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Heiko Thomasin, Lehrer für Physik, Mathematik und Informatik, beginnt in Kandern ein neues Leben. Er will die unangenehme Geschichte, die ihn in Karlsruhe in Schwierigkeiten brachte, hinter sich lassen. Im Hans-Thoma-Gymnasium in Lörrach hat er alle Chancen für einen erfolgreichen Neuanfang. Doch auch hier im Markgräflerland holt ihn die Vergangenheit ein. Als in der Wolfsschlucht in Kandern eine weibliche Leiche, eine Schülerin des Gymnasiums, gefunden wird, führen alle Spuren, unter anderem der Hinweis eines stummen Zeugen, direkt zu ihm. Nun soll er sich vor dem Landgericht in Freiburg verantworten. Doch seine Schwester, Doris Wendtland, ist von der Unschuld ihres Bruders überzeugt. Sie bittet ihre Freundin Celine Endress, eine erfolgreiche Rechtsanwältin, um Hilfe. Celine und ihr 'Matula', wie diese ihren Kompagnon Friedhelm Kulau gerne scherzhaft nennt, nehmen sich des Falles an. Bei der Recherche stoßen sie auf erschreckende, äußerst gefährliche Details.
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Seitenzahl: 355
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Heiko Thomasin, Lehrer für Physik, Mathematik und Informatik beginnt in Kandern ein neues Leben. Er will die unangenehme Geschichte, die ihn in Karlsruhe in Schwierigkeiten brachte, hinter sich lassen. Im Hans-Thoma-Gymnasium in Lörrach hat er alle Chancen für einen erfolgreichen Neuanfang. Doch auch hier im Markgräflerland holt ihn die Vergangenheit ein.
Als in der Wolfsschlucht in Kandern eine weibliche Leiche, eine Schülerin des Gymnasiums, gefunden wird, führen alle Spuren, unter anderem der Hinweis eines stummen Zeugen, direkt zu ihm. Nun soll er sich vor dem Landgericht in Freiburg verantworten.
Doch seine Schwester, Doris Wendtland, ist von der Unschuld ihres Bruders überzeugt. Sie bittet ihre Freundin Celine Endress, eine erfolgreiche Rechtsanwältin, um Hilfe. Celine und ihr 'Matula', wie diese ihren Kompagnon Friedhelm Kulau gerne scherzhaft nennt, nehmen sich des Falles an. Bei der Recherche stoßen sie auf erschreckende, äußerst gefährliche Details.
Die Geschichte und die Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Beschreibungen wie Umgebung, Wetter, Mondphasen oder Himmelsereignisse sowie Institutionen und Lokale entsprechen zur Zeit der Handlung der Realität, außer dem Café Barcode. Es existiert zwar real, wurde aber erst 2009 eröffnet. Meine künstlerische Freiheit, hatte sich erlaubt, es früher ins Leben zu rufen.
Ellen Heinzelmann, Fachfrau für Marketing und Kommunikation, wurde 1951 im Kreis Waldshut geboren. Während ihrer langjährigen beruflichen Tätigkeit - zuletzt als Marketing- und PR-Verantwortliche in einer Organisation des öffentlichen Rechts in Basel - übersetzte sie Texte vom Deutschen ins Französische und Englische, wirkte als Dolmetscherin bei Vertragsverhandlungen in Paris. Sie schrieb viele Artikel in Fachzeitschriften und Heimatbüchern, war Redakteurin eines offiziellen, branchenbezognenen Vereinsorgans, entwarf Broschüren und Werbematerialien und organisierte umfangreiche geschäftliche Events. Sie lektorierte Fremdtexte und wirkte als Ghostwriterin. Die geschriebene Sprache hatte schon in früher Kindheit große Faszination auf sie ausgeübt. Heute, nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben, ist sie ihrer Berufung gefolgt. Mit ihrem Debütroman "Der Sohn der Kellnerin", eine nicht alltägliche Geschichte, startete sie 2011 ihre Schriftstellerlaufbahn und nahm ihre Leser gleich mit auf eine emotionale Reise.
www.ellen-heinzelmann.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
»Das hier versammelte Kollegium der Oberstufen wünscht Ihnen einen guten Start, auf dass Sie sich in unserem Gymnasium bald heimisch fühlen«, kommt der Schuldirektor Dr. Werner Kohler mit einem wohlwollenden Blick in Richtung des neuen Kollegen mit seiner Ansprache langsam zum Ende. Dabei würdigt er das Hans-Thoma-Gymnasium Lörrach als zeitgemäße Bildungseinrichtung und lobt die Unterprima, dessen Klassenlehrer für Mathematik und Physik Thomasin zum Schuljahresbeginn 2002 sein wird, als hervorragende Klasse, die neben anderen Koryphäen vor allem einige mathematisch- und naturwissenschaftlich begabte Schüler in sich birgt. »Wie vereinbart werden Sie dann in zwei Jahren, wenn Sie Ihre Klasse zum Abitur geführt haben werden und unser werter Herr Oberstudienrat Bernhardt in Pension gegangen sein wird, den Hochbegabtenzug als Klassenlehrer übernehmen.«
»Ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang und freue mich auf die Klasse und natürlich auch auf eine gute Zusammenarbeit im Kollegium«, richtet Heiko Thomasin seine Worte an die im Lehrerzimmer versammelte Lehrerschaft und hebt sein Glas.
Ebenso sein Glas hebend, preist der Direktor dem Kollegium die herausragende naturwissenschaftliche Kapazität Thomasin als weitere Bereicherung für das Gymnasium an. Denn in der Tat, Thomasin hatte sich mit seinen 33 Jahren durch seine Publikationen einen guten Namen geschaffen. Ursprünglich war sein Ziel eigentlich, zu promovieren. Doch dann hatte er diesen Plan wieder verworfen. Da nutzte es auch nichts, dass sein Professor für Physik, der das naturwissenschaftliche Genie Thomasin gerne als dessen Doktorvater betreut hätte, mit Engelszungen versucht hatte, ihn dazu zu überreden.
