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Ein Thriller der Extraklasse von der internationalen Bestsellerautorin Alex Kava
In ihrem zehnten Fall wird FBI-Profilerin Maggie O’Dell mitten in einer eisigen Winternacht zu einem brennenden Gebäude gerufen. In den Trümmern wurde die Leiche einer Frau gefunden, aber schnell wird klar, dass sie bereits vor dem Feuer auf brutale Weise getötet wurde. Doch Maggies Ermittlungen werden jäh unterbrochen, als es am Tatort zu einer heftigen Explosion kommt und sie verletzt wird. Es bleibt nicht bei einem Opfer, und Maggie ahnt, dass sie es mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun hat. Noch weiß sie nicht, dass er es auch auf sie abgesehen hat …
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Seitenzahl: 380
Alex Kava im Gespräch
Erloschen ist der zehnte Band Ihrer erfolgreichen Thriller-Serie. Die Hauptfigur Maggie O’Dell hat aufregende, aber auch schwierige Situationen erlebt. Haben diese Erfahrungen sie verändert?
Maggie hat sich ganz sicher verändert. In ihrem ersten Fall war sie noch eine relativ unerfahrene Profilerin. Erst ihre Erlebnisse haben sie zu einer routinierten Ermittlerin gemacht. Das ist auch ein Grund, wieso sie als Figur so spannend bleibt – für mich als Autorin und hoffentlich auch für meine Leser. Eins hat sich allerdings nicht geändert: Maggie will um jeden Preis das Richtige tun.
Maggie hat zwei langjährige berufliche Begleiter, Agent Tully und Julia Racine. Welche Rolle spielen sie in ihrem Leben?
Die beiden haben mit Maggie nicht nur beruflich zu tun, sondern kennen sie auch privat gut. Maggie ist eine Einzelgängerin. R.J. Tully ist einer der wenigen Menschen, die ihre verletzliche Seite kennen und denen Maggie vertraut. Racine hatte wie Maggie eine schwierige Kindheit, ihre Vergangenheit schweißt sie als Freundinnen zusammen.
Ihre Heldin Maggie setzt sich als Profilerin genauestens mit der Psyche von Verbrechern auseinander. Wie kommen Sie als Autorin zu dem nötigen Hintergrundwissen?
Ich tausche mich sehr intensiv mit Experten aus, mit Mitarbeitern des FBI, von Kriminallaboren und mit Rechtspsychologen. Einige von ihnen sind inzwischen richtig gute Freunde geworden. Außerdem lese ich viele psychologische Berichte über Mörder und sehe mir aufgezeichnete Befragungen an. Dennoch ist es mir wichtig, immer die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu ziehen.
Über die Autorin
Alex Kava wuchs in Nebraska auf. Sie studierte Kunst und Englisch und arbeitete einige Jahre in der Werbe- und Grafikdesignbranche. Ihr Debütroman Das Böse war auf Anhieb ein großer Erfolg, seither ist sie mit ihrer Maggie-O’Dell-Serie regelmäßig auf den interna tionalen Bestsellerlisten vertreten. Erloschen ist der zehnte Band mit der FBI-Profilerin.
ALEX KAVA
Erloschen
Thriller
Aus dem Amerikanischen von
Sabine Schilasky
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem TitelFireproof bei Doubleday, a division of Random House, Inc., New York
Deutsche Erstausgabe 05/2013
Copyright © 2012 der Originalausgabe by S.M. Kava
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabeby Diana Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Kristof Kurz
Umschlaggestaltung |t.mutzenbach design, München,unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock
Satz | Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN 978-3-641-10200-5
www.diana-verlag.de
Für Miss Molly
Juni 1996 – Mai 2011
Du warst von Anfang an dabei,
hast elf von zwölf Büchern miterlebt,
zu meinen Füßen, an meiner Seite.
Du fehlst mir, Süße.
Donnerstag
1
Washington, D.C.
Cornell Stamoran schnitt mit dem kurzen Daumennagel durch das straffe Jack-Daniel’s-Siegel. Er sah die Flasche an und schluckte. Seine Kehle war staubtrocken, und seine Zunge glitt über die rissigen Lippen – eine unbewusste Reaktion.
