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In allen Geschichten geht es um Erwin. Er ist einer von uns. Er ist, je nachdem wie er sich im Augenblick fühlt, zwischen fünfunddreißig und sechzig Jahre alt, arbeitet und wohnt in einer Kleinstadt irgendwo in Deutschland. Er ist ein Einzelgänger, er lebt also allein und ist zufrieden damit. Meistens. Er sieht Probleme, wo keine sind, und fühlt sich gut, wenn er die Probleme nicht wahrnimmt. Er ist entrüstet, wenn er glaubt, dass man von ihm verlangt, anders zu sein, als er ist. Er liest viel und macht sich schlau über Sachen, über die er täglich stolpert. Er denkt ständig nach. Da gibt es Dinge, die ihn bewegen, oder die ihn bewegen könnten und Dinge, die er nicht wissen will. Eine seiner Angewohnheiten ist es, in die Ferne zu sehen. Dabei kann er am besten entspannen, sich beruhigen, nachdenken, grübeln oder sich aufregen. Je nach Bedarf. Erwin philosophiert über das tägliche Leben. Ihm fallen Sätze ein, die mancher Gelehrte in der Zukunft benutzen wird. Er tappt in alle menschlichen und unmenschlichen Fallen. Er erfüllt alle Klischees, die für ihn erfunden wurden. Er möchte aus dem täglichen Laufrad seines Lebens ausbrechen und findet sich am Ende des Tages als denjenigen wieder, der das Laufrad antreibt. Er spielt nicht mit dem Leben. Das Leben spielt mit ihm. Er ist ein Eigenbrötler, ein Nerd, ein Klugscheißer. Dennoch hat er meistens recht. Auf irgendeine Art ist er wie jeder von uns. Er ist einzigartig.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2022
ERWIN
ERWIN
.. ich geh' dann mal nachdenken…
Ullrich FRANK
© 2022 Ullrich FRANK
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-56404-6ISBN Hardcover: 978-3-347-56408-4ISBN E-Book: 978-3-347-56411-4ISBN Großschrift: 978-3-347-56414-5
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Kleckern
Im Park
Redebedarf
Allwissend
Sport
Kuchen
Fußgängerzone
Intelligenz
Hochgeschreckt
Meditation
Balkon
Bildung
Radfahren
Oskar
Tatort
Der 13. Advent
Weihnachtsfeier
Vorsätzlich
Neues Jahr
Drei Könige
Kaufrausch
Flurwoche
Dichten?
Nachwort des Autors
Über den Author
Kleckern
Da ist sie wieder, die Psychologie für den ›kleinen Mann‹. Sie kommt einfach angeflogen, ohne Rücksicht auf die Tageszeit oder gar auf das Umfeld sowie die derzeitige Gefühlswelt von der Zielperson. Das macht sich heute Abend wie folgt bemerkbar: Einer von den drei Kellnern von diesem feinen Restaurant nahm ihm den leeren Teller von der linken Seite weg. Eingesetzt hat er die Speise von rechts. War das richtig? Erwin überlegt, aber es bleibt dabei: Er hat keine Ahnung. Es wird natürlich richtig sein. Ansonsten würde der Mann hier keinesfalls arbeiten dürfen.
Er fühlt sich beobachtet. Er glaubt, dass alle anwesenden Gäste hier am Tisch ihn ansehen. Sie hatten ihre Augen auf ihn gerichtet. Ungeachtet der Tatsache, dass er sich um keinen Preis erinnern kann, ob er irgendeinen Hinweis gegeben hatte, dass er nun eine Rede halten wollte.
Er weiß genau, dass er in keiner Weise mit einem Löffel oder anderem Besteck, auf ein Glas geklopft hat. Sahen sie in wirklich an? Vielleicht spielt sein Ego ihm wieder etwas vor.
Diese Verhaltensweise, die ihn derzeit beschäftigt, erinnert ihn an die, dass nur er selbst weiß, dass er gerade eben seine Krawatte mit einer wohlschmeckenden roter Soße bekleckert hat.
Ob die Soße wirklich wohlschmeckend ist, weiß er noch nicht. Denn diese kam bislang nie ans Ziel. Aber dessen ungeachtet ist er gleichzeitig der Auffassung, dass alle Menschen, die bei dieser Feier am Tisch sitzen, dieses Malheur beobachtet haben.
Gleich werden sie die Köpfe zusammenstecken und über ihn tuscheln. So wie Früher. Wie immer. Also: Normal.
