Erwachen - Nir Baram - E-Book

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Nir Baram

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Beschreibung

Der neue Roman des israelischen Schriftstellers Nir Baram: „Eine Geschichte voller Gefühl, Grausamkeit und brillanter Einsichten in Leben, Tod und Kindheit.“ Abraham B. Yehoshua

Das Lebensgefühl eines jungen Mannes in Israel – Freundschaft und Einsamkeit, Liebe und Verantwortung, Verlust und Tod: In kunstvollen Rückblenden erzählt Nir Baram von Jonathans Jugend in einem Stadtviertel von Jerusalem. Von der Freundschaft zu Joël, dem Rätselhaften und Gefährdeten, vom Fight mit den Kindern aus den hohen Türmen, vom Wettstreit um das attraktivste Mädchen und der ersten Lust. Aber auch von den Konflikten in der Familie, dem bewunderten und gehassten älteren Bruder, der schweren Krankheit der Mutter und deren Tod. Aufwühlend ehrlich beschreibt dieser autobiographisch grundierte Roman das Erwachen eines jungen Mannes, der inzwischen selbst Vater und ein erfolgreicher Schriftsteller ist.

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Über das Buch

Der neue Roman des israelischen Schriftstellers Nir Baram: »Eine Geschichte voller Gefühl, Grausamkeit und brillanter Einsichten in Leben, Tod und Kindheit.« Abraham B. YehoshuaDas Lebensgefühl eines jungen Mannes in Israel — Freundschaft und Einsamkeit, Liebe und Verantwortung, Verlust und Tod: In kunstvollen Rückblenden erzählt Nir Baram von Jonathans Jugend in einem Stadtviertel von Jerusalem. Von der Freundschaft zu Joël, dem Rätselhaften und Gefährdeten, vom Fight mit den Kindern aus den hohen Türmen, vom Wettstreit um das attraktivste Mädchen und der ersten Lust. Aber auch von den Konflikten in der Familie, dem bewunderten und gehassten älteren Bruder, der schweren Krankheit der Mutter und deren Tod. Aufwühlend ehrlich beschreibt dieser autobiographisch grundierte Roman das Erwachen eines jungen Mannes, der inzwischen selbst Vater und ein erfolgreicher Schriftsteller ist.

Nir Baram

Erwachen

Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch

Carl Hanser Verlag

In Erinnerung an Uri

1

Er rollte sich auf dem breiten Bett hin und her und Schichten von Bettlaken wickelten sich um seine Schultern, Rippen, Knie, Fußsohlen, bis es nicht ein Glied zu geben schien, das sich, außer der Gesichtsmuskeln, bewegen ließ. Als er sein Gesicht betasten, sich dessen Berührung ins Gedächtnis rufen wollte, fand er im Wirrwarr der Stoffe die Hände nicht. Er blickte zu den schwarzen Vorhängen an den Fenstern, als wollte er wissen, ob gerade Tag oder Nacht sei, entsann sich, dass er über den Fußboden kriechende Splitter von Licht, zitternde vergoldete Streifen an der Wand, ein Flackern der Sonne, Autoscheinwerfer, Lichter von Türmen gesehen hatte. Auf dem Bett hatten sich Stifte, Hefte, eine Schüssel, zwei Kaffeetassen angesammelt, die Laken waren übersät mit Tintenklecksen, curryfarbenen Spritzern von Suppe, Speichel, Schokoladenkrümeln, und einige Flecken riefen ihm eine schwarzviolette Sauce eines Fleischgerichts in Erinnerung. Hin und wieder, bei einer der zahlreichen gewundenen Drehungen des Körpers, stieß er in einem Heft, auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto, auf sein lächelndes Gesicht: Er blickte tiefernst direkt in die Kamera, wohingegen auf den Lippen sich die Rundung eines geheimnisvollen Lachens abzeichnete, das sich als verschlagen oder spöttisch deuten ließ. Die Gestalter der Programmvorschauen liebten dieses Foto, die darin steckende Kraft der Jugend, und sooft er erwogen hatte, ihnen ein aktuelles zu schicken, war er davon abgekommen; die meisten Menschen würden das Foto und nicht ihn zu sehen bekommen, und es wäre besser, dass in ihrem Bewusstsein der Mann mit dem bemerkenswert jungen Gesicht verankert wäre. Manchmal kam es ihm so vor, als würde dieses Foto bei ihm für Bodenhaftung sorgen, von der Kontinuität seines physischen Daseins zeugen, während sämtliche andere Gewissheiten sich in Luft auflösten.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, wie viele Tage, an denen er vom Schlafen ins Erwachen und auf halbem Wege ins verhangene Nicht-Schlafen geglitten war, ohne, weder beim Träumen noch Wachen, etwas Klares wahrzunehmen. Mehrdeutige Gestalten und Ereignisse stießen gelegentlich ins Zentrum seines Bewusstseins vor, bewegten sich in alles umhüllendem strahlend weißem Glanz. Ihn überkam Hunger oder Durst oder Übelkeit, und das Ganze löste sich augenblicklich auf, als rotierte vor seinen Augen ein Riesenrad der Emotionen, und bei jeder Umdrehung, die es tat, beförderte es eine Emotion nach oben, die hell aufleuchtete und sich sogleich davonstahl, einen blassen Kondensstreifen hinter sich herziehend, der kurz darauf verschwand.

Das Festival war zu Ende und alle Gäste — Schriftsteller, Lektoren, Journalisten und Leute aus der Öffentlichkeitsarbeit — hatten das Hotel bereits verlassen, und sicherlich auch die Stadt. Bei Ereignissen dieser Art war Jonathan stets angespannt, wenn der Augenblick bevorstand, da der Wirbel im Vergehen war, und die Phasen dieser Auflösung verfolgte er auf Schritt und Tritt — die Leute verschwanden, und mit ihnen auch die Aushänge auf den Plätzen, die Absperrungen, die Lichter, die Freiwilligen, die Cocktail-Lounges oder Restaurants als pulsierendes Herz des Festivals. Alles leerte sich, und voilà! hatte man es mit einem Ort zu tun, den es gegeben hatte und den es nun nicht mehr gab. Zuweilen wunderte er sich, warum die anderen Schriftsteller den Abschied mit einer gewissen Seelenruhe hinnahmen, während er alle Orte aufsuchte, an denen das Festival getobt hatte, und um die verlorengegangenen Tage trauerte. Manchmal war ihm danach zumute, das Gefühl der Trauer mit einem anderen Gast zu teilen, aber er blieb immer unverstanden. Man tröstete ihn, es gäbe noch andere Festivals an anderen Orten oder dieses Festival in genau einem Jahr wieder, und man konnte seinen Kummer nicht nachvollziehen. Zwar erkannte er das Fortschreiten der Zeit an, die jedes Ereignis hinter sich lässt, aber gegen seinen Willen blieb ein Teil von ihm dort zurück, etwas scheinbar zu Ende Gegangenes lebte in seiner Seele fort.

Nun ließ er eine bestimmte Nacht Revue passieren, womöglich die letzte, bevor er bewusstlos ins Bett gefallen war. Er war bei jemandem zu Hause auf einer Party gewesen, und bei seinem Eintreffen hatten im Wohnzimmer vier ihm unbekannte Leute getanzt. Sie blickten ihn an und waren in seinen Augen schön. Eine Frau, die schwanger war, legte beim Tanzen eine Hand auf ihren Bauch und mit der anderen schwang sie eine elektrische Spielzeugkerze, deren rot-orangefarbene Flamme wie eine echte Flamme flackerte. Sie empfingen ihn warmherzig, allerdings ohne wirkliches Interesse.

Er trank einen Wodka und begab sich mit den Augen auf die Suche nach Carlos, der ihn zu der Party eingeladen hatte, er war erstaunt, dass keiner wissen wollte, wer er sei. Später setzte er sich auf den kalten Boden, und der Wind ließ seine Haut frösteln und er zurrte den roten Wollschal fester um den Hals und starrte auf die bunte Lichterkette, die von der Decke herabhing, und auf eine herumflatternde Motte; er mochte eingenickt sein, darüber hinaus hatte er keine Erinnerung an die Wohnung.

Dann stand er in einem brechend vollen Club, im Hintergrund lief einheimische Musik in fröhlich-trägem Rhythmus, und wie alle besorgte er sich am Tresen eine große Flasche Tequila und trank mitten auf der Tanzfläche daraus, Männer wie Frauen steuerten auf ihn zu und nahmen ihm die Flasche aus der Hand, gönnten sich einige Schlucke und reichten sie an andere weiter, später gab ihm einer die Flasche zurück. Dann überkam ihn ein dumpfer Schmerz in den Knien und im Rücken — schon ein Jahr plagt ihn dieser Schmerz zusammen mit einem periodisch auftretenden Zittern in den Rippen, und erst kürzlich, zum ersten Mal in seinem Leben, war er sich der Anstrengung bewusst geworden, die es kostete, um vom Stehen ins Liegen oder Sitzen zu gelangen. Täglich stellten sich bisher unbekannte neue Beschwerden ein und erweckten manchmal bei ihm den Eindruck, als würde er in seinen Körper ein Auge entsenden, das Leber, Herz, Lungen, Nieren, grau wie Zigarettenrauch, überprüfte, die sich in Krämpfen wanden.

