Eruption - Michael Crichton - E-Book

Eruption E-Book

Michael Crichton

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein verheerender Vulkanausbruch bedroht Hawaii. Doch der Vulkan birgt ein Geheimnis, das die gesamte Welt vernichten könnte …
Der Nr. 1 New York Times Bestseller!


John MacGregor, wagemutiger Wissenschaftler des Hawaiian Volcano Observatory und passionierter Surfer, steht vor der schwersten Aufgabe seiner Karriere. Der Mauna Loa, der größte aktive Vulkan der Erde, wird in nur wenigen Tagen ausbrechen. Doch unterhalb des Vulkans lauert ein von der Army streng gehütetes Geheimnis, das jedes Leben auf dem Planeten zu vernichten droht, sollte die Lava es freisetzen. Zusammen mit der unerschrockenen Vulkanologin Jenny Kimura und einem Team aus Experten kämpft Mac gegen die Naturkatastrophe und darum, alles zu retten, was er liebt: das Inselparadies, dessen Menschen und nicht zuletzt die gesamte Welt ...

Michael Crichton, Schöpfer von »Jurassic Park«, »Emergency Room«, »Twister« und »Westworld«, arbeitete jahrelang leidenschaftlich an einem Projekt, bevor er 2008 viel zu früh verstarb. Seine Frau Sherri Crichton wusste, wie besonders dieses Buch war, und verwahrte die Notizen und das Teilmanuskript ihres Mannes, bis sie den richtigen Autor gefunden hatte, der es vollenden konnte: James Patterson, den beliebtesten Erzähler der Welt.

Atemberaubend spannend, meisterhaft erzählt und absolut visionär — das Thriller-Ereignis des Jahrzehnts von den weltweit gefeierten Bestsellerautoren Michael Crichton und James Patterson.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 457

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Einheimischen von Hawai‘i nennen ihn Mauna Loa, »langer Berg«: Mächtig ragt der größte aktive Vulkan der Erde über dem Pazifischen Ozean auf – eine Naturgewalt von wilder Schönheit und zugleich großer Bedrohung. Der Vulkanologe John »Mac« MacGregor, Leiter des Hawaiian Volcano Observatory, gibt gerade eine Surfstunde am Strand von Big Island, als ein Beben die Erde erschüttert und ihn ein alarmierender Anruf seiner Kollegin Jenny Kimura erreicht. Der Mauna Loa steht kurz vor dem heftigsten Ausbruch seit einem Jahrhundert. Mac bemüht sich nach Kräften, keine Panik auf der Insel aufkommen zu lassen. Doch was er dann erfährt, jagt selbst dem unerschrockenen Wissenschaftler Furcht ein: Unterhalb des Mauna Loa birgt eine Militärbasis ein Geheimnis, schlimmer als jeder Vulkanausbruch. Dort lagern in einer Lavaröhre Behälter mit einer höchst gefährlichen Substanz, die, sollte sie freigesetzt werden, sämtliches Leben auf der Welt in schwarze Asche verwandeln könnte. Zusammen mit der mutigen Jenny und einem Team aus Experten muss Mac einen Weg finden, um die alles vernichtende Naturkatastrophe zu verhindern. Unterdessen rückt die Eruption mit jeder Stunde näher …

Weitere Informationen zu Michael Crichton und James Patterson sowie zu lieferbaren Titeln der Autoren finden Sie am Ende des Buches.

Michael CrichtonundJames Patterson

Eruption

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Thomas Bauer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Eruption« bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2024

Copyright © 2024 by CrichtonSun, LLC and James Patterson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: GettyImages/Daniele D’Antoni, GettyImages/Andrew Richard Hara/Kontributor

Autorenfotos: Michael Crichton: © Jonathan Exley; James Patterson: © Roger Taylor

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ast

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32065-2V001

www.goldmann-verlag.de

E ko Hawai‘i pono‘ī:

No ‘oukou i ho‘ola‘a ‘ia a‘e ai kēia mo‘olelo, no ka lāhuikanaka o ka

pae ‘āina e kaulana nei.

Für die Menschen Hawai‘is:

Diese Geschichte ist Ihnen gewidmet, den Bewohnerinnen und Bewohnern der weltbekannten Inselkette.

Prolog

Die hier geschilderten Ereignisse wurden wenige Tage, nachdem sie sich 2016 im Botanischen Garten von Hilo zugetragen hatten, zur Verschlusssache erklärt und unterlagen bis vor Kurzem strengster Geheimhaltung.

Eins

Hilo, Hawai‘i28. März 2016

Rachel Sherrill war fast dreißig, hatte ihren Master in Naturschutzbiologie von der Stanford University und galt als angehende Koryphäe auf ihrem Gebiet, doch sie fühlte sich noch immer wie die Schülerin von einst, wie die ewige Klassenbeste.

Heute, im Botanischen Garten in Hilo, spielte sie allerdings die coole Vertretungslehrerin für eine Horde unruhiger, staunender Fünftklässler, die vom Festland zu Besuch waren.

»Ich sehe das so, Rachel«, hatte Theo Nakamura, der Leiter des Botanischen Gartens, am Morgen gescherzt, »wenn Sie diese zu kurz geratenen Touristen herumführen, können Sie gut von Ihrer eigenen Unreife Gebrauch machen.«

»Soll das heißen, ich benehme mich wie eine Zehnjährige?«

»An guten Tagen«, hatte Theo erwidert.

Theo war ein gewisses Risiko eingegangen, als er sie vor einem Jahr, bei Eröffnung des Parks, eingestellt hatte. Doch so jung Rachel war – und aussah –, in ihrer Funktion als leitende Pflanzenbiologin des Parks machte sie sich sehr gut. Für sie war es ein Traumjob.

Und wenn sie ehrlich war, gehörten Führungen für Kinder für sie zu den liebsten Aufgaben in diesem Job.

An diesem Vormittag hatte eine Gruppe von Schulkindern aus wohlhabenden Verhältnissen, die weither von der Convent and Stuart Hall Highschool in San Francisco gekommen waren, das große Glück, eine Führung durch den Park zu bekommen. Rachel gab sich Mühe, die Kinder zu unterhalten und ihnen gleichzeitig etwas über die Natur beizubringen, von der sie umgeben waren.

Doch so gern Rachel den Kindern etwas darüber erzählt hätte, was sie unmittelbar vor Augen hatten – Orchideengärten, himmelhohe Bambusse, Kokospalmen, Jackfruchtbäume, Pflanzen mit essbaren Früchten wie Brotfruchtbäume, Lichtnussbäume und Rote Ananas, einen dreißig Meter hohen Doppelwasserfall, den allgegenwärtigen Hibiskus –, sie musste mit den beiden nächstgelegenen der fünf Vulkane auf Big Island um ihre Aufmerksamkeit buhlen: Mauna Loa, dem größten aktiven Vulkan der Welt, und Mauna Kea, der seit mehr als viertausend Jahren nicht mehr ausgebrochen war.

Für die Stadtkinder waren die beiden Berge eindeutig das Highlight ihrer Tour, die größte Sehenswürdigkeit im Bilderbuch-Wunderland namens Hawai‘i. Welches Kind hätte nicht alles dafür gegeben, den Mauna Loa ausbrechen und einen mehr als tausend Grad heißen Lavastrom ausspucken zu sehen?

Hawai‘is Vulkanboden sei einer der Gründe, erklärte Rachel, weshalb es auf der Insel so viel natürliche Schönheit gab – ein Paradebeispiel für die positiven Folgen vergangener Ausbrüche. Außerdem ermögliche der vulkanische Boden, dass auf Hawai‘i Bohnen für den köstlichsten Kaffee der Welt angebaut werden konnten.

»Aber die Vulkane brechen heute nicht aus, oder?«, fragte ein Mädchen, das die beiden Berge mit seinen großen braunen Augen fixierte.

»Wenn sie auch nur dran denken«, sagte Rachel, »bauen wir eine Kuppel über sie, wie man es bei neuen Footballstadien macht. Dann wollen wir doch mal sehen, wie sie das finden, wenn sie das nächste Mal versuchen, ein bisschen Dampf abzulassen.«

Keine Reaktion. Nur Grillen waren zu hören. Pazifische Feldgrillen, um genau zu sein. Rachel lächelte. Manchmal konnte sie sich einfach nicht beherrschen.

»Welcher Kaffee kommt denn von hier?«, fragte ein Junge, der ebenfalls wie ein Klassenbester aussah.

»Starbucks«, erwiderte Rachel.

Diesmal lachten sie. Bitte in einer Reihe anstellen, dachte Rachel. Vergessen Sie das Trinkgeld nicht.

Aber nicht alle Kinder lachten.

»Warum verfärbt sich dieser Baum schwarz, Ms Sherrill?«, rief ein wissbegieriger Junge mit Drahtgestellbrille, die ihm auf der Nase rutschte.

Christopher hatte sich von der Gruppe abgesondert und stand etwa dreißig Meter entfernt auf der anderen Seite der Rasenfläche vor einer kleinen Ansammlung von Banyanbäumen.