Damals, als er noch Partner in einer der Spitzensteuerberaterfirmen der Stadt gewesen war, hatte er Jack mit Cola getrunken. Nach und nach war die Cola verschwunden, und das lange bevor er anfing, eine Whiskeyflasche in der untersten Schreibtischschublade zu lagern. Als er schließlich so weit war, musste es auch nicht mehr unbedingt Jack oder Jim oder Johnnie sein.
Wahrscheinlich war er nicht der erste Steuerberater, der sich morgens einen Wachmacher genehmigte, sehr wohl aber der einzige, den er kannte, der seinen Schreibtisch und sein Büro gegen einen der begehrten großen Pappkartons mit dem Maytag-Logo auf der Seite eingetauscht hatte.
In seiner ersten Woche auf der Straße hatte Cornell hinter einer Statue auf dem Capitol Hill geschlafen. Was für ein Witz des Schicksals: Früher war er diese Straße in den Limousinen seiner Kunden entlanggefahren. Es war schon komisch, wie schnell alles den Bach runtergehen konnte und man den Wert eines guten Kartons und einer warmen Decke zu schätzen lernte.
Gewöhnlich versteckte Cornell den Karton zwischen einem großen Abfallcontainer und einer dreckigen Mauer, wenn er in die Innenstadt musste. Hier draußen, am Rande des Industriegebiets, war es ruhig. Niemand machte ihm Ärger. Allerdings war es auch höllisch öde. Deshalb zog Cornell mindestens einmal die Woche ins Stadtzentrum, um frische Zigarettenkippen zu sammeln und ein bisschen zu betteln. Manchmal setzte er sich auch in die Bücherei und las. Bücher ausleihen konnte er nicht, denn wo hätte er die aufbewahren sollen? Und was war, wenn er sie nicht rechtzeitig zurückbrachte? In seinem neuen Leben wollte er nicht mal dieses bisschen Verantwortung übernehmen. Verantwortung war der Fallstrick, der ihn überhaupt erst auf die Straße gebracht hatte.
Also ließ er seinen kostbaren Besitz einmal in der Woche hier zurück – den Karton und ein paar Decken, die jemand versehentlich in einen Müllcontainer geworfen hatte. Die anderen paar Sachen, die ihm noch geblieben waren, trug er in einem schmutzigen roten Rucksack mit sich herum. Wollte er die fünf Meilen in die Stadt nicht zu Fuß gehen, musste er früh aufstehen und den Obdachlosenbus nehmen. Das hatte er heute Morgen getan. Leider hatte er den letzten Abendbus verpasst. Er achtete schon lange nicht mehr darauf, wie spät es war.
Was spielte es auch für eine Rolle? Schließlich hatte er keine Sitzungen oder Termine mehr. Er trug ja nicht mal eine Uhr. Seine goldene Rolex hatte er als Erstes verpfändet. Heute aber hatte Cornell Glück gehabt. Genau genommen war es ihm direkt vor die Füße gestolpert, als ihn eine schwarze Limousine fast umfuhr.
Der Wagen hatte einen feinen Pinkel und seine Frau abgeholt. Sicher wollten sie ins Kennedy Center oder auf eine Cocktailparty. Die Frau hatte angefangen, sich bei ihm zu entschuldigen, und dann ihrem Alten den Ellbogen in die Rippen gerammt, bis der seine Brieftasche zückte. Cornell guckte gar nicht richtig hin, sondern fragte sich, wie all diese umwerfenden jungen Frauen bei solchen alten Knackern endeten.
Ach was, eigentlich wusste er es ja.
Vor wenigen Jahren wäre er eine ernst zu nehmende Konkurrenz für diesen Idioten gewesen. Heute war er eine Stadtplage, mit der man Mitleid hatte. Gleichwohl war Cornell sicher, dass die Frau seinen unwiderstehlichen Charme bemerkt hatte. Klar, und wie elegant er sich zwischen Bordstein und Stoßstange aufgerappelt hatte! Wenigstens hatte er sich nicht in die Hose gemacht. Er spürte immer noch die Hitze des Motors.
Aber die Frau, o ja, die war wirklich nicht zu verachten gewesen. Und sie hatte ihm in die Augen gesehen. Da war ein Anflug von einem Lächeln und sogar eine leichte Röte gewesen, als Cornell sich demonstrativ die Lippen leckte, während ihr Begleiter gerade nicht hinsah. Der Glatzkopf hatte in seiner Brieftasche gewühlt. Gewiss ärgerte er sich, dass er nur Fünfziger dabeihatte.