Eine junge schwarzhaarige Frau nahm ihm die Flasche aus der Hand, und spielerisch führte sie die feuchten Finger auf seine Stirn. Dann goss sie ein wenig Tequila in die hohle Hand und er schloss die Augen und trank aus ihrer Hand, sie legte einen feuchten Finger auf seine Zunge, und er schloss die Lippen, leckte den Tequila und kostete ihre Haut, da lächelte sie und presste sich an ihn, befreite ihren Finger und führte ihn an sein Gesicht, er legte eine Hand auf ihren Oberschenkel und für einen Augenblick tanzten sie zusammen und er roch Parfüm, Sand und Ketchup, aber als er die Augen öffnete, war sie mit der Flasche schon weitergezogen. Seine Verfassung war mit einem Schlag besser geworden. Vielleicht war er aus dem Schlummer erwacht und begeistert, dass er nun hier war, bei vollem Bewusstsein und mit allen Sinnen, seine Atemzüge tat, nicht zusammengebrochen war, wie er befürchtet hatte, sondern am Leben festhielt und die Wärme der Menschen um ihn, die in ihnen verborgenen Möglichkeiten wahrnehmen konnte. Vielleicht lässt Berührung Einsamkeit verfliegen und alles Übrige ist Unfug, ging es ihm durch den Kopf, und seine Augen wandten sich den Frauen zu, ihren Gesichtern und Brüsten und nackten Beinen, dem Schweiß ihrer Körper, der die glatten Schultern glänzen ließ, der Unbeschwertheit ihrer Bewegungen beim Tanzen und ihren Händen, die durch die Luft glitten, über ihre Hüften strichen, ihre Brüste umschlangen. Er hielt nach der jungen Frau Ausschau, die zuvor mit ihm getanzt hatte, vielleicht stellte er sich nur vor, dass sie barfuß gewesen war.

Er hatte das Bedürfnis, sich an dieser Nacht zu laben, und drängte sich unter die Leute, eilte an die Bar, kaufte eine weitere große Flasche, trank und erneut verschwand die Flasche. Dann blieb Carlos neben ihm stehen, sie traten hinaus auf den Hof, um eine kleine Theke standen Leute und stopften Würstchen in sich hinein. Er roch Senf und Ketchup, und Carlos, der über eine Ermittlung sprach, die er für eine Regierungsorganisation leitete, über Studenten, die verschwunden waren, reichte ihm ein winziges Fläschchen und ein Taschenmesser. Vorsichtig schüttete Jonathan ein wenig Pulver auf die silberne Klinge, näherte sie seiner Nase, sog das Pulver ein und zog gleich darauf eine dickere Line, die er ebenfalls hastig einsog, und als er Carlos das Fläschchen zurückgab, bedauerte er, nicht noch eine gezogen zu haben. Danach wurde das Gedränge um ihn dichter und er wurde hierhin und dahin geschubst, Carlos war ihm abhandengekommen und ebenso die Gesichter, an die er sich aus der Wohnung erinnerte.

Eine junge mollige Frau mit Brille umarmte ihn — sie kam ihm von einem früheren Moment dieses Abends oder Festivals bekannt vor — und sagte, dass es ihr sehr leidtue, und da fiel ihm ein Satz ein, den er in seiner Jugend geschrieben hatte: »Wir studierten den Tod. Nicht den, der nicht unser ist/ an ihm haben wir kein Interesse/ wir sind keine Philosophen«. Dieser Satz steht in jedem seiner Bücher, ein Talisman, der ihn beschützt oder ihn an den Ursprung der Dinge erinnert, und er wusste, dass er diesen Menschen wachrütteln musste, der seit einigen Jahren in seinem Körper vor sich hin döste.

Schon immer kam es ihm so vor, dass die Menschen um ihn einen klarer definierten Charakter als er selbst besaßen und aufgrund von Vorschriften, Verpflichtungen, Zwängen und Gesetzen agierten, als wüssten sie genau, welche Dinge für sie möglich oder unmöglich waren. Während er glaubte, dass es in seiner Seele weder etwas Ausschließendes noch Verpflichtendes gab. Das Atmen fiel ihm schwerer, die Knie zitterten wie bei einem Krampf, und die Vielzahl an lachenden Gesichtern verschmolz zu einem riesigen Lächeln, das die gesamte Welt einschloss. Erneut unterlag er der Versuchung, an einen versöhnenden Moment in der Zukunft zu glauben. Ein Aufwallen der Emotion von der Gegenwart in die Zukunft, niemals in die Vergangenheit.

Danach legte er sich in dem langen schmalen Wohnzimmer, das einem Zugwaggon glich, auf das Sofa gegenüber einer Bar und jeder Menge Bilder, die Farben auf seine Augen spritzten, bis er sie schloss und hörte, wie einer schrie, ihm sei hundekalt, und dann merkte, er war es selbst. Man hüllte ihn in eine warme Wolldecke, die sich anfühlte wie die orangefarbene Decke zu Hause, und in dem Augenblick, da seine Haut sich erwärmte, ließ er seinen Körper zu Boden fallen, ohne zu wissen warum, vielleicht aus schierer Lust am Schmerz. Einer sagte etwas auf Spanisch, die Stimme erinnerte an Carlos, er hoffte, dass Carlos da wäre, und ein anderer antwortete ihm und sprach zärtlich zu ihm wie zu einem, mit dem man Mitleid haben sollte. Einige Minuten verstrichen und in tiefschwarzer Finsternis sank sein Kopf auf die Knie der jungen Frau mit der Brille. Er hörte ihr Herz klopfen, als sie ihm über Hals und Gesicht strich, die Berührung seiner Haut war tief und intensiv und er fühlte sich behütet. Sie sagte zu ihm, sie habe es zunächst nicht verstanden und sei vielleicht ein wenig gekränkt gewesen, aber nun verstehe sie alles — sein engster Freund sei gestorben.

Im Hotel, in einem weiteren Augenblick des Nicht-Schlafens, hatte er sie durch das bolivianische Restaurant schweben sehen, in dem die Wände der drei Räume gebogen und gekrümmt waren wie die Umrisse der Kontinente Amerika, Europa und Asien. Er befand sich im Raum Asien mit den vielen Vorsprüngen und befremdlichen Winkeln an den Seiten. Es war in einer Festivalnacht, sie hatten an einer langen Tafel gesessen mit dem Verleger der größten Stadtmagazine, der zudem Teilhaber an dem Restaurant war. Ein Mann Mitte sechzig, dessen Gesichtsausdruck über dem weißen pelzigen Bart, an dem er von Zeit zu Zeit kräftig zog, düster und gelangweilt blieb. Seine kleinen blauen Augen ohne jede Spur von Augenbrauen musterten die Gäste mit einem Blick, wie man ihn auf Mäntel in einem Laden wirft. Alle sprachen in einem flüsternden, erschrockenen Ton, der die Hochstimmung nicht verbergen konnte, eine aufwühlende Enthüllung mitzuerleben: Vor etwa einem Jahr war der Verleger gekidnappt und in einem stockfinsteren feuchten Kellerverlies festgehalten worden und hatte sich lediglich von Brot, Gemüse, Wasser und womöglich auch Küchenschaben oder Würmern ernährt, es hieß, man habe ihn gezwungen, seine Schnürsenkel und den Schal zu essen, in den ein goldenes Monogramm mit dem Namen seiner Frau gestickt war, und er habe seine Peiniger darum gebeten, dass beides gesalzen würde. Er war nach einem Monat gegen Lösegeld freigekommen, vielleicht eine Million Dollar, vielleicht auch fünf Millionen, und er sah entsetzlich abgemagert aus. Man flüsterte, sein Gesicht gliche dem eines Skeletts und wirke seither immer trübsinnig. Tatsächlich war er so dürr geblieben, empfand an nichts Freude und war möglicherweise in den muffigen Kellern der Welt zu der Einsicht gelangt, dass die Summe dessen, was er erreicht, und der ganze Reichtum, den er begehrt hatte, Schall und Rauch waren. Die Gäste hingen dem Gedanken nach, ob man überhaupt einen Menschen verstehen könne, der einem feuchten Keller entkommen war, wo man ihm tagtäglich weisgemacht hatte, dass ihm in genau fünf Minuten eine Kugel in den Kopf gejagt würde.

Jonathan grübelte, ob all diese Fragen tatsächlich mit seinem Gegenüber in Zusammenhang stünden, denn er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Verleger es geradezu genoss, seiner Ungeduld und Verachtung gegenüber seinem Umfeld, hauptsächlich Schriftsteller und Intellektuelle, freien Lauf zu lassen. Er erinnerte sich, dass Carlos gesagt hatte, seiner Meinung nach sei der Bonze gar nicht entführt worden, allenfalls habe man ihn einige Stunden festgehalten, und es handele sich nur um Legenden, die die mexikanischen Buchkonzerne den Leuten aus dem Westen auftischten, um mit der Exotik Handel zu treiben und ihnen dann die lausigen Romane der Narco-Culture anzudrehen.

Gegen Ende des Abends maß der Verleger ihn mit Blicken und erkundigte sich, worum es in seinem Roman gehe. Jonathan sah ihn geradeheraus an und erwiderte: »Ich werde Ihnen das Buch schicken«, ohne irgendetwas zur Handlung, den Figuren und den Fragen zu sagen, die das Buch aufwarf. Aber wenn er angenommen hatte, der Verleger wisse die Tatsache zu schätzen, dass er ihn nicht mit Geschichten ermüdete, erwies sich das prompt als falsch, denn der Mann war von dieser Antwort enttäuscht, die es ihm vereitelte, die Schwächen der Handlung, die Figuren zu verspotten oder auch andere Bücher zu erwähnen, die er augenscheinlich nachgeahmt habe. Alsdann zog der Verleger an seinem Bart und meinte, dass die wirklich gefährlichen Künstler diejenigen ohne Talent seien, die über ein nicht unbedeutendes Maß an Kreativität verfügen. Danach sagte er nichts mehr zu ihm, weder im Guten noch im Bösen. Jonathan war sich nicht sicher, ob die junge Frau mit der Brille etwas mit diesem Restaurant zu tun hatte oder sich die Erinnerungen an einige Tage in dieser Stadt miteinander verwoben.

Nach und nach schälte er seinen Körper aus den Bettlaken. Er zählte mindestens vier, zerknittert und schweißnass waren sie, und warf sie auf den Boden. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch die glänzende schwarze Hose, den karierten Pullover und graue Socken trug, dass zwischen den Beinen die zwei schwarzen, dreckverkrusteten Schuhe lagen.

Er entledigte sich seiner Kleidung und ging unter die Dusche, das warme Wasser spritzte von seinem Körper und begann auf dem Boden Pfützen zu bilden. Sämtliche Hotelfläschchen aus dem Regal schüttete er über seinen Körper, einen Moment erregte die Überlagerung der Gerüche bei ihm Brechreiz, danach duschte er mehrmals. Das brühheiße Wasser im Nacken empfand er als wohlig und beruhigend. Er trat aus der Dusche und folgte mit dem Blick den sich ausbreitenden Pfützen, die bereits die Füße des Bettes erreicht hatten. Er raffte mehrere große und kleine Handtücher zusammen und breitete sie auf dem Fußboden aus, faltete dann die Laken und wischte damit die Pfützen auf, die bis zu den Wänden gekrochen waren. Er trat ans Fenster, blieb hinter dem Vorhang stehen und sah in den nächtlichen Himmel über der Stadt und die darin flackernden Lichter. Dann zog er sich rasch einige weniger zerknitterte Sachen über und erwog kurz, die Bartstoppeln zu rasieren, die in den letzten Tagen gewachsen waren, ließ es bleiben und ging aus dem Zimmer.

Ein Hotelangestellter lächelte ihn an, als er aus dem Fahrstuhl trat, und in der Lobby warfen ihm die zwei Rezeptionistinnen einen erwartungsvollen Blick zu, doch er schlug den Weg zur Drehtür ein. Draußen hielt er eines der Taxis an und nannte dem Fahrer den Namen des Restaurants, den er noch gut im Gedächtnis hatte, da sowohl seine Lektorin als auch die Ehefrau des Verlegers so hieß. »Er weiß, dass die Literaturleute sich über ihn lustig machen, dass sie es vulgär finden, ein Restaurant nach der Ehefrau zu benennen, aber das ist ihm scheißegal«, hatte Carlos gesagt, der amerikanische Lyriker ins Spanische übersetzte und den Verleger verabscheute. Der hatte ihm einst die Herausgabe der englischen Ausgabe des Magazins angeboten. »Da kommt so ein Millionär auf dich zu und meint, er will dich zu einem großen Herausgeber machen, aber zuvor hast du eine halbe Million Dollar aufzutreiben. Ein derart durchgeknallter Typ ist mir im ganzen Leben noch nicht begegnet.«

Jonathan entsann sich an eine Lichtblase, doch während er in einem kleinen Park auf einem Kiesweg zwischen gelb-violetten Blumenrabatten entlangging, die rechts und links einen Zitronenbaum einfassten, wurden die Lichter schummrig. Als er durch die Fenster des Restaurants blickte, sah er, dass sämtliche Tische leer waren, zwei Kellnerinnen in Anzug und Fliege liefen umher. Er blieb vor der verschlossenen Tür stehen und pochte an die Scheibe. An die Kellnerin, die auf ihn zukam, erinnerte er sich, nur dass sie jetzt älter wirkte, die Haut unter den Augen war grau, und ihr zuvor zusammengebundenes Haar, in verblichenen Blondtönen, fiel lässig über ihre Schultern. Sie erkundigte sich, wen er suche, und er nannte den Namen des Verlegers. Sie fragte, ob er ihn kenne, und er bejahte, sie hätten vor zwei, drei Tagen hier zusammengesessen. Sie prüfte ihn mit sonderbarem Blick und meinte, der Verleger sei in Buenos Aires gewesen und erst gestern Nacht zurückgekehrt, und er murmelte, dann sei es wohl eine Woche zuvor gewesen. Ihre Augen verengten sich, Falten der Verwunderung erschienen auf ihrer Stirn, ihr Gesichtsausdruck verkehrte sich ins Grobe, als hätte sie über die Vielfalt ihres Mienenspiels keine Kontrolle.

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber, bis er auf dem Absatz kehrtmachte und den Park verließ. In der Seitenstraße wandten ihm zwei Menschen in Ledermänteln ihre Gesichter zu, und er senkte den Blick. Angst hatte er keine, was eigenartig war, denn meist hielt er sich genauestens an die Regeln und mied nachts die Seitenstraßen.

Er machte um das Restaurant einen Bogen, bis er zu einer Absperrung und einer unebenen freien Fläche kam, auf der zwei schwarze Wagen parkten. Zwei Männer in verdreckten Schürzen schleppten große Müllsäcke und warfen sie in den Container am Ende der freien Fläche. Jonathan beobachtete sie auf ihrer wiederkehrenden Bahn, und beim vierten Mal streifte ein Müllsack am Rand des Containers vorbei und fiel auf den staubigen Boden. Die Arbeiter sahen kurz zu ihm hin und gingen dann ins Restaurant. Einige Minuten vergingen, ohne dass sie sich erneut blicken ließen. Er ging durch die Absperrung, steuerte auf den Sack zu und hob ihn hoch — er war nicht besonders schwer und verströmte den widerlichen Geruch von verfaulten Eiern und Zwiebeln. Jonathan ging leicht in die Knie, schleuderte den Sack in die Luft und warf ihn in die Containeröffnung. Einen Augenblick blieb er noch stehen, zufrieden damit, wie hoch er den Sack geworfen hatte. Plötzlich vernahm er hinter sich ein Geräusch, und als er sich zu dem Restaurant umblickte, sah er, wie einer der Arbeiter, eine Zigarette in der Hand, zu ihm herüberstarrte. Er nickte ihm zu und setzte ein freundschaftliches Lächeln auf. Der Arbeiter rauchte konzentriert, behielt ihn aber im Auge.

Im zweiten Stockwerk wurde das Licht eingeschaltet, und als er aufsah, entdeckte er einen Bücherschrank, der fast bis an die Decke reichte, und darin einige große Bände, wie sie in Bibliotheken oder Museen stehen. Der Arbeiter drückte die Zigarette aus und kam auf ihn zu. Für einen Moment überlegte Jonathan, ob er zur Straße zurückrennen solle, es kam ihm jedoch feige vor, und er fragte sich, wie viele Leute unter solchen Umständen den Tod gefunden hatten, weil sie unter einem Blick, der — so glaubten sie zumindest — auf der Lauer lag und über sie urteilte, ängstlich zu erscheinen fürchteten.

Der Arbeiter blieb zwei Meter vor ihm stehen und zeigte auf die Hintertür des Restaurants. Sie liefen auf die Küche zu, die spärlich beleuchtet war und ihm kleiner als erwartet vorkam, und zu seinem Erstaunen sah er keine Töpfe oder Bratpfannen oder andere Küchengeräte, nur Regale und polierte Arbeitsflächen. Er wandte sich nach links, da hörte er hinter sich den Arbeiter, und als er sich zu ihm umdrehte, deutete der Mann auf eine schwarze Tür, er drückte sie auf und erblickte eine schmale Treppe mit einem fleckigen bordeauxfarbenen Teppich wie in billigen Londoner Hotels. Jonathan stieg die Stufen hinauf und erneut schmerzten die Knie. Die Wände waren mit kleinen Kronen und perlenbesetzten Halsketten dekoriert und mit dem Gemälde einer grauen Landschaft. Am Ende der gewundenen Treppe sah er mit Erleichterung einen Korridor, vielleicht, weil er ihm aus seinen Träumen oder Erinnerungen vertraut vorkam, vor allem die Holzvertäfelung. Er streckte beide Hände aus und strich mit den Fingern über die Wände und diese Berührung erinnerte ihn an etwas sehr Altes, er entsann sich nicht mehr genau, aber es musste eine Zeit, offenbar in seiner Kindheit, gegeben haben, in der er solche Wände berührt hatte.

In einem Raum am Ende des Korridors stand der Verleger hinter einem antiken Schreibpult und unterzeichnete jede Menge Formulare, strich jedes Blatt, das er mit kantigen Bewegungen signiert hatte, sorgfältig in sämtliche Richtungen glatt. Zu beiden Seiten des Schreibpultes standen schwarze Ledersofas und am Ende des Zimmers ein Einzelbett mit einer Wolldecke darüber. Die Wände waren vollständig mit Bücherregalen bedeckt. Ganz oben standen große alte Bände mit verstaubten blauen und schwarzen Einbänden, einige von ihnen waren mit Verzierungen oder Prägesiegeln versehen; weder Titel noch Verfasser konnte er entziffern.

Der Verleger maß ihn mit frostigem Blick. Er sagte gar nichts, bis er schließlich den Stift ablegte und den Blick hob. »Wieso sind Sie hier?«, wollte er wissen.

»Ich wollte Sie sehen.«

»Nicht hier im Restaurant, sondern in der Stadt. Hätten Sie nicht vor zwei Tagen verschwinden sollen?«

»Ja«, gab er zurück.

»Und dennoch sind Sie in unserer schönen Stadt geblieben?«

»Ja.«

»Gibt es einen besonderen Grund?«

»Ich habe nicht gemerkt, dass ich geblieben bin.« Da nun seine Einsicht aufklarte, die sich, seit er im Bett erwacht war, durch die Höhlen seines Bewusstseins gewunden hatte, überkam ihn Panik. Aber diesmal wurde auf seiner Kopfhaut nicht diese Hitze entfacht, die sonst dort glühte und in alle Körperregionen vordrang. Für diese Panik gab es keinerlei körperliche Anzeichen, er wusste lediglich, dass Anlass zur Panik bestand.

»Sie haben nicht gemerkt, dass Sie geblieben sind«, wiederholte der Mann seine Worte mit ausgesuchter Betonung, genoss dabei jedes Wort.

»In der Tat. Nicht wirklich.«

»Wo haben Sie sich herumgetrieben?«, fragte der Verleger, der mit seiner rechten Hand an etwas schraubte, schließlich den linken Unterarm hervorzog und die Prothese geschickt auf das schwarze Sofa neben ihm warf und mit dem Stumpf auf ebendieses Sofa deutete, als lade er ihn ein, dort Platz zu nehmen. Jonathan blieb wie angewurzelt stehen und starrte abwechselnd die Hand auf dem Sofa und dann den Stumpf an.

»Ich habe im Bett gelegen.«

»Wie viele Tage?«

»Weiß ich nicht.«

Er hatte Durst, wollte um Wasser bitten, traute sich jedoch nicht und schluckte den gallebitteren Speichel hinunter. In letzter Zeit hatte er Probleme beim Schlucken, seine Spucke sammelte sich in seiner Kehle, bis er trank, und er machte sich Sorgen um seinen Schluckapparat.

»Also wieso sind Sie eigentlich hier?«, fragte der Verleger und nahm auf dem Sofa Platz. Die Prothese saß quasi an seiner Seite.

»Ich bin auf der Suche nach jemandem.« Er sprach jetzt schnell. »Ich bin ihr in einem Club neben der Universität begegnet, offenbar eine Studentenparty. Als wir in Ihrem Restaurant saßen, haben Sie mir von dieser Party erzählt und ich habe Carlos und seinen Freunden davon erzählt …«

»Die Vergangenheit liegt noch vor uns.« Der Verleger lachte.

»Das verstehe ich nicht.«

»Das war das Motto der Party«, murmelte der Verleger, »eigentlich ist es eine Reihe von Mottopartys. Sie sind ihr begegnet, und dann haben Sie sich allein im Bett wiedergefunden. Aber wie man fickt, wissen Sie schon, oder?«

»Darum geht es nicht.«

»Darum geht es nicht …« Sein Ton wurde schlagartig ernst und bekam einen feindseligen, scharfen Klang. »Wie Ihnen nicht entgangen ist, interessieren mich Menschen nicht mehr, erst recht nicht Autoren und Lyriker wie Sie. Ihr seid alle zu professionellen Typen mutiert. Die Exzentriker und Existentialisten der siebziger Jahre waren auch langweilig, sogar um einiges mehr, aber zumindest konnte man mit denen eine Nacht lang in absoluter Stille in die Sterne gucken, verstehen Sie?«

Jonathan blieb ihm die Antwort schuldig.

»Mittlerweile hat alles einen Zweck. Die meisten Nächte schlafe ich hier«, sagte der Verleger und deutete auf die Bücherregale zu seiner Rechten, glitt mit dem Armstumpf darüber, bis er eine Zigarettenschachtel auf den Boden stieß und sie mit der anderen Hand aufhob. »Mich interessiert die Vergangenheit, bevor der ganze Karren in den Dreck gefahren ist. Sie meinten bei dem Essen, Sie interessiere diese Zeit auch. Richtig? Der Ursprung der Dinge oder etwas in dem Stil.«

»Nicht ganz«, erwiderte er, »nicht der Ursprung der Dinge, vielmehr das Elastische, das Dehnbare, ein Zustand, der keine Grenzen und nichts Trennendes kennt. Man wacht morgens auf und das Bewusstsein galoppiert zwischen den Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart hin und her, alles befindet sich im gleichen Raum. Wie am ersten Lebenstag eines Säuglings, der noch keine Vergangenheit hat. Es gibt Menschen, deren Bewusstsein so beschaffen ist und keine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufweist, sämtliche Ereignisse aus allen Zeiten brüllen gemeinsam, dass einem die Ohren gellen.«

»Vielleicht ist der Ursprung der Dinge kein gelungener Ausdruck.«

»Vielleicht, aber das macht nichts«, erwiderte Jonathan.

»Macht nichts?«, fragte der Verleger.

»Ihre Bemerkung.«

Der Verleger beugte sich leicht zurück und legte den Kopf in eine Hand, vielleicht bedurfte es dieser Bewegung, um seine Verblüffung zu kaschieren, als hätte man ihn gescholten.

»Wollen Sie eine Lektion über die Zeit erhalten?«, fragte er und wies auf eine verblichene Landkarte von Mexiko-Stadt, auf der einige rote Quadrate eingezeichnet waren. »Sie kaufen einen Ort, wo es nichts gibt, nur einige Alte in Blechbaracken, und dann kommen die Künstler mit ihrer Entourage, und nach den Künstlern kommen die Rechtsanwälte und Steuerberater und all die übrigen angeblich wohlhabenden Leute, und danach die Banker und die wirklich Wohlhabenden und ihre fetten Kinder, und dann gibt es einen Krieg oder ein Erdbeben, und das Ganze geht wieder von vorne los.«

»Ach so«, sagte er.

»Sie wollen Geld«, entschied der Verleger.

»Nein.«

»Lügen Sie mich nicht an«, wies der Verleger ihn zurecht. »So ist das mit Leuten wie euch Autoren: Ihr seid felsenfest davon überzeugt, dass in Wahrheit alle so verabscheuungswürdig sind wie ihr, und wer das nicht zugibt, betrügt sich oder die Welt.«

»Da ist was dran«, gab Jonathan zu.

»Sie suchen also wirklich diese Frau, wieso eigentlich?«

»Ich habe etwas zu ihr gesagt, das mir unverständlich ist«, er beschloss, endlich auszusprechen, was er bisher nicht einmal sich selbst gegenüber zuzugeben gewagt hatte und was ihn dazu trieb, sich auf die Suche nach der jungen Frau mit der Brille zu machen.

»An einem bestimmten Punkt hat sie gesagt, dass sie nun alles verstehe: Wenn mein engster Freund gestorben sei, wäre dies ein unermesslicher Schmerz.«

Er schwieg einen Moment, und auf dem Gesicht des Verlegers zeigte sich ein Ausdruck sauren Interesses; offensichtlich hoffte er nach wie vor, enttäuscht zu werden. »Aber niemand kann … Jetzt muss ich genau wissen, was ich zu ihr gesagt habe.«

»Aber niemand kann …«, ahmte der Verleger seinen Akzent nach, ohne dass es ihm gelang, seinen eigenen Akzent im Englischen zu unterdrücken. »Wir reden nicht von einem Rätsel oder so einer billigen Nummer, nicht wahr?«, grinste er und befühlte seinen Bart.

Und auf einmal klang alles, die gesamte Chronologie seiner Handlungen so logisch, als wären endlich Aktion und Bewusstsein miteinander verschmolzen. »Aber er ist noch nicht gestorben«, sagte Jonathan.

Die Hohen Türme

Ende der Achtziger

Sie schnappten sich Joël im Dickicht des Wadis. Er trug die weißen Sachen für den Schabbath, auf die seine Eltern bestanden, obwohl sie weder die Synagoge besuchten noch den Kiddusch abhielten. Joël machte ihre Gesichtskonturen nur vage aus, es gab immer einige Kinder, die zu einer Visage verschmolzen, Kinder aus den Hohen Türmen oben auf der Kuppe des Hügels, der am Ende ihrer Straße aufragte und zuweilen den Himmel über ihnen verdunkelte. Provoziert hatte Joël sie nicht, war lediglich an ihnen vorübergegangen und hatte »Purple Rain« gesummt, um seine Gleichgültigkeit zu zeigen, allerdings wussten sie, woher auch immer, dass er ihren Untergang mehr als alles herbeiwünschte.

Und nun war er im Wadi auf sich allein gestellt, ohne Jonathan. Als ihm dämmerte, dass sie kurz davor waren, ihn anzugreifen, stellte er verblüfft fest, weniger Angst als Genugtuung darüber zu empfinden, dass er und Jonathan sich diese Feindschaft mit den Hohen Türmen all die Jahre über keineswegs eingebildet hatten, er bekam Gänsehaut und eine sonderbare Wärme überzog seine Schädeldecke.

Sie packten ihn und stießen ihn auf den Erdboden, mit den Beinen wälzten sie ihn vor sich her durch den Matsch, sie wälzten ihn über die Steine und durch die Dornensträucher, die zu beiden Wegseiten wucherten. Sie traten mit Schuhen auf ihn ein und kickten in seine Rippen und Hüften, einer drückte ihm die Schuhsohle in den Hals, bis Joël schrie, er kriege keine Luft mehr. Erst als sie sahen, dass er am Arm blutete und auch von der Backe Blut tropfte, ließen sie von ihm ab und trollten sich, machten sich lustig über ihn und seine Schreie, äfften sein Wimmern und Drohen nach. »Na, wie wollt ihr uns denn kaltmachen?«, feixten sie.

Joël erzählte Jonathan, dass er dort gelegen und ihre sich entfernenden Stimmen gehört habe, bis der Regen einsetzte und Stille eintrat, zum ersten Mal hatte er über den Preis nachgedacht, den er zu Hause für seine zugerichteten Sachen zahlen würde, deren Farbe der Staub des Wadis in erdfarbenes Braunrot, an den Ärmeln in Schiefergrau verwandelt hatte. Er hatte sich aufgerappelt, ohne Staub und Matsch abzuklopfen, von Zeit zu Zeit stach der Schmerz von den Dornen in seiner Haut zu. Wie sonderbar es war, dass es nicht die ganze Zeit stach, überlegte er, sondern kam und ging. Ihm war danach, sich aus dem Viertel davonzustehlen, in den 14er-Bus zu steigen, um irgendwo hinzufahren, vielleicht ins Tennis Center von Katamon, wo sie, wenn sie einen freien Platz fanden, oft stundenlang spielten. Es war eine Woche mit Winterwetter, tagsüber kalt und nachts noch kälter, dennoch hatte er sich ausgemalt, sich auf einem der Tennisplätze auszustrecken und da die Nacht zu verbringen. Unterm Strich wusste er jedoch: Wenn das Blut in seinem Gesicht getrocknet wäre, würde er nach Hause zurückkehren, und jede Stunde, die er mit Pläneschmieden vergeudete, verschlimmerte das Elend lediglich. Sie hatten noch keinen anderen Rückzugsort — seit Jahren sprachen Joël und er über einen solchen Ort, der sich nicht hier und auch nicht in der Welt außerhalb von Beit Hakerem befand, das immer so bedrohlich wirkte, aber sie hatten ihn noch nicht, sie hatten noch keine gemeinsame Vision, jeder wollte dem anderen seine Träume aufzwingen.

Sie saßen im Wadi, fünfzig Meter entfernt von den zwei Häusern am Ende der Straße, in denen sie wohnten. Von einem Erdhaufen blickten sie auf einen Felshügel, zu dessen höchsten Punkt sich ein matschiger Pfad schlängelte, und dahinter erhoben sich die Hohen Türme. Sie liebten diesen Punkt: Von hier aus konnten sie die Welt betrachten, die sie wiederum nicht sehen konnte. Zu ihrer Rechten wiegte der Wind die Äste eines kahlen Baumes, dessen Stamm sich in einer trüben Pfütze zwischen verdorrten Blättern spiegelte, die zu Winteranfang gefallen waren.

Joël spielte Karten und sprach von den Tieren, die im Winter aus dem Wadi verschwanden — die Eichhörnchen, die Katzen, die Kaninchen und Füchse. Ungehalten meinte Jonathan, dass er auch im Sommer keine Tiere hier gesehen habe, außer Katzen. Von welchen Füchsen redete Joël? Er war ja drauf und dran, sich nach den Leoparden des Frühlings zu sehnen. Joël knurrte, er verstehe gar nichts, und vertiefte sich ins Kartenspiel. Jonathan hasste diese Spiele, denn Joël stellte nach Lust und Laune eigene Regeln auf.

Als Joël die Hand nach dem Obstkern ausstreckte, den sie als Ball benutzten, kam Jonathan ihm zuvor und schleuderte den Kern weg.

»Spinnst du?«, rief Joël und sah ihn aufgebracht an. »Ich war mittendrin.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte er.

»Zum Teufel mit dir«, raunte Joël, »ich geh’ nach Hause.«

»Ist alles in Ordnung?« Er packte Joël an der Schulter; er war stärker, darüber waren sie sich beide im Klaren.

»Alles in Ordnung.«

»Wie kann es in Ordnung sein?«

Joël wich der Frage aus. Er setzte sich auf den Boden, strich auf seinem Hemd mit dem Button-down-Kragen die Falten glatt und begann von den Raketen in der Sowjetunion zu reden, die sich aus dem Himmel zu einem anderen Ort im Weltraum aufmachen und dann auf die Erde zurückkehren. Gerade forschte er nach, ob dies tatsächlich möglich sei, denn wenn Raketen mit immenser Geschwindigkeit durch den Weltraum flögen, müssten sie auf eine Erde treffen, die in der Zeit wesentlich älter als sie geworden ist. Sein Vater las derzeit das Buch Ein blendender Spion und meinte, in der Sowjetunion und in den USA seien alle Spione und dieser ganze Kalte Krieg sei nur dazu da, dass die Leute ihre Gehälter nicht einbüßten. Jonathan entgegnete, dass dies bei Joëls Vater die Erklärung für nahezu alles auf der Welt sei. Erneut fragte er Joël: Ist alles in Ordnung? Joël nickte. Wie konnte es in Ordnung sein? Seit jenem Schabbath war eine Woche vergangen, und Joël kam nicht einmal andeutungsweise darauf zu sprechen, dass die Kinder der Hohen Türme ihn durch Matsch und Dornensträucher gewälzt hatten. Jonathans Geduld war am Ende, er tunkte die Hand in die Pfütze, hob ein Blatt auf und hielt es sich an die Nase — keine Spur eines Geruchs —, dann führte er es an Joëls Jackenkragen, der wie zu erwarten das Gesicht verzog und zurückzuckte.

»Schau mal hoch«, er deutete auf die Hügelspitze, »ich habe da was kapiert. Wir kommen nicht zu den Hohen Türmen, ohne dass die uns sehen. Stimmt’s?« Sie hatten die Frage schon viele Male erörtert: Nur ein Pfad führte den Hügel hinauf, und wer dort ging, war von jedem Punkt vor den Hohen Türmen aus sichtbar.

»Na, dann steigen wir eben nachts dort hoch«, äußerte Joël lethargisch.

»Stell dich nicht so dumm«, Jonathan wurde zornig, »wir haben doch darüber geredet, nachts schlafen die zu Hause, wir wissen ja nicht mal genau, wo sie wohnen. Und selbst wenn wir es herauskriegen? Dann knöpfen wir sie uns dort vor, und ihre Eltern gleich mit?«

Er wunderte sich, dass er die Regeln, die auf der Hand lagen, aufs Neue präzisieren musste: Diese Rechnung ließe sich nur bei Tageslicht begleichen.

»Wir müssen einen Weg finden, um bei Tag dort hinaufzukommen, verstehst du?« Jonathan beugte den Oberkörper vor, atmete genüsslich den frischen Geruch des Erdbodens nach dem Regen ein. Seine Finger zupften feuchte Gräser, ihm fiel auf, wie er sie in zunehmend kleinere Stücke riss. Er führte seine dreckverkrusteten Fingernägel zur Nase und roch daran. Als er den Blick hob, sah er, dass Joël ihn mit weit geöffneten Augen ansah. Zuvor hatte er sich gefragt, ob Joël erriet, welche Idee ihm gekommen war: Nun wusste er, sie verstanden beide, dass es eine große Sache zwischen ihnen gab, vielleicht die Sache, nach der sie, seit sie sich kannten, auf der Suche waren. Ein Jahr ums andere, sie waren in der ersten und in der dritten Klasse und nun schon in der sechsten, und immer noch suchten sie den Punkt der Gemeinsamkeit. Manchmal, wenn einer von ihnen eine Idee aufgeworfen hatte, die den anderen langweilte, fragten sie sich, warum sie eigentlich Freunde geworden waren, welche ähnlichen Eigenschaften sie besaßen. Doch sie wussten die Antwort sehr wohl. Jonathan wohnte in Hausnummer 7 und Joël wohnte gegenüber, in Nummer 10. Beim Fußball schubsten und traten und provozierten sie einander, in der Schule verzichteten sie darauf, ihrer Zuneigung Ausdruck zu verleihen, und spielten in den Pausen nicht miteinander. Ihre Welt existierte am Ende ihrer Straße — der Straße mit der höchsten Steigung im Viertel. Sie existierte zwischen ihren Wohnhäusern und dem Wadi, dem Wald, der die westliche Grenze ihrer Welt bildete, und der Militärfabrik. Die darüber thronenden Hohen Türme markierten die östliche Grenze ihrer Welt. Jahr für Jahr hatten sie eine Unmenge großer Pläne geschmiedet, die zu Augenblicken geistiger Hochstimmung geführt hatten — vielleicht waren sie schlussendlich auf die großartige Idee gestoßen, die sie vereinen würde? — und alsbald in die nächste Niederlage mündeten.

Aber nun änderte sich vielleicht etwas. Es war noch nicht erlaubt, von dieser Idee zu reden, sie waren noch nicht dazu bereit, sonst könnte die Idee sich in Luft auflösen. In der Zwischenzeit musste man sie hüten, von hier verschwinden und nicht darüber sprechen, weder im Guten noch im Bösen.

Gleichzeitig erhoben sie sich und rannten über den matschigen Erdboden. Der kalte Wind ging peitschend auf ihre Haut nieder, gab ihnen das Gefühl, so gut wie nackt zu sein. Ihre Augen tränten, rundum hatte die Landschaft sich eingetrübt, sodass sie nichts mehr erkennen konnten, dennoch liefen sie im Affenzahn über den weichen Boden zu den beiden letzten Wohnhäusern der Straße, die sie auch mit geschlossenen Augen gefunden hätten. Als sie schließlich keuchend auf der unebenen freien Fläche ankamen, gingen sie wortlos auseinander, und Jonathan nahm die Treppe zur dritten Etage.

Zu seiner Erleichterung war die Wohnung dunkel und still, die Fenster und Jalousien waren geschlossen. Er stand am Eingang und warf einen Blick auf den runden Sessel am Telefon, der in der Dunkelheit stets in einem seltsam glänzenden Schwarz schimmerte. Auf dem Küchentisch lag eine Tüte, an der vertrocknete Avocadokrümel klebten, mit zwei Hälften Pittabrot. Er trat auf den Küchenbalkon und pfefferte die Tüte auf das Grundstück hinter dem Zaun zwischen seinem Wohnhaus und den Häusern an der Schachar-Straße. Bisher wusste er nicht, wer die Besitzer dieses kleinen Grundstücks waren, zu dem ein schmaler Weg führte, auf dem Japanische Wollmispelbäume standen, deren Äste einem stets die Haut zerkratzten.

Er blickte vom Balkon auf das Haus ganz links, das überwiegend von Bäumen verdeckt wurde: Dort wohnte Ahuva, die ihn als Kind betreut hatte, und dort lag der Ursprung der Erinnerungen, abgesehen von der allerersten: Er ist zweieinhalb, mit dem Rücken gegen die Tür des Krankenhauszimmers gepresst und vor ihm liegt seine Großmutter Sarah. Sie lächelt ihn an, ihr Haar ist mit einem Kopftuch bedeckt, ihr Körper von dickem Bettzeug, und er erblickt sie, zumindest in der Erinnerung, zum ersten Mal in seinem Leben. Sie streckt die Hand zum Nachttisch aus und tastet nach etwas, sofort stöbern andere Hände, jung und von glatter Haut, mit ihr in der Schublade, und schließlich überreicht sie ihm eine Tafel Schokolade. Aber er will nicht zu der Großmutter hingehen. Alle ermutigen ihn, sich ihr zu nähern. Auch wenn das breite Lächeln nicht von ihrem Gesicht weicht, hat sich doch etwas darin gekrümmt, vielleicht an der Lippenpartie. Bei ihrer Beerdigung war er vier Jahre alt, und ein Mann mit einem schwarzen breitkrempigen Hut ging an ihm vorüber, der ihm einen Moment lang bekannt vorkam, an einer hinteren Grabreihe stehen blieb und etwas vor sich hin murmelte. Er erkundigte sich bei seinem Vater, was er, dieser Mann, denn da sage, und sein Vater gab ihm zur Antwort, dies sei Großvater Albert, der aus Haifa gekommen sei. »Das ist Großvater?« Er war sprachlos. »Ja«, hatte sein Vater zerstreut erwidert, und er sagte, sein Herz sei schwer.

Die großartige Idee ragte im Zentrum seines Bewusstseins immer noch auf wie ein riesiger Fels. Er wusste, dass man dieser Idee Bewegung einhauchen, sie vervollkommnen, eine Handlung erfinden musste. Ihnen beiden war klar, in diesem Winter musste sich etwas Entscheidendes ereignen.

*

Die großen Jungen aus Nummer 10 hörten von dem Vorfall und erklärten, so etwas dürfe in ihrer Straße nicht geschehen: Eine ganze Gang verdrosch im Wadi ein einzelnes Kind? Gab es denn auf der Welt kein bisschen Fairness mehr? Es gebe nur einen Weg, um diese Angelegenheit zu bereinigen: Die Hohen Türme würden zwei Vertreter zum Hof vom Rivka-Kindergarten entsenden, der seit dem Pflichtkindergarten allen Kindern der Straße bekannt war, und im Sandkasten würde zwischen den Parteien ein fairer Fight ausgetragen. Die beiden Vertreter der Hohen Türme müssten in ihrem Alter, etwa in der sechsten Klasse sein.

Die großen Jungen trafen Joël und Jonathan in dem fensterlosen Keller seines Hauses an, wo sie beide unter der verstaubten Tischtennisplatte hockten, um die sich faszinierende Legenden aus fernen Zeiten rankten, als ihre Brüder darauf gespielt hatten. Umgeben von einem Sofa, auf dessen zerschlissenen Kissen verdreckte Unterhemden lagen, von einem BMX-Rahmen, dessen Handgriffe mit gelbem Schaumstoff gepolstert waren, einem Stapel staubbedeckter russischer Bücher, einem Gartenschlauch und anderem Schrott, den die Nachbarn aus den Augen haben wollten. Dort saßen sie und berieten über den Graben, der zu nah am Elektrozaun der Militärfabrik verlief: Sie zeichneten mögliche Verläufe in ihr Heft, verhandelten jede Kurve und Windung, und sobald sie eine Einigung erzielt hatten, übertrugen sie die sorgfältig ausgetüftelten Linien auf den weißen, erst kürzlich angeschafften Bristolkarton. Sie kamen recht gut voran; von Zeit zu Zeit ließen sie sich rücklings auf eine alte Matratze fallen und schlossen die Augen, wobei sie jedoch in einem fort redeten von dem Graben und der Rache an den Hohen Türmen, und auch von dem Mädchen, das Joëls Mutter nach den zwei Jungen, in ein oder zwei Jahren, haben wollte, sie waren ausgelassener Stimmung und sprachen meist laut und machten sich gegenseitig Komplimente, und als Joël meinte, dass sie nun schon vier Stunden hier seien, schlug Jonathan vor, jeder von ihnen solle seinen Eltern weismachen, bei dem anderen zu schlafen, während sie beide hier in Schlafsäcken übernachteten.

Als sie die großen Jungen erblickten, drehten sie rasch ihren Bristolkarton um, deckten die Jacken darüber und standen auf. Schlagartig wurde es im Lagerraum kalt. Die Jungen trösteten Joël wegen des schrecklichen Vorfalls im Wadi und meinten, wenn in Zukunft eine Kindergang ihn angreifen würde, solle er ihnen rechtzeitig Bescheid geben. Sie interessierten sich auch für seine Wunden und die Reaktion seiner Eltern, und Joël antwortete immer nur: »Ach, nichts weiter.« Es war klar, dass sich hinter der Zärtlichkeit, die sie Joël gegenüber an den Tag legten, eine Forderung oder eine Drohung verbarg, und er wunderte sich, dass Joël das nicht sah und von der Anteilnahme, die sie literweise über ihm ausgossen, richtiggehend besoffen wurde und dass er sich mit den paar Kratzern brüstete, die an seinen Armen und Wangen bereits abheilten. Als sie Joëls überdrüssig wurden, steuerten sie zum Ausgang. »Also wir reden mit den Hohen Türmen, machen ihnen den Ernst des Lebens klar und geben euch Bescheid, wann das Ganze passieren wird«, fasste Schimon zusammen. »Freitagnachmittag scheint uns passend«, fügte David Ziwoni hinzu, der generell das letzte Wort hatte.

Jonathans Beine zitterten, er gab sich Mühe, wieder die Kontrolle über sie zu erlangen, und presste die Füße in den Boden. »Wir sollten vorher darüber reden«, warf Joël ein, »vielleicht wollen wir uns an denen gar nicht mehr rächen.«

Schimon und seine Gefolgsleute sahen ihn einen Moment lang schweigend an, völlig perplex, als ob hier etwas von ihm abhinge. Joël schaute ihn an und Jonathan machte ihm mit den Augen Mut, wollte ihm zuzwinkern, fürchtete allerdings, dabei erwischt zu werden. Sie beide wollten diese Auseinandersetzung nicht, so einen Fight, bei dem alles erlaubt war und der erst abgebrochen wurde, wenn einer aufgab, hatte ihnen immer Angst eingejagt. Sie hatten gesehen, wie Schimon dem Itai ins Gesicht getreten hatte und wie David Ziwoni auf Amir ritt, während der sich wand und aus voller Kehle schrie: »Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft« — einen Satz, den jeder Junge der Straße noch Monate später nachgeäfft hatte. Aber das hier waren nicht seine erbärmlichen Klassenkameraden, die ihn verabscheuten, aber fürchteten und mit ihm nur kämpften, wenn ihnen klar war, dass im nächsten Moment jemand dazwischentreten würde. Und außerdem schmiedeten sie gerade einen Plan, mit dem sie die Hohen Türme überrumpeln wollten.

Die Jungen machten auf dem Absatz kehrt, das Lächeln war aus ihren Gesichtern gewichen. »Reden könnt ihr, so viel ihr wollt, Hauptsache, ihr kommt rechtzeitig zum Fight«, warf Schimon ein, der wie stets eine gebügelte Jeans und einen schwarzen Gürtel trug, mit einer silbernen glitzernden dreieckigen Schnalle in der Mitte. Tomer Fainaru, der Benz genannt wurde, weil er wie Berts israelisches Pendant einen länglichen, spitz zulaufenden Kopf hatte, wurde jedes Mal zornig, wenn sie neben ihm die Melodie der »Sesamstraße« summten, und nahm wie üblich die Brille ab, bevor er seine Drohungen vom Stapel ließ. »Wir polieren jedem die Fresse, der sich dort nicht blicken lässt«, sagte er, und David Ziwoni setzte hinzu: »Und wenn sich keiner blicken lässt, machen wir euch alle kalt.«

Ein Klopfen ertönte an der Kellertür. Sofort wusste er, dass es die Mädchen waren — keiner klopfte sonst an diese Tür. Es gab Gerüchte, dass sich in den Nachtstunden Jungen und Mädchen im Keller befummelten und sogar miteinander schliefen, Joël schwor, er habe einmal ein Kondom dort gefunden. Schimon schob die schwere weiße Kellertür auf, und zu seinem Erstaunen erblickte er Tali und neben ihr ein ihm unbekanntes Mädchen in einem Wollmantel über einem bunten Kleid, das über glänzenden roten Stiefeln flatterte, wie sie kein anderes Mädchen in der Klasse besaß. »Hau ab, Tali!«, rief er, woraufhin Schimon ihm eine leichte Ohrfeige verpasste: »Gegenüber Mädchen wird nicht geflucht.«

Sie mochten Tali Melzer nicht. Sie wohnte in Nummer 8, ihre Eltern waren aus Haifa hierhergezogen, als Tali in der zweiten Klasse war und sie in der dritten, und Tali hatte sie von ihrem Balkon aus, der aufs Wadi ging, beobachtet. Einmal hatte sie ihren Eltern gepetzt, dass sie Leute mit Schlammkugeln beworfen hätten, und ein andermal Jonathan verpetzt, weil er sie: »Du Hurentochter« und »Schlüssellochguckerin« genannt hatte, während sie angeblich nur so auf dem Balkon gestanden und nichts weiter getan hatte. Ihr Vater war Psychotherapeut und ihre Mutter Architektin, beide blickten stets wohlwollend drein, grüßten jedermann und sprachen wohlakzentuiert. Sie redeten mit Kindern und Erwachsenen im gleichen Ton, da sie der Auffassung waren — und sich die Mühe machten, seinen Eltern diese im Detail darzulegen, — »dem Standpunkt des Kindes sollte Respekt gezollt werden«.

Keiner zweifelte daran, die Melzers waren anders als sämtliche Bewohner in diesen Häusern, und klar war ebenfalls — nachdem sie mit der Idee, man könne die Typen am Ende der Straße erziehen, auf Grund gefahren waren —, dass sie beschlossen hatten, sich mit den Nachbarn nicht wirklich anzufreunden. Jonathans Vater hielt sie für pure Nervensägen, wie jeden Menschen auf der Straße, der ihm zu einer bestimmten Angelegenheit seine Meinung unterbreiten wollte, während seine Mutter im Innersten vielleicht die Lebensweise und den höflichen heiteren Ton beneidete, in dem die Melzers und ihre beiden Kinder sprachen. »Das Leben ist offenbar ein einziges rauschendes Fest«, sprach sie durch die Zähne, wenn sie beobachtete, wie die Melzers am Schabbath vormittags ihr Auto mit Taschen und Surfbrett beluden.

Nach den beiden Zwischenfällen mit Tali hatte Vater Melzer um ein Treffen bei Jonathan zu Hause gebeten, und darum, dass auch Joël und dessen Eltern eingeladen würden (nur Joëls Mutter kam, saß schweigend da und riss sich Strähnen aus dem kurzen Haar). Vater Melzer saß aufrecht auf dem Stuhl, erkundigte sich nach Befinden und Arbeit von Jonathans Eltern, und erst nach zwanzig Minuten setzte er dazu an, seine Beschwerde zu konkretisieren. Erstens: Tali komme aus dem Wadi nach Hause und benutze hässliche Worte, die er hier nicht wiederholen wolle, und auch wenn Tali es im Spaß tue, sickerten diese Dinge letztendlich ein. Zweitens: Die Jungs schrien und tobten zwischen zwei und vier Uhr herum, und nun respektierte auch Tali diese Stunden nicht mehr. Und drittens: Offenbar behandelten sie Tali mit mangelndem Respekt, ohne Rücksicht auf ihre guten Eigenschaften, schließlich sei sie klug, humorvoll und aufrichtig.

»Nun, das haben wir sogleich gesehen, als Sie hier eingezogen sind«, betonte sein Vater, der Tali im Treppenhaus nicht einmal erkannt hätte. Joël trommelte mit seinem weißen Turnschuh auf Jonathans schwarzen Schuh, und Jonathan zog ihn unter Joëls Schuhsohle hervor und trommelte zurück. Beide unterdrückten ihr Kichern, als sein Vater ihnen einen warnenden Blick zuwarf.

»Aber wir sind mit Ihrer Tochter nicht befreundet«, meldete Joël sich schließlich zu Wort. Melzer sah ihn an, bis Joël die Augen senkte. Er war von breitschultriger Statur, und seine braunen Augen betrachteten die Menschen mit forschendem, aber zu freundlichem Blick, sein Gesichtsausdruck war liebenswürdig und lediglich von den weißlich rosafarbenen Lippen und der spitzen Kinnpartie ging etwas Heimtückisches aus. Kürzlich hatte er mit zwei Vätern, die zu den tragenden Säulen der Gemeinschaft gehörten, einen »Turnverein« gegründet, dessen Mitglieder sich jeden Schabbath im Stadion des Givat-Ram-Campus zum Laufen versammelten. (Eins der Kinder, das als Gast dabei war, hatte berichtet, dass die ihre Kinder auf der Bahn über 10.000 Meter rennen ließen, ein Wunder, dass dabei noch kein Kind umgekommen sei. »Das sind totale Nazis, Tiere auf zwei Beinen«, jammerte das Kind.) Die Initiative hatte bei einigen, nicht dazugeladenen Eltern der Straße missbilligendes Getuschel erregt, sie nannten Melzer eine »Psychomeise auf Durchreise — am Ende nimmt der an, wir stammen aus Höhlen«. Sie erwähnten auch, dass er zu Hause Bücher mit Titeln habe wie: Muster sexueller Abweichungen oder Wie ich aufhörte, mich vor dem Fetisch zu fürchten, in dem viele ohnehin amerikanische Hexerei sahen oder bestenfalls eine Form der Verweichlichung, die Familienmitglieder zum Tratsch übereinander anstachelte.

Melzer nahm einen Schluck von seinem Tee und schien von Joëls Bemerkung überrascht. Erst jetzt begriff Jonathan, dass Melzer der Meinung war, dass sie mit seiner Tochter befreundet seien. »Dann erst recht«, ließ Melzer schließlich in trockenem Ton fallen, »wenn ihr gar nicht befreundet seid, dann gibt es keinen Grund, den Kontakt nicht abzubrechen. Manchmal kommen auch gute Kinder nicht miteinander aus, das mag enttäuschend sein, ist aber keine Seltenheit.«

»Aber da ist ja gar kein Kontakt, der abgebrochen werden muss«, setzte Joël nach, während seine Mutter ihm diplomatisch die Hand aufs Knie legte und er zur Antwort die Finger auf ihren Handrücken. Melzer hatte offenbar damit gerechnet, ihren Sohn zur Räson zu bringen. Er wusste nicht, dass Joël und seine Mutter zuweilen wie Freunde miteinander umgingen, dass sie alle Kinder der Klasse kannte und unvermittelt nachfragen konnte, ob die beiden Mädchen, die nicht miteinander gesprochen hatten, inzwischen versöhnt wären. Melzer räusperte sich und sagte in leicht humorvollem Ton, aus Gründen der Fairness werde er nun eine Beweisführung zu ihren Gunsten vornehmen, ob ihnen das recht sei? Joël und Jonathan nickten. »Wirklich?«, fragte er erneut mit mehrdeutigem Lächeln und blickte zwischen ihnen hin und her, als erwarte er Verwunderung oder zumindest Erstaunen. »Nun, sie haben zugestimmt«, warf sein Vater ein, und Joëls Mutter griff zu einer Zigarette.

Er wolle ihnen die Worte nicht in den Mund legen, erklärte Melzer. Vielleicht schätze Tali ihre Spiele nicht? Ob dies eine Möglichkeit wäre?

Jonathan entgegnete stolz, er werde in Talis Abwesenheit keine schlechten Dinge über sie sagen, und Joël fuchtelte nur mit den Händen, um die Rauchwolke von der Zigarette seiner Mutter zu vertreiben. Melzer fragte mit wohlwollendem Gesichtsausdruck: »Dann können wir ganz freundschaftlich den Abbruch des Kontakts vereinbaren?« Alle nickten, und sein Vater sagte: »Vielen Dank für diesen gelungenen Besuch«, stand wie von der Tarantel gestochen auf, reichte Melzer die Hand und begleitete ihn zur Tür, wobei er ihm immer wieder kameradschaftlich auf die Schulter klopfte, während er ihn faktisch hinausbeförderte. Als er draußen war, lachte sein Vater: »Wenn du jemandem um den Bart gehst, bevor du ihm eine schlechte Nachricht überbringst, solltest du sicher sein, dass es aus seiner Sicht auch tatsächlich eine schlechte Nachricht ist, ansonsten vergeuden beide ihre Zeit.« Jonathans Mutter setzte hinzu: »Herr Melzer greift dich zu einem Zweck an, der bereits erzielt wurde«, und alle Erwachsenen lachten.

Seine Eltern taten Melzers Besuch ab, vielleicht weil sie sein Verhalten seltsam fanden: Hatte einer dein Kind in ungebührlicher Weise verprügelt oder beleidigt, so war es bei ihnen in der Straße alles andere als üblich, in deren Wohnzimmer freundschaftliche Verhandlungen zu führen und zu erwarten, dass einem Tee serviert würde. Vielmehr schrie man dessen Eltern an, so wie Schimons Mutter seine Mutter angeschrien hatte, nachdem Schaul, sein großer Bruder, Schimon beinahe mit einem Gartenschlauch erwürgt hatte: »Schämt ihr euch denn nicht, so angesehen, wie dein Mann ist!« Und Joëls Vater hatte gegenüber Benz gedroht, nachdem dieser die Haare seines Sohnes mit Leim übergossen hatte: »Ich hacke dir den Kopf ab, mit diesen Händen.«

»Macht, was ihr wollt, aber er soll sich hier nicht mehr blicken lassen«, sagte sein Vater, nachdem Melzer verschwunden war. In Wahrheit jedoch hatte Tali ihnen eine Niederlage beigebracht, weshalb sie ihr Vorhandensein nach diesem Besuch ignorierten. Auch als sie ihnen ins Wadi nachlief und unbedingt wissen wollte, was sie da machten, fluchten sie nicht und drohten ihr nicht, sondern saßen einfach nur da und taten nichts, bis Tali verzagt aufgab.

»Schalom, Ladys«, begrüßte Schimon die beiden Mädchen, die bewundernswert gleichzeitig den Kellerraum betraten. Ihnen allen war klar, dass eine derartige Präzision nur im Königreich der Mädchen, zu dem sie keinen Zugang hatten, erreichbar war. Er grübelte, ob diese ungezügelte Form von Nähe, nach der er sich zuweilen sehnte (selbst Joël oder einem anderen ungestüm um den Hals zu fallen), wobei er sich immer am Riemen riss, nur in der Mädchenwelt existierte.

Tali nahm die Wollmütze ab und löste ihr braunes Haar, und zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, dass sie womöglich gar nicht hässlich sei. Sie blendete ihn und auch die anderen Jungs aus und wandte sich an Joël, dem sie ihren Abscheu demonstrieren musste, weil er sie hasste, und fragte, ob sie im Wadi irgendetwas planten — sie hätten einen eigenartigen Erdhaufen gesehen, »und es ist ja klar, dass ihr dahintersteckt«. Jonathan starrte auf die Spinnweben, die einen halben Meter über den Köpfen der Mädchen hingen.

»Ein Erdhaufen«, schnaubte er verächtlich, und hoffte, dass Joël still wäre und ihn reden ließe. »Hast du eine Ahnung, wie viele Leute im Wadi unterwegs sind?«

»Wir sind über euren blöden Haufen fast drübergefallen«, beschwerte sich Tali, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, »das ist echt gefährlich.«

»Wo soll denn dieser Haufen sein?«, fragten die großen Jungen ohne besonderes Interesse.

»Wir werden dort sein, wann ihr wollt!«, rief Jonathan rasch, »aber es muss ohne Stöcke und Steine abgehen, und Schimon soll der Richter sein.« Er war zufrieden mit dem letzten Satz (es kümmerte ihn nicht wirklich, wer der Richter wäre), der bei den großen Jungen sofort zu Geflüster und Blickwechseln führte.

»Alles klar, du kleiner Wichser«, kicherte Benz, »wenn ihr Schimon wollt, sollt ihr Schimon haben.« Er klopfte Schimon auf die Schulter, der ein verschlossenes Gesicht machte, wie einer, der um die Schwere der Verantwortung weiß.

Und bevor Tali erneut irgendetwas plappern würde, schlug Talis Freundin, der bei dem Wortwechsel offenbar langweilig geworden war, ein Rad nach dem anderen, wie bei der Olympiade, und jedes Mal, wenn sie auf den Händen stand, rutschte ihr Kleid über den weißen Slip, der mit orangefarbenen Bärchen oder rosa Herzchen gesprenkelt war — so genau konnte er es nicht erkennen —, und alle bekamen den Slip und auch ihre Oberschenkel zu sehen, die heller als die sonnengebräunten Unterschenkel waren. Die Jungen wurden kurz still, dann begannen sie, mit Komplimenten um sich zu werfen, und fragten, wie viele Male pro Woche sie Ballettunterricht nehme und was sie in den Stunden denn so machten, und sie antwortete ihnen in knappen Sätzen und mit einer trägen, tiefen Stimme, die ihn in den Bann schlug, und als sie baten, nur ja nicht damit aufzuhören, zuckte sie teilnahmslos mit den Schultern und schlug ein Rad nach dem anderen.

Im Keller zog Stille ein, und er erwog, ob er sich mit Joël aus dem Staub machen könnte. Allerdings standen die älteren Jungen zwischen ihnen und der Tür. David Ziwoni fragte das Mädchen, ob sie das Rad auch ohne den Slip schlagen könne, und sie sagte »okay«, zog den Slip aus, wischte den Staub vom Rand der Tischtennisplatte, um ihn ordentlich gefaltet dort abzulegen, und nun erkannte er, dass es rosa Bärchen unterschiedlicher Größe waren. Er hörte Benz schwer atmen und sah auf ihren Schlitz, so einen hatte er nur in den »Playboy«-Heften bei Benz gesehen — einmal, im letzten Sommer, war er zu ihm eingeladen und prompt gewarnt worden: »Hier wird nur geguckt, wichsen kannst du zu Hause« —, und er schielte zu Joël, der ihm einen zornigen Blick zuwarf, da er den Fight genehmigt hatte, ohne sich mit ihm abzusprechen.

Die Jungen flüsterten und David Ziwoni verließ eilig den Keller. Tali, deren Gesicht puterrot angelaufen war, stand nun nah an der Tür, und als das Mädchen ein Rad nach dem anderen schlug, nutzte sie die Gelegenheit zu sagen, dass sie jetzt nach Hause gehen müsse. Sie forderte das Mädchen auf, mit ihr zu kommen, ihre Mutter würde ihnen Eierkuchen machen, und die andere sagte, dass sie tatsächlich mitgehen könnte. Schimon und Benz meinten, dass sie an ihren Rädern echt großen Spaß hätten, aber ganz, wie sie wolle, und das Mädchen setzte erneut ihr gleichgültiges Lächeln auf. Tali fragte wütend: »Was denn nun?« Das Mädchen entgegnete leicht spöttisch »gleich«, während sie auf den Händen stand, und alle lachten außer Tali, die sich abrupt umdrehte und ging.

Zu seiner eigenen Verwunderung war er erleichtert, dass sie Tali hinausließen. Joël nutzte die Gelegenheit und steuerte ebenfalls auf die Tür zu. Benz hielt ihn zurück. »Lass ihn ziehen«, sagte Schimon. »Draußen ist es zu kalt«, grinste Benz. »Lass ihn ziehen, hab’ ich gesagt«, knurrte Schimon, und Benz trat zur Seite. Joël ging an ihnen vorüber und steckte den Klaps ein, der auf seinem Nacken landete, und den Tritt von Schimon.

»Moment mal, eine wichtige Sache haben wir dir nicht gesagt«, rief Benz ihm mit erwachsener und ernster Stimme nach.

»Was?« Joël drehte sich zu ihnen um, sein Gesicht wirkte nun düster, einen Arm schlenkerte er nach, als ziehe er etwas hinter sich her.

»Richte deiner Mama aus, dass wir’s heute Abend nicht mit ihr treiben, vielleicht schicken wir den arabischen Gärtner vorbei«, rief Benz, und am Ende des Satzes prustete er bereits los. Auch Schimon lachte, und sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Auch Jonathan wollte lachen, doch im letzten Moment riss er sich am Riemen. Das Mädchen starrte sie an, als würde sie nicht verstehen.