Im nächsten Moment hörten sie alle ein polterndes Krachen, das wie ein Donner in der Ferne klang. Wie alle, die erst seit Kurzem auf Hawai‘i lebten, fragte sich Rachel: Zieht gerade ein heftiges Gewitter auf, oder ist das der Anfang eines Vulkanausbruchs?

Während die meisten Kinder in den Himmel starrten, eilte Rachel zu dem lernbegierigen Jungen, der die Banyanbäume mit besorgtem Gesichtsausdruck betrachtete.

»Du weißt, Christopher«, sagte Rachel, als sie bei ihm ankam, »ich habe versprochen, wirklich jede eurer Fragen zu beantworten …«

Der Rest dessen, was sie sagen wollte, blieb ihr im Hals stecken. Sie sah dasselbe wie Christopher, nur traute sie ihren Augen nicht.

Nicht nur hatten sich die drei Banyanbäume, die ihr am nächsten waren, schwarz verfärbt – Rachel sah, wie sich tiefe, Blasen werfende Schwärze wie verschüttetes Öl ausbreitete und schreckliche Flecken hinterließ, allerdings kroch sie an den Bäumen nach oben. Das Ganze sah aus wie ein auf den Kopf gestellter Lavastrom aus einem der Vulkane, wobei sich die Lava nicht nur der Schwerkraft widersetzte, sondern auch allem, was Rachel Sherrill über Krankheiten von Bäumen und anderen Pflanzen wusste.

Die ewige Klassenbeste musste sich eingestehen, dass sie ratlos war.

Zwei

»Ja, l…aus mich doch der Affe«, sagte Rachel, die sich im letzten Moment daran erinnert hatte, dass ein sensibler Zehnjähriger neben ihr stand.

Sie beugte sich tief hinunter und entdeckte verräterische dunkle Flecken, die zu dem Baum hinführten wie die Fährte eines Fabelwesens mit runden Füßen. Rachel kniete sich hin und betastete die Flecken. Das Gras war nicht feucht. Tatsächlich fühlten sich die Halme an wie die Borsten einer Stahlbürste.

Gestern waren noch keine schwarzen Flecken zu sehen gewesen.

Rachel berührte die Rinde eines anderen befallenen Baums. Sie blätterte ab und zerbröselte. Rachel zuckte unwillkürlich mit der Hand zurück, betrachtete ihre Fingerkuppen, die schwarz verfärbt waren, wie von Tinte.

»Diese Bäume sind anscheinend krank«, sagte sie. Eine bessere Antwort hatte sie dem kleinen Christopher nicht zu bieten, also versuchte sie es noch einmal mit einem Scherz. »Womöglich muss ich sie heute alle von der Schule nach Hause schicken.«

Der Junge lachte nicht.

Obwohl es eigentlich noch nicht so weit war, verkündete Rachel, dass sie Mittagspause machen würden.

»Aber es ist doch noch zu früh fürs Mittagessen«, protestierte das Mädchen mit den großen braunen Augen.

»Nicht nach San-Francisco-Zeit«, erwiderte Rachel.

Während sie die Kinder zurück zum Hauptgebäude brachte, suchte sie in Gedanken fieberhaft nach möglichen Erklärungen für das, was sie da gerade beobachtet hatte. Doch nichts ergab einen Sinn. Rachel hatte so etwas noch nie gesehen und auch nicht davon gelesen. Es war nicht das Werk von Raubwanzen, die sich an Banyanbäumen gütlich taten, wenn nichts gegen sie unternommen wurde. Und es war auch nicht das Werk des Unkrautvernichtungsmittels Roundup, das die Parkpfleger nur allzu gern auf den einhundertzwanzigtausend Quadratmetern des Botanischen Gartens verwendeten, der sich bis in die Hilo Bay erstreckte. Rachel hatte Unkrautvernichtungsmittel immer als notwendiges Übel betrachtet – wie erste Dates.

Das war jedoch etwas anderes. Etwas Dunkles, vielleicht sogar Gefährliches, ein Rätsel, das sie lösen musste.

Nachdem Rachel die Kinder in die Cafeteria gebracht hatte, lief sie zu ihrem Büro. Sie meldete sich bei ihrem Chef zur Mittagspause zurück, dann rief sie Ted Murray an, ihren Ex-Freund aus Uni-Zeiten in Stanford, der sie für diesen Job empfohlen und sie anschließend überzeugt hatte, ihn anzunehmen. Inzwischen arbeitete er für das United States Army Corps of Engineers der Military Reserve.

»Hier gibt’s womöglich so eine Sache«, sagte Rachel zu ihm.

»So eine Sache?«, erwiderte Murray. »Mein Gott, ihr Wissenschaftler immer mit euren hochtrabenden Begriffen.«

Sie beschrieb ihm, was sie gesehen hatte, wobei ihr bewusst war, dass sie zu schnell redete. Die Worte stießen sich gegenseitig an und stolperten übereinander.

»Okay, ich kümmere mich darum«, sagte Murray, als sie fertig war. »Ich schicke dir ein paar Leute. Und keine Angst, es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung für diese … Sache.«

»Ich habe keine Angst, Ted. Du weißt, dass ich nie Angst habe.«

»Allerdings«, erwiderte Murray. »Und genau das macht mir manchmal Angst bei dir.«

Als Rachel auflegte, war ihr bewusst, dass sie sehr wohl Angst hatte. Das, wovor sie sich im Grunde ihres Herzens fürchtete, war Unwissen. Während die Kinder noch lärmend beim Mittagessen saßen, zog sie die Laufschuhe an, die stets unter ihrem Schreibtisch standen, und rannte zurück zu dem Banyan-Wäldchen.

Als sie dort ankam, erwarteten sie weitere schwarz verfärbte Bäume. Von ihren markanten Luftwurzeln, die sich ausstreckten wie knorrige graue Finger, krochen die schwarzen Flecken nach oben.

Rachel Sherrill berührte vorsichtig einen der Bäume. Er war heiß wie ein Ofen. Sie betrachtete ihre Fingerspitzen, um sich zu vergewissern, dass sie sie nicht versengt hatte.

Ted Murray hatte versprochen, zur Klärung ein paar von seinen Leuten zu schicken, sobald er ein Team zusammenstellen könne. Rachel lief zurück zur Kantine und holte ihre Gruppe von Fünftklässlern aus San Francisco ab, um die Führung fortzusetzen. Kein Grund zur Panik. Zumindest noch nicht.

Ihr letzter Halt war bei einem Miniatur-Regenwald, weit weg von den Banyanbäumen. Die Tour kam ihr heute endlos vor, aber als sie schließlich fertig war, sagte Rachel: »Ich hoffe, ihr kommt alle eines Tages wieder.«

Ein spindeldürres Mädchen fragte: »Rufen Sie einen Arzt für die kranken Bäume?«

»Genau das werde ich jetzt gleich machen«, erwiderte Rachel.

Sie drehte sich um und joggte ein weiteres Mal zurück zu den Banyanbäumen. In ihrem Innern ging es an diesem Tag zu, als wäre wirklich einer der Vulkane ausgebrochen.

Drei

Über die Lautsprecher ertönte knisternd eine Stimme: Rachel Sherrills Chef, Theo Nakamura, forderte die Besucher auf, den Botanischen Garten sofort zu verlassen.

»Das ist kein Probealarm«, sagte Theo, »sondern dient der Sicherheit aller Personen, die sich auf dem Gelände aufhalten, Mitarbeiter eingeschlossen. Bitte verlassen Sie alle den Park.«

Binnen Sekunden strömten Scharen von Parkbesuchern in Rachels Richtung. Das Gelände war voller, als sie gedacht hatte. Mütter rannten und schoben dabei Kinderwagen vor sich her. Kinder liefen vor ihren Eltern. Ein Teenager wich mit seinem Fahrrad einem Kind aus, stürzte, rappelte sich schimpfend hoch, stieg wieder auf sein Rad und fuhr weiter. Plötzlich war überall Rauch.

»Das ist wahrscheinlich ein Vulkan!«, hörte Rachel eine junge Frau rufen.

Vor dem Banyan-Wäldchen in der Ferne sah Rachel zwei Army-Jeeps parken. Ein weiterer Jeep brauste an ihr vorbei. Am Steuer saß Ted Murray. Sie rief seinen Namen, doch Murray hatte sie offenbar nicht gehört. Er drehte sich nicht um.

Dann hielt der Jeep an, und Soldaten sprangen heraus. Murray wies sie an, einen Halbkreis um den Eingang zu dem Wäldchen zu bilden und sicherzustellen, dass die Parkbesucher weitergingen.

Rachel rannte zu dem Banyan-Wäldchen. Ein weiterer Jeep hielt vor ihr an, und ein Soldat stieg aus.

»Sie gehen in die falsche Richtung«, sagte der Soldat.

»Sie … Sie verstehen nicht«, stammelte Rachel. »Das … das sind meine Bäume.«

»Ich möchte Sie nicht noch einmal auffordern müssen, Ma’am.«

Rachel Sherrill hörte das Geräusch von Rotoren. Als sie nach oben blickte, sah sie einen Helikopter aus den Wolken hinter den beiden Bergen auftauchen. Sah ihn landen und sah seine Türen aufgehen. Männer in Chemikalienschutzanzügen, die Behälter auf den Rücken geschnallt hatten, stiegen mit Feuerlöschern mit dem Aufdruck »Cold Fire« in den Händen aus. Sie hielten die Feuerlöscher wie Handfeuerwaffen und rannten zu den Bäumen.