Nach dieser offiziellen Begrüßung stößt die Lehrerschaft auf den neuen Kollegen an und im Nu ist der Raum erfüllt von angeregten Gesprächen
*
Thomasin ist glücklich, dass die Versetzung vom Otto-Hahn-Gymnasium in Karlsruhe hierher nach Lörrach so schnell und problemlos geklappt hatte, ohne dass die Affäre an die große Glocke gehängt worden war. Wenn auch erwiesenermaßen unschuldig und gegen ihn das Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen fallen gelassen wurde, war es für ihn nicht mehr zumutbar, dort weiterhin zu unterrichten. Sein Renommee hatte, ob schuldig oder nicht, einen bedeutenden Schaden erlitten. Wer sollte ihm noch Achtung entgegenbringen? Das Kollegium? Die Schüler? Oder deren Eltern? Er wäre wahrscheinlich zu einem Lehrer mutiert, der um Autorität hätte kämpfen müssen, und das ist nun mal nicht sein Ding. Er ist keine Kämpfernatur. Er gehört eher zur Gattung der entspannten sorglosen Menschen, die allem Schönen und zugegebenermaßen auch allen Annehmlichkeiten, die das Leben so zu bieten vermochte, sehr zugetan ist. Da bietet ihm, dem ausgesprochenen Weinliebhaber, das sonnenverwöhnte Markgräflerland das ideale Ambiente für ein angenehmes Leben. Hier kann der vom Schicksal begünstigte Unternehmerssohn mit seiner Frau adliger Herkunft einen Neuanfang starten. Für Kandern, das kleine hübsche Schwarzwaldstädtchen südlich von Freiburg, schwärmte er schon seit er nach einem passenden Haus auf die Suche ging. Es sollte nicht allzu weit von Lörrach entfernt und doch in ländlicher Umgebung liegen und da erschien ihm das ›Städtli‹, wie die Kanderner ihren Ort liebevoll zu nennen pflegen, bestens geeignet. Schon im April dieses Jahres wurde er fündig. In der Friedrich-Hecker-Straße, fand er eine schöne große Immobilie in bezaubernder Lage. Sogar seine verwöhnte Frau Patrizia von Ow, die ihren ledigen Namen bei der Hochzeit nicht ablegen wollte, war sofort von der lieblichen Landschaft des Markgräflerlands und vor allen Dingen vom ›Städtli‹ verzückt. Sie konnte sich schmerzlos von ihrem Haus bei Karlsruhe trennen. Unweit ihres neu erworbenen Hauses liegt auch die Haupt- und Realschule, die nach dem Expressionisten August Macke benannt wurde. Seine Frau, die in München am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität studierte, wird künftig als Teilzeitlehrerin an dieser Schule das Fach Kunst unterrichten.
Sie war nach dieser bitteren Zeit in Karlsruhe wieder richtig glücklich, weil alles so unkompliziert über die Bühne ging und sie in dieser schönen kleinstädtischen Umgebung auch gleich eine Schule, die einem Künstler gewidmet ist, in ihrer Nähe hatte. Ganz euphorisch erklärte sie Heiko, wie schon August Macke 1905 in einem Brief an seine Freundin, Elisabeth Gerhardt, von Kandern schwärmte. ›Ich kenne keinen Ort, der derart klassisch schöne Partien aufzuweisen hätte wie dieses herrliche Kandern. Du glaubst nicht, wie wohl ich mich hier fühle‹, soll er seiner Liebsten geschrieben haben. Auf jeden Fall ist die Umgebung für Patrizia genau das Richtige. Er weiß, dass sie gleich auf die Suche nach Kanderns Geschichte gehen würde, um sich darin zu vertiefen. Denn davon bietet Kandern und Umgebung einiges. Sie hatte sich auch gleich in die Museumsbahn ›s'Chanderli‹, die immer sonntags zwischen Kandern und Weil-Haltingen verkehrt, verliebt und sie beide möchten das sonntägliche Pfeifen der Bahn nicht mehr missen. Das Leben kann nun, nach kurzem Pausieren, also wieder beginnen.
*
Das Kollegium löst sich langsam auf und begibt sich in ihre jeweiligen Klassen. Bevor Thomasin seinen Dienst in der Unterprima, die sich in der ersten Stunde dem Fach Englisch zu widmen hatte, antritt, wird er vom Direktor zum ersten in diesem Jahr neu gestalteten Multimediaraum geführt. Hier wurden den Schülern sechs Multimedia-PCs an zwölf Arbeitsplätzen mit entsprechender professioneller Lernsoftware eingerichtet. Thomasin war bestimmt worden, die Netzwerkbetreuung zu übernehmen und CAS-Mathematik, das heißt Mathematik mit einem Computer-Algebra-System, im Kursangebot zu unterrichten. Er freut sich auf diese Aufgaben, zumal ihm schon im Vorfeld eine interessierte Schülermannschaft angekündigt wurde.
Pünktlich zur zweiten Stunde steht Thomasin vor seiner neuen Klasse, die er für die kommenden zwei Jahre als Klassenlehrer unterrichten und betreuen wird. Neugierig sind 19 Augenpaare auf ihn gerichtet, die ihn genau mustern. ›Eine überschaubare Schülerzahl‹, denkt er bei sich, bevor er die Worte an die Klasse richtet, die ihm sehr gespannt lauscht.
»Hej, der Typ sieht ja echt cool aus«, raunt Sandra ihrer Banknachbarin Anja zu, während sie ihren Klassenlehrer mit schwärmerischen Augen fixiert. Anja antwortet nicht und folgt wie entrückt seinen Worten.
Als der Kommentar von ihrer Banknachbarin ausbleibt, blickt Sandra schelmisch zu ihr hinüber und kommentiert deren Schweigen amüsiert: »Aha, die stille Genießerin!«
»Quatsch«, widerspricht Anja mit gespielt empörtem Gesichtsausdruck, »ich bin nur aufmerksam.«
»Ja, ja, aufmerksam … mit dem Blick, den du aufgesetzt hast.«
Anja wirft Sandra einen genervten Blick zu.