Für Cornell schrien dieses Lächeln und das Erröten geradezu danach, dass sie ihm an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit gerne mehr als nur die Kohle ihres Freundes gegeben hätte. Und dieser heimliche Blickwechsel tat ihm gut, gab ihm etwas von dem zurück, was er verloren hatte. Wie sehr es ihm fehlte, merkte er nur in solchen Momenten, wenn ihn eine umwerfende Frau wie diese daran erinnerte, wer er einmal gewesen war. Und auch daran, dass er heute kaum mehr als Abfall war, den man in den Rinnstein trat oder schubste. Beinahe hasste er sie dafür. Aber den Fünfziger wusste er sehr zu schätzen.
So viel Geld hatte er den ganzen Monat noch nicht gesehen. Und wie um ihr und sich selbst zu beweisen, dass sich unter dem Schmutz und den Schweißflecken immer noch ein charmanter, witziger und kluger Mann verbarg, wechselte Cornell den Schein in einem Eckbistro. Er setzte sich sogar an den Tresen und bestellte Suppe und Käsetoast. Als er zahlte, bat er die Kellnerin, ihm in Ein-Dollar-Scheinen rauszugeben. Die Frau zuckte richtig zusammen, drehte den Schein hin und her und beäugte misstrauisch abwechselnd ihn und das Geld.
Cornell hatte nur gelächelt, als sie ihm endlich sein Wechselgeld rausgab. Er faltete die Scheine zusammen und verstaute sie sorgsam in der Seitentasche seiner fadenscheinigen Cargohose, die glücklicherweise noch einen Knopf hatte. Dort war sein neuer Besitz sicher. Sein Essen kam – dampfende Suppe und geschmolzener Käse auf weißem Porzellan –, und Cornell war einen Moment wie gelähmt, starrte es nur an. So etwas Schönes hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Auf dem Teller lagen ein kleines Päckchen mit Kräckern und eine Essiggurke; vor allem aber war das Besteck in eine weiße Serviette gewickelt. Eine Stoffserviette! Es schien ihm derart unwirklich, dass Cornell zunächst nicht mehr genau wusste, was man mit richtigem Besteck anfing. Er hatte sich schon zu sehr an das Plastikzeug gewöhnt, das man in der Suppenküche bekam.
Bewusst vermied er es, sich umzublicken. Geschirr klapperte, Stimmen raunten, Maschinen wurden an- und ausgeschaltet, Stuhlbeine schabten auf dem Linoleum. Es war ziemlich viel los, und Cornell fühlte deutlich, dass er beobachtet wurde.
Nachdem er die Serviette aufgewickelt und sein Besteck ordentlich auf den Tresen gelegt hatte, breitete er sie auf seinem Schoß aus. Die Blicke der anderen ignorierte er und tat so, als würde der Körpergeruch nicht von ihm stammen. Er versuchte ja, sich möglichst sauber zu halten, schaffte es sogar einmal pro Monat in den Waschsalon, aber duschen stellte jedes Mal ein Problem dar.
Schließlich nahm Cornell den Suppenlöffel und zwang sich, nicht Hilfe suchend aufzublicken. Seine Finger erinnerten sich langsam daran, was sie zu tun hatten. Er vollführte jede einzelne Bewegung mit größter Sorgfalt, damit er nicht kleckerte, nicht schmatzte, sich nicht mit der Hand über den Mund fuhr oder schlürfte.
Nun, auf dem langen Marsch zurück zu seinem Pappzuhause, nippte er immer wieder verstohlen an seiner brandneuen Flasche. Das Essen war zwar köstlich gewesen, hatte jedoch seinen Magen durcheinandergebracht. Dagegen würde der Whiskey helfen. Das tat er immer. Whiskey war ein Sofort-Allheilmittel gegen so ziemlich alles, was Cornell nicht fühlen, erinnern oder sein wollte. Heute Abend verkürzte er ihm den Weg und wärmte ihn, als die nächtliche Kälte einsetzte.
Cornell war kaum um die Ecke der Gasse gebogen, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Die Luft roch anders, ranzig, aber nicht nach altem Abfall. Und etwas brannte.
Nein, brannte nicht, sondern qualmte.