Zu Rachels Bäumen.

Sie lief ebenfalls zu ihnen und zu dem Feuer.

Genau in diesem Moment hörte sie abermals ein Donnern aus dem Himmel, doch dieses Mal war sie sich sicher, dass kein Gewitter aufzog.

Bitte nicht heute, dachte sie.

Vier

Der Hawaii Tribune-Herald, die Lokalzeitung von Hilo, erwähnte die Evakuierung des Botanischen Gartens am nächsten Tag mit keinem Wort. Der Honolulu Star-Advertiser ebenso wenig. Wie auch sämtliche andere Insel-Zeitungen. In der New York Times fand sich ebenfalls keine Meldung.

In keiner der Lokalnachrichten-Sendungen im Fernsehen wurde darüber berichtet, was sich am Tag zuvor in dem Park zugetragen hatte. Kein Wort darüber verloren auch die Radiosender, die sich ausschließlich mit dem Rückgang des Hawai‘i-Tourismus im ersten Quartal des Jahres beschäftigten.

In den sozialen Medien gab es einige Erwähnungen, allerdings nicht viele, was vermutlich daran lag, dass die Besucherzahlen des Botanischen Gartens in Hilo an dem fraglichen Montag vergleichsweise gering gewesen waren. Einige Twitter-Posts berichteten von einem kleinen Herbizid-Brand, der aufgrund der raschen Reaktion erfolgreich eingedämmt werden konnte, wobei ein paar Leute anmerkten, sie hätten beim Verlassen des Geländes einen Helikopter landen sehen.

Nichts von alledem war überraschend. Das war Hilo. Das war das entspannte Hawai‘i, obwohl die Menschen hier mit der konstanten Bedrohung der Vulkane lebten. Wenn etwas Ungewöhnliches geschah, hielt die Aufregung nie lange an.

Der Park blieb zwei Tage geschlossen.

Als er seine Pforten wieder öffnete, war es, als wäre nie etwas passiert.

Eruption

Kapitel 1

Honoli‘i Beach Park, Hilo, Hawai‘iDonnerstag, 24. April 2025Verbleibende Zeit bis zur Eruption: 116 Stunden, 12 Minuten, 13 Sekunden

»Dennis!« John MacGregor stand am Strand und musste schreien, damit ihn der Surfer trotz der tosenden Wellen hörte. »Wie wär’s, wenn du dich nicht wie ein kūkae anstellen würdest? Wäre das okay für dich?«

Die Jugendlichen, die John MacGregor coachte, hörten diesen Ausdruck nicht zum ersten Mal von ihm. Sie wussten, dass er kein Kompliment war. Kūkae war das hawaiianische Wort für »Kook« und bedeutete, dass sich jemand beim Surfen anstellte, als hätte er noch nie auf einem Board gestanden. Oder auf dem besten Weg war, im Wasser zu landen.

Mac war sechsunddreißig und ein versierter Wellenreiter, oder zumindest war er das in jüngeren Jahren gewesen, bevor seine Knie angefangen hatten, wie morsches Dachgebälk zu klingen, wenn er auf seinem Board in die Hocke ging. Jetzt konzentrierte sich seine Leidenschaft für den Sport auf diese vierzehn-, fünfzehn- und sechzehnjährigen Problemjugendlichen aus Hilo, von denen die Hälfte bereits die Schule abgebrochen hatte.

Sie kamen an vier Nachmittagen in der Woche an diesen Strand, der nur drei Kilometer vom Zentrum von Hilo entfernt war, und waren dann für ein paar Stunden ein Teil dessen, was die Inselbewohner das »Postkarten-Hawai‘i« nannten – das Hawai‘i aus dem Fernsehen, aus Spielfilmen und aus den Broschüren der Handelskammer.

»Was habe ich denn falsch gemacht, Mac?«, fragte der vierzehnjährige Dennis, als er aus dem Wasser kam.

»Zunächst mal war das gar nicht deine Welle, sondern die von Mele«, sagte Mac.

Die beiden standen am Ende des Strands bei den Klippen. Honoli‘i war unter den einheimischen Surfern als guter Strand bekannt, vor allem deshalb, weil die starke Strömung Badegäste fernhielt und die Jugendlichen den Strand für sich allein hatten.

Der Letzte, der sich noch draußen auf dem Wasser befand, war Lono.

Lono Akani, der ohne Vater aufgewachsen war und dessen Mutter als Reinigungskraft im Hilo Hawaiian Hotel arbeitete, war sechzehn und Macs Favorit. Er besaß ein natürliches Talent für diesen Sport, das Mac in seinem Alter auch gerne besessen hätte.

Mac sah Lono zu, wie er in tief geduckter Haltung auf einem der Lancer von Thurso Surf stand. Er hatte jedem der Jugendlichen ein solches Board besorgt. Selbst vom Ufer aus konnte Mac ihn lächeln sehen. Irgendwann würde der Junge im Meer sich auch einmal seiner Angst stellen müssen. Oder die Angst würde ihn stellen. Allerdings nicht heute, während er den Wellenhang fehlerfrei hinunterglitt.

Dann paddelte Lono zum Ufer, nahm sein Board unter den Arm und ging zu Mac, der am Strand wartete. »Danke«, sagte er.

»Wofür?«

»Dafür, dass Sie mich daran erinnert haben, auf die ankommenden Wellensets zu achten«, erwiderte der Junge. »Deshalb war ich geduldig und habe auf die beste Welle gewartet, wie Sie es mir beigebracht haben.«

Mac klopfte ihm auf die Schulter. »Keiki maika‘i.«

Guter Junge.

Dann hörten sie ein Grollen am Himmel. Hörten es und spürten das Beben des Strandes unter ihren Füßen, das sie beide taumeln ließ.

Der Junge wusste nicht, ob er nach oben oder nach unten schauen sollte. Doch John MacGregor verstand, was passiert war. Er wusste, wann es sich um ein vulkanisches Beben handelte, das oft mit Entgasung einherging, und wann nicht. Er warf einen Blick hinauf in den Himmel. Alle Jugendlichen taten es ihm gleich. Mac musste an etwas denken, das einer seiner Professoren am College über Vulkane und »die Schönheit der Gefahr« gesagt hatte.

Als die Erde wieder zur Ruhe kam, spürte er das Handy in seiner Hosentasche vibrieren. Er nahm den Anruf entgegen, und Jenny Kimura sagte: »Mac, Gott sei Dank gehst du ran.«

Jenny wusste, dass Mac nicht gern wegen irgendwelcher Bagatellen in Zusammenhang mit der Arbeit gestört werden wollte, wenn er seine Surfer trainierte. Die Pressekonferenz begann erst in etwa einer Stunde, deshalb konnte es sich bei dem Grund für ihren Anruf nicht um eine Bagatelle handeln.

»Was ist los, Jenny?«

»Wir haben Entgasung festgestellt«, sagte sie.

Nein, ganz und gar keine Bagatelle.

»Hō‘o‘opa‘o‘opa«, fluchte er, als wäre er einer seiner Surfer-Jungs.

Kapitel 2

Macs Blick wurde immer wieder von den beiden Bergen angezogen. Für die Menschen, die hier lebten, waren sie wie ein Magnet.

»Wo?«, fragte er Jenny und spürte, wie es ihm die Brust zuschnürte.

»Am Gipfel.«

»Schon unterwegs«, sagte er. Er legte auf und rief den Surfern zu: »Tut mir leid, Jungs, ich muss losdüsen!«

Dennis schrie auf. »Losdüsen?«, sagte er. »Sagen Sie das nie wieder, Mac.«

»Also gut«, erwiderte Mac. »Ich muss einen Abflug machen und zurück zur Arbeit. Wie wär’s damit?«

»Rajah dat!«, rief Dennis grinsend zurück. Roger, verstanden. Die Jugendlichen verfielen manchmal ins hawaiianische Kreol, das gehörte zu ihrem Teenager-Gehabe.

Mac ging zu seinem grünen Pick-up. Lono lief ihm mit seinem Board unter dem Arm hinterher, das nasse Haar nach hinten gestrichen. Sein Blick war ernst, beunruhigt.

»Das war aber nicht der Kīlauea, oder?«, sagte Lono im Flüsterton. Er sprach von dem kleinsten Vulkan auf der Insel.