Er hatte mal gelesen, dass dieses Verhalten von Menschen, meistens deswegen auftritt, weil in Kinder- und Jugendjahren, ständig das Umfeld versucht hat, diese Person zu beeinflussen.
Erwin denkt zurück, soweit er halt zurückdenken kann, und erinnert sich, dass ebenso bei ihm immer beim Essen an ihm rumgemeckert wurde. »Zappel nicht so mit den Füssen« und »Mein Gott, geht das hier auch mal ohne kleckern?« Oder ebenfalls immer wieder gerne angebracht: »Geh‹ jetzt Spielen, aber mach dich nicht schmutzig!«
Das ist genauso behämmert wie: »Ich wünsche dir einen schönen Abend, aber sei bitte in einer Stunde wieder hier!«
Beim Spielen ist er schon mal ganz gerne hingefallen. Er konnte so schnell laufen damals. Statt Trost über den erlittenen Schmerz nach so einem Sturz, erntete er meistens den Satz: »Kannst du denn nicht aufpassen? – Ständig diese Raserei. Nun sind auch noch deine Knie aufgeschürft!«
Später, in der Schule, war da so ein Klassenlehrer, der wohl seine Ausbildung beim Militär gemacht haben muss. »Du redest erst, wenn du gefragt wirst! Verstanden?« Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast? Wegtreten!«
Ja, lauthals lachen, das war gleichermaßen verboten. In der Schule, aber auch zu Hause. Weil dann Opa immer meinte, dass sein Hörgerät kaputt ist. Laute Kinderstimmen und Lachen, brachten das Ding zum Pfeifen.
Im Allgemeinen war Erwin als Kind sehr zurückhaltend. Das lag daran, weil er nicht das Geringste durfte. Ein Duckmäuser. Ein Feigling.
Die Nachbarn oder Fremde sagten immer zu seinen Eltern: »Oh‹ was ist der Kleine aber brav. So still und so aufmerksam und höflich.« Wenn die wüssten. ›Das hole ich alles nach, wenn ich groß bin‹, dachte er damals.
Das ist lange her. Nachgeholt wurde kein Stück, denn es kam ja schlimmer.
Das Wort »Träumer« hat er ganz oft in seiner Kindheit gehört.
Und das ist er ja bewiesenermaßen sodann geworden.
Bei der Berufswahl gab es so gewisse Vorstellungen. ›Beamter‹, das hatte etwas. Ebenfalls Arzt hätte er werden wollen. Die erste Reaktion von seinen Eltern: »Du doch nicht!« Und »Das kannst Du doch sowieso nicht!«
Was sollte er zu dem damaligen Zeitpunkt tun? Lokomotivführer, Polizist und Astronaut wollten schon seine Mitschüler werden. Somit waren diese Stellen besetzt. Die Auswahl wurde kleiner. Es war fast nix mehr frei! Kasper und Krokodil ginge noch. Cowboy und Indianer geht nur in Amerika. Doch das ist er aber ganz woanders und vermutlich auch ganz weit weg.
Es war bekannt im ganzen Land: Einen sicheren Job gibt’s nur beim Amt. Oder bei der Post. Das wäre sogar was für ihn. Aber, da gibt es noch diesen anderen Spruch: »Schuster, bleib bei deinem Leisten. Und da die Tante und der Onkel und der Schwager und wer auch immer, »Gärtner« waren, musste auch Erwin diesen Beruf erlernen.
Ob er wollte oder nicht. Erwin weiß: Er wollte nicht. Deshalb wurde er in diesem Beruf auch nichts, und machte nach der Lehre ständig etwas anderes.
Er wollte außerdem um keinen Preis in dieser Kleinstadt bleiben, geschweige denn hier seine Freizeit verbringen müssen. Er wollte nie und nimmer in die Freiwillige Feuerwehr, keinesfalls in den Turnverein und auch nicht in den Schützenverein.
›Wenn Du kein Selbstbewusstsein hast, dann nimmt Dich keiner für voll‹, dachte er im Augenblick vor sich hin.
Erwin lächelt nun in die Gesichter der vermeintlichen ›Gaffer‹. Keiner von denen erwidert diese Geste entsprechend. Es schaut ihn also doch niemand an.
Keiner sieht ihn an. Kein Mensch. Noch nicht mal soeben, wo er sich vollgesabbert hat. Er wird womöglich in keiner Weise wahrgenommen. Er ist Luft. Er ist nicht existent. Er ist der Sack Reis in China.