Thomasin ist diese kleine Szene natürlich nicht entgangen, hatte aber, zumindest im Moment, kein Interesse, darauf einzugehen. Später, wenn er die Klasse, und die Klasse ihn, dann besser kennt, würde er die beiden Schülerinnen vielleicht zu mehr Aufmerksamkeit auffordern. Doch jetzt am ersten Tag geht er nicht darauf ein. Stattdessen beginnt er, nachdem das Vorstellungsprozedere, das auch die Erwartungen im neuen Schuljahr beinhaltete, erledigt war, gleich mit dem Unterricht. Der Unterricht geht auch ziemlich zügig vonstatten und es geht auch nicht lange, bis er die Stars der Klasse ausgemacht hat. ›Ja‹, denkt er bei sich, ›die haben es wirklich drauf. Mit denen werde ich meine Freude haben.‹
Der Pausengong kommt für ihn viel zu früh, denn er ist gerade richtig in Fahrt. Er entlässt seine Schüler widerwillig in die große Pause. Selbst bleibt er im Klassenzimmer, denn die Klasse hat gemäß provisorischem Stundenplan danach noch zwei Stunden Physik, was sich dann in den nächsten vierzehn Tagen aber noch ändern wird. Die Schülerin in der vordersten Reihe, deren Name gemäß Sitzplan Sandra Schaffner ist, geht mit kokettierendem Blick an ihm vorbei. Unweigerlich denkt er mit Grauen an die unglückliche Geschichte, die ihm in Karlsruhe widerfahren war.
*
Diese Begebenheit wird ihm im Innern immer nachhängen, ob er will oder nicht. Sie ist in seinem Unterbewusstsein tief verankert. Es nutzt nichts, dass er unschuldig war. Die Schülerin hatte die Klage zurückgezogen. Sie hatte erklärt, dass sie davon träumte, mit einem solchen Mann wie Thomasin zusammen zu sein. Dann kam sie auf die Idee, sich bei ihren Freundinnen wichtig zu tun, um mehr Anerkennung zu bekommen. Sie hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass dieses Dick-Auftragen solche Kreise ziehen würde. Ohne ihr Wollen hatte es sich herumgesprochen. Aber es gab kein Zurück mehr, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren wollte. Irgendwann jedoch war sie dem Ganzen nicht mehr gewachsen.
Rainer, Heikos um zwei Jahre älterer Bruder, hatte damals schon verständnislos die Augen gerollt, als er erfuhr, dass Heiko sich für ein Studium in den naturwissenschaftlichen Fächern entschied. Als er dann auch noch von Heikos Vorhaben erfuhr, eine Laufbahn als Lehrer einzuschlagen, hatte er nur den Kopf geschüttelt und ihn gewarnt. ›Einer, der aussieht wie George Clooney, entscheidet sich nicht fürs Lehramt. Der kriegt doch nur Probleme, weil es den Mädchen in der Klasse schwerfallen wird, sich auf den Stoff zu konzentrieren, wenn so ein Beau vor ihnen steht. Und, dass du dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan bist, na ja, das ist ja kein Geheimnis. Du bist ja ein richtiger Herzensbrecher.‹ Leider sollte sein Bruder, was die Lehrerlaufbahn betrifft, recht behalten. Gut, es stimmte. Er hatte eine Schwäche fürs weibliche Geschlecht. Er schaute immer gerne schönen Frauen nach. Er flirtete auch gerne mal mit Blicken und Komplimenten, weil er einfach ein geborener Charmeur war. Es lag ihm sozusagen im Blut. Doch seit der Ehe mit Patrizia galt für ihn ausnahmslos: ›Appetit darfst du dir holen, aber gegessen wird zu Hause.‹ Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass er einer Schülerin, wenn sie außergewöhnlich attraktiv oder gar eine Schönheit war, nachschaute … länger als gewöhnlich. Aber mehr als diese Aufmerksamkeit durch Blicke war es nie, was er für eine hübsche Schülerin übrig hatte. Wenn er sich einmal mehr als üblich mit einem Mädchen, natürlich gelegentlich auch mit einem Jungen, befasste, dann geschah es, weil er es für notwendig erachtete. Für ihn als Lehrer stand immer die Fürsorge für seine Schüler und Schülerinnen im Vordergrund. Nie jedoch machte er den jungen Mädchen Avancen. So zumindest dachte er - blauäugig in seiner männlichen Unschuld. Dass die Mädchen sich in seiner Gunst sahen, wenn er sich näher mit ihnen befasste, und glaubten er stünde ihnen etwas näher als den anderen, ist ihm nie in den Sinn gekommen.
Doch nicht nur Rainer, versuchte ihm das Lehramt auszureden, sondern auch sein Vater. Der hätte es lieber gesehen, wenn er mit seinem Bruder und seiner um drei Jahre jüngeren Schwester Doris die Leitung der von ihm 1983 in Flachslanden gegründeten Thomasin Laser- & Graviermaterial GmbH übernommen hätte. Aber Heiko war noch nie ein Geschäftsmann. Ihm lagen schon damals Wirtschaftsfächer nicht und er verspürte nicht die geringste Lust, sein Studium nach dem Betrieb seines Vaters auszurichten. Er fand, dass die Firma bei seinen Geschwistern in guten Händen lag.
*
Der Schulgong reißt ihn aus seinen Gedanken. Diese kecke Sandra muss schon in der Nähe der Türe gewartet haben. Denn sie ist die erste, die den ganzen typischen Charme einer Siebzehnjährigen aufbietend, verführerisch lächelnd, das Klassenzimmer betritt, kurz darauf gefolgt von ihrer Banknachbarin Anja Sailer, die sich etwas mehr zurückhält. Er muss gestehen, dass Letztere ein außergewöhnlich liebreizendes Geschöpf ist. Die Natur war sehr gönnerhaft, als sie für diese Schülerin die weiblichen Attribute verteilte. Ihr engelsgleiches Gesicht rundet ihre Erscheinung ab. Heiko kann gar nicht anders, als ihr hinterherzusehen. Für ihn ist Anja eine Augenweide. Doch im selben Moment ermahnt ihn seine innere Stimme: ›Halte dich zurück mit deinen Blicken. Du hast die Chance für einen Neuanfang. Vermassle sie nicht‹.
