen-Persönlichkeit fällt der jeweilige Anteil letztendlich unterschiedlich aus.

Da sich David Foster Wallace bereits während einer schweren depressiven Episode 2008 das Leben nahm, können wir ihn nicht mehr nach seinem individuellen Verhältnis von künstlerischer Entfaltungsfreiheit einerseits und kommerziellen Zügeln andererseits fragen. Aber mein Eindruck ist, dass sein Opus „Unendlicher Spaß“ zu einem hohen, wenn nicht sogar ausschließlichen Maße Er Selbst ist (wer das Buch kennt, wird die Großschreibung verstehen). Und mit ein bisschen Distanz muss ich sogar sagen, dass es für die literarische und künstlerische Landschaft unabdingbar ist, wenn die ureigene Schöpferkraft eines Künstlers oder einer Künstlerin noch mehr im Fokus stehen würde als ihre Anpassung an ein Publikum. Wie viele intuitive Experimente werden nicht mehr gewagt, da Schreibende oder Verlage auf Umsatzzahlen schielen? Führt das nicht zu einer Verarmung der Kunst?

Ich muss gestehen, dass es mir zu Beginn des Lesens sehr schwerfiel, mich von meiner narzisstischen Forderung zu befreien, dass „Unendlicher Spaß“ doch bitte so zu sein habe, dass ich mich als Leserin mit all meinen Wünschen befriedigt sehe. Aber nach einer Weile zog es mich mehr und mehr hinein und ich hörte auf, mich zu fragen, was ein Buch für mich tun kann, sondern ich spürte, was geschieht, wenn ich mich einmal wirklich auf das einlasse, was aus der Feder eines brillanten, eigenwilligen, außergewöhnlichen, irgendwie skurrilen und fast schon genialen Individuums geflossen war. Und zwar genau so, wie nur er es für sinnvoll empfand, ohne an mich als Leserin auch nur einen Gedanken zu verschwenden.

Ich habe mich mit „Unendlicher Spaß“ demnach einer neuen Erfahrung ausgesetzt. Ich habe mich bewusst dazu entschlossen, diesen Anspruch an einen subjektiven Mehrwert im Rahmen jeglichen Literaturkonsums loszulassen und ad acta zu legen. Ab gefühlt Seite sechshundert war es, als würde ich mich dem Buch und dem Autor und seinem Werk ergeben. Ich wehrte mich nicht mehr dagegen, mich mit Haut und Haar auf ihn, seinen Schreibstil, sein Gefühl für Länge, sein Gefühl für Inhalte, seine kreativen Ergüsse einzulassen. Ich suchte nicht mehr nach dem Leckerbissen, sondern ließ mich einfach in den Prozess fallen und ließ geschehen, was geschehen sollte.

Ich las dieses Buch wie so viele Bücher gemeinsam mit meinem Mann am Abend vor dem Zubettgehen. Ein Ritual, das uns schon viele Jahre begleitet. „Unendlicher Spaß“ reiste mit uns in Summe ein ganzes Jahr. Wir begannen es während unserer Zeit auf der thailändischen Insel Koh Samui und beendeten es witzigerweise ein Jahr später genau dort, hatten aber zwischenzeitlich in den diversesten Ländern dieser Erde gelebt. Es war eine Konstante, es war ein treuer Begleiter. Es wurde zu einer Säule der Beständigkeit in dieser Zeit. In einer gewissen Weise freute ich mich am Abend auf dieses Buch, auch wenn es keineswegs mit der Freude vergleichbar ist, die man erlebt, wenn man nicht erwarten kann, wie eine spannende Geschichte weitergeht. Es war eher die abstrakte Freude auf etwas Vertrautes. Oft verstand ich kaum etwas von dem, was wir lasen, da meine Gedanken manchmal abdrifteten oder der Text so konfus oder langatmig war, dass ich kaum folgen konnte. Aber ich versuchte es eben auch nicht mehr. Wenn ich etwas nicht verstand, dann war es eben so. Ich hörte auf, diese Reibungsmomente zu bewerten, und nahm sie einfach hin. Irgendwann ging es oft nur um Worte, Worte, denen meine Ratio nicht folgen konnte, die aber dennoch auf mich wirkten.