»Nein«, erwiderte MacGregor. »Woher weißt du das, Lono?«

»Wenn der Kīlauea bebt, ist es immer gleich wieder vorbei, habe ich recht? Wie bei einem Wellenset, ein paar Wellen kurz hintereinander, dann ist wieder Schluss. Das war der Mauna Loa, ya?«

MacGregor nickte. »Ja, mein Junge«, sagte er, »was wir gerade gehört haben, kam vom Mauna Loa.«

Lono beugte sich vor und fragte mit gedämpfter Stimme, obwohl niemand in der Nähe war, der ihn hätte hören können: »Wird es einen Ausbruch geben, Mac?«

MacGregor streckte die Hand zum Türgriff seines Pick-ups aus. Auf der Tür befand sich ein weißer Kreis, der die Buchstaben »HVO« umschloss und von den Worten »Hawaiian Volcano Observatory« umgeben war. Doch dann hielt er inne. Lono sah zu ihm auf, sein Blick noch besorgter als zuvor. Der Junge versuchte vergeblich, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Lono sagte: »Sie können mir ruhig die Wahrheit sagen.«

Mac wollte nichts sagen, was Lono noch mehr Angst machen würde, aber er wollte ihn auch nicht anlügen. »Komm doch zu meiner Pressekonferenz«, schlug er vor und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht lernst du da was dazu.«

»Ich lerne die ganze Zeit von Ihnen«, erwiderte der Junge.

Von all den Jugendlichen war Lono derjenige, den Mac am nachdrücklichsten dazu ermutigt hatte, ein Praktikum am Observatorium zu machen, da er sofort festgestellt hatte, wie intelligent der Junge trotz seiner durchschnittlichen Schulnoten war. Er war immer darauf aus, von Mac die Anerkennung zu bekommen, die ihm von seinem Vater, der ihn und seine Mutter im Stich gelassen hatte, verwehrt geblieben war. Deshalb hatte er sich so viel Wissen über Vulkane angelesen.

Doch Lono warf einen Blick über die Schulter auf die anderen Jungen und schüttelte den Kopf. »Nein. Sie können mich ja später anrufen und es mir erzählen. Sind Sie morgen hier?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Es ist schlimm, oder?«, wollte Lono wissen. »Ich sehe, dass Sie sich Sorgen machen, auch wenn Sie es nicht zugeben.«

»Wenn du hier lebst, machst du dir immer Sorgen wegen des Mauna Loa«, sagte Mac, »ob das dein Job ist oder nicht.«

MacGregor stieg in seinen Pick-up, ließ den Motor an und fuhr los in Richtung Berg. Dabei dachte er an all die Dinge, die er Lono Akani verschwiegen hatte, vor allem, wie beunruhigt er tatsächlich war – und das aus gutem Grund. Der Mauna Loa war nur Tage von seinem heftigsten Ausbruch seit einem Jahrhundert entfernt, und John MacGregor, der Geologe, der das Hawaiian Volcano Observatory leitete, wusste das und würde es demnächst in den Medien bekannt geben. Ihm war immer klar gewesen, dass dieser Tag kommen würde, wahrscheinlich eher früher als später. Jetzt war es so weit.

Mac gab Gas.

Kapitel 3

Merrie Monarch Festival, Hilo, Hawai‘i

Unter dem gerippten Dach des Edith Kanaka‘ole Stadium in Hilo dröhnten die tahitianischen Trommeln so laut, dass die dreitausend Zuschauer ihre Sitze vibrieren spürten. Der Stadionsprecher rief die traditionelle Begrüßung: »Hookipa i nā malihini, hanohano wāhine e kāne, meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte heißen Sie unsere ersten hālaus willkommen. Aus Wailuku … Tawaaa Nuuuuui!« Tosender Applaus ertönte, als die Tänzerinnen der ersten Truppe mit wiegenden Hüften die Bühne betraten.

Die heutige Hula-Kahiko-Veranstaltung fand im Rahmen des einwöchigen Merrie-Monarch-Festivals statt, des wichtigsten Hula-Wettbewerbs auf den hawaiianischen Inseln, das einen erheblichen Beitrag zur lokalen Wirtschaft von Hilo leistete.

Wie es seine Gewohnheit war, stand Henry »Tako« Takayama, der untersetzte Chef des Zivilschutzes in Hilo, während der Feierlichkeiten in seinem für ihn typischen Hawaiihemd und seinem Dauerlächeln ganz hinten, schüttelte Hände und hieß Menschen aus allen Ecken von Big Island zur alljährlichen Darbietung traditioneller Tänze von hawaiianischen Hula-Schulen willkommen. Obwohl er nicht in seine Position gewählt worden war, hatte er etwas von einem Wahlkämpfer an sich, der immer für irgendetwas kandidierte.

Seine positive Art hatte ihm während seiner dreißig Jahre als Chef des Zivilschutzes gute Dienste geleistet. In dieser Zeit hatte er die Gemeinde durch zahlreiche Krisen gelenkt, darunter einen Tsunami, bei der eine am Strand campierende Pfadfindergruppe ums Leben kam, die zerstörerischen Hurricanes von 2014 und 2018, Lavaströme vom Mauna Loa und vom Kīlauea, die Straßen und Häuser aus dem Weg geräumt hatten, und die Eruption des Kīlauea im Jahr 2021, die einen Lavasee in einem der Gipfelkrater hinterlassen hatte.

Doch nur wenige Menschen bekamen die knallharte, kämpferische Persönlichkeit hinter dem Lächeln zu sehen. Tako war ein ehrgeiziger, manchmal auch rücksichtsloser Staatsdiener mit kräftigen Ellbogen, der seine Position erbittert verteidigte. Wer im Osten von Big Island etwas plante oder durchsetzen wollte, ob Politiker oder nicht, der musste sich an Tako wenden. An Tako kam niemand vorbei.

Tako spürte das Beben sofort, während er sich im Stadion mit Staatssenatorin Ellen Kulani unterhielt. Ellen ebenfalls. Sie sah ihn an und setzte an, etwas zu sagen, doch er schnitt ihr mit einem Grinsen und einer Handbewegung das Wort ab.

»Keine große Sache«, sagte er.

Doch die Erschütterungen begannen aufs Neue, und durch die Menge ging ein vernehmbares Raunen. Viele der Anwesenden waren von anderen Inseln hierhergekommen und waren die Erdbeben in Hilo nicht gewohnt, vor allem nicht drei hintereinander. Das Trommeln verstummte. Die Tänzerinnen ließen die Arme hängen.

Tako Takayama hatte mit Erdbeben während des gesamten Festivals gerechnet. Eine Woche zuvor hatte er mit John MacGregor zu Mittag gegessen, dem Haole-Chef der Vulkan-Forschungsstation. MacGregor war mit ihm ins Ohana Grill gegangen, ein nettes Restaurant, und hatte ihm mitgeteilt, dass ein großer Ausbruch des Mauna Loa bevorstand, der erste seit 2022.

»Größer als 1984«, hatte MacGregor gesagt. »Vielleicht der größte seit hundert Jahren.«

»Ich bin ganz Ohr«, hatte Tako erwidert.

»Das HVO überwacht ununterbrochen die seismische Bildgebung«, hatte MacGregor erklärt. »Die neueste zeigt verstärkte Aktivität, unter anderem eine große Menge Magma, das in den Vulkan fließt.«

Spätestens da war klar gewesen, dass Tako eine Pressekonferenz ansetzen musste, was er auch getan hatte, und zwar für den heutigen Tag. Er hatte es allerdings nur widerwillig getan. Tako war der Meinung, dass sich niemand in der Stadt um eine Eruption auf der Nordseite des Vulkans scheren würde. Sie hätten eine Zeit lang spektakulärere Sonnenuntergänge, das gute Leben würde weitergehen, und in Takos Welt wäre einmal mehr alles in Ordnung.

Doch Tako war ein vorsichtiger Mann, der sämtliche Möglichkeiten in Erwägung zog, als Erstes immer diejenigen, die ihn selbst betrafen. Er wollte nicht, dass die Eruption überraschend kam oder die Leute glaubten, er sei nicht darauf vorbereitet gewesen.

Da Tako Takayama praktisch veranlagt war, hatte er letzten Endes eine Möglichkeit gefunden, wie er die Situation zu seinem Vorteil nutzen konnte. Dazu hatte er einige Anrufe getätigt.

Dass es gerade jetzt zu einem Beben kam, war ihm unangenehm: Die Trommeln in der Halle schwiegen, das Tanzen hatte aufgehört, die Zuschauer wurden unruhig. Tako nickte Billy Malaki zu, dem Moderator, der am Bühnenrand stand. Tako hatte ihm bereits im Vorfeld Anweisungen gegeben.

Billy schnappte sich das Mikrofon und sagte mit einem lauten Lachen: »Heya, sogar Madame Pele gibt unserem Festival ihren Segen! Ihr eigener Hula! Sie hat den Rhythmus im Blut, ya!«

Die Zuschauer lachten und applaudierten stürmisch. Die hawaiianische Göttin der Vulkane zu erwähnen, erwies sich als kluger Schachzug. Die Erschütterungen ließen nach, und Tako entspannte sich und wandte sich mit einem Lächeln wieder Ellen Kulani zu.

»Also«, sagte er, »wo waren wir stehen geblieben?«

Er tat so, als hätte er persönlich dem Beben Einhalt geboten. Sogar die Natur gehorchte ihm, Henry Takayama!