Die ersten zwei Monate bis zu den Herbstferien hatte Thomasin hinter sich gebracht. Rückblickend kann er sagen, dass es zwei wirklich gute Monate waren. Er mag seine Klasse und die Klasse mag ihn. Es gibt teilweise ganz hervorragende Schüler, die ihm viel Freude bereiten. Er hat aber auch seine Sorgenkinder. Zum Beispiel Sandra in der vorderen Bank. Sie wirkte plötzlich andauernd müde und ihre Leistungen hatten schlagartig nachgelassen. Ein Mädchen namens Lisa Picco, Sandras linke Banknachbarin und beste Freundin, hatte durchblicken lassen, dass Sandra sich verliebt habe. Sie sei da in eine Clique hineingeraten, die oft bis spät nachts zusammensitze und in der der Angebetete der Chef sei. Niemand ihrer bisherigen Freunde kennt ihn. Nur eines wisse man, dass er um einiges älter als Sandra sein soll, und dass er nicht möchte, wenn seine Freundin über ihn spricht. Er möchte auch nicht zusammen mit ihr gesehen werden. Er soll ihr gesagt haben, dass es früh genug sei, wenn sie mal eine Weile zusammen gewesen sein würden und sie sich ihrer Gefühle füreinander wirklich sicher sein könnten, so dass anzunehmen sei, die Beziehung könne Bestand haben. Deswegen wisse auch niemand etwas Genaues. Doch Lisa schien sich ernsthaft Sorgen um ihre Freundin zu machen und Thomasin beruhigte sie vorläufig. Er meinte, dass sie nicht gleich schwarzsehen solle. Er selbst hatte beschlossen, erst einmal abzuwarten. Kein Grund für eine Überreaktion oder gar eine Alarmstimmung. Er kannte das nämlich. Wenn die erste Verliebtheit einmal vorüber sein wird, würde ihr Gehirn wieder frei sein für Schulisches. Außerdem ist es doch meist so, dass gerade ältere Jungs sehr bald mal die Nase voll haben von unerfahrenen Girlies, wie sie diese heranwachsenden Mädchen oft abfällig nennen. Dann wird sich das Problem sowieso wieder von selbst gelöst haben. Das neue Schuljahr hatte schließlich erst begonnen … also kein Grund sich zu sorgen und schon gar nicht den vorübergehenden Leistungsabfall über zu bewerten.
*
Das Leben in Kandern hat für die Thomasins wie erwartet angenehm begonnen. Sie beide lieben die Bräuche, die hier sehr intensiv gepflegt werden. Diese ganzen Feste, die in Kandern und Umgebung von Frühling bis Herbst zelebriert werden, sind Anziehungspunkte, bei denen man sich trifft, sich austauscht, sich kennenlernt. Dabei gibt es vielfältige Gelegenheiten für die Feste. Zum Beispiel der Städtlitag, der ›Chanderner Rossmärt‹ mit dem dazugehörenden Budenfest oder der Töpfermärt, Maihockete, Erntedankfeste in den umliegenden Gemeinden. Und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, als das Fest als solches, dann wird einer erfunden. Der alemannische Wortschatz ist da recht vielfältig, so dass die Veranstalter bisher nie in Verlegenheit gerieten, irgendwelche hübsche Namen zu finden, die als Motiv für die Feiern herhalten könnten. Ganz interessant finden sie beide den 1974 gegründeten Traditionsanlass ›Zeechefescht‹ in Schallbach. Diesen Namen habe man gewählt, weil es der Überlieferung zufolge in Schallbach Brauch war, bei Hochzeiten über der Haustür der frisch gebackenen Eheleute Schweine- oder Hühnerfüße als Glücksbringer aufzuhängen. Und da man mit dem Dorffest in Schallbach Glück haben wollte, habe man dem Fest einfach diesen Namen verpasst.
Am liebsten jedoch mag Thomasin die Winzerfeste, bei denen es während der Weinlese erstmals neuen Wein zusammen mit ›Ziebelewaie‹ - ein Norddeutscher würde dazu Zwiebelkuchen sagen - gibt. Natürlich bedarf es dazu nicht ausschließlich der Feste. Den Wein und die Waie genießt man auch überall in den umliegenden Weinschenken oder Straußwirtschaften, kurz Strauße genannt, die sich bei der Bevölkerung größter Beliebtheit erfreuen. Sie sind immer ziemlich gut besucht, denn die Zeit des neuen Weins ist schließlich begrenzt und man sollte sie schon ausgiebig nutzen.
*
»Darling, kommst Du?«, ruft Patrizia vom Balkon zu ihrem Mann hinunter, der gerade dabei ist Holz zu hacken. Die Wettermeldungen geben Sturmwarnung und da möchte er gerüstet sein und einen Vorrat haben.
»Lass mich noch eine halbe Stunde arbeiten, dann habe ich genug für den Anfang. Du weißt ja, dass die im Radio Orkanwarnung durchgegeben haben und meist folgt dann auch eine Kaltluftfront.«
»Die Warnungen betreffen nicht uns. In Hamburg soll es stürmisch werden, hieß es. Wir hier unten werden verschont bleiben«, widerspricht Patrizia.
»Soviel ich gehört habe, soll ganz Deutschland betroffen sein. Vielleicht bei uns nicht so stark, aber wir werden es zu spüren bekommen«, versucht Heiko seine Frau zu überzeugen, dass er noch etwas arbeiten möchte. Wenn er ganz ehrlich ist, will er eigentlich noch das schöne Wetter draußen nutzen, statt mit seiner Frau einkaufen zu fahren. Sie hat noch einige Verschönerungen fürs Haus im Sinn, und da hatte sie darauf bestanden, dass Heiko selbstverständlich mit dabei sein sollte. Ihm ist jedoch mehr ums Holzhacken.