Cornells Nasenflügel bebten. Es gab kein Restaurant in der Nähe. Das Backsteingebäude, vor dem er seinen Karton lagerte, stand leer. Das war alles, was ihn interessierte, und normalerweise quoll der Müllcontainer nicht über oder stank. Dies waren die entscheidenden Faktoren für ihn gewesen, als er sein Lager hier aufgeschlagen und den Maytag-Karton zwischen Mauer und Container eingeklemmt hatte.
Und jetzt fiel ihm auf, dass sein Karton nicht zu sehen war. Selbst wenn er versteckt war, lugte meistens eine Lasche heraus, egal wie sehr Cornell sich auch bemühte, ihn ganz hinter dem Container verschwinden zu lassen. Vor Panik zog sich sein Magen zusammen. Cornell umklammerte die Flasche fester und eilte die Gasse hinunter. Er hatte noch nicht besonders viel getrunken, trotzdem waren seine Schritte holprig, und ihm war schwindlig. Die einzigen beiden Decken, die er besaß, waren in dem Karton, zusammen mit einer Sammlung anderer Schätze, die er nicht mit sich herumschleppen wollte.
Als er näher kam, wurde der Gestank schlimmer: säuerlich, metallisch und noch etwas anderes. Wie Feuerzeugbenzin. Hatte jemand ein Feuer gemacht, um sich zu wärmen?
Wenn die dafür seinen Karton hergenommen hatten, konnten sie was erleben.
In diesem Moment sah er ein Stück Pappe. Vor lauter Erleichterung brach ihm kalter Schweiß aus. Der Karton war noch da. Er war bloß weiter hinter den Müllcontainer geschoben worden. Und er war nicht mehr leer.
Drecksack!
Cornell wollte seinen Augen nicht trauen. Irgendein Schwein lag in seinem Zuhause, die Füße herausgestreckt. Ohne die nackten Füße hätte Cornell ihn für einen Altkleiderhaufen gehalten.
Er trank einen kräftigen Schluck Jack Daniel’s, schraubte den Deckel sorgsam wieder zu und stellte die Flasche an der Mauer ab. Dann schob er seine Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und stampfte auf den Karton zu.
Keiner nahm ihm sein beschissenes Zuhause weg!
»Hey, du da!«, brüllte er und packte die Knöchel. »Mach, dass du wegkommst.«
Wütend zog und zerrte Cornell. Er wunderte sich, dass es so leicht ging. Der andere wehrte sich nicht. Dennoch zog er weiter, bis der Eindringling vor der Mülltonne lag und dessen verfilztes Haar über den schmutzigen Straßenbelag wischte. Bevor Cornell die Knöchel losließ, drehte er den leblosen Körper mit einem Fußtritt um.
Und dann sah er, warum sich der Eindringling nicht gewehrt hatte.
Säure stieg ihm in die Kehle. Er stolperte rückwärts, fiel über seine eigenen Füße und krabbelte panisch weiter, keuchend und würgend.
Das Gesicht war ein blutiger Matsch aus Fleisch und Knochen. Wo ein Auge hätte sein sollen, klaffte ein gezacktes Loch, ebenso an der Stelle, wo ehedem ein Mund gewesen war. Haarsträhnen klebten in dem Blutbrei.
Cornell hatte sich knapp auf die Knie aufgerappelt, als ihm die Suppe und der Käsetoast wieder hochkamen und sich mit dem Whiskey zu beißendem Schaum vermischten. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine knickten ein, sodass er mitten in seinem Erbrochenen landete. Seine Augen brannten und drohten überzulaufen, dennoch konnte er den Blick nicht von der entstellten Leiche wenige Schritte weiter abwenden.
In seiner Panik nahm er den Qualm, der sich in der Gasse verdichtete, zunächst gar nicht wahr. Doch als er sich abwischen wollte, erkannte er, dass er nicht bloß in sein Erbrochenes gefallen war. Eine schimmernde Spur führte durch die Gasse, als hätte jemand auf dem ganzen Weg bis zum Müllcontainer hinüber eine Flüssigkeit verschüttet.
Erst mit einiger Verzögerung wurde ihm klar, dass es sich bei dem schmierigen Zeug, das nun an seinen Knien und Händen haftete, um Benzin handelte. Cornell blickteauf und sah einen Mann am Eingang der Gasse, der einen Kanister ausgoss. Cornell rutschte aus, rappelte sich wieder auf, und da entdeckte der Kerl ihn. Doch statt zu erschrecken, wütend zu werden oder Angst zu kriegen, reagierte er auf völlig unerwartete Weise: Er lächelte und strich ein Zündholz an.