Was zurückbleibt, ist eine tiefe Bewunderung für diesen genialen Geist, David Foster Wallace. Ich bekam ein Gespür dafür, wie außergewöhnlich dieser Mann gewesen sein muss – am wirklich alleräußersten Rand der gaußschen Normalverteilungskurve mit seiner Begabung für Wahrnehmung und Sprache. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie einsam er mit dieser herausragenden Gabe gewesen sein muss, der sicher nur wenige seiner Mitmenschen folgen konnten. Ein Mensch mit einem derart hochverschalteten, intensiven Denken und sprudelnden Gedanken, die vielleicht nur durch das Schreiben seiner Bücher kanalisiert oder auch nur im Geringsten verarbeitet werden konnten. Eigentlich durfte ich durch dieses Buch ein brillantes Genie beim Denken beobachten.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dieses Buch kein zweites Mal lesen werde. Aber dennoch war die Erfahrung eine lehrreiche. Mich von so ziemlich allen bewussten und unbewussten Lese- und Nutzenerwartungen zu distanzieren und mich einzig und allein auf ein Gegenüber einzulassen, all seine Facetten zu würdigen, aber auch auszuhalten. Danke, David Foster Wallace!

2. Ein Brief an den Schmerz

Lieber Schmerz,

heute zermürbst Du mich. Dabei habe ich so viele Wochen, Monate, Jahre versucht, mich Dir mehr oder weniger erfolgreich entgegenzustellen. Ich bin Dir mit Relativierungen, Affirmationen, positiver Psychologie und Analgetika begegnet. Ich habe Erklärungen gefunden, weshalb Du da bist, habe mir Kausalketten hergeleitet, habe vernünftige Deutungen gefunden, die Deiner Präsenz eine Daseinsberechtigung geschenkt haben. Indem ich mir ein Modell schusterte, das Dich begründete, habe ich Dich ertragen. Ich wurde dadurch geduldiger mit Dir und dabei mit mir. Noch vor ein paar Tagen gelang es mir, den Fakt der Vergänglichkeit zu sehen, denn Deine Daseinsintensität unterliegt Schwankungen. Aber heute kann mir dieser Aspekt keinen Trost schenken, ich habe keinen Zugriff auf diese Ressource.

Vielleicht gelingt es mir morgen wieder, aber heute schaffst Du mich einfach. Es ist nicht ein Suhlen im Schlamm, wie eine Freundin es neulich metaphorisch umschrieb. Es ist nicht ein wehleidiges Kokettieren mit Deiner Anwesenheit. Heute ist es eine Kapitulation vor Dir. Heute erliege ich einer tiefen Verzweiflung, gegen die ich mich heute nicht mehr stellen kann und will. In dieser tiefen Verzweiflung liegt eine große Gefahr, denn sie reißt mich in die Tiefe, in eine bodenlose Tiefe. Heute falle ich ins Nichts.

Du bist zwischenzeitlich so ein treuer Weggefährte geworden, sodass ich nicht mehr daran glauben kann, dass ich weite Strecken je ohne Dich werde gehen können. So oft bist Du in unterschiedlichen Verkleidungen zu mir gekommen. So oft dachte ich – wie es vielleicht viele Menschen glücklicherweise tun –, dass dies oder das nicht so schlimm werden würde. Etwas apodiktisch und zynisch formuliert: Bei allen anderen Menschen scheinen jegliche Symptome nach ein paar Tagen abzuklingen und sie kehren zurück zur Normalität. Nicht bei mir. Die kleinste Kleinigkeit produziert schier unendliche Nachwehen. Du suchst mich mit aller Wucht heim. Selbstmitleid? Vielleicht. Heute schaffe ich es aber nicht, mich diesem zu entziehen.

In der tiefen Verzweiflung steckt aber auch eine große Portion Kontrollverlust. Achtsame Vorsicht vor Dir ist mein zweiter Vorname geworden. Mich so weit vor Dir hüten, dass Du nicht richtig wütend wirst. Ich habe gelernt, Vorkehrungen zu treffen. In einer fast wissenschaftlichen Versuchsanordnung analysiere ich Ursachen für Potenzialitäten und versuche diesen vorzubeugen. Oft frage ich mich, ob diese Vorsicht nicht schon in eine Hypochondrie pervertiert ist. In einer ständigen Introspektion bilde ich mir ein, vernünftig auf die Sensitivität meines Körpers achtzugeben. Aber ob das noch „normal“ ist, weiß ich schon lange nicht mehr.

Ich kann Dir nicht ausweichen. So sehr ich es auch versuche, Du findest mich trotzdem. Es ist fast so, also hättest Du mich ausgesucht, als wolltest Du bei mir sein, aber diese Liebe fußt nicht auf Gegenseitigkeit. Vielleicht bin ich in Bezug auf Dich einfach bindungsavers.

Weder mit meinem Selbstbild noch mit meinen inneren Wünschen bist Du vereinbar. Ich will rausgehen, will entdecken, will erleben. Aber Du setzt mir eine rigorose Grenze, eine, die ich wirklich nicht überschreiten kann. Vielleicht ist das Deine eigentliche Intention. Du willst mich bremsen. Du willst mir sagen: „Übertreibe es nicht.“ Und ob Du es glaubst oder nicht, ich war Dir für diese Life Lesson in Demut auch hin und wieder aufrichtig dankbar. Aber meine Zugeständnisse an Dich waren über die letzten Jahre in Summe einfach zu groß. Noch mehr bin ich Dir nicht bereit, zu geben. Aber ausgerechnet heute kann ich nicht mehr gegen Dich ankämpfen.

Möglicherweise habe ich mir all die Jahre immer vorgemacht, ich würde Dich in meinem Leben akzeptieren, Dich – wie man es psychotherapeutisch formulieren würde – „willkommen heißen“. Manchmal hatte ich gar das Gefühl, in Dir zu Hause zu sein, Dich als Bestandteil meines Lebens anzuerkennen. Vielleicht glaubte ich, Dich akzeptiert zu haben, wehrte Dich aber immer noch in den Tiefen meines Unterbewusstseins ab. Vielleicht glaubte ich immer noch daran, dass die „Störungsfreiheit“, also Deine gänzliche Abwesenheit, erreichbar wäre. Zumindest für einen gewissen Zeitraum. Und ja, es gab diese längere oder kürzere Freiheit von Störungen. Aber heute hast Du mich erwischt. Ich fühle mich von diesen Zeiten wie abgeschnitten. Ich kann mich an sie nicht einmal mehr erinnern.

Heute kann ich nicht stark sein. Ich kapituliere. Ich kann Dir nicht mit Würde und erhobenem Haupt begegnen. Heute nicht.

Fast wirkt es, als wäre ich in einen tiefen Schlund gerissen worden. Wobei das implizieren würde, dass der Schlund etwas Plötzliches wäre, das ich nicht kommen sah. Dabei ist der Abgrund stets omnipräsent, auch wenn ich mich dem entgegenstelle. Heute will ich mich nicht wehren. Ich kann es nicht. Du hast gewonnen. Willst Du, dass ich mich dort, in der Tiefe, mit Dir treffe? Bist Du überhaupt dort? Oder stößt Du mich nur dort hinein?

Gerne würde ich nun mit Dir „Schluss machen“. Nach diesen vielen negativen Auswirkungen auf mich Dir die Kündigung zustellen. Aber dieser Deal wäre nur unter Inkaufnahme drastischer Auswirkungen zu schließen. Nein. Ich werde mich morgen wieder schütteln. Ich werde versuchen, ein bisschen Schlaf zu finden, selbst wenn Du es mir auch dabei schwer machst. Und morgen werde ich das bisschen Hoffnung zusammenkratzen, das sich bis dahin wie Kondenswasser an einer Scheibe gebildet hat, und weitermachen. Ich werde mich mit unserer Partnerschaft wieder irgendwie arrangieren.

Möglicherweise würdest Du tatsächlich verschwinden, wenn ich Dich allumfassend annehmen könnte. Aber vielleicht magst Du mich aus irgendwelchen Gründen. Möglicherweise hast Du Dich aus anderen Gründen an mir festgebissen, die ich trotz allem immer noch nicht durchschaut habe. Oder Deine Anwesenheit ist reiner Zufall.

Ich warte gespannt auf Deine Antwort.

Ellen

3. Stolz – Profilsuche eines Gefühls

Kennen Sie das auch? Irgendwie schafft es ganz unmerklich und scheinbar aus dem Nichts kommend eine Frage in Ihr Leben. Eine, die nicht lebenskritisch ist, aber die sie beschäftigt. Diese Frage ergibt sich aus einer Beobachtung oder Wahrnehmung, die man seit Jahren einfach getilgt hat und spurlos an sich vorüberziehen hat lassen. Und nun hat sie es ins kritische Bewusstsein geschafft. Die auslösende Beobachtung beginnt nun exponentiell häufig in Ihrer Wahrnehmung aufzutauchen. In psychologischer Parlance spricht man von selektiver Wahrnehmung. An Ihrem neu gewonnenen Blick auf diesen Umstand stört Sie etwas, aber Sie wissen nicht genau, was es ist.

Irgendwann beginnen Sie aktiv über den Sachverhalt und die damit verbundene Frage nachzudenken, darüber zu lesen und sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen. Es bildet sich allmählich ein Bild von dem, was Sie anfangs nur als disparat wahrgenommen haben. Und irgendwann erzählt das entstandene Bild Ihnen etwas über Sie selbst.

In mir löste das Gefühl Stolz diesen Reflexionsprozess aus. Immer mehr nahm ich Situationen wahr, die ich früher einfach hingenommen hatte, die aber nun in mir eine Vielzahl an Fragen aufwarfen. Fragen, in die ich Sie mitnehmen und durch die ich auch Ihre bewusste oder unbewusste Einstellung etwas verunsichern möchte. Elf Szenarien, anhand derer ich diverseste Facetten des Stolzes entwickeln möchte.

Ein erstes Bündel an Begegnungen dieser Art hatte ich seit einiger Zeit in recht stereotypen Serien und Filmen aus der Traumfabrik Hollywood. Prinzipiell sind die Titel unerheblich, denn man könnte sie beliebig austauschen.

Szenario eins. Der Held (vorzugsweise männlich) einer Geschichte hat vor vielen Jahren (ebenfalls vorzugsweise) seinen Vater im Krieg verloren. Deshalb ist auch er zur Marine oder dergleichen gegangen. In einem Akt grenzenloser und teils gedankenloser Auf-Opferung in einer für die Welt lebensbedrohlichen Situation rettet er ebendiese und riskiert selbst zu sterben. In der Regel ist es ein (ebenfalls männlicher) Vorgesetzter, Gouverneur, Bürgermeister oder Präsident, der dann im Anschluss an das Wagnis an den Helden herantritt, ihm mit theatralischem Pathos die Hand auf die Schulter legt, ihm eine Medaille überreicht und sagt: „Dein Vater wäre stolz auf dich (gewesen)!“ Unterstrichen von getragener Musik blickt der Held mit sonst völlig unüblichen Tränen in den Augen den Vorgesetzten, Gouverneur, Bürgermeister oder Präsidenten an, und der Zuschauer liest in seinem Blick, wie dieser überaus maskuline Held fast schon in sein kindliches Ich regrediert und dass es keine Worte gäbe, die in diesem Moment eine größere Bedeutung für ihn haben könnten.

In einem ersten Brainstorming eruiere ich die nun für mich spürbaren Inkongruenzen. Selbst wenn ich ethische Überlegungen außen vorlasse, nämlich alle Soldaten als Helden zu feiern, da diese Huldigung häufig den Umstand verschleiert, dass Kriege allzu oft aus völlig unsinnigen Gründen geführt werden und der Tod vieler Soldaten auf absolut vernunftwidrigen, machistischen Entscheidungen beruht, so scheint mir der fiktive, postulierte Stolz des toten Vaters irgendwie unsinnig. Selbst wenn die Person, die vermutet, dass der verstorbene Vater vermeintlich stolz auf den Sohn wäre, den Vater gekannt hätte, weiß er natürlich nicht, ob dieser tatsächlich heute so fühlen würde. Er weiß nicht, ob der Vater zwischenzeitlich zu der Erkenntnis gekommen wäre, dass allein passive pazifistische Handlungen anzustreben sind, und er die Teilnahme des Sohnes an gewaltvollen Auseinandersetzungen heute vielleicht eher verurteilen würde (was zugegebenermaßen im US-amerikanischen Dunstkreis recht unwahrscheinlich anmutet).

Wieso kann der Interpreteur, also die selbst ernannte Ersatzvaterfigur, denn nicht selbst sagen, dass er stolz auf die Leistungen des Helden ist? Warum scheint es so viel mehr zu bedeuten, dass der verstorbene Vater diesen Stolz seinem Sohn gegenüber empfinden würde? Und würde der Stolz der Mutter, die vielleicht noch lebt, nicht auch ausreichen? Fungiert die Stolzbekundung eher als Trost und lieb gemeinte Kompensation? Als eine Floskel, um den in