Patrizia lässt sich aber nicht überzeugen und da er ihr eigentlich versprochen hatte, mitzukommen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben. Er rammt das Beil in den Spaltklotz, schiebt die fertigen Scheite unter dem geschlossenen Dach der Pergola etwas zusammen und fegt noch ordentlich die Späne weg.
Patrizia steht oben auf dem Balkon und beobachtet ihn gedankenverloren. Sie sind nun drei Jahre verheiratet und sie ist wieder zufrieden. Natürlich hatte die Affäre in Karlsruhe eine Ehekrise heraufbeschworen … ja, sie war enttäuscht, verzweifelt, richtig verärgert über ihren Mann. Die Leute zeigten mit dem Finger auf sie beide und sie hatte nicht mehr gewagt, unter Menschen zu gehen. Das hatte sie einfach nicht ertragen. Sie war schließlich eine ›von‹ und da war sie von Haus aus seit jeher gewohnt, dass man ihr Respekt und Achtung entgegenbrachte. ›Mit einem Kinderschänder wolle sie nichts zu tun haben‹, hatte sie ihrem Mann gehässig an den Kopf geworfen und war drauf und dran, ihn zu verlassen. Sie hatte dann selbst erkannt, wie sehr sie Heiko mit dieser Aussage kränkte, zumal sich bald herausgestellt hatte, dass das Mädchen, die ihren Mann belastete, gelogen hatte … diese kleine Hexe wollte sich nur wichtigtun. Unerfüllte Jungmädchenträume … sie hatte von ihrem Lehrer geschwärmt und hatte dann erfunden, dass er ein Verhältnis mit ihr begonnen habe. Patrizia fiel ein Stein vom Herzen und sie entschuldigte sich bei Heiko, wenn auch nur halbherzig, denn sie gehörte schon standesgemäß nicht zu den Menschen, die sich entschuldigten. Das wurde ihr schon sehr früh beigebracht.
Während sie Heiko beim Aufräumen beobachtet, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, denn vor ihrem geistigen Auge spielt sich die Zeit ihrer beider Anfänge ab. Sie waren damals in der elften Klasse, er in der Parallelklasse, des Platen-Gymnasiums in Ansbach. Ja, und er war der Schwarm aller Mädchen. Sein Bruder Rainer, der ihm an Aussehen das Wasser bei weitem nicht reichen konnte, hatte damals den passenden Vergleich mit dem seinerzeit in der Kinowelt noch relativ unbekannten George Clooney angestellt, und es hatte wirklich etwas für sich. Clooney wurde sehr bald sehr bekannt, und die Ähnlichkeit zwischen beiden wurde immer augenfälliger. Bei diesen Gedanken entfernt sich Patrizias Blick, scheint durch alles hindurchzugehen.
Sie machte natürlich keine Ausnahme und schwärmte ebenfalls von diesem Burschen, von dem auch noch bekannt war, dass er ein schlaues Kerlchen war. Sie erinnert sich noch zu gut, wie sich auf dem Pausenhof ihre Blicke zufällig trafen. Sie schwelgte dahin, denn schon durch diesen kurzen Blick, fühlte sie sich in seiner Gunst. Sie lächelte ihn vielsagend an. Antje ihre Freundin und Banknachbarin, versuchte ihr diesen Zahn zu ziehen. ›Mach dir da mal keine Hoffnungen. Der kann an jedem Finger eine haben … und zwar richtige Schönheiten‹, hatte sie ihr knallhart an den Kopf geworfen, denn Patrizia war zwar nicht hässlich, aber eine Schönheit war sie eben auch nicht. Ihre Augen lagen zu weit auseinander, die Nase war etwas zu groß, zwar noch in der Toleranz des Nicht-Wirklich-Hässlichen, aber dennoch zu groß, und dem Mund fehlte die berühmte Sinnlichkeit, die Männer so an Frauen lieben.
›Danke für die Blumen‹, antwortete Patrizia trocken.
›Ich sag nur, wie es ist‹, unterstrich Antje ihre Behauptung.
Solche Aussagen ließen die selbstbewusste Patrizia die Contenance natürlich nicht verlieren. Im Gegenteil, sie spornten nur ihren Kampfgeist an. ›Ich habe bis jetzt immer bekommen, was ich wollte. Weißt du Süße, es geht halt nicht immer nur um makellose Schönheit. Es gibt neben ihr auch noch Interessantheit und andere vielversprechende Werte.‹
Doch, auch Antjes Schlagfertigkeit war nicht von schlechten Eltern. ›Ach ja‹, sagte sie, ›fast hätte ich es vergessen; dein Haupt ziert der Adel; das wiegt natürlich schon etwas.‹
›Das mag vielleicht für andere gelten, dass nur das Ansehen und der Reichtum ziehen. Ich habe von anderen Werten gesprochen. Aber, wenn man diese selbst nicht einmal kennt, wie will man da mitreden‹, konterte sie sehr überlegen.
Das hatte bei Antje dann doch gesessen. Dennoch konnte sie es geschickt verbergen. Auch sie verstand es, Haltung zu bewahren. Schließlich wollte sie es mit ihrer besten Freundin nicht verderben. Durch sie hatte sie nämlich durchaus die Chance, zuweilen in besserer Gesellschaft zu verkehren, wo gute Aussichten für eine gute Partie bestanden. Außerdem war ihr sehr wohl bewusst, dass nämlich auch sie scharf geschossen hatte. Mit ihrer spitzen Zunge hatte sie es sich schon bei manchen Schulkameraden verdorben. Patrizia indes hatte nur gelächelt. Sie hatte es nicht nötig, mit ihrer Herkunft zu protzen. Sie stand darüber. Na ja, immerhin waren ihre Eltern Alexandra und Maximilian von Ow mit dem Haus Thurn und Taxis befreundet. Sie brauchte sich also nicht prominenter zu machen, als sie schon war.
Auf jeden Fall vergingen keine zwei Monate, da waren Heiko und sie ein Paar. Nach dem Abitur trennten sich aber ihre Wege wieder. Sie ging nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität und Heiko nach Bayreuth um am Physikalischen Institut der Uni Bayreuth zu studieren.