2
Newburgh Heights, Virginia
Maggie O’Dell kämpfte sich durch den schwarzen Nebel. Sie hatte Kopfschmerzen und konnte nicht klar denken. Da waren Lichtblitze gewesen, grelles Laser-Weiß und Butangas-Blau, bevor alles pechschwarz wurde. In ihrer linken Schläfe pochte es beständig. Leises Stöhnen kam aus der Dunkelheit, und Maggie fuhr zusammen, konnte sich jedoch nicht rühren. Ihre Arme waren bleiern schwer, ihre Beine taub. Angst überkam sie.
Warum spürte sie ihre Beine nicht?
Dann fiel ihr der Elektroschocker wieder ein, der dröhnende Schmerz, der durch ihren Körper gejagt war.
Sie wurde noch panischer, bekam Herzrasen und rang nach Luft.
Ein Schuss krachte, und im nächsten Moment war ihr, als stünde ihre Schädeldecke in Flammen.
Gleichzeitig roch sie es. Kein Kordit, sondern Rauch. Da brannte tatsächlich etwas. Versengtes Haar, verbranntes Fleisch, Rauch und Asche. Das Geräusch von knisterndem Plastik unter Stoff. Und plötzlich konnte Maggie vorn in dem verdunkelten Raum ihren Vater in dem mit Seide ausgekleideten Sarg liegen sehen, vollkommen ruhig und friedlich, während an der Wand hinter ihm die Flammen züngelten.
Diesen Traum hatte sie schon oft gehabt, und dennoch war sie immer wieder überrascht, ihn so nahe bei sich zu sehen, dass sie bloß über den Sargrand schauen musste, um in sein Gesicht zu blicken.
»Sie haben dir den Scheitel falsch gezogen, Daddy.« Maggie hob ihre Hand, die ungewöhnlich klein war. Aber sie freute sich nur, dass sie sich endlich bewegen konnte.
Sie streckte den Arm aus und richtete ihrem Vater das Haar. Die Flammen machten ihr keine Angst. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Finger auf seinem Gesicht und berührte ihn schon fast, als er blinzelnd die Augen öffnete.
An dieser Stelle schrak Maggie aus dem Schlaf.
Bläuliches Licht flackerte aus dem stumm geschalteten Großbildfernseher. Maggies Lider widersetzten sich zuckend ihren Anstrengungen, die Augen zu öffnen. Sie richtete sich auf und fühlte sofort das vertraute Ledersofa unter sich. Das Pochen in ihrem Kopf und ihrer Brust hielt an, als sie sich umdrehte, in den Schatten spähte und halbwegs damit rechnete, dass die stöhnenden Schmerzlaute aus den Ecken ihres Wohnzimmers kamen.
Doch da war niemand.
Niemand außer Deborah Kerr, die den gesamten Bildschirm ausfüllte. In Deborahs Zügen spiegelten sich die Sorge und Panik wider, die Maggie empfand. Sie rannte mitten in einem Gewitter einen Strand entlang. Irgendwo war Robert Mitchum, verwundet.
Maggie hatte diesen Film schon viele Male gesehen, und bis heute fühlte sie Deborahs Panik mit. Der Seemann und die Nonne war einer von Maggies Lieblingsfilmen. Entsprechend hatte sie ihn erst vor Kurzem bei einem ihrer Filmklassiker-Marathons gegen ihren Freund Benjamin Platt verteidigt. Was sie wiederum auf die Idee gebracht hatte, ihn mal wieder herauszuholen. Heute Abend allerdings war sie allein mit Deborah.
Sie setzte sich auf, lehnte sich ins weiche Leder zurück und rieb ihre linke Schläfe. Das Haar klebte an ihrer verschwitzten Stirn. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag, aber das vertraute Hämmern in ihrem Kopf blieb. Ihre Fingerspitzen betasteten das Narbengewebe auf ihrem Schädel. Die Narbe tat nicht mehr weh, wenn Maggie so wie jetzt darauf drückte. Trotzdem pochte es unter ihr, und das war die verlässliche Ankündigung übelster Kopfschmerzen. Sie begannen immer mit einem scharfen Stechen in der linken Schläfe, das bald durch ihren ganzen Kopf wirbeln würde.
Am Ende setzte es sich hinten im Nacken fest und drückte von dort in Form eines dumpfen Dauerschmerzes auf ihr Hirn, der sie in den Wahnsinn trieb. Nicht einmal Schlaf – und sie schlief ohnedies selten und kurz – brachte Linderung. Maggie hatte keine Ahnung, ob ihre Schlaflosigkeit von den Albträumen herrührte oder ob sie die Angst vor den Albträumen wach hielt. Sie wusste bloß, dass jeder Schlaf, egal wie kurz, mit einer Filmversion ihrer Erinnerungen einherging – und zwar in der extragruseligen, verdichteten Horrorversion. Die neueste Folge dieser Serie enthielt Ausschnitte von vor vier Monaten: Teenager, die in einem dunklen Wald überfallen werden, zwei per Elektroschocker hingerichtet, der Rest verletzt und ängstlich wimmernd.
Maggies Finger glitten wieder über die Narbe unter ihrem Haar. Es ist bloß eine Narbe von vielen, sagte sie sich und wünschte, sie könnte sie einfach vergessen. Ohne die Kopfschmerzen gelang ihr das auch wenigstens für ein oder zwei Tage.
Letzten Oktober war sie angeschossen worden … am Kopf. Genau genommen hatte die Kugel ihre Schläfe gestreift. Es war wohl zu viel verlangt, so schnell vergessen zu wollen. Schön wäre allerdings, wenn sich nicht jeder um sie herum ständig daran erinnern würde. Deshalb erzählte sie niemandem von den Kopfschmerzattacken.
Ihr Chef, Assistant Director Raymond Kunze, hielt sie so oder so schon für »angeschlagen«, »verändert« und »zeitweilig dienstuntauglich«. Bisher hatte sie seine beharrlichen Versuche, sie zum Psychologen zu schicken, erfolgreich abwehren können. Als Druckmittel nutzte sie, dass Kunze sich die Schuld gab, weil er sie den Umweg hatte machen lassen, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Nicht dass Kunze jemals die Verantwortung dafür übernehmen würde. Stattdessen gab er vor, zu Weihnachten immer leicht sentimental zu werden, und hatte ihr deshalb die Untersuchung erspart. Komisch, denn wenn Maggie an Kunze und Weihnachten dachte, konnte sie ihn sich prima als den Grinch vorstellen, der das Weihnachtsfest stahl. Und nun, da Weihnachten längst vorbei war, würde er wohl erneut auf eine psychologische Evaluation drängen.
Deborah fand Robert Mitchum exakt in dem Augenblick, in dem Maggie feststellte, dass es nach wie vor verbrannt roch. War der Rauch gar kein Teil ihres Albtraums gewesen? War hier im Haus ein Feuer ausgebrochen?
In der dunklen Ecke des Bildschirms sah sie eine Bewegung. Das waren keine Flammen, sondern ein Flackern, das nicht zum Film gehörte. Die Spiegelung einer Gestalt. Ein Mann schlich durch den Türrahmen hinter ihr.
Jemand war in ihrem Haus.
3
Die Hunde waren weg.
Es hätte Maggie früher auffallen müssen, denn die beiden lagen immer zu ihren Füßen.
Sie blickte sich im dämmrigen Wohnzimmer um, sank tiefer ins Sofa und verhielt sich still. Es war besser, wenn der Einbrecher dachte, er wäre unbemerkt geblieben. Womöglich hatte er sie nicht gesehen. Er war jedenfalls noch in der Küche.
Maggie behielt die Bildschirmecke im Blick. Falls er hinter ihr auftauchte, könnte sie ihn dort sehen.
Oder nicht?
Mit den wechselnden Filmbildern veränderte sich auch die Spiegelung.
Maggie überlegte, wo ihre Waffen waren. Ihre verlässliche Smith & Wesson lag oben im Schlafzimmer. Eine Sig Sauer war in der untersten Kommodenschublade im Flur. Im Haus waren ihr Waffen stets überflüssig erschienen. Nach ihrem Einzug hatte sie als Erstes die modernste Alarmanlage eingebaut. Und auch draußen hatte sie für Barrieren gesorgt. Von den zwei superwachsamen Hunden ganz zu schweigen, die niemals einen Fremden ins Haus lassen würden. Doch nun bekam es Maggie mit der Angst.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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