Erkenne mich - M. Leighton - E-Book
SONDERANGEBOT

Erkenne mich E-Book

M. Leighton

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nichts in ihrem Leben hätte Sloane und Hemi darauf vorbereiten können, was sie miteinander entdecken: Besessenheit und Verstörung, Liebe und Besitzergreifen. Doch was sie vergeblich suchen werden, ist eine Zukunft. Bisher nimmt es keiner von beiden mit der Wahrheit genau. Und schon bald müssen sie feststellen, dass der Teufel im Detail steckt. Im Detail und in den Lügen. Wie weit werden zwei Menschen für die Liebe gehen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 421

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

»Es fühlt sich an, als wäre ich erst vor ein paar Minuten hergekommen – oder aber vor einem halben Leben. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Meine Gefühle Hemi gegenüber sind ähnlich zwiespältig. Eigentlich ist er ein Fremder für mich, und doch habe ich jedes Mal ein Flattern im Bauch, wenn er mich ansieht. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihn in- und auswendig zu kennen, so als wäre da … eine Verbindung zwischen uns. Aber nicht im üblichen Sinne. Es fühlt sich eher so an, als wäre hier eine Art Tauziehen im Gange – sowohl zwischen uns als auch in uns. Ich bin das behütete Mädchen, das versucht auszubrechen, sich von den Zwängen des bisherigen Lebens zu befreien. Ich bemühe mich, meine Angst, meine Zweifel und meine Zurückhaltung zu überwinden und zu leben, zum allerersten Mal in meinem Leben.

Bei Hemi ist der Fall anders gelagert.

Es kommt mir so vor, als wäre er schon vor langer Zeit ausgebrochen, als hätte er das Leben so richtig ausgekostet, bis etwas geschah, das ihm Einhalt geboten hat. Etwas, das ihn in voller Fahrt gestoppt und ihn zum Umdenken gezwungen hat. Dazu, das Tempo zu drosseln. Sich zu distanzieren.«

Natürlich könnte ich völlig falschliegen, aber was, wenn nicht? Können sich zwei Menschen wie wir in der Mitte treffen? Ist das überhaupt möglich?«

DIE AUTORIN

Michelle Leighton wurde in Ohio geboren und lebt heute im Süden der USA, wo sie den Sommer am Meer verbringt und im Winter regelmäßig den Schnee vermisst. Leighton verfügt bereits seit ihrer frühen Kindheit über eine lebendige Fantasie und fand erst im Schreiben einen adäquaten Weg, ihren lebhaften Ideen Ausdruck zu verleihen.

LIEFERBARE TITEL

Addicted to You – Atemlos

Addicted to You – Schwerelos

Addicted to You – Bedingungslos

The Wild Ones – Verführung

The Wild Ones – Verlangen

The Wild Ones – Verheißung

Roman

Aus dem Amerikanischen

Julia Flynn und Ursula C. Sturm

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel All The Pretty Lies

bei CreateSpace Independent Publishing Platform.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Taschenbucherstausgabe 12/2016

Copyright © 2015 by M. Leighton

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Nissen

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung von shutterstock/kostudio

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-17105-6V001

www.heyne.de

Rühme dich nicht des morgenden Tages;

denn du weißt nicht, was heute sich begeben mag.

(Lutherbibel 1912, Sprüche 27, 1)

Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter, denn die Zukunft ist für

jeden von uns nicht mehr als ein Versprechen.

Kapitel 1

SLOANE

»O Gott, ich kann nicht fassen, dass du das wirklich durchziehst«, sagt meine beste Freundin Sarah, als ich die Glastür zum Tattoostudio The Ink Stain öffne.

Obwohl ich es ihr gegenüber niemals zugeben würde, läuft mir tatsächlich ein leichter Schauer über den Rücken, als ich den Raum betrete. Ich war noch nie in einem derartigen Etablissement, deshalb fehlt mir der Vergleich, aber auf mich wirkt es ziemlich Furcht einflößend: Laute Musik erfüllt den Raum, in dem bis auf den schwarzen Tresen die gesamte Einrichtung aus glänzendem Metall zu bestehen scheint. Ich verdränge meine plötzlich aufkommende Nervosität und gehe weiter.

Während mein Blick über die atemberaubenden Skizzen an den Wänden gleitet, wird mir klar, warum dieses Studio einen hervorragenden Ruf genießt: Hier sind echte Talente am Werk. Sehr beruhigend.

»Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst, Sloane? Dein Vater macht dir garantiert die Hölle heiß, wenn er davon erfährt«, meint Sarah. Als ich abrupt stehen bleibe und mich zu ihr umzudrehe, stoßen wir beinahe zusammen, weil sie so dicht hinter mir gegangen ist und ebenfalls damit beschäftigt war, die Skizzen zu betrachten. Sie kann gerade noch abbremsen. »Huch!«, stößt sie hervor.

»Dad kann mir nicht mehr die Hölle heißmachen, denn seit genau …« – ich sehe mich in dem neonbeleuchteten Raum um und kneife die Augen zusammen, um auf einer Uhr in Form eines Totenschädels mit zwei gekreuzten Knochen als Zeiger die Zeit abzulesen – »… sieben Minuten haben die dickköpfigen Männer der Familie Locke nicht mehr das Recht, mich herumzukommandieren. Das hier ist die erste Demonstration meiner Unabhängigkeit.«

Sarah schnaubt. »Kommt mir eher wie eine Rebellion vor.«

»Wortklauberei«, entgegne ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wie auch immer, ich lasse mich jetzt tätowieren, und niemand wird mich davon abhalten.«

»Aber … hast du denn gar keine Angst?«, fragt sie besorgt.

Genau deshalb mag ich Sarah so gern. Ich schenke ihr mein sanftestes Lächeln. »Nein. Wovor denn auch?«

Mit einem aufmunternden Nicken in ihre Richtung trete ich zu dem schwarz lackierten Tresen und drücke auf die Klingel, die dort steht.

Während wir warten, bis jemand kommt, bewundere ich erneut die Kohlezeichnungen, die an den Wänden ausgestellt sind und von einer geschickten Handführung und einem guten Auge zeugen. Das lässt mein Künstlerherz unwillkürlich höherschlagen.

Eine tiefe Stimme reißt mich aus meinen Betrachtungen. »Kann ich dir helfen?«

Die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich mich umdrehe, um meinen Wunsch zu äußern. Das Kunstwerk, das ich vor mir habe, ist mit Abstand das beeindruckendste im ganzen Laden. Die kantigen maskulinen Züge des Mannes scheinen wie aus Stein gemeißelt. Wie mit Lichtblitzen ausgeleuchtet, fallen mir einzelne Partien auf: die markanten Augenbrauen, die strahlenden Augen, die hohen Wangenknochen, die perfekten Lippen. Genau auf diesen Lippen ruht mein Blick, als der Mann die Mundwinkel nach oben zieht. Mir ist bewusst, dass ich ihn anstarre, und ihm ist es auch nicht entgangen. »Na, schon was gesehen, das dir gefällt?«

Ich sehe ihm flüchtig in die dunklen Augen und spüre, wie ich unter seinem spöttischen Blick erröte. »Nein«, erwidere ich ganz automatisch, und erst als sich eine seiner gepiercten Augenbrauen nach oben wölbt, wird mir klar, wie hochnäsig meine Antwort auf ihn wirken muss. »Ich meine, ich weiß bereits, was ich will.«

Spätestens als er auch die zweite Augenbraue hebt, fangen meine Wangen an zu glühen. Zweifellos haben sie inzwischen die Farbe eines reifen roten Apfels angenommen.

»Ich mag es, wenn eine Frau weiß, was sie will.«

Mir bleibt der Mund offen stehen, denn es hat in meinem ganzen Leben noch nie jemand mit mir geflirtet. Alle Typen, die mir bisher über den Weg gelaufen sind, hatten viel zu viel Respekt vor meinen Brüdern und meinem Vater. Deshalb habe ich auch nicht den geringsten Schimmer, wie ich mich verhalten soll. Ich stehe einfach mit hochrotem Kopf da und ärgere mich über mich selbst.

Scheiße!

Meine verdatterte Reaktion scheint ihn zu amüsieren, denn er lacht leise. Der Klang seiner Stimme fühlt sich an wie schwarze Seide, die kühl und sanft über meine Haut gleitet.

Mein Gesicht wird noch heißer. Herrje, ist das peinlich! Da mir nichts Besseres einfällt, unterbreche ich den irritierenden Blickkontakt und beginne, in meiner Tasche nach meiner Skizze zu kramen. Ich atme einmal tief durch in dem Versuch, meine Fassung wiederzugewinnen. Schließlich habe ich das Gesuchte gefunden und reiche es ihm wortlos.

Er nimmt mir das Blatt aus der Hand und sieht mir, ehe er einen Blick darauf wirft, noch einmal kurz in die Augen. Ich verfolge, wie er die Skizze zunächst flüchtig betrachtet und umdreht, als er merkt, dass er sie verkehrt herum hält.

Geduldig warte ich ab, während er die Zeichnung aufmerksam studiert. Er hat den Kopf gesenkt, sodass seine Miene kaum zu erkennen ist. Die langen, dichten Wimpern werfen einen Schatten auf seine Wangen.

Dann nickt er knapp und hebt den Blick. Wieder sieht er mich an. Vorhin hatte ich aus der Entfernung die Farbe seiner Augen nicht genau ausmachen, sondern lediglich erkennen können, dass sie dunkel sind und sein Blick etwas Bezwingendes hat. Jetzt wird mir bewusst, dass sie tiefblau sind. Eine solche Augenfarbe ist mir in meinem ganzen Leben noch nie untergekommen, und sein durchdringender, stählerner Blick raubt mir fast den Atem.

»Das ist gut. Wer hat das gezeichnet?«

Mein Herz schlägt Kapriolen. »Ich.«

Ein anerkennendes Lächeln huscht über sein Gesicht, verschwindet jedoch genauso schnell, wie es gekommen ist. Der ersten Frage folgen sogleich zwei weitere. »Ist das maßstabsgetreu? Möchtest du, dass ich genau diese Farben verwende?«, will er wissen, während er zu dem glänzenden Tresen hinübergeht. »Ich heiße übrigens Hemi.«

Hemi.

Was für ein sonderbarer Name! »Hemi? Ist das nicht so ein spezieller Automotor?«, platze ich heraus.

Er mustert mich erneut mit einem amüsierten Gesichtsausdruck. »Jep.«

Hemi. Das passt. Ich kann durchaus Parallelen zu einem Motor erkennen. Einem großen, leistungsstarken Motor.

»Ich bin Sloane. Ja, die Skizze ist maßstabsgetreu, und die Farben sind so, wie ich sie gern hätte.«

Hemi nickt wieder. Er legt ein paar Formulare auf den Tresen. »Wo hättest du es denn gern?«

Ich habe wirklich keine Ahnung, wieso ich schon wieder rot werde. »Die halb geöffnete Muschel hätte ich gerne auf der rechten Hüfte, etwas nach hinten versetzt, und die herausflatternden Schmetterlinge sollen an der Seite entlang nach oben und etwas nach vorne fliegen.«

Er nickt zwar, runzelt aber die Stirn. »Hmmm«, murmelt er vor sich hin. »Lass uns erst den Papierkram erledigen, dann gehen wir gleich mal nach hinten. Ich habe gerade keinen anderen Kunden.«

»O-okay.«

Hemi erklärt mir, was ich da unterschreibe (Freigabe, Haftungsausschluss und Einverständniserklärung) und was es bedeutet, nämlich: Hey, wenn wir es verpfuschen, dann ist das allein dein Problem! Du bist volljährig und hast uns erlaubt, deinen Körper dauerhaft zu zeichnen. Wenn es dir nicht gefällt, dein Pech. Danke und einen schönen Tag noch. Trotzdem zögere ich nicht einen Augenblick. Ich weiß, was ich tue. Anfänglich war ich nervös, aber jetzt, da ich Hemi kennengelernt habe, bin ich mir sicher, dass ich in guten Händen bin. In warmen, fähigen Händen.

Okay, vielleicht bin ich auch bloß von seiner Erscheinung geblendet.

Wie dem auch sei, ich unterschreibe rasch, denn ich will zum nächsten Teil übergehen.

Ich reiche Hemi die Formulare und den Kugelschreiber. Er schiebt die Formulare zu einem ordentlichen Stapel zusammen und legt sie beiseite, dann mustert er mich erneut.

»Bist du so weit?«, erkundigt er sich. Zweifellos ist er sich dessen nicht bewusst, aber bei dieser Frage geht es für mich um weit mehr als nur meine Bereitschaft, tätowiert zu werden.

Dasselbe gilt für meine Antwort. Ich nicke nachdrücklich. »Ja.«

Er deutet mit dem Kopf auf die Tür, durch die er vorhin gekommen ist. »Okay, dann mal los.«

Er geht nach nebenan, und ich drehe mich um und will nach Sarahs Hand greifen, stoße jedoch auf Widerstand.

»Vergiss es! Du ziehst mich da nicht mit hinein. Ich werde ganz sicher ohnmächtig.«

»Was? Ich bin doch diejenige, die sich millionenfach mit einer Nadel stechen lässt. Warum, um Himmels willen, solltest du ohnmächtig werden?«

»Aus Mitgefühl.«

Ich neige den Kopf zur Seite. »Sarah, mach dich nicht lächerlich. Ich möchte, dass du bei mir bist, während ich tätowiert werde.«

Sie befreit sich aus meinem Griff. »Ich mag dich wirklich, Sloane, aber solche Läden wie dieser hier sind perfekt, um sich Hepatitis einzufangen. Du sitzt auf dem Stuhl, aber ich muss stehen, und wenn ich das Bewusstsein verliere, lande ich mit dem Gesicht voran in fremdem Blut. Also nein danke.«

»Sarah, da ist kein Blut am Boden.«

»Woher willst du das wissen? Du warst doch noch nie in einem Tattoostudio.«

»Na und? Sieh dich doch mal um! Hier ist es blitzsauber. Es riecht sogar sauber, und das ist sicher nicht so leicht zu bewerkstelligen bei all den betrunkenen, stinkenden Leuten, die hierherkommen.«

»Damit unterstützt du mich nur in meiner Argumentation. Ich komme auf keinen Fall mit rein. Ich warte hier drüben auf dich.« Damit dreht sie sich zu einem der ledergepolsterten Chromsessel um, die entlang der Wand stehen.

»Also gut, dann versäumst du eben einen der bedeutendsten Augenblicke meines Lebens. Aber das ist schon okay. Ich mag dich trotzdem.«

Mit einem brunnentiefen Seufzer drehe ich mich zur Tür um. Hemi ist inzwischen im Nebenraum verschwunden. Ich folge ihm langsam.

Hinter mir höre ich ein frustriertes Knurren, gefolgt vom Klonk-Klonk-Klonk von Sarahs Plateauschuhen, die sich auf mich zubewegen. »Okay, aber wenn ich ohnmächtig werde und mir irgendeine eklige Pilzerkrankung im Gesicht zuziehe, dann übernimmst du die Arztrechnungen und die Kosten für etwaige Schönheitsoperationen.«

Ich grinse breit und hake mich bei ihr unter. »Ich werde dafür sorgen, dass dein Gesicht keinen Kontakt mit dem Boden hat. Versprochen.«

»Ah ja? Sonst machst du doch nie Versprechungen«, stellt sie fest und beäugt mich skeptisch, während wir nach nebenan gehen.

»Falsch – ich mache nur nie leere Versprechungen. Aber dieses Versprechen kann ich halten.«

Wir bleiben stehen und sehen uns im Raum um. Zwei weitere Kunden, die gerade tätowiert werden, blicken zu uns herüber. Sie erwecken nicht den Anschein, als würden sie Höllenqualen leiden. Im Gegenteil, einer der beiden wirkt ziemlich verschlafen. Oder betrunken. Ich sehe der schmerzvollen Prozedur, zu der ich gerade schriftlich meine Einwilligung gegeben habe, nun schon etwas gelassener entgegen.

Ich schiebe Sarah weiter. Hier drin sind die Deckenlampen direkt über den drei Tätowierstühlen platziert, der Rest des Raums ist in ein schummriges Licht getaucht, das für eine behagliche Atmosphäre sorgt.

Hemi steht in einer abgetrennten Nische im hinteren Teil des Raums, in der sich ein Tätowierstuhl mit verstellbarer Rückenlehne, ein Sessel, eine Art Rollwagen und eine kleine Kommode mit einem Spiegel darüber befinden.

Ich gehe zu ihm und will gerade auf den Stuhl klettern, als er mich bremst. »Warte. Zeig mir erst, wo genau du die Muschel haben willst, bevor du dich setzt. Vielleicht musst du dich auf den Bauch oder auf die Seite legen.«

Schon wieder werde ich rot. Ich drehe Hemi die rechte Körperseite zu und klopfe mir auf die Hüfte, dorthin, wo er die Muschel tätowieren soll. »Hier.«

Er geht neben mir in die Hocke und hebt den Saum meines Tops. Dann lässt er die Finger an meiner Seite nach oben wandern. »Und die Schmetterlinge hier entlang, ja?«

Ich beiße mir auf die Lippen, denn bei der Berührung seiner warmen Hände läuft mir ein wohliger Schauder über den Rücken. Er sieht mit seinen unglaublich blauen Augen erwartungsvoll zu mir hoch. Ich nicke.

»Okay, dann leg dich bitte auf den Bauch«, befiehlt er und betätigt ein Pedal am Boden, um Rückenlehne und Fußteil des Stuhls in eine waagerechte Position zu verstellen. »Bevor du dich hinlegst, solltest du deine Shorts aufknöpfen«, meint er beiläufig.

»Wie bitte?«

Hemi mustert mich mit einem belustigten Blick. »Ist irgendetwas unklar?«

»Ich soll die Hose ausziehen? Hier drinnen?«

»Nein, du musst sie nur aufknöpfen und ein wenig öffnen, damit ich problemlos an die Stelle komme, an der du tätowiert werden willst.«

»Oh«, sage ich und komme mir dämlich vor. »Okay.«

Ich klettere auf den Stuhl und öffne Knopf und Reißverschluss meiner Shorts ein wenig, ehe ich mich auf den Bauch lege. Am liebsten würde ich den Kopf auf meine verschränkten Armen betten, stattdessen starre ich jedoch auf einen Punkt direkt vor mir. Sarah kommt in mein Blickfeld und lässt sich in den Sessel gegenüber von mir fallen. Ich betrachte sie einige Sekunden lang, doch sie ist vollauf mit ihrem Handy beschäftigt, also lege ich die Wange auf meine verschränkten Finger und spähe zu Hemi hinunter, der auf der Höhe meiner Taille auf einem Drehstuhl sitzt. Sein Anblick ist ohnehin ungleich interessanter.

Die untere Hälfte meines Oberkörpers wird von einer langarmigen Lampe ausgeleuchtet.

Ich halte den Atem an, als Hemi nach dem Bund meiner Shorts greift und ihn nach unten schiebt, gerade so tief, dass ihn der Stoff nicht bei der Arbeit stört. Jetzt befindet sich nur noch mein Slip zwischen ihm und meiner Haut.

Wie gebannt verfolge ich, wie er einen Finger unter die elastische Spitze meines Höschens schiebt und es hinunterzieht, registriere die Wärme seiner Hand auf meiner nackten Haut. Er streicht mir mehrmals bedächtig mit der Handfläche über die Hüfte, vor und zurück, während er sich noch einmal die Zeichnung ansieht. Dann fährt er mit der Fingerkuppe über meine Haut, als wollte er die Skizze auswendig vorzeichnen.

Er hält inne und hebt den Blick. »Also, ich fände es besser, die Muschel etwas nach oben in Richtung Taille zu verschieben«, sagt er und beschreibt dabei gedankenverloren mit seinem Daumen einen Bogen auf meiner Hüfte. »Und außerdem sollten die Schmetterlinge an einer unsichtbaren, flachen Schlangenlinie entlangflattern, ungefähr hier …« Seine Finger wandern in einer wellenförmigen Bewegung an meiner Seite entlang nach oben. »Das sieht bestimmt besser aus als eine gerade Linie.«

Ich weiß genau, was er meint, und ich stimme ihm zu. Allerdings habe ich Schwierigkeiten, klar zu denken und zu antworten, solange seine Hände auf mir liegen.

»Klingt gut. Tu, was immer du für richtig hältst. Du bist der Experte.«

Hemi zwinkert mir grinsend zu. »Das höre ich gern.« Er dreht sich um und nimmt von dem Rollwagen hinter ihm Desinfektionsmittel und Watte, einen Marker und meine Skizze. Letztere deponiert er auf meinem Hintern. »Das ist dein erstes Mal, stimmt’s?«, fragt er, ohne mich anzusehen, weshalb er auch nicht bemerkt, wie mir erneut die Röte in die Wangen steigt. Er hat ja keine Ahnung, wie recht er hat – in mehr als nur einer Hinsicht. Mein Vater ist Polizist, und meine drei großen Brüder sind es ebenfalls. Unter diesen Umständen ist es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, mit einem Typen auszugehen. Dazu kommt alles andere, was sich in meinem Leben ereignet hat, als ich klein war. Kein Wunder also, dass ich mit einundzwanzig Jahren noch Jungfrau in Sachen Tätowieren bin – und in so ziemlich jedem anderen Bereich ebenfalls.

»Ja«, antworte ich verlegen.

Wieder mustert mich Hemi. »Keine Sorge, bei mir bist du in besten Händen.« Keine Ahnung warum, aber ich glaube ihm. »Es kann allerdings sein, dass wir zwei oder drei Sitzungen brauchen werden. Ich will nicht, dass es dir zu viel wird – es sind doch ziemlich viele Schmetterlinge. Außerdem ist man im Rippenbereich meist schmerzempfindlicher, und schwieriger ist es auch.«

»Das heißt, wir werden heute wahrscheinlich nicht ganz fertig?«

»Ich glaube nicht. Lass uns mit der Muschel und ein bis zwei Schmetterlingen anfangen, und dann sehen wir weiter, je nachdem, wie es dir geht. Ich möchte nicht, dass es heute zu lange dauert. Es ist besser, wenn wir einen zweiten Termin vereinbaren.«

Ich darf ihn wiedersehen? Aber gern.

»Gute Idee.«

Hemi betrachtet mich schweigend und mit ernster Miene. Diesmal wirkt er nicht belustigt. Sein Blick ist lediglich … freundlich und interessiert. »Bist du immer so unkompliziert?«

Ich komme gar nicht dazu, mir eine schlagfertige, flirtende (oder dumme) Antwort zu überlegen, denn jetzt meldet sich Sarah zu Wort, zum ersten Mal, seit ich hier liege. »Schön wär’s! Normalerweise ist sie stur wie ein Esel.«

»Dann ist sie also nur bei mir so«, stellt er fest und starrt mich mehrere Sekunden lang an. »Eine Frau, die nur bei mir unkompliziert ist. So gefällt mir das«, meint er dann grinsend.

Verdammt. Schon wieder glüht mein Gesicht. Und dann spüre ich die feuchte Kühle eines in Alkohol getränkten Wattebauschs, mit dem Hemi meine Haut auf das Kommende vorbereitet. Meine gesamte Aufmerksamkeit gilt der warmen Hand, die auf meiner Hüfte ruht. Mich festhält, damit ich mich nicht bewege.

Kapitel 2

HEMI

Ich bemühe mich, der sanftweichen, warmen Haut, die sich unter meiner Hand wie Seide anfühlt, keine Beachtung zu schenken, und versuche, die Art, wie diese Sloane mich ansieht, zu ignorieren. Diesen Blick, der mir so vorkommt, als würde sie sich vorstellen, dass ich ihr die Shorts ganz ausziehe. Wenn sie das zuließe, würde ich mit ihr Dinge anstellen, die ihr für den Rest ihres Lebens die Schamesröte ins Gesicht triebe, wann immer sie daran denkt. Aber auch das versuche ich zu verdrängen, genau wie meinen Frust darüber, dass ich keine Zeit habe, jemandem wie ihr näherzukommen.

Seit ich im zarten Alter von vierzehn Jahren das erste Mal eine Frau flachgelegt habe, die bedeutend älter war als ich, sind mir erfahrene Bettgenossinnen immer am liebsten gewesen. Je wilder, desto besser. Ich habe noch nie ein Mädchen entjungfert, und ich verspüre auch nicht das Bedürfnis danach. Ich mag Frauen, die wissen, was sie wollen und wie sie es bekommen. Frauen, die wissen, wo die Tür ist, noch ehe ich aus dem Bad gekommen bin. Auf solche Frauen bin ich spezialisiert. Und bis heute habe ich mich für keine anderen interessiert. Was also hat es mit diesem Mädchen mit den unschuldigen braunen Augen und dem perfekt geformten Po auf sich, dass ich hier mit einem Mega-Ständer sitze, der wie verrückt pocht?

Du brauchst dringend mal wieder Sex, mein Junge, denke ich, während ich den Umriss einer Muschel auf die blasse, makellose Haut zeichne. Und zwar möglichst bald.

Einen Augenblick lang fehlt mir der egoistische Scheißkerl, der ich einmal war. Früher, als mein Leben noch nicht einem einzigen Zweck diente.

Kapitel 3

SLOANE

»Wann bist du gestern Abend nach Hause gekommen?«, will mein älterer Bruder Sigmond wissen, den alle nur Sig nennen.

»Spät.«

»Was du nicht sagst, Besserwisserin. Ich war mit den Jungs nach Feierabend noch im Cuff’s, und als ich gegen halb zwei heimkam, warst du noch nicht da.«

»Und? Mit einundzwanzig bin ich dir keine Rechenschaft mehr schuldig.«

Sig reißt die Augen auf. Sie sind dunkelbraun, genau wie meine. »Puh, da ist jemand ganz schön empfindlich heute. Man wird ja wohl noch fragen dürfen, oder?«

Ich seufze. »Natürlich. Ich bin bloß müde. Entschuldige.«

Sig ist nur zwei Jahre älter als ich und steht mir seit jeher näher als Scout und Steven, meine beiden anderen Brüder. Er ist ein Spaßvogel und hat sich im Gegensatz zu ihnen mir gegenüber nie als Vater aufgespielt. Bei Scout ist es schon übel genug, aber Steven ist der Schlimmste. Als Ältester hat er es sich gemeinsam mit meinem Vater zur Aufgabe gemacht, mich wie eine Prinzessin zu beschützen. Sie haben alles darangesetzt, mich zu einer feinen Lady zu erziehen – gerade weil bei uns keine im Haus war. Aus diesem Grund stehe ich unter ständiger Beobachtung, potenzielle Freunde und Verehrer werden in die Flucht geschlagen, und jedes Mal, wenn ich fluche, werde ich bestraft. Kein Wunder also, dass Sarah meine einzige Freundin ist, dass ich immer noch Jungfrau bin und mein Lieblingswort »Scheibenkleister« ist. Damit musste ich mich abfinden, wollte ich nicht für die gesamte Dauer meiner Kindheit und Jugend Hausarrest bekommen. Leider war den Männern in meiner Familie nicht bewusst, dass selbst eine feine Lady so einiges an Fäkalsprache aufschnappt, wenn sie tagein, tagaus damit konfrontiert wird. Aber letztendlich habe ich gelernt, damit zu leben.

»Reich mir bitte mal die Kaffeesahne«, sagt Sig und stößt mich leicht mit dem Ellbogen an. Hmpf. Warum holt er sie sich nicht selbst? Schließlich ist er ein Zweimeterhüne. Ich dagegen muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Kaffeesahne, die im obersten Fach steht, heranzukommen. Als er sich umdreht und dabei mit dem Pistolenhalfter meine frisch tätowierte Hüfte streift, schnappe ich unwillkürlich nach Luft.

»Was war denn das?«

»Was?«

»Du hast nach Luft geschnappt, als hätte ich dir wehgetan.«

»Habe ich nicht.«

»Hast du doch.«

»Es ist nichts weiter. Du hast mich mit deinem Pistolenhalfter gestreift.«

Sig blickt mit gerunzelter Stirn von dem Halfter zu meiner Hüfte und hebt dann den Blick. »Und?«, fragt er mit schmalen Augen. »Das tut doch nicht weh. Bist du verletzt? Und wenn ja, warum?«

Angesichts seiner sorgenvollen Miene wird mir klar, dass ich um ein Geständnis nicht herumkommen werde, sonst trommelt Sig noch vor dem Frühstück die ganze Familie zusammen.

»Ich habe mich tätowieren lassen«, gestehe ich. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch ich komme ihm zuvor: »Ich will kein Wort hören! Und wehe, du verrätst irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen – ich schwöre dir, dann erzähle ich Bear alles über dich – alle peinlichen Geschichten, die mir einfallen.«

So, das sitzt. Bear ist Sigs Partner, und sollte ich ihm ein paar Geheimnisse meines Bruders anvertrauen, kann ich mich darauf verlassen, dass er ihn ewig damit aufziehen wird. Dessen ist sich Sig voll und ganz bewusst. Spielt man einem Cop Informationen zu, mit denen er einen Kollegen veräppeln, erpressen oder sonst irgendwie bloßstellen kann, ist das, als gäbe man ihm eine geladene Pistole und eine Zielscheibe. Sig weiß das genauso gut wie ich.

Er presst die Lippen zusammen – ein sicheres Zeichen dafür, dass ich gewonnen habe. »Also ehrlich, Sloane, du solltest wirklich etwas vorsichtiger sein.«

»Ich bin vorsichtig, Sig. Das war ich schon immer. Und es ist kein bisschen unvorsichtig, sich tätowieren zu lassen. Ich wollte einfach gern ein Tattoo haben. Und ich will mein Leben genießen, solange es geh…«

Sig hebt die Hand. »Stopp. Ich will nichts mehr hören. Ich will nicht einmal, dass du diesen Satz zu Ende sprichst.«

Augenblicklich klappe ich den Mund zu und bereue meine Worte, die unweigerlich schmerzhafte, traurige Erinnerungen wachgerufen haben, auch wenn das, was ich gesagt habe, mein heiliger Ernst war. »Also, dann lass mal sehen.«

»Es ist noch die Folie darüber.«

»Und? Die ist doch wohl durchsichtig, oder?«

Zögernd lasse ich die Pyjamahose über das Stück Plastikfolie, das mir Hemi auf die Hüfte geklebt hat, nach unten gleiten. Sig betrachtet die Tätowierung und runzelt missbilligend die Stirn.

»Eine Muschel und zwei Schmetterlinge? Was, zum Teufel, soll das bedeuten?«

»Es ist noch nicht fertig. Das ist erst der Anfang. Es kommen noch mehr Schmetterlinge dazu.«

»Wohin?«

»An der Seite entlang hinauf.«

»Sloane …«, sagt er warnend.

»Sig«, kontere ich und sehe ihm dabei direkt in die Augen. »Es ist mein Körper, mein Leben, meine Entscheidung.«

»Aber du bist …«

»Kein Aber. Ihr müsst mich endlich mein Leben leben lassen.«

Er verdreht die Augen. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was soll das bedeuten?«

»Ich fühle mich, als wäre ich mein bisheriges Leben lang in einer Muschel eingeschlossen gewesen. Jetzt endlich, nach all den Jahren, werde ich sie aufbrechen und meine Flügel ausbreiten.«

»Aber du weißt doch, warum …«

»Ja, ich weiß, Sig, und ich liebe euch alle dafür. Aber es ist an der Zeit, dass ich mal ein bisschen lebe. Ich muss meine eigenen Entscheidungen treffen und mein eigenes Ding machen. Mom war Mom, und ich bin ich. Ihr könnt mich nicht den Rest meines Lebens einsperren, um mich vor allen möglichen Gefahren zu bewahren. Außerdem gibt es Dinge, vor denen ihr mich nicht beschützen könnt, auch wenn ihr es noch so gern tun würdet.«

Sig schweigt eine Weile. »Wann lässt du den Rest machen?«, fragt er dann.

»Heute Abend.«

»Gut«, antwortet er und rührt einen Löffel Sahne in seinen Kaffee. »Pass bloß auf, dass Dad oder Steven dich nicht erwischen, wenn du nach Hause kommst.«

»Ja«, entgegne ich mit einem tiefen Seufzer. »Ich hatte schon fast vergessen, was für eine unglaubliche Nervensäge Steven sein kann.«

»Er wird sicher nicht lange bleiben. Es geht ihm bestimmt selbst gehörig gegen den Strich, dass er wieder hier wohnt. Er ist ja nur deshalb wieder eingezogen, weil das Zusammenleben mit Duncan nicht mehr geklappt hat. Spätestens bis Weihnachten sind wir ihn los, wetten?«

»Meinst du?«

»Hundertprozentig. Er ist bereits auf der Suche nach einer günstigen Wohnung.«

»Warum ziehst du nicht mit ihm zusammen? Das würde ihm die Sache ungemein erleichtern.«

Sig reißt den Mund auf und tippt sich an die Stirn. »Jetzt mach aber mal halblang, Schwester! Ich würde eher einen Teller Katzenköttel verdrücken, als den Rest meines Lebens mit Steven zusammenzuleben.«

»Es wäre doch nicht für den Rest deines Lebens. Irgendwann wird sicher einer von euch heiraten.«

»Ich soll mit Steven zusammenwohnen, so ganz allein und ohne jemanden als Puffer dazwischen? Glaub mir, auch wenn es nicht für den Rest meines Lebens wäre, es würde sich garantiert danach anfühlen.«

Ich kann ein Kichern nicht unterdrücken. Armer Steven. Er ist ein toller Kerl, aber er nimmt das Leben unglaublich ernst und ist meist der Spielverderber in unserem Haus. In dieser Hinsicht ähnelt er Dad, genau wie Scout. Wobei Scout eigentlich nach beiden Elternteilen gleichermaßen kommt. Sig und ich dagegen sind wie unsere Mom richtige Frohnaturen. Der Fairness halber sollte ich wohl erwähnen, dass Steven schon fast ein Teenager war, als Mom krank wurde, weshalb es ihn am meisten mitgenommen hat. Natürlich waren wir alle am Boden zerstört, aber Steven und Dad haben am meisten gelitten, und es kommt mir oft so vor, als hätten sie durch Moms Krankheit und ihren Tod viel ihrer Lebensfreude verloren.

»Du solltest ihm gegenüber ein bisschen nachsichtiger sein, Sig. Er hatte es nicht leicht.«

»Du hattest es auch nicht leicht.«

»Wir alle hatten daran zu knabbern.«

»Aber nur Steven ist davon überzeugt, dass er sich deswegen wie ein Saftsack benehmen kann.«

»Das ist eben seine Art, damit umzugehen, Sig.«

»Und wenn schon. Ich habe jedenfalls nicht die geringste Lust, mir über einen längeren Zeitraum hinweg tagtäglich seinen Mist anzuhören. Es war schlimm genug, bis zur Volljährigkeit mit Steven unter einem Dach wohnen zu müssen.«

»Stimmt, aber du musst zugeben, dass er das perfekte Opfer für unsere Streiche war.«

»Allerdings!« Sig grinst und nickt. »Weißt du noch, wie wir das Abführmittel in seine Geburtstagsbrownies gemischt haben?«

Bei dem Gedanken pruste ich los. »Er hat damals zwei volle Tage lang das Haus hüten müssen. Ich dachte, er kommt nie wieder vom Klo runter.«

»Das waren noch Zeiten …«, sinniert Sig mit einem wehmütigen Blick aus dem Küchenfenster und nippt vorsichtig an seinem Kaffee. »Schöne Zeiten.«

Er hat recht. Es gibt immer schöne Momente, selbst in richtig schlimmen Zeiten. Man muss nur die Augen offen halten, damit man sie nicht verpasst.

❊ ❊ ❊

Draußen ist es stockdunkel, als ich das Studio betrete. Beim Öffnen der Ladentür registriere ich als Erstes die Musik. Es läuft ein ziemlich alter Song – Still Remains von den Stone Temple Pilots. Ich kenne das Lied. Es hat etwas Intimes und … Erotisches. Keine Ahnung, ob ich das schon immer so empfunden habe, aber jetzt, heute Abend, fährt mir der Song so richtig ein und bringt tief in mir etwas zum Schwingen.

Wie gestern Nacht ist der Tresen unbesetzt, und ich will gerade klingeln, als Hemi in der Tür zum Nebenraum auftaucht. Er trägt ein eng geschnittenes schwarzes T-Shirt, schmale schwarze Jeans und klobige schwarze Stiefel. Er wirkt gefährlich. Und sehr attraktiv.

Bei seinem Lächeln vollführt mein Herz einen Sprung. »Willkommen zurück«, grüßt er und mustert mich fragend. »Heute ganz allein?«

»Ja«, antworte ich.

»Dein Timing könnte nicht besser sein. Mir war schon richtig langweilig.«

»Nicht viel los heute?«

»Ungewöhnlich wenig.« Er gibt mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich ihm folgen soll.

Im Hinterzimmer brennt nur ein einziges Licht – jenes über dem Stuhl, auf dem Hemi mich letztes Mal tätowiert hat –, was der Situation noch zusätzlich eine intime Note verleiht. Die Tatsache, dass wir allein sind, trägt das ihre dazu bei.

»Bist du ebenfalls allein?« erkundige ich mich nun.

»Ja. Die anderen haben schon Feierabend gemacht.«

»Du hättest nicht meinetwegen so lange bleiben müssen. Ich hätte auch früher kommen können.« Bei der Terminvereinbarung hatte ich angenommen, es sei vorher nichts frei gewesen.

Er dreht sich zu mir um und klopft auf den Stuhl, auf dem ich gleich liegen werde. »Ich übernehme gern die letzte Schicht. Nachts ist die Welt ruhiger. Es mag seltsam klingen, aber nachts habe ich ein besseres Gefühl für meine Arbeit und kann mich richtig darin vertiefen. Besonders, wenn es um eine Freihandtätowierung geht wie bei dir.«

»Das kann ich gut nachvollziehen«, sage ich, während ich mich auf den Stuhl setze. »Ich studiere Kunst und verstehe genau, was du meinst.«

Er lächelt. Einen kurzen Augenblick lang scheinen unsere Seelen jenseits aller Worte zusammenzufinden. Wahrscheinlich begreift nur ein Künstler, wovon Hemi spricht. Ich für meinen Teil jedenfalls weiß es genau. Für mich ist Zeichnen und Skizzieren die perfekte Kombination aus Eskapismus und Therapie. Es ist erfüllend und kathartisch. Ich frage mich, welche traumatischen Erlebnisse Hemi dabei verarbeitet. Welche Wunden bei ihm heilen müssen.

»Wir fangen wieder in der Bauchlage an, und wenn ich mit den unteren Schmetterlingen fertig bin, drehst du dich zur Seite, damit ich den Rest machen kann. Ich warne dich gleich vor: über den Knochen ist es deutlich schmerzhafter. Du wirst es wohl nicht sonderlich angenehm finden, auf den Rippen tätowiert zu werden.«

Ich nicke. »Das ist schon okay.«

»Ist es dir die Sache trotzdem noch wert?«

Wieder nicke ich. Die Schmetterlinge sind mir viel wichtiger, als ich jemals offen zugegeben hätte, sodass ich den Schmerz gern ertrage. »Ja«, sage ich.

Hemi sieht mir tief in die Augen, als wollte er in mich hineinblicken, um herauszufinden, wo die Schmetterlinge leben, wo sie herkommen und was sie durchgemacht haben. Dann sagt er: »So ist das immer bei wichtigen Tätowierungen.« Hm. Das klingt ja sehr mysteriös.

Ich lege mich auf den Bauch und bette den Kopf auf die verschränkten Arme, das Kinn an die Schulter gepresst. So kann ich Hemi bei der Arbeit beobachten. Ich verfolge, wie er nach meinem Hosenbund greift, genau wie gestern. Lächelnd blickt er zu mir hoch. »Kluge Wahl«, bemerkt er und schiebt eine Hand in den elastischen Bund meiner Yogahose. »Du weißt, was jetzt kommt. Hoch mit dir.«

Ich hebe das Becken an, und er zieht mir die Hose und den Slip gerade so weit hinunter, dass meine Hüfte freiliegt. Dann entfernt er die Folie. Seine Finger gleiten über den ersten Teil der Tätowierung, so sanft wie die Flügel der Schmetterlinge, mit denen er meinen Körper verziert hat. So sanft, dass mir Schauer über den Bauch und den Rücken laufen.

Er nickt. »Sieht gut aus. Bist du bereit für den Rest?«

Ich nicke ebenfalls. »Bin ich. Nur zu.«

Ich hole tief Luft, als die Tätowiermaschine zu summen beginnt.

Kapitel 4

HEMI

Für meine Konzentration ist es nicht gerade förderlich, Sloanes Körper unter meinen Händen zu spüren. Es fühlt sich an, als würde sie auf die leiseste Berührung von mir reagieren, und wie sie mich erst ansieht – gerade so, als sehnte sie sich danach, dass ich weit mehr mit ihr mache … Sie bringt mich total aus der Fassung. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, dass ich völlig entspannt bin, gerade wenn ich freihändig arbeite.

Ich glaube, was mich am meisten aus der Ruhe bringt, ist ihr Blick, der stets etwas Trauriges hat, gerade so, als hätte sie schon früh ein traumatisches Erlebnis gehabt, was aber vermutlich nur jemandem wie mir auffällt. Jemandem, der etwas Ähnliches durchgemacht hat. Aber was für Tragödien kann ein derart junges, unschuldiges Ding wie sie schon erlebt haben?

»Du studierst also Kunst.« Ich betreibe Small Talk. Mir ist jedes Mittel recht, um mich von ihrem Körper abzulenken, während ich einen Schmetterlingsflügel auf ihre Porzellanhaut tätowiere.

»Ja.«

»An der University of Georgia?«

Sie nickt. Der dortige Studiengang für Kunst ist ziemlich renommiert.

»Cool. Und was möchtest du nach dem Abschluss machen?«

Ich höre sie seufzen.

»Keine Ahnung.« Es klingt, als würde dieser Umstand sie bedrücken. Ich blicke zu ihr hoch. »Ich weiß, ich sollte mir darüber im Klaren sein, aber alles, was ich weiß, ist, dass ich zeichnen will. Ich möchte etwas Schönes schaffen, das für immer bleibt.«

»Dagegen ist doch nichts einzuwenden.«

»Naja, ich sollte mir damit meinen Lebensunterhalt verdienen können.«

»Hey, sieh mich an«, entgegne ich und hebe meine Tätowiermaschine. »Ich verdiene gutes Geld mit dem, was ich mache, und ich tue das, was ich am liebsten tue, nämlich zeichnen – nur eben auf einer etwas ungewöhnlichen Leinwand.«

Sie legt nachdenklich die Stirn in Falten. »So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

»Das tun die wenigsten«, erkläre ich und denke dabei insbesondere an meinen Vater.

»Wie hast du damit angefangen? Ich meine, wolltest du schon immer Tätowierer werden?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich war eine Weile auf der Suche, wie die meisten vermutlich. Dann habe ich vor ein paar Jahren jemanden kennengelernt und mich tätowieren lassen. Wie du hatte ich meine eigene Skizze dabei. Meine Arbeit hat ihr gefallen, und sie hat mich um weitere Skizzen gebeten. Danach hat sie mich unter ihre Fittiche genommen und mir das Handwerk von der Pike auf beigebracht. Es hat nicht lange gedauert, bis mir klar geworden ist, dass das Tätowieren genau mein Ding ist. Seither lebe ich davon.«

Warum, zum Teufel, breitest du quasi deine gesamte Lebensgeschichte vor diesem Mädchen aus? So viel hast du noch niemandem erzählt, seit du hierhergezogen bist.

Ich muss mich richtig zusammenreißen, um es dabei zu belassen. Normalerweise erzähle ich kaum je etwas über mich. Sonst findet am Ende noch jemand heraus, wer ich bin, und das darf unter keinen Umständen passieren.

»Sie?«

»Ja, sie.«

»Es gibt also auch weibliche Tätowierer?«

»Natürlich. Wir leben schließlich in Amerika, wo alle immer von Chancengleichheit reden.«

»Das war nicht … ich meine, so hatte ich das nicht gemeint«, stottert sie.

Ich lache. »Jedenfalls gibt es auch Tätowiererinnen, noch dazu einige sehr gute.«

»Ist es schwer zu lernen?«

»Nein. Die Technik kann man sich antrainieren. Das Schwierige ist der künstlerische Aspekt. Es gibt Dinge, die kann man weder unterrichten noch lernen – zumindest nicht so richtig. Die hat man drauf oder eben nicht. Der Rest ergibt sich mit der Zeit.«

»Das Tätowieren an sich kann man also lernen …«

»Jep.«

»… sofern man über eine gewisse künstlerische Begabung verfügt?«

»Genau.«

Ich denke mir nichts bei ihrer Frage, bis sie das Thema direkt anspricht.

»Du hast gesagt, dass meine Skizze gut ist. Könnte jemand wie du mir den Rest beibringen?«

Überrascht hebe ich den Kopf und versinke prompt in den Tiefen ihrer seelenvollen, hoffnungsvollen Augen. »Jemand wie ich? Klar.«

»Aber nicht du?«

»Nein.«

»Warum nicht? Du bist doch sehr gut.«

»Aber ich unterrichte nicht.«

»Hast du es denn schon mal versucht?«

»Nein. Das wollte ich nie.«

»Aber du …«

»Und will es immer noch nicht.«

»Oh«, sagt sie enttäuscht.

Ich skizziere den Umriss eines weiteren Schmetterlings und nähere mich dabei dem Saum ihres Oberteils. Im Grunde würde ich ihr mein Handwerk liebend gern beibringen. Die Vorstellung, sie regelmäßig zu sehen und so eng mit ihr zusammenzuarbeiten, ist äußerst reizvoll. Ich hätte große Lust darauf, jeden Zentimeter dieses straffen, zierlichen Körpers zu erforschen – zwei- oder dreimal vielleicht. Wenn ich noch dasselbe egoistische Arschloch wie früher wäre, würde ich das auch tun und nichts auf die Folgen geben. Aber ich habe mich verändert. Ich habe ein Ziel, und meine Vernunft sagt mir, dass es ein Fehler wäre. Im Moment kann ich keine derartige Ablenkung brauchen. Ich habe eine Mission, und mit einem Mädchen wie diesem ins Bett zu gehen, gehört nicht dazu.

Wir verfallen in Schweigen. In der Stille klingt das Surren der Nadel so laut wie noch nie.

Kapitel 5

SLOANE

Ich liege bewegungslos da und sage kein Wort, während Hemi die Umrisse weiterer Schmetterlinge auf meine Taille zeichnet. Dann beginnt er, die Schmetterlinge auszumalen, angefangen beim untersten. Mir fällt nichts mehr ein, was ich jetzt noch sagen könnte, und ich fühle mich etwas unwohl angesichts seiner ablehnenden Reaktion. Ich bin gekränkt, beinahe so, als hätte er mir einen Korb gegeben.

Während Hemi an mir arbeitet, versuche ich, mich wieder etwas aufzubauen. Ich rufe mir in Erinnerung, dass das Leben kurz ist und dass man sehr häufig (wie auch in diesem Fall) gut daran tut, sich an das Motto »jetzt oder nie« zu halten. Ich habe mir ein Herz gefasst und gefragt. Mehr konnte ich nicht tun. Jetzt kann ich die Sache abhaken.

Aber je länger ich hier liege und darüber nachdenke, desto mehr wünsche ich mir, Hemi hätte zugestimmt. Ich hätte furchtbar gerne gelernt, wie ich meine Kunstwerke auf der Haut eines Menschen verewigen und damit unwiderruflich seinen Körper und seine Seele prägen könnte.

Als das Summen der Pistole verstummt, blicke ich zu Hemi hinunter. »Du musst das T-Shirt ein bisschen höher schieben und dich zur Seite drehen«, sagt er.

Es klingt ganz beiläufig, und das finde ich auch gut so. Alles andere wäre peinlich gewesen, so als hätte ich ihn um etwas ganz anderes gebeten und eine Abfuhr erhalten. Ich muss unwillkürlich an all das denken, worum ich ihn gern bitten würde. Doch nein, das wäre zu riskant. Es wäre dreist und schamlos.

Aber das Leben ist kurz!, ermahnt mich eine Stimme ganz tief in meinem Inneren. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, in welche Richtung ein Szenario wie dieses sich entwickeln könnte, vor allem wenn Hemi offen für mein … Angebot wäre.

»Ist dir kalt?«, erkundigt er sich und unterbricht damit meine Gedankengänge.

Unsere Blicke kreuzen sich. »Nein, warum?«

»Du hast eine Gänsehaut«, bemerkt er und streichelt meine Seite mit seiner warmen Hand, was es ehrlich gesagt nicht besser macht.

Er sieht mir weiter in die Augen, während er die Hand nach oben und nach unten wandern lässt, als wolle er die Temperatur meiner Haut erforschen. Wieso tut er das? Ich habe ihm doch gesagt, dass mir nicht kalt ist. Warum berührt er mich dann auf diese Weise?

Was für Gedanken verbergen sich hinter diesen indigoblauen Augen?

Ich tue so, als würde ich nicht bemerken, dass er mich betrachtet, und frage ihn, auf welche Seite ich mich drehen soll.

»Dreh dich zu mir«, befiehlt er, ohne den Blick abzuwenden oder die Hand zu bewegen.

Ich lege mich auf die linke Seite, mit dem Gesicht zu Hemi. Nachdem ich es mir bequem gemacht habe, fährt er den Stuhl noch etwas nach unten, damit sich meine Hüfte auf einer für ihn angenehmen Höhe befindet. »Noch etwas näher zu mir bitte.«

Ich rutsche näher, nah genug, dass ich die Wärme, die er verströmt, an meinem entblößten Bauch spüren kann. Ich versuche angestrengt zu verhindern, dass ich erneut eine Gänsehaut bekomme. »Gut so?«, frage ich. Seine Nähe raubt mir fast den Atem, und die Umstände – das gedimmte Licht, die Tatsache, dass wir allein im Studio sind, weil es gleich Mitternacht ist, und dass er sich direkt neben meinem Körper befindet – tun ein Übriges.

Hemi beugt sich über mich und prüft, ob ich richtig liege und er in dieser Position gut arbeiten kann. Dann nickt er. »Ja, das geht. Jetzt das T-Shirt.«

Ich greife zwischen uns nach dem Saum meines Oberteils und ziehe es über die Rippen nach oben, um den Bereich freizulegen, den er nun tätowieren wird. Dann liege ich bewegungslos da und warte darauf, dass er mich berührt. Ich kann nicht anders, als tief einzuatmen, als ich seine Hände erneut auf mir spüre. Eine Hitzewelle erfasst meinen Körper, vom Kopf bis zu den Zehen.

»Wie weit willst du gehen?«, fragt Hemi mit rauer Stimme.

Ich starre ihn an. Er mustert mich ernst. »Wie bitte?«

»Wie weit soll ich gehen? Wo soll der oberste Schmetterling sein?«

Mein Puls rast, und ich tue mein Bestes, meine unkeuschen Gedanken im Zaum zu halten und wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.

»Ähm, bis hierher ungefähr«, antworte ich und zeige auf eine Stelle ziemlich weit oben, fast schon unter dem Arm.

»Dann wirst du deinen BH öffnen müssen, sonst ist er mir im Weg«, erklärt er mir.

Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Hoffentlich denkt er nicht, dass ich es genau darauf angelegt habe. Dass ich ihn anmachen will oder so.

»Oh … Okay, dann hör einfach knapp darunter auf.«

»Sicher? Ich will dich schließlich zufriedenstellen«, sagt er mit Unschuldsmiene, als wäre ihm gar nicht bewusst, was für Zweideutigkeiten er da von sich gibt.

Oder etwa doch?

»Ich werde auf jeden Fall zufrieden sein.«

»Ich glaube, es wäre besser, wenn wir noch ein Stück weiter nach oben gehen, aber das ist nur meine Meinung. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Wenn du dich nicht wohl damit fühlst …«

Versucht er mich mit diesem Tonfall, diesem Blick zu provozieren? Er sieht mich einfach nur an. Seine Miene ist unverändert neutral. Trotzdem liegt urplötzlich etwas in der Luft … Es knistert zwischen uns, eindeutig. Zumindest empfinde ich es so. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich mir das nur einbilde oder ob es tatsächlich so ist.

»Daran liegt es nicht«, sage ich.

»Gut.« Ein Lächeln umspielt seine Lippen. »Du musst ihn nicht ausziehen. Mach ihn einfach auf, damit ich ihn etwas hochschieben kann.«

Ich atme flach, während ich, auf einen Ellbogen gestützt, nach hinten greife, um meinen BH zu öffnen.

Gott sei Dank trage ich keinen, der sich vorne öffnen lässt!

Das Band um meinen Brustkorb lockert sich, und ich lege mich wieder hin, mit dem Gesicht zu Hemi, die Arme angewinkelt, die Hände unter der Wange.

Wortlos rollt er auf seinem Hocker möglichst nah an mich heran, legt einen Arm auf meine Taille und startet die Tätowiermaschine, um den Schmetterlingsschwarm freihändig um einige wunderschöne Exemplare zu erweitern.

In dieser Stellung kann ich nirgendwo anders hinsehen als zu Hemi, was mir sehr entgegenkommt. Sein Blick ist konzentriert, seine Stirn leicht in Falten gelegt. Er hat die wunderschön geformten Lippen einen Spaltbreit geöffnet, sodass ich zwischen den oberen und den unteren Schneidezähnen seine Zungenspitze ausmachen kann. Ich frage mich, wie er wohl schmeckt. Seine Zunge, sein Mund.

»Alles in Ordnung bei dir?«, erkundigt sich Hemi, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.

»Ja, alles bestens.«

»Je weiter ich an den Rippen entlang nach oben arbeite, desto stärker wirst du die Stiche spüren.«

»Ich weiß, aber das ist es mir wert. Ich bin darauf vorbereitet.«

Jetzt hebt Hemi doch den Kopf. Er betrachtet mich einen Augenblick neugierig, und seine Lippen bewegen sich, als wollte er etwas sagen, doch dann überlegt er es sich offenbar anders und widmet sich wieder seiner Tätigkeit. »Gut«, murmelt er. »Sag Bescheid, wenn ich aufhören soll.«

Ich beobachte ihn bei der Arbeit, betrachte sein Gesicht, seine Hand, die mich mit geübtem Griff festhält, seine geschickten Finger, die ruhig und kontrolliert die Tätowiermaschine über meine Haut führen. Ich verfolge das subtile Spiel seiner Armmuskeln, bemerke die Lichtreflexe auf seinem glänzenden braunen Haar. Wie hübsch sich die Spitzen an den etwas längeren Strähnen kräuseln! Vermutlich hätte er eine richtige Lockenmähne, wenn er sein Haar nicht kurz geschnitten halten würde. Ich stelle mir vor, wie ich ihm mit den Fingern durch die Haare fahre, wie sie mich an den Handflächen kitzeln.

Hemi arbeitet sich allmählich vor, sodass sich eine lose Girlande aus Schmetterlingen an meiner Seite entlang nach oben rankt, immer höher, bis knapp unter die Achsel. Als er an der Stelle angelangt ist, wo sich mein BH befindet, gleiten seine Finger unter den Rand und schieben ihn nach oben.

Er tätowiert einen Schmetterling genau an die Stelle, wo sich normalerweise der Bund meines BHs befindet. Den nächsten Schmetterling setzt er etwas tiefer, noch näher an die Unterseite meiner Brust. Als er den Stoff zur Seite schiebt und dabei meinen Busen streift, spüre ich, wie meine Brustwarzen hart werden. Ich schließe die Augen und versuche, an etwas anderes zu denken. Ich konzentriere mich auf das schmerzhafte Stechen der Nadel, die in meine Haut eindringt und dort wunderschöne kleine Kunstwerke erschafft.

Als die Stiche plötzlich ausbleiben, öffne ich verwirrt die Augen. Hemi betrachtet mich. Regungslos sitzt er da und bewegt keinen einzigen Muskel. Er sieht mich einfach nur an. In diesem Moment gibt es nur noch ihn, seinen beunruhigenden Blick, seine Hand, deren Berührung auf meiner Haut brennt wie Feuer, und ein Pochen in meiner Brust, die sich förmlich danach sehnt, dass seine Finger nur einen halben Zentimeter weiter nach oben wandern.

Nachdem er mich eine gute Minute lang wortlos angestarrt hat, sagt er: »Vielleicht sollten wir jetzt eine Pause einlegen und ein anderes Mal weitermachen.« Er blickt an die Wand hinter mir. »Du bist schon fast zwei Stunden hier. Das ist ziemlich lange für eine Sitzung.«

Ich bin schockiert. Es fühlt sich an, als wäre ich erst vor ein paar Minuten hergekommen – oder aber vor einem halben Leben. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Meine Gefühle Hemi gegenüber sind ähnlich zwiespältig. Eigentlich ist er ein Fremder für mich, und doch habe ich jedes Mal ein Flattern im Bauch, wenn er mich ansieht. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihn in- und auswendig zu kennen, so als wäre da … eine Verbindung zwischen uns. Aber nicht im üblichen Sinne. Es fühlt sich eher so an, als wäre hier eine Art Tauziehen im Gange – sowohl zwischen uns als auch in uns. Ich bin das behütete Mädchen, das versucht auszubrechen, sich von den Zwängen des bisherigen Lebens zu befreien. Ich bemühe mich, meine Angst, meine Zweifel und meine Zurückhaltung zu überwinden und zu leben, zum allerersten Mal in meinem Leben.

Bei Hemi ist der Fall anders gelagert.

Es kommt mir so vor, als wäre er schon vor langer Zeit ausgebrochen, als hätte er das Leben so richtig ausgekostet, bis etwas geschah, das ihm Einhalt geboten hat. Etwas, das ihn in voller Fahrt gestoppt und ihn zum Umdenken gezwungen hat. Dazu, das Tempo zu drosseln. Sich zu distanzieren.

Natürlich könnte ich völlig falschliegen, aber was, wenn nicht? Können sich zwei Menschen wie wir in der Mitte treffen? Ist das überhaupt möglich?

Vielleicht interpretiere ich aber auch viel zu viel in diesen kurzen Augenblick hinein. Er hat mich nicht gefragt, ob ich mit ihm zusammenziehen will, er tätowiert mich bloß, Herrgott noch mal.

Und doch …

Ich weiß, es ist ganz schön verquer, dass ich mir wünsche, die Nacht ginge nie zu Ende, dass ich gewillt bin, noch mehr Schmerzen zu ertragen, nur um noch etwas länger hierbleiben zu können.

Du bist erbärmlich, Sloane. Erbärmlich und verzweifelt.

Dann meldet sich wieder diese andere Stimme in mir zu Wort, jene, die mich ständig daran erinnert, dass nur die Gegenwart zählt. Keiner von uns kann mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten, dass er den morgigen Tag erleben wird. Das Hier und Jetzt ist alles, was wir haben.

Hemis Hand, die immer noch auf meinem Oberkörper ruht, schüttelt mich sanft und reißt mich aus meinen Träumereien. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie lange ich ihn angestarrt habe, wortlos und in Gedanken versunken. Zu lange, fürchte ich. Ich nicke lächelnd und richte mich auf, wobei ich mir schützend einen Arm vor den Oberkörper halte.

»Oh, entschuldige.« Hemi wendet sich ab und macht sich an seinem Werkzeug zu schaffen, damit ich mich unbeobachtet wieder anziehen kann.

Mein Blick ruht auf seinen breiten Schultern, während ich den BH richte und zuhake, das T-Shirt nach unten streife und den Hosenbund ein Stück nach oben ziehe, bis er wieder dort sitzt, wo er hingehört.