Zufällig trafen sie sich dann im August 1996 wieder. Sie beide, inzwischen 27jährig, besuchten die Bayreuther Festspiele - die Meistersinger von Nürnberg. Es war ein freudiges Wiedersehen, als sie sich in der Pause im Foyer begegneten.
*
Patrizia ist gedanklich so sehr in ihrer beider Vergangenheit versunken, dass sie gar nicht merkt, wie Heiko plötzlich hinter ihr steht. Erst, als er plötzlich zu sprechen beginnt,
schrickt sie zusammen und fährt herum.
»Mein Gott, hast du mich jetzt erschreckt«, sagt sie aufgeregt, ihre Hände auf die Brust gepresst.
»Das tut mir leid«, bedauert Heiko ehrlich. »Wo warst du denn gerade in Gedanken?«
Patrizia schmunzelt. »Ich war gerade in Gedanken bei unseren Anfängen.«
»Und? Nichts bereut?«, fragt er grinsend.
Ein kleines Küsschen ist die Antwort auf seine Frage. Er ist über diese Antwort vorläufig zufrieden.
»Gute Nacht, ich geh' ins Bett. Bin müde«, verabschiedet sich Sandra von ihren Eltern. Die Eltern sind nicht sehr überrascht, dass sich ihre Tochter schon um halb zehn ins Bett verabschiedet. Morgen früh muss sie schließlich wieder früh aufstehen und zur Schule. Ihnen ist auch nicht entgangen, dass ihre Tochter in letzter Zeit ziemlich müde wirkt. Von ihrem Leistungsabfall in der Schule haben sie bis jetzt nichts bemerkt. Bisher gab es ja auch nie Grund, sich um die Leistungen ihrer Tochter zu sorgen. Sie war immer eine gute Schülerin. Was sie ebenfalls nicht wissen, das ist, dass Sandra, wie schon viele Nächte davor, diese Nacht nicht in ihrem Bett verbringen wird. Kurz nach dreiundzwanzig Uhr wird sie sich aus dem Haus in der Gartenstraße in Kandern schleichen, um sich in der Wolfsschlucht mit ›The Black Moon Gang‹ zu treffen, die Clique, die ihr Freund Andreas gegründet hatte.
Andy, wie er von allen genannt wird, ist, so hatte er erzählt, erst vor kurzem von Freiburg nach Lörrach gezogen, wo er sehr bald Sandra kennengelernt hatte. Sie hatte sich auch gleich in ihn verliebt, war fasziniert von ihm. Seine Ruhe, seine Gelassenheit gaben ihr das Gefühl, er würde sie in jeder Situation beschützen können. Sie ist ein sehr anlehnungsbedürftiges Mädchen, das nach Liebe lechzt. Ganz fasziniert kann sie sich in seine dunklen Augen versenken. Sie strahlen etwas Geheimnisvolles, Fremdländisches aus. Dass er ihr nicht verraten will, wo genau er wohnt und arbeitet, macht sie nicht misstrauisch. Sie vertraut ihm. Man könnte es schon Hörigkeit nennen. Außerdem hatte er es gut begründet, warum sie sich etwas zurückhalten sollten mit dem ›Sich-in-der-Öffentlichkeit-zeigen‹. Er ist ja schon einiges älter als sie und er braucht eine gewisse Diskretion schon von Berufs wegen. Sein genaues Alter jedoch, hatte er ihr ebenso nicht verraten. Auch das stört sie nicht. Sie ist geschmeichelt, dass ein richtiger, gestandener Mann in sie verliebt ist. Sie schätzt ihn auf etwa 24 Jahre.
Lisa, ihre beste Freundin, hatte sie zwar gewarnt, denn sie hat die Änderungen an Sandra sehr bald gespürt und die Geheimnistuerei um die Clique machte sie sehr skeptisch. Sie äußerte den Verdacht, dass Sandra in die Fänge einer Sekte geraten sei. So höre es sich für ihre Ohren zumindest an. ›Bitte sei vorsichtig Sandra‹, hatte sie ihre Freundin ermahnt. Doch Sandra widersprach energisch, hatte aber darauf bestanden, dass Lisa mit niemandem darüber sprechen dürfe. Sie wolle nicht, dass da falsche Gerüchte in Umlauf gebracht würden. Dass sie deswegen Angst vor den Cliquenmitgliedern und auch vor Andy hatte, obwohl sie ihn liebte, behielt sie für sich. Denn der Verdacht, wenn irgendwelche Informationen durch Nichteingeweihte an die Öffentlichkeit drangen, würde nämlich genau auf sie fallen und das könnte sie teuer zu stehen kommen. Da waren die Regeln der Gemeinschaft ziemlich streng.
Immer bei Neumond und Vollmond trifft sich die Gang rituell in der Wolfsschlucht. Nicht zu erscheinen während der offiziellen Mond-Anlässe - es gibt auch noch die inoffiziellen Treffen - wäre undenkbar, gar eine Todsünde. Also würde Sandra alles daransetzen, nicht zu fehlen. Und heute ist ein ganz besonderer Tag. Erstens ist es der Tag der feierlichen Aufnahme von Sandra in die Gang und es ist auch gleichzeitig der Tag der Sternschnuppen, der Grund auch, warum man das Treffen diesmal um zwei Tage vor Vollmond verlegt hatte. Es handelt sich um ein äußerst seltenes Ereignis, wie in der Zeitung vom 18.11.2002 zu lesen war:
›Leoniden Sternschnuppen-Feuerwerk
Meteorsturm am Novemberhimmel, ein in der erwarteten Ausprägung nicht so bald wiederkehrendes Himmelsspektakel
Ein großes Feuerwerk, entfacht durch einen Sternschnuppenstrom der Leoniden, wird den Nachthimmel erhellen. Bis zu 6000 Meteore pro Stunde werden gemäß Prognose des Astrophysikalischen Instituts (Potsdam) am Morgen des 19. November aufflammen. Nach Schätzung von Joachim Jost, Meteor-Experte der Vereinigung der Sternenfreunde (VdS), haben Laien am Dienstagmorgen von etwa 04.30 Uhr an die Möglichkeit bis zu 500 Sternschnuppen pro Stunde zu beobachten.‹
Dieses Spektakel will sich die Gang natürlich nicht entgehen lassen, zumal behauptet wird, dass kaum einer der heute Lebenden ein solches Leoniden-Schauspiel noch einmal wird erleben können. Die Nacht ist klar, also stehen die Chancen für eine gute Beobachtung sehr gut.