›Brauch ich eine Brille? Oder bin ich mal wieder Mitten in einem meiner Träume?‹, denkt er, und reibt sich verstohlen die Augen. Er stellt keinen Unterschied fest, zwischen vorhin und gerade eben.
›Jetzt tun die auch noch so, als ob sie es nicht bemerkt hätten.‹
Die junge Frau von höchstens 55 Jahren, rechts neben ihm, stupste ihn an. Der Ellbogen war sehr spitz. Erwin zuckte leicht zusammen, und konnte gerade noch, den Happen auf seiner Vorspeisen-Gabel vor dem Sturz auf das weiße Tischtuch retten. Die leckere ›Sauce Choron‹ aber nicht. Die Schwerkraft hatte den flüssigeren Teil des Happens zu fassen bekommen, und zog diese Moleküle ein weiteres Mal in Richtung Krawatte.
Treffer. Zehn Punkte. Die Zufallstheorie von Charles Darwin ist hiermit bestätigt. Oder ist das die Chaostheorie? Er wird es prüfen müssen. Morgen.
Bewegungslos, ohne Reaktion sitzt er eine Weile da. Nur die Augen checken ganz kurz die nähere Umgebung, ohne dabei den Kopf zu bewegen.
»Warum essen Sie nicht weiter? Schmeckt es Ihnen wenigstens?«, kam die leicht erotische, lispelnde Stimme von rechts.
»Danke, es ist alles in Ordnung. Es schmeckt prima. Ein wenig dünn, die Tunke. Das kann dann leicht kleckern.«
»Ja. Ich muss ebenfalls sehr aufpassen. Ich habe heute ein so helles Kleid an. Da gehen Flecken nie und nimmer wieder raus.«
(‹Ach, sie hat also ein helles Kleid an. Mein Gott, ich sitze genau neben ihr, ich sehe, was sie trägt‹),
»Ein sehr schönes Kleid. Wunderschön. Es steht Ihnen sehr gut. Da sollten Sie achtgeben«, flunkerte er ihr zu. »Sehr, sehr hübsch – Haben Sie ein Ersatzkleid dabei, wenn dies hier vollgekleckert, also versaut ist, dabei?«
Wie von der Tarantel gestochen, sprang die noch nicht vollgekleckerte Dame rechts neben ihm auf, riss dabei ihre Arme wie beim Zumba-Leistungskurs in die Höhe und rief: »Ein Fleck? Wo denn?« Hilfe! Mein Designer-Kleid von Schanell!«
Spitze Schreie im sehr hohen Frequenzbereich erfüllten den Raum. Die Fliegen und Mücken verlassen vorsichtshalber fluchtartig das Lokal.
Hm. Eine schöne Figur hat die Mittfünfzigerin noch obendrein. Der schmächtige, hagere Mann, der zu ihrer Rechten saß, machte dagegen im Moment eine etwas schlechtere Figur.
Denn der, wurde von dem rechten Arm der hochspringenden Dame an seiner linken Schulter getroffen, und torkelte ziemlich stark, weil er gerade im Begriff war, aufzustehen. Er fand sich eine Sekunde später, quer auf der Tafel, zwischen und inmitten der Dips für den nächsten Gang wieder.
Das sah ebenfalls lecker aus. Was gibt es wohl zu den Dips zu essen? Erwin ist in freudiger Erwartung auf die nächsten Köstlichkeiten.
Wenn man das, mit dem Kopfstand auf einem gedeckten Tisch, absichtlich machen wollte, dachte Erwin, funktioniert so was nicht.
Die Aufmerksamkeit der Menge lag nun bei einer anderen Person. Bei dem Herrn, der sich über den Tisch drapiert hat.
Bunt durcheinander schwirrende Wortfetzen, wie:
»Wie der jetzt aussieht«, »wie kann man sich so daneben benehmen«, »was hat er denn?« Und auch »wer hat den denn eingeladen?«, kamen an Erwins Ohren vorbei.
»Wer ist das überhaupt?« Fragte eine Dame auf der anderen Seite dieses Tisches, mit insgesamt 24 Personen, ihren Sitznachbarn.
»Der mit dem Kopf in der Soße?«
Ja, den meine ich.«
»Keine Ahnung.«
»Und, was ist mit dem Anderen, den auf der rechten Seite von Frau von Fleckenschild?«
»Ich kann es nicht sagen«, flüsterte der Mann zurück, »Der ist schon die ganze Zeit so still und schweigt vor sich hin.«
»Ja, er macht den Eindruck, als ob er gar abwesend wäre, meinen Sie das auch?«
»Irgendwie macht der mir den Eindruck, dass er gar nicht hier her gehört.«
»Na ja, andererseits kann man so einen ja einfach ignorieren, oder?«
Das war ein Satz zu viel. Erwin erhob sich nun ganz langsam, baute sich zu seiner vollen Körpergröße auf, holte tief Luft. Er nahm einen Löffel und klopfte damit auf ein Glas, was vor ihm stand. Jetzt steht es nicht mehr. Ein ScherbenPuzzle.
»Ihr seid doch so bescheuert. Genau wie Früher. Während der ganzen Schulzeit habt ihr mich geärgert und mich wie Luft behandelt. Keiner von Euch hat mich je eingeladen oder hat sich nach der Schule mit mir getroffen. Und heute, da habt ihr euch was ganz Besonderes ausgedacht. Da habt ihr die Soße extra dünn kochen lassen, damit ich mich mal wieder bekleckere. Danke. Aber seht euch mal selbst an. Ihr seid ein einziger großer Kleckerhaufen.
Ich haue jetzt hier ab!«
Er schmiss seine Serviette mitten auf die Tafel. Diese riss noch ein paar Rotweingläser um. Das hatte zur Folge, dass noch zusätzlich einige Damen mehr sich bei dem Zumba-Leistungskurs einklinkten. Sie sprangen hoch und fuchtelten mit Allem, was man bewegen kann in der Gegend herum, damit die herumfliegenden Flecken ja nicht auf ihrer Kleidung landeten.
Wutschnaubend stürmte Erwin auf den Ausgang des Lokals zu. Auf dem Bürgersteig angekommen, blieb er stehen, holte ein paar Mal tief Luft …
»Hallo Erwin!«, rief eine Stimme von der anderen Straßenseite, »was machst Du da drüben?, kennst du dich nicht mehr aus hier?«
Erwin stierte zu dem Mann auf der gegenüberliegenden Seite.
»Nun komm schon. Wir warten auf Dich. Alle anderen sind schon da. Dann kann es endlich losgehen, mit unserem ersten Klassentreffen nach über dreißig Jahren.«
Im Park
Es kann manchmal so wundervoll sein. Erwin erwacht aus einem tiefen, ruhigen und ereignisarmen Schlaf. Er fühlt seinen klaren Kopf; Er liegt nicht neben seinem Bett. Er weiß, welcher Wochentag und welche Uhrzeit es ist, und er hat nicht verschlafen.
Der Wettermann im Radio, vorhin, hat ihm versichert: »Es wird heute ein schöner sonniger Samstag.« Der kurze Blick durch die Fensterscheibe sagt ihm, dass es wohl noch nicht ›Heute‹ sein kann. Andererseits: Er hat ja Geduld. Eventuell ist es ja nach seinem Frühstück ›Heute‹. Also: ›Heute schönes Wetter!‹
Er hat sich für diesen Tag nichts Besonderes vorgenommen. Es ist auch besser so. Denn für gewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass er sich etwas Schönes vorgenommen hatte, ging es meistens anders aus. Überwiegend mit negativen Aspekten.
Seine Samstage liefen in der Regel immer gleich ab. Seine ›Wochenend-To-do-Liste‹ war mittlerweile in seinem Unterbewusstsein abgespeichert: Leere Konservengläser und Flaschen wegbringen, Papiermüll sortieren und die wichtigsten Einkäufe, die seinen Kühlschrank betreffen, würden ihn die kommenden zwei Stunden in Anspruch nehmen. Doch zunächst wird erst mal in Ruhe gefrühstückt.
Als er vor ein paar Jahren für seine Firma zu irgendeinem Kunden musste, und dort am Ort in einem kleinen, aber eleganten Hotel übernachtete, verspürte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Hauch von Luxus. Und das nur, weil der Frühstückstisch für ihn allein, komplett mit allem, was man sich vorstellen kann, gedeckt war. Also kein Buffet, sondern alles, was auf so einem First-Class-Buffet normalerweise steht, war dort für eine Person auf einem Tisch übersichtlich drapiert worden. Bombastisch. Seitdem sah sein Küchentisch an jedem Samstag genauso aus. Auch, wenn er nur Hunger auf einen Toast mit Marmelade und ein Ei hatte. Diese Zeremonie gönnte er sich. Irgendeinen Tick hat doch Jeder, oder?
Cirka eine Stunde später dreht er mit seinem Auto die sechste Runde um den Block, mit dem Platz, auf dem die Container für den Glasabfall stehen. Kein freier Parkplatz. Jeden Samstag das Gleiche. Zum Kotzen. ›Können die nicht mal zu Fuß ihren Müll wegbringen?‹, denkt er, und setzt zu einer weiteren Ehrenrunde an. In Wirklichkeit ist hier keine Fläche zum Parken für die Dauer der Glascontainer-Befüllung vorgesehen. Dieses hier ist ein reines Wohngebiet mit verkehrsberuhigter Zone mit Parkflächen für die Anwohner. Erwins Zuhause war ungefähr dreihundert Meter von hier entfernt.
Er spielt mit dem Gedanken, seine Ketchup- und Weinflaschen wieder mit nach Hause zu nehmen und das ganze Spiel am nächsten Wochenende erneut zu starten. Jedoch plötzlich sieht er links, auf der anderen Straßenseite, einen Blinker und Fahrlicht angehen. Abrupt tritt er die Bremse, um dort einlenken zu können. Doch ›abrupt‹ ist immer der erste Teil, von dem physikalisches Phänomen bei Dingen, die in Bewegung sind, und deren Geschwindigkeit sich unvermutet ändern. Da kann schon mal die sogenannte ›Fliehkraft‹ auftauchen. Sein, aus Omas Nachlass, handgeflochtener Weidenkorb, mit Flascheninhalt, schnellt mit der Rasanz von 15 km/h vom Rücksitz über die, vom Vortag zurückgeklappte, Sitzlehne, an die rechte Seite von dem Handschuhfach. Das Geräusch beim Aufprall lässt sich mehr schlecht als recht formulieren. Nur eins: Es ist bedeutend leiser als der Ausruf der unflätigen Schimpfwörter aus Erwins Kehle.
Nach einer weiteren Stunde, ist er wieder zu Hause, und fühlt sich nun völlig easy und ausgeglichen. Sein Wagen ist wieder scherbenfrei, auch die Wohnung ist mittlerweile wieder für Fremde begehbar geworden. Sie ist gelüftet, gereinigt, aufgeräumt und staubfrei. Na, ja. Seine Nachbarin, die mit den hundert verschiedenfarbigen Küchenkitteln und dem an der Hand angewachsenen Staubtuch, würde hier doch noch einiges finden, was gereinigt werden müsste. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Seine gesamte Aufmerksamkeit ist nun bei seinen Gedanken, was er denn jetzt ursprünglich schönes, sinnvolles, ihm Freude bereitendes, spektakuläres Unterfangen, heute, bei diesem tollen Wetter, durchführen soll. Der Volksmund sagt auch: ›Was nun?‹
Er nimmt sich das Wochenblatt, das hier am Ort immer am Mittwoch erscheint, zur Hand, und beginnt zu stöbern.
.. Er stöbert … Und stöbert … Und stöbert. Nach zwei weiteren Stunden hat er das Kompendium komplett durchgelesen. Nachdem er die offensichtliche Reklame und auch die versteckten, unterschwelligen Werbungstexte herausgefiltert hat, weiß er nun alles, was für ihn bedeutungsvoll sein soll. Also, das was die Anderen glauben, dass dies für ihn relevant ist. Ihn selbst interessiert nicht so sehr, ob ein Verein für Rentner, einen Ausflug zum Sozialamt gemacht hat. Oder ein Mitglied eines hier ansässigen Turnvereins, schon 45 Jahre, trotz Gliederreißen, aktiv ist.
Das ein Bürger dieser Stadt längst mehrmals den zunehmenden Verkehr in seiner Straße angeprangert hat, und dadurch der Straßenlärm seine Volksmusik stört, ist auch nicht sein persönliches Nachrichten-Highlight. Überwiegend, muss er feststellen, sind hier Berichte darüber, welche bereits Vergangenheit sind. Erwin möchte aber gerne wissen, was heute so los ist. Wo was wann angeboten wird. Bis auf die zwölf Flohmärkte, den ›Vogelkundler-Früh-Suchtrupp‹ (von vier bis sieben Uhr in den Morgenstunden) sowie die diversen Aktionstage bei den einheimischen Autohändlern, ist hier in diesem Blatt nichts zu finden. Schade.
›Das habe ich jetzt davon‹, denkt er, ›Als Eigenbrötler, Besserwisser, Sonderling, Neunmalschlauer und Zugezogener hat man eben nicht so viele Bekannte, mit denen man etwas unternehmen kann!‹ Für einen kurzen Moment will er sich für sein Selbstmitleid entscheiden. Doch davon bekam er meistens Kopfweh, und das will er heute überhaupt nicht. »Wohl an«, spricht er. Das hatte er in irgend einem Buch gelesen, dessen Story im achtzehnten Jahrhundert spielt. »Wohl an, zu neuen Ufern!« Er grinst, als er sich diese Worte rufen hört.
Erwin tut jetzt so, als ob er etwas vor hat, und macht sich ›stadtfein‹: Die neue helle Stoffhose, ein frisches Polo-Shirt und eine leichte Strickjacke über die Schultern gelegt. Noch einmal die Frisur und seinen Gesichtsausdruck im Spiegel korrigiert, und los geht’s.
Die Wohnung verlassend, den Kopf und die Schultern nach oben gerichtet, seine Wirbelsäule gespannt, den Hintern zusammengekniffen, den Blick geradeaus, so tritt Erwin an diesen sonnigen Nachmittag ins Freie.
Nur, welche Richtung soll er einschlagen? Bis soeben hat er nicht mit einem solchen plötzlichen Entscheidungszwang gerechnet. Erwin ist normalerweise so ein Mensch, der klare Verhältnisse liebt. Einer der immer weiß, wo der Hase läuft. Er hasst die Menschen, die sich nicht entscheiden können. Wie geht das grundlegend, wenn man sich jetzt selbst hassen muss? Darf man sich dann nicht mehr ansehen? Oder sind keine Selbstgespräche mehr erlaubt? Er weiß es nicht. Jetzt sind es schon zwei Probleme. Welchen Weg er nehmen muss und wie man sich selbst hasst. ›Scheiß Wochenende‹.
Ein Passant auf der anderen Straßenseite sieht ihm etwas verwundert nach, als Erwin im Zickzack-Kurs erst links und dann rechts rum, seinen optimalen Startpunkt zum Spaziergang suchte. Erwin versuchte nun, sich abzulenken, damit er nicht so viel dummes Zeug dachte. Erst zählt er von 50 rückwärts bis Null. Wobei er bemerkte, dass er zwischendurch einige Zahlen überschlug, dann plötzlich wieder vorwärts zählte, und die Zahl 34, glaubt er, mindestens viermal leise gedacht zu haben. Doch weiter kam er nicht. Irgend ein Mensch geht an ihm vorbei und grüßt ihn. Jetzt ist er völlig aus dem Konzept. Wer ist das überhaupt? Der muss mich verwechselt haben. Er ist jetzt völlig raus aus seiner Konzentration. Soll er unter Umständen den unbekannten Menschengrüßer fragen, ob es eine solche, von ihm vermutete Verwechslung gibt?
Nein! Er blickt hinüber zu seinem Parkplatz und beschließt ohne Fahrzeug in die Fußgängerzone zu kommen. Andererseits – Samstags in der Fußgängerzone sind Alle im Stress. Also lieber in den Park. Dort haben die Menschen normalerweise immer bessere Laune.
Gedacht, getan. Nach ungefähr 25 Minuten kommt er an. Im Park. Es liegt ein ungewöhnlicher Geruch in der Luft. Er erinnert sich: ›Dies ist natürliche, gesunde frische Luft‹. Ungewohnt – aber angenehm. Erwin zieht seine Schuhe aus und geht mitten auf die satt strahlende grüne Wiese und legt sich auf den Rücken.
Wunderbar.
Er schließt seine Augen und döst so ein wenig vor sich hin. Er öffnet sie wieder und sieht die kleinen Schäfchen-Wolken vorüberziehen und fantasiert sich aus den verschiedenen Wolkenformen immer neue Gesichter, Tiere, Figuren und Sonstiges. Er denkt über das Wort ›sonstiges‹ nach. Dieses Wort erinnert ihn an die jährliche Steuer-Erklärung. Alles was man nicht versteuern braucht, muss man unter ›Sonstiges‹ angeben, damit es versteuert werden kann. Genial.
Er sollte ein Geschäft aufmachen, mit dem Namen ›Sonstiges‹. Doch jetzt ist Wochenende. Nicht an Arbeit denken. Wolken gucken! Erwin ist wieder im Alpha-Zustand.