Kapitel 4

Hawaiian Volcano Observatory, Hawai‘iVerbleibende Zeit bis zur Eruption: 114 Stunden

John MacGregor blickte auf der Herrentoilette in den Spiegel über dem Waschbecken, knöpfte den Kragen seines blauen Arbeitshemds zu, zog den Knoten seiner schwarzen Strickkrawatte fest und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann holte er tief Luft. Im Spiegel blickte ihn sein entmutigtes Gesicht an. Er versuchte zu lächeln, doch es wollte nicht gelingen. John MacGregor seufzte. Pressekonferenzen zu geben, hasste er noch mehr, als Budget-Besprechungen zu leiten.

Als er zur Tür hinausging, wartete Jenny Kimura auf ihn. »Wir wären so weit, Mac.«

»Sind alle da?«

»Das Team aus Honolulu ist gerade gekommen.« Jenny war zweiunddreißig und die leitende Wissenschaftlerin der Forschungsstation. Sie war gebürtig aus Honolulu, hatte in Yale in Geowissenschaften und Planetologie promoviert, war eloquent und attraktiv. Äußerst attraktiv, fand MacGregor. Normalerweise übernahm sie die Pressekonferenzen, doch dieses Mal hatte sie sich kategorisch geweigert.

»Klingt für mich nach einer Mac-Angelegenheit«, hatte sie gesagt.

»Ich bezahle dich dafür, dass du eine Jenny-Angelegenheit daraus machst.«

»So viel Geld hast du nicht«, hatte sie erwidert.

Jetzt fummelte MacGregor am Knoten seiner Krawatte. »Was denkst du?«, fragte er sie.

»Ich denke, du siehst aus, als wärst du auf dem Weg zum elektrischen Stuhl«, sagte sie.

»So schlimm?«

»Schlimmer.«

»Sehe ich mit der Krawatte nicht aus wie ein Weichei? Vielleicht sollte ich sie abnehmen.«

»Alles bestens«, sagte Jenny. »Du musst nur lächeln.«

»Dafür musst du mich bezahlen«, sagte er.

Sie lachte, nahm ihn sanft am Ellbogen und bugsierte ihn in den Umkleideraum. Sie gingen an Reihen von Kleiderspinden vorbei, dann an mehreren grünen, hitzeresistenten Overalls, die an Wandhaken hingen, über denen Namen standen.

»Diese Schuhe tun weh«, beklagte sich Mac. Er trug auf Hochglanz polierte braune Oxford-Halbschuhe, die er am Morgen in seinen Pick-up geworfen hatte. Sie quietschten beim Gehen wie im Schuhgeschäft.

»Du siehst akamai aus für einen kama‘āina«, stellte Jenny fest – schick für einen Nicht-Einheimischen. »Ich habe die große Karte an einem Ständer aufgehängt, damit du darauf verweisen kannst«, fuhr sie fort und kehrte damit zur Tagesordnung zurück. »Die Riftzonen sind markiert. Die Karte wurde vereinfacht, damit im Fernsehen alles gut zu erkennen ist.«

»Okay.«

»Möchtest du die seismischen Daten verwenden?«

»Wären sie fertig?«

»Nein, aber ich kann sie dir ruckzuck besorgen. Von den letzten drei Monaten oder vom ganzen letzten Jahr?«

»Vom letzten Jahr ist anschaulicher.«

»Okay. Und Satellitenbilder?«

»Nur die MODIS-Bilder.«

»Sind auf einer Schautafel.«

Sie verließen den Umkleideraum, durchquerten einen Saal, gingen einen Korridor entlang. Durch die Fenster sah Mac die anderen Gebäude des Observatoriums, die mit Laufstegen aus Stahlblech miteinander verbunden waren. Das HVO war auf dem Rand der erstarrten Caldera des Kīlauea errichtet, und obwohl heutzutage im Krater keine Lava floss, spazierten immer viele Touristen umher und deuteten nach unten auf die Dampfschlote.

Auf dem Parkplatz stand eine ganze Flotte von Übertragungswagen, die meisten davon weiß mit auf dem Dach montierten Satellitenschüsseln. MacGregor seufzte. Es klang nicht glücklich.

»Das wird schon«, ermutigte ihn Jenny. »Denk einfach dran zu lächeln. Du hast ein sehr nettes Lächeln.«

»Sagt wer?«

»Sage ich, mein Hübscher.«

»Flirtest du etwa mit mir?«

Sie lächelte. »Na klar.«

Sie gingen durch den Datenraum, in dem Computerspezialisten über Tastaturen gebeugt saßen. Mac warf einen Blick nach oben auf die Monitore, die an der Decke befestigt waren und den Vulkan aus verschiedenen Perspektiven zeigten. Tatsächlich stieg jetzt Dampf aus dem Gipfelkrater des Mauna Loa auf, was bewies, dass er recht gehabt hatte, dass er kein Panikmacher war: Bis zur Eruption wären es nur noch wenige Tage. Es kam ihm so vor, als hätte eine tickende Uhr mit dem Countdown begonnen.

Als sie den Raum durchquerten, wünschte ihm ein Chor von Stimmen viel Glück. Rick Ozakis Stimme übertönte die anderen: »Schicke Schuhe, ya!«

Die Bemerkung entlockte Mac ein echtes Lächeln. Er zeigte seinem Freund hinter dem Rücken den Mittelfinger.

Mac und Jenny gingen durch eine weitere Tür und den Hauptkorridor entlang. In dem Raum am anderen Ende sah er das Podium und die Karte auf dem Ständer. Er hörte das Gemurmel der wartenden Journalisten.

»Wie viele sind da?«, fragte Mac, unmittelbar bevor sie hineingingen.

»Alle, mit denen wir gerechnet haben«, sagte Jenny. »Also, zeig dich von deiner Schokoladenseite.«

»Ich habe keine Schokoladenseite«, erwiderte er.

Jenny trat einen Schritt zur Seite, und Mac ging voraus und spürte, wie sich die Blicke aller im Raum auf ihn richteten.

Tako Takayama hatte ihm erzählt, dass beim Ausbruch des Mauna Loa im Dezember 1935 George S. Patton, damals Oberstleutnant beim Fliegerkorps der U. S. Army, an den Bemühungen beteiligt gewesen war, den Lavastrom umzuleiten. Mac hatte das Gefühl, dass gerade eine ähnliche Hitze auf ihn zuströmte.

Ja, dachte er, das bin ich, John MacGregor – der Patton der Vulkanologie.

Kapitel 5

John MacGregor wusste, wer er war und wo seine Stärken lagen. Vor Publikum zu sprechen, gehörte definitiv nicht dazu. Er räusperte sich und tippte nervös auf das Mikrofon.

»Guten Tag. Ich bin John MacGregor, wissenschaftlicher Leiter des Hawaiian Volcano Observatory. Danke, dass Sie heute alle gekommen sind.«

Er wandte sich der Karte zu. »Wie Sie wissen, überwacht dieses Observatorium sechs Vulkane: den submarinen Vulkan Kama‘ehuakanaloa, ehemals Lō‘ihi, den Haleakalā auf Maui sowie vier Vulkane auf Big Island, darunter die beiden aktiven Vulkane Kīlauea, ein verhältnismäßig kleiner Vulkan, der seit über vierzig Jahren ununterbrochen aktiv ist, und Mauna Loa, der größte Vulkan der Welt. Letzterer hat 2022 Lava gespuckt, seit 1984 ist es aber zu keinem größeren Ausbruch gekommen.«

Auf der Karte war der Kīlauea als kleiner Krater neben der Forschungsstation zu sehen. Der Mauna Loa dagegen sah aus wie eine riesige Kuppel. Seine Flanken erstreckten sich über die halbe Insel.

Mac holte tief Luft und atmete aus. Das Mikrofon fing das Geräusch ein.

»Ich muss heute bekannt geben«, sagte MacGregor, »dass eine Eruption des Mauna Loa unmittelbar bevorsteht.«

Die Fotografen sorgten für ein Blitzlichtgewitter. MacGregor blinzelte die weißen Punkte vor seinen Augen weg, räusperte sich abermals und fuhr fort. Wahrscheinlich hatte er sich nur eingebildet, dass die Lampen der Fernsehteams gerade heller geworden waren.

»Wir rechnen mit einer ziemlich großen Eruption«, sagte er, »und wir erwarten sie innerhalb der nächsten zwei Wochen.«

Er hob die Hand, um die Fragen abzuwehren, mit denen er im selben Moment bombardiert wurde. Er drehte sich zu Jenny, die die seismischen Daten an einem Ständer zu seiner Linken aufhängte. Die Abbildung, auf der die Epizentren sämtlicher Erdbeben auf der Insel im Lauf des vergangenen Jahres markiert waren, zeigte dunkle Häufungen in der Umgebung des Gipfels.

»Gemäß der von uns gesammelten und analysierten Daten wird die erwartete Eruption höchstwahrscheinlich bei der Gipfelcaldera erfolgen«, fuhr MacGregor fort, »was bedeutet, dass für die Stadt Hilo aller Voraussicht nach keine Gefahr besteht. Und jetzt beantworte ich gern Ihre Fragen.«

Hände gingen hoch. Mac gab nicht oft größere Pressekonferenzen, aber er kannte die Spielregeln. Eine davon lautete, dass die Lokalnachrichten immer die erste Frage stellen durften.

Er deutete auf Marsha Keilani, die Reporterin von KHON News in Hilo. »Mac, Sie sprachen von einer ›ziemlich großen Eruption‹. Wie groß genau?« Sie lächelte. »Ich frage für einen Freund.«

»Wir rechnen damit, dass sie mindestens so groß sein wird wie die Eruption 1984. Damals wurden in drei Wochen eine halbe Milliarde Kubikmeter Lava ausgestoßen, die mehr als vierzigtausend Quadratkilometer bedeckten«, sagte er. »Tatsächlich könnte die erwartete Eruption sogar noch deutlich größer sein, vielleicht so groß wie die Eruption 1950. Wir wissen es im Moment einfach noch nicht.«

»Aber Sie haben offenbar eine Vermutung, was den Zeitpunkt anbelangt, sonst wären wir doch nicht hier«, stellte sie fest. »Sprechen wir von zwei Wochen? Oder von früher?«

»Möglicherweise früher, ja. Wir haben sämtliche Daten durchforstet, aber es gibt bislang noch keine Möglichkeit, um den Zeitpunkt einer Eruption exakt vorherzusagen.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir sind einfach nicht sicher.«

Keo Hokulani vom Honolulu Star-Advertiser war der Nächste. »Dr. MacGregor, warum drücken Sie sich so vage aus? Sie verfügen über zahllose hoch entwickelte Messgeräte. Sie müssen doch genauere Angaben machen können, was das Ausmaß und den Zeitpunkt anbetrifft!« Keo wusste Bescheid, da er ein paar Monate zuvor eine Führung durch das HVO bekommen hatte. Dabei hatte er sämtliche neuesten Computermodelle und Vorausberechnungen gesehen und war im Bilde.

»Wie Sie wissen, Keo, ist der Mauna Loa einer der am genauesten überwachten Vulkane weltweit. Wir haben ihn mit Neigungswinkelmessern und Seismometern regelrecht zugepflastert, Drohnen mit Wärmebildkamera überfliegen ihn, es gibt Satellitendaten in sechsunddreißig verschiedenen Frequenzen, Radar und Sensoren für sichtbares Licht und für Infrarotlicht.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte. »Und trotzdem muss ich mich vage ausdrücken.« Er lächelte erneut, zum Zeichen, dass er um Nachsicht bitten müsse. »Vulkane sind ein bisschen – oder mehr als ein bisschen – wie wilde Tiere. Es ist schwierig und gefährlich vorherzusagen, wie sie sich verhalten werden.«

Wendy Watanabe von einem der Fernsehsender in Honolulu hob die Hand.

»Bei dem Ausbruch 1984«, sagte sie, »kam die Lava ziemlich nah an Hilo heran, und die Menschen fühlten sich bedroht. Sie sagen also, dass diesmal für Hilo keine Gefahr besteht?«

»Das ist richtig«, sagte MacGregor. »’84 kam die Lava bis auf etwa sechs Kilometer an Hilo heran, aber die Hauptlavaströme flossen nach Osten. Wie ich schon sagte, dieses Mal rechnen wir damit, dass der Großteil der Lava von Hilo wegfließt.« Er drehte sich um und deutete auf die Karte. Dabei kam er sich vor wie ein Meteorologe im Lokalfernsehen. »Das bedeutet, sie wird den Nordhang hinunter ins Zentrum der Insel fließen, zum Sattel zwischen dem Mauna Loa und dem Mauna Kea. Das ist ein großes und – glücklicherweise – größtenteils unbewohntes Gebiet. Das Mauna Kea Science Reserve hat dort mehrere Observatorien in gut dreieinhalbtausend Meter Höhe, und die Army betreibt eine große Ausbildungsbasis auf achtzehnhundert Metern, aber das ist alles. Ich möchte also noch einmal wiederholen – diese Eruption stellt keine Gefahr für die Einwohner von Hilo dar.«

Wendy Watanabe hob abermals die Hand. »Wann wird das HVO die Vulkan-Warnstufe erhöhen?«

»Solange der Mauna Loa erhöhte Aktivität zeigt, bleibt die Warnstufe Gelb bestehen«, erklärte MacGregor. »Wir richten unseren Fokus weiterhin auf die nordöstliche Riftzone.«

Ein Reporter, den er nicht kannte, fragte: »Wird der Mauna Kea ebenfalls ausbrechen?«

»Nein. Der Mauna Kea ist inaktiv. Er ist seit ungefähr viertausend Jahren nicht mehr ausgebrochen. Wie Sie wissen, gibt es auf Big Island fünf Vulkane, aber nur zwei davon sind derzeit aktiv.«

Jenny Kimura stand neben MacGregor. Sie seufzte erleichtert und lächelte. Besser hätte es nicht laufen können, dachte sie. Die Reporter waren nicht sensationslüstern, und Mac schien sich wohlzufühlen, schien sich seiner selbst und seiner Informationen sicher zu sein. Er redete mühelos und umschiffte dabei die Themen, die sie nicht ansprechen wollten. Sie fand, dass er die Fragen zum Ausmaß der bevorstehenden Eruption besonders gut handhabte.

Es war Mac gelungen, bei der Sache zu bleiben und sich nicht in Details zu verlieren, wie er es manchmal tat. Jenny kannte die Neigungen ihres Chefs. Bevor John MacGregor nach Hawai‘i gekommen war, hatte er dem Beraterteam des United States Geological Survey angehört, das in die ganze Welt ausgesandt wurde, wenn irgendwo eine Eruption bevorstand. Seit seiner Studentenzeit war er bei allen berühmten Vulkanausbrüchen vor Ort gewesen. MacGregor war 2010 beim Ausbruch des Eyjafjallajökull und des Mount Merapi dabei gewesen, 2011 beim Ausbruch des Puyehue-Cordón Caulle, 2018 beim Ausbruch des Krakatau und 2022 bei dem des Hunga Tonga-Hunga Ha‘apai. Und er hatte sehr schlimme Dinge gesehen. Alles nur, wie er es formulierte, »weil man zu lange abgewartet hatte, das heißt, bis es zu spät war.«

MacGregors Erfahrungen hatten dazu geführt, dass er sich eine »Augen zu und durch«-Einstellung angeeignet hatte. Er schob nichts auf die lange Bank und war immer bereit, für Worst-Case-Szenarien zu planen. Er war ein bedächtiger Wissenschaftler, aber in administrativen Angelegenheiten ein schneller Entscheider, der dazu neigte, erst zu handeln und sich dann Gedanken wegen der Konsequenzen zu machen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht.

Beim Hawaiian Volcano Observatory genoss Mac höchstes Ansehen, doch manchmal blieb es an Jenny hängen, nach seinen überstürzten Entscheidungen die Scherben aufzusammeln. Sie konnte sich nicht erinnern, wie oft sie schon gesagt hatte: »Aha, okay …«, nachdem sie eine seiner spontanen Ideen gehört hatte.

Gleichzeitig handelte er stets umsichtig und kollegial. Er war immer bereit zu helfen. Da er als Jugendlicher kurzzeitig selbst auf die schiefe Bahn geraten war, engagierte er sich als Surflehrer für Jugendliche, die aus schwierigen Verhältnissen kamen. Während er diese Jungen trainierte, versuchte er, einige von ihnen dazu zu motivieren, sich in der Schule mehr anzustrengen, und andere, die Schule nicht hinzuschmeißen. Ein paar von ihnen hatte er sogar dazu gebracht, ein Praktikum am Hawaiian Volcano Observatory zu machen. Und er verfolgte immer ihren weiteren Werdegang, wenn sie das HVO wieder verließen und an einer Universität studierten.

Was außerdem für ihn sprach, war seine unvergleichliche Erfahrung. Alle anderen Mitarbeiter des HVO hatten die berühmten Eruptionen auf Video gesehen. MacGregor war bei allen live dabei gewesen. Wenn er jetzt so schnell und entschieden handelte, hatte er seine Gründe. Er war dabei gewesen. Er wusste es besser.

Und weil er es besser wusste, hielt er es für geboten, nicht offen zu erklären, dass das HVO der größten Eruption seit hundert Jahren auf der Spur war. Es hätte nur Panik ausgelöst, ganz egal, welche Seite des Vulkans ausbrechen würde.

Und es gab noch etwas, das Mac und Jenny wussten, die Medien aber nicht.

John MacGregor hatte sich nicht nur vage ausgedrückt. Er hatte pfeilgerade gelogen.

Er wusste haargenau, wann die Eruption stattfinden würde. Es würde nicht in zwei Wochen geschehen und auch nicht in einer.

Noch fünf Tage.

Der Countdown lief.

Kapitel 6

Je länger die Pressekonferenz andauerte, desto entspannter wurde MacGregor. Er fütterte die Anwesenden mit Informationen, die beruhigend wirkten, weil sie nichts mit der aktuellen Lage zu tun hatten. Er erklärte ihnen, dass die hawaiianischen Inseln auf einem Hotspot lagen, gebildet von einer Mantel-Plume – einem Loch im Meeresboden, durch das periodisch Magma austrat. Während das Magma aus dem Erdinneren aufstieg, kühlte es aus und bildete eine Lavakuppel, die langsam wuchs, bis sie als Insel die Oberfläche des Meeres durchbrach. Jede der Inseln wurde bei ihrer Entstehung durch die Verschiebung der Pazifischen Platte nach Nordwesten verlagert und ließ dabei den Hotspot zurück, an dem sich eine neue Insel zu bilden begann.

Dieser Hotspot hatte eine ganze Inselkette hervorgebracht, die sich über den halben Pazifik erstreckte. Die hawaiianischen Inseln waren lediglich das Ende dieser Kette. Nachdem ihr Vulkanismus geendet hatte, fingen die Inseln an, langsam zu erodieren und zu schrumpfen. Ni‘ihau und Kaua‘i waren die ältesten und kleinsten der hawaiianischen Inseln, gefolgt von O‘ahu, Maui und Hawai‘i.

John MacGregor war in seinem Element. Die Leute vor ihm mochten das Gefühl haben, dass der Boden unter ihnen noch immer wanke. Er, Mac, hatte längst wieder Fuß gefasst.

»Nach geologischen Maßstäben«, sagte MacGregor, »ist die Hauptinsel Hawai‘i extrem jung. Das reinste Baby. Sie ist eine der wenigen Landmassen auf unserem Planeten, die jünger sind als die Menschheit selbst. Vor drei Millionen Jahren, als in der afrikanischen Steppe kleine Affen anfingen, sich auf die Hinterbeine zu stellen, existierte die Insel Hawai‘i noch nicht. Erst vor einer Million Jahren, als der Homo habilis, der Nachfahre des frühen Affenmenschen, in primitiven Behausungen wohnte und anfing, Steinwerkzeuge zu verwenden, begann das hawaiianische Meer zu brodeln und offenbarte die Existenz von submarinen Vulkanen. Seit damals haben fünf verschiedene Vulkane genug Lava ausgestoßen, um an der Oberfläche des Meeres eine Insel entstehen zu lassen.«

Er hielt inne, sah sein Publikum an. Viel von dem, worüber er sprach, war komplex, darüber war er sich im Klaren. Noch lauschten alle gebannt. Doch er durfte ihre Aufmerksamkeit nicht überstrapazieren.

Er fuhr fort: »Das Eruptionsmuster der fünf Vulkane auf der Hauptinsel Hawai‘i entspricht dem der gesamten Inselkette.« Von den fünf Vulkanen war der am weitesten nördlich gelegene Kohala erloschen und stark erodiert. Er war seit 460 000 Jahren nicht mehr ausgebrochen. Der nächstnördlichste war der Mauna Kea, der seit viereinhalbtausend Jahren nicht mehr ausgebrochen war. Der dritte war der Hualālai, der seit mehr als zweihundert Jahren keine Lava mehr gespuckt hatte – seit der Präsidentschaft Jeffersons. (Mac machte sich nicht die Mühe, den Anwesenden zu sagen, dass es sich beim Hualālai um den viertgefährlichsten Vulkan Amerikas handelte. Die Touristen, die Kona besuchten, brauchten das nicht zu wissen.) Dann gab es noch die beiden aktiven Vulkane Mauna Loa und Kīlauea.

Und schließlich, fünfzig Kilometer weiter südlich, erklärte er, forme der submarine Vulkan Kama‘ehuakanaloa, früher Lō‘ihi genannt, gut anderthalb Kilometer unter der Meeresoberfläche eine neue Insel …

Er lächelte. »Die schriftliche Zwischenprüfung findet Ende der Woche statt«, sagte er. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Noch Fragen?«

Er hätte sich gern aus dem Staub gemacht, ihm war jedoch beigebracht worden, nicht zu gehen, solange noch Hände gehoben wurden.

»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein heftiger Ausbruch wird?«, fragte ein älterer Reporter, der ihm nicht bekannt vorkam.

»Nicht sehr groß. Die letzte explosive Eruption hat in prähistorischen Zeiten stattgefunden.«

»Und wie hoch ist das Risiko, dass ein Lavastrom Hilo erreicht?«

»Gleich null.«

»Hat nicht in der Vergangenheit schon einmal Lava Hilo erreicht?«

»Ja, vor Tausenden von Jahren. Die Stadt Hilo ist sogar auf alten Lava-Ablagerungen gebaut.«

»Falls doch Lava nach Hilo fließen sollte, was kann getan werden, um sie aufzuhalten?«, wollte der ältere Reporter von Mac wissen.

»Wir glauben nicht, dass sie in diese Richtung fließen wird. Wir gehen davon aus, dass sie nach Norden in Richtung Mauna Kea fließen wird.«

»Ja, das ist mir schon klar. Aber könnte ein Lavastrom aufgehalten werden?«

MacGregor zögerte. Er konnte es kaum erwarten, endlich das Podium zu verlassen, aber die Frage war berechtigt und verdiente eine ehrliche Antwort.

»Bislang ist es noch niemandem gelungen, Lava aufzuhalten«, gab er zu. »In der Vergangenheit hat man auf Hawai‘i versucht, die Ströme mit Sprengungen umzuleiten, man hat versucht, mit Bulldozern Schutzwälle aufzuschütten, um sie umzuleiten, und man hat versucht, die Lava mit Meerwasser zu besprühen, um sie abzukühlen und umzuleiten. Keine dieser Methoden hatte Erfolg.«

Er warf Jenny einen Blick zu, die daraufhin eilig vortrat und sagte: »Gibt es noch irgendwelche spezifischen Fragen zu der bevorstehenden Eruption?« Sie ließ den Blick über das Publikum schweifen. »Nein? Dann bedanken wir uns bei Dr. MacGregor und bei Ihnen allen, dass Sie gekommen sind. Falls Sie noch Fragen haben, dann melden Sie sich gern bei uns. Unsere Kontaktdaten stehen auf der Presseerklärung.«

Sie hob die Hand, als Bewegung in die Gruppe von Journalisten kam. »Ich habe noch ein paar Ankündigungen für die Fernsehteams. Wenn die Eruption beginnt, haben Sie bestimmt Interesse an B-Roll-Material und Überflügen. Ich erkläre Ihnen kurz, wie es laufen wird. Sollte es sich um eine große Eruption handeln, sind Überflüge untersagt, weil Vulkanasche die Flugzeugtriebwerke schädigt. Wir werden allerdings dreimal am Tag einen Helikopter hinaufschicken und Ihnen dieses Bildmaterial zur Verfügung stellen. Während des Ausbruchs vom Boden aus zu filmen, ist erlaubt, solange Sie es in ausgewiesenen sicheren Bereichen tun. Wenn Sie in einem anderen Bereich filmen möchten, stellen wir Ihnen einen Geologen zur Seite. Unternehmen Sie nichts auf eigene Faust. Und gehen Sie nicht davon aus, dass Sie dieselbe Stelle wie am Tag zuvor aufsuchen können, da sich die Situation stündlich ändert. Bitte nehmen Sie diese Regeln ernst, denn bislang sind noch bei jeder Eruption Medienvertreter ums Leben gekommen, und das möchten wir dieses Mal vermeiden.«

MacGregor beobachtete, wie die Reporter und Kameraleute nach vorn zur Bühne kamen und sich um Jenny scharten. Es gelang ihm, sich unauffällig zu entfernen.

Im Gehen entledigte er sich seiner Krawatte.

Kapitel 7

Als MacGregor in den Datenraum zurückkehrte, wurde er von Totenstille empfangen. Es hatte beinahe den Anschein, als gäben sich alle größte Mühe, ihn zu ignorieren.

Kenny Wong, der Hauptprogrammierer, war damit beschäftigt zu tippen und blickte nicht auf. Rick Ozaki, der Seismologe, war damit beschäftigt, die Daten auf seinem Bildschirm zu vergrößern. Pia Wilson, die für die Warnstufen zuständig war, war damit beschäftigt, auf der Rückseite eines ihrer Monitore herumzuhantieren. MacGregor hatte keine stehenden Ovationen erwartet, hatte aber auch nicht damit gerechnet, nur das Klappern von Tasten zu hören.

Er ging zu Kenny Wong, setzte sich hin. Schob Kennys Chipstüte und seine Cola-light-Dosen beiseite, legte die Arme auf den Tisch und sagte: »Was ist los?«

»Nichts.« Kenny schüttelte den Kopf und tippte weiter.

»Irgendwas ist doch.«

»Es ist nichts.«

»Kenny …«

Kenny sah mit ernstem Blick zu ihm auf. »Okay, eine Sache gibt es, Mac. Warum hast du es ihnen nicht gesagt?«

»Ihnen was gesagt?«

»Dass wir die größte Eruption seit hundert Jahren erwarten, verdammt.«

»Komm schon, Mann, das hatten wir doch besprochen«, erwiderte MacGregor. »Das sind Reporter, und wir wissen beide, sie würden alles nur unnötig aufbauschen. Es würde in den Medien zu einer Eruption kommen. Außerdem möchte ich nicht so eine Vorhersage machen und dann falschliegen.«

»Aber du weißt, dass du damit nicht falschliegen wirst«, sagte Kenny. Er war verletzt und wütend, und er versuchte erst gar nicht, dies zu verbergen. »Du liegst auf gar keinen Fall falsch. Die Computermodelle sind seit siebenunddreißig Wochen am Stück konsistent. Komm schon, Mac! Siebenunddreißig verdammte Wochen. Das ist länger als die Baseball-Saison.«

»Kenny«, sagte MacGregor. »2004 hat der Leiter des HVO eine Eruption des Mauna Loa vorhergesagt, die nie stattfand. Glaubst du nicht, dass auch seine Programmierer ihm versichert haben, dass nicht der geringste Zweifel besteht?«

»Woher soll ich das wissen?«, sagte Kenny. »Da war ich noch nicht mal geboren.«

»Doch, warst du«, korrigierte ihn Mac. »Und bitte hör auf zu dramatisieren.«

Der Chefprogrammierer war dreiundzwanzig. Brillant, aber leicht aufbrausend, vor allem dann, wenn er die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, was sehr oft vorkam.

Von der anderen Seite des Raumes rief Rick: »Mac, das solltest du dir anschauen!« Der Seismologe – dreißig, bärtig, korpulent, in Jeans und einem schwarzen Hirano-Store-T-Shirt – war bedächtig und nachdenklich, genau das Gegenteil des hitzköpfigen Kenny Wong. Rick schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben, als MacGregor zu ihm ging.

»Was gibt’s denn?«

»Das hier ist die Zusammenfassung der seismologischen Messergebnisse des vergangenen Monats, Störsignale herausgefiltert.« Auf dem Bildschirm war ein dichtes Muster aus verschnörkelten Linien zu sehen – die von überall auf der Insel positionierten Seismometern übertragenen Daten.

»Und?« MacGregor zuckte mit den Schultern. »Das sind typische Erdbebenschwärme. Hohe Frequenz, geringe Amplituden, lange Dauer. Das haben wir inzwischen ständig. Übersehe ich was?«

»Nun, ich habe eine Zweitberechnung gemacht«, sagte Rick und tippte, während er sprach. »Die Hypozentren gruppieren sich um die Caldera herum und auf dem Nordhang. Die Übereinstimmung mit den Daten ist perfekt. Und ich meine perfekt. Deshalb glaube ich, es gibt eine Möglichkeit, über die wir sprechen sollten …«

Sie wurden von einem lauten Knattern unterbrochen, das rasch zunahm, den Boden der Forschungsstation beben und die Scheiben vibrieren ließ. Vor dem Fenster tauchte ein Helikopter auf, erschreckend nah und tief. Er flog an ihnen vorbei und stach in die Caldera hinunter.

»Du lieber Himmel!«, rief Kenny Wong und rannte zum Fenster, um besser sehen zu können. »Was ist das für ein Volltrottel?«

»Schreib das Kennzeichen auf und ruf sofort die Flugsicherung in Hilo an«, rief MacGregor. »Wer auch immer dieser Idiot ist, er wird noch einen Touristen skalpieren. Verdammt!« Er ging ebenfalls zum Fenster und sah zu, wie der Helikopter tief absank und sich knatternd den Weg über die rauchende Fläche der Caldera bahnte. Der Pilot flog keine fünf Meter über dem Boden.

Kenny Wong stand neben Mac und beobachtete das Geschehen mit einem Fernglas. »Der ist von Paradise Helicopters«, stellte er verwirrt fest. Dabei handelte es sich um ein seriöses Unternehmen mit Sitz in Hilo, dessen Piloten Touristen über Vulkanfelder und die Küste hinauf nach Kohala flogen, damit sie sich die dortigen Wasserfälle ansehen konnten.

MacGregor schüttelte den Kopf. Die Leute dort wussten sehr genau, dass überall im Park eine Mindestflughöhe von fünfhundert Metern galt. Was zum Teufel sollte das?

Der Helikopter schwenkte zurück und kreiste langsam über dem gegenüberliegenden Rand der Caldera, wobei er beinahe deren rauchende vertikale Wände streifte.

Pia hielt die Sprechmuschel des Telefonhörers zu. »Ich habe Paradise Helicopters dran. Sie sagen, dass gerade keiner ihrer Piloten fliegt. Aber sie haben Jake einen ihrer Helikopter vermietet.«

»Gibt es momentan auch irgendwelche Neuigkeiten, die mir gefallen könnten?«, schimpfte Mac.

»Jake am Steuerknüppel ist jedenfalls keine gute Neuigkeit«, sagte Kenny.

Jake Rogers war ein ehemaliger Navy-Pilot und dafür bekannt, dass er gerne Regeln brach. Nach zwei Warnungen der Bundesluftfahrtbehörde innerhalb eines Jahres war ihm von seinem Touristikunternehmen gekündigt worden, und jetzt verbrachte er den Großteil seiner Zeit in einer zwielichtigen Bar in Hilo. »Anscheinend hat Jake einen Kameramann von CBS dabei, einen Korrespondenten aus Hilo«, sagte Pia. »Der Typ will unbedingt exklusive Aufnahmen der erwarteten Eruption.«

»Tja, dadrin gibt es keine Eruption«, sagte MacGregor und starrte in die Caldera. Die Caldera – oder was die meisten als »Krater« bezeichneten – des Kīlauea war seit dem neunzehnten Jahrhundert eine Touristenattraktion auf Big Island. Mark Twain war nur einer von zahlreichen bedeutenden Menschen, die in den riesigen, rauchenden Krater hinabgeblickt hatten. Heutzutage deuteten unter anderem Dampf und Schwefel auf vulkanische Aktivität hin, aber eine tatsächliche Eruption aus der Caldera hatte es seit zwanzig Jahren nicht mehr gegeben. In letzter Zeit hatten sämtliche Lavaströme vom Kīlauea ihren Ursprung an den Flanken des Vulkans gehabt, kilometerweit entfernt in Richtung Süden.

Der Helikopter stieg wieder aus der Caldera auf, verscheuchte die Touristen, die am Geländer standen, flog dröhnend über das Observatorium und anschließend eine weite Kurve. Dann knatterte er in östlicher Richtung davon.

»Und jetzt?«, fragte Rick in den Raum hinein.

»Sieht so aus, als würde er zur Riftzone fliegen«, stellte Kenny fest. »Was ergibt das für einen Sinn?«

»Keinen«, sagte MacGregor, der immer noch am Fenster stand.

Jenny Kimura kam herein. »Wer ist der Typ? Hat schon jemand die Flugsicherung in Hilo angerufen?«

MacGregor drehte sich zu ihr um. »Sind die Presseleute noch da?«

»Nein, sind vor ein paar Minuten gegangen.«

»Habe ich nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, dass die Eruption noch nicht begonnen hat?«

»Doch, ich finde, du hast es sehr deutlich zu verstehen gegeben.«

»Mac, dieser Typ ist Korrespondent«, sagte Rick. »Er war nicht bei der Pressekonferenz. Er versucht, sich einen Vorsprung zu verschaffen. Wie es so schön heißt – wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

»Hey, Mac? Das wirst du nicht glauben.« Pia Wilson schaltete von der Haupt-Videokonsole aus sämtliche Monitore an, damit die Ostflanke des Kīlauea zu sehen war. »Der Pilot ist gerade in den Krater östlich vom Gipfel des Kīlauea geflogen, in dem sich der See befindet.«

»Er ist was?«

Pia zuckte mit den Schultern. »Schau selber.«

MacGregor setzte sich vor die Monitore. In sechs Kilometern Entfernung ragte der schwarze Aschekegel des Pu‘u‘ō‘ō – hawaiianisch für »Hügel des Grabstocks« – an der Ostflanke hundert Meter empor. Dieser Kegel war seit seiner Eruption im Jahr 1983, als er Lava sechshundert Meter hoch in den Himmel spuckte, ein Zentrum vulkanischer Aktivität. Die damalige Eruption hielt ein ganzes Jahr an und brachte riesige Mengen Lava hervor, die zum Teil dreizehn Kilometer weit hinunter zum Meer flossen. Auf dem Weg dorthin begrub sie die gesamte Ortschaft Kalapana unter sich, zerstörte zweihundert Häuser und füllte eine große Bucht bei Kaimūī, wo sie sich dampfend in den Ozean ergoss. Der Pu‘u‘ō‘ō war fünfunddreißig Jahre lang aktiv – eine der längsten durchgehenden dokumentierten Eruptionen in der Geschichte, die erst endete, als der Krater 2018 einstürzte.

Touristenhelikopter durchkämmten die Gegend auf der Suche nach neuen Schauplätzen für Fotos, und Piloten entdeckten einen See, der sich östlich des eingestürzten Kraters in einem kleineren Krater gebildet hatte. Darin brodelte Lava und schwappte in weiß glühenden Wellen seitlich gegen die Kraterwände. Hin und wieder wurde die Lava von der glühenden Oberfläche fünfzehn Meter hoch in die Luft geschleudert. Doch der Krater, in dem sich der östliche See befand, hatte einen Durchmesser von nur knapp hundert Metern – viel zu wenig, als dass man hätte hineinfliegen können.

Kein Helikopter war je dort hineingeflogen.

Bis jetzt.

»Was zur Hölle …?«, stieß Jenny aus.