Sie werden also ihr rituelles Treffen mit der sogenannten Aufnahmeweihe beginnen und im Morgengrauen, zur genannten Stunde, das Meteorfeuerwerk auf der Lichtung oberhalb der Wolfsschlucht, die man über den Böscherzenweg erreicht, beobachten.
Sandra hat ein bisschen Herzklopfen, als sie zum vereinbarten Treffpunkt in die Wolfsschlucht kommt. Sie weiß nicht genau, was sie erwartet. Andy hatte sehr geheimnisvoll davon gesprochen.
Als sie am gewohnten Platz der Veranstaltung ankommt, sind schon vier Mitglieder von sechs anwesend. Es fehlt jetzt nur noch Sonja, die zusammen mit Sandra die einzigen weiblichen Mitglieder darstellen. Es sollen in Zukunft noch weitere Mitglieder hinzukommen, hatte Andy ihr erzählt, aber diese müssten sorgfältig ausgewählt werden.
Andy hatte schon ein kleines Lagerfeuer entzündet. Neben ihm liegen ein Sack, in dem sich etwas zu bewegen scheint und ein Krug. Zuerst der Boss, dann jeder einzelne wird herzlich mit den Worten ›Hail Black Moon‹ begrüßt, während sie jeweils die Stirn kurz aneinanderhalten. Küssen ist bei den offiziellen Treffen nicht erlaubt. Fünf Minuten später erscheint auch schon Sonja.
Andy eröffnet das Mondtreffen mit den üblichen rituellen Worten und kommt anschließend gleich zur Weihe. Die Mitglieder beginnen leise das ›Lied an den Mond‹ von Antonin Dvorák zu summen während Andy spricht. Dieses Lied zu kennen war für Mitglieder der BMG, wie sie die Black Moon Gang kurz nennen, erste Pflicht. Sandra erhielt die CD mit dem Lied eine Woche vor der Weihe, damit sie sich die Melodie einprägen konnte.
Andy fordert sie nun auf, auf die Knie zu gehen, während die Gruppe immer noch summt. Es hört sich irgendwie gespenstisch an. Dann beobachtet sie das Zeremoniell, das sich dicht vor ihren Augen abspielt. Andy holt den Sack und entnimmt ihm eine schwarze Katze. Er hält das zappelnde Tier an den Hinterbeinen hoch, murmelt ein paar unverständliche Worte und reicht es dann seinem Vize. Sonja holt schon den Krug. Dann nimmt Andy ein großes Messer, das hinter einem Stein verborgen lag und schneidet dem Tier die Kehle durch, genau da wo das durchgehende Schwarz von einem weißen Fleck an der Kehle unterbrochen ist. Sandra zuckt zusammen, schlägt ihre Hände vors Gesicht und dreht ihren Kopf weg. Sie kann nicht hinschauen. Doch Ralph, ein weiteres Mitglied, der hinter ihr steht, nimmt ihren Kopf zwischen beide Hände und dreht ihn in Richtung der Opferzeremonie. Dann ergreift er ihre Arme an den Handgelenken und zieht die Hände vom Gesicht. Damit zwingt er sie, hinzusehen. Sonja hält den Krug unter das noch immer zappelnde Tier, um das Blut aufzufangen. Das Summen der kleinen Gruppe hallt dämonisch in ihren Ohren, während Andy weiter beschwörende, unverständliche Worte herunterleiert.
Dann reicht er ihr feierlich den Krug und sagt »Trink Sandra!« Sandra schaut ihn erschrocken an. Sein Gesicht jedoch wirkt in diesem Moment unnahbar. Er drückt den Kelch an ihr Gesicht und wiederholt »Trink!«, und Sandra trinkt, während sie gegen den qualvollen Würgereiz ankämpft. Sie will sich gerade übergeben, als Sonja ihr ein Glas Rotwein reicht, damit sie den Geschmack des Blutes überdecken und den quälenden Ekel mildern kann. Mit viel Anstrengung schafft sie es, sich nicht zu erbrechen.
Zum Abschluss muss sie nur noch den Eid aussprechen, Worte, die sie zuvor auswendig gelernt hatte.
Darin schwor sie ewige Treue, Verschwiegenheit, Einigkeit mit den Mitgliedern und ihren Plänen und als letztes die Selbstopferung im Notfall, wenn es der ›Gang‹ dient.
Nach der Weihe hatte Sonja ihr übrigens erklärt, dass die ganze Zeremonie abgebrochen worden wäre, wenn Sandra sich übergeben hätte. Das Ganze wäre dann auf ein späteres Mondereignis verschoben worden, das heißt, dass sie das ganze Weihe-Prozedere nochmals hätte über sich ergehen lassen müssen. Das hätte sie auf gar keinen Fall gewollt.
Doch nicht nur Sandra war es, die im Moment des Tieropfers einen halben Schock erlitt. Auch ein anderer, unbeteiligter Junge mit wirrem blondem Haar, der sich in der Nähe in einer Höhle in der Wolfschlucht versteckt hielt, musste sich die Hand auf den Mund pressen, um den Laut des Ekels zu ersticken. Niemand in der Gruppe hatte wahrgenommen, dass hier noch jemand war, der sie beobachtete.
Jetzt, da sie die Zeremonie erfolgreich hinter sich gebracht hatten, wird die Atmosphäre locker und entspannt. Alle umarmen Sandra und gratulieren ihr zur erfolgreichen Aufnahme in die BMG. Sie unterhalten sich unbeschwert und schmieden auch Pläne, vor allen Dingen über ein ›Projekt‹, das als nächstes ansteht, und das als ihre erste Aufgabe Sandra zugedacht war. Dazu hatte Andy sie schon früher über ihre Schule und ihren neuen Klassenlehrer interviewt.
Gegen vier Uhr gehen sie dann gemeinsam hoch auf die Lichtung, um dort das Himmelsspektakel zu erwarten. Andy legt den Arm um Sandra, während er mit dem Daumen sanft ihre Wange streichelt. Sie fühlt sich anerkannt, ist stolz, nun definitiv dazuzugehören und … ja, sie liebt Andy.
Das Spektakel am Himmel ist so faszinierend, dass sie fast vergisst, sich rechtzeitig zu verabschieden. Um sechs, also bevor ihre Eltern aufgestanden sind und sie beim Frühstückstisch erwarten, muss sie nämlich in ihrem Zimmer sein. Auf keinen Fall darf ihre Mutter ins Zimmer kommen, um sie zu wecken. Deshalb verlässt sie die Gruppe kurz vor halb sechs. Sie ist beschwingt, während sie ziemlich schnell nach Hause läuft und sie lächelt zufrieden. Sie ist stolz, dass sie die Zeremonie so tapfer überstanden hatte und die Gratulationen entgegennehmen durfte. Immer wieder sagt sie leise vor sich hin: »Du hast es geschafft. Nun gehörst du dazu. Nun wirst du in alle Geheimnisse eingeweiht.«
Leise schleicht sie ins Haus. Sie atmet erleichtert auf, denn alles ist noch still. Auf Socken geht sie die Stufen hinauf in ihr Zimmer und es geht auch nicht lange, bis sie ihre Eltern sprechen hört. Dann spielt Sandra alles routinegemäß durch: Duschen, Anziehen, Türenklacken, so dass es für die Eltern keinen Grund zur Annahme gibt, etwas könnte anders sein als sonst. Ein ganz normaler Dienstag, so wie immer. Frisch fröhlich mit einem fast überschäumenden »Guten Morgeeen« kommt Sandra ins Esszimmer.
»Oh, du hast wohl diese Nacht besonders gut geschlafen. Es tat dir offenbar gut, dass du mal früher als sonst ins Bett gegangen bist«, stellt ihre Mutter erfreut fest. Dass Sandra zum Umfallen müde ist, bemerkt sie nicht. Die sichtbaren Auswirkungen der Übermüdung werden sich wohl erst zu späterer Stunde bemerkbar machen. Aber dann ist sie ja in der Schule. ›Irgendwie werde ich den Tag schon herumkriegen‹, denkt sie.
*
»Hallo, Sandra«, ruft Herr Thomasin, »was ist los? Aufwachen.« Alle schauen auf Sandra, die aufschreckt, weil sie wohl eingeschlafen war.
»Oh, ähm, …«, sie blickt sich um. Anja schaut sie ganz überrascht an. Jetzt muss sie etwas sagen, denkt Sandra. »Ähm … ja, ähm … wissen Sie Herr Thomasin, heute Morgen so um halb fünf war doch dieses Feuerwerk am Himmel, das gestern in der Zeitung angekündigt wurde. Ich wollte mir dieses Ereignis nicht entgehen lassen, denn wer weiß, ob ich jemals diese Chance wieder haben werde. Vermutlich nie mehr, so wie es hieß. Natürlich habe ich letzte Nacht kaum geschlafen. Doch in der kommenden Nacht werde ich dieses Defizit nachholen.«
Die wenigsten der Mitschüler interessierten sich für dieses Ereignis, waren auch gar nicht genau darüber informiert. Herr Thomasin indes wusste, dass dieses Spektakel in den frühen Morgenstunden stattfinden würde, doch Astrophysik war nicht so sehr sein Gebiet, dass er es über sich gebracht hätte, sich den Wecker zu stellen, um zu nachtschlafender Zeit in den Himmel zu starren. Da ist ihm der Schlaf allemal wichtiger. »Nun, wenn dem so ist«, erwidert der Klassenlehrer, »dann haben wir ja noch Hoffnung. Ich würde dir nur raten, dass du dann auch noch andere Defizite aufholen solltest. Du bist in letzter Zeit oft sehr müde, auch ohne Himmelsspektakel, und entsprechend lassen auch deine Leistungen zu wünschen übrig.«
Sandra schaut beschämt auf ihre Hände und dann wieder direkt in Herrn Thomasins Augen. »Entschuldigen Sie. Ich werde mir in Zukunft wieder mehr Mühe geben.« Doch innerlich kocht sie, weil sie sich vor der Klasse bloßgestellt fühlt.
»Dann ist ja gut«, antwortet Thomasin und fährt mit dem Unterricht weiter, so als hätte es diese Unterbrechung gar nicht gegeben.
Sandra versucht dem Unterricht aufmerksam zu folgen. Doch fällt es ihr schwer, den Stoff zu erfassen, deswegen schweift sie gedanklich immer wieder ab. Nicht nur die Müdigkeit hindert sie an einer aufmerksamen Stoffaufnahme sondern ganz etwas anderes geht ihr durch den Kopf. Sie denkt an ihr Projekt, das sie erfolgreich zu Ende bringen möchte, um in der Gang ihre Anerkennung zu erhalten und damit in der Rangstufe zu steigen.
Ihr war schon seit längerem aufgefallen, dass Herr Thomasin auffallend oft und intensiv die tüchtig mitarbeitende Anja ansieht. Sehr oft sogar und zu intensiv, wie sie findet. Anfänglich war sie schon etwas eifersüchtig, zumal dieser Lehrer der Schwarm aller Mädchen ist, die nur davon träumen mit ihm intensive Blicke auszutauschen. Er ist für einen Lehrer einfach zu gutaussehend.
Doch spätestens dann, nachdem sie sich in Andy verliebt hatte und seitdem sie mit den BMG-Mitgliedern zusammenhing, hatte es sich mit der Eifersucht gelegt. Plötzlich gab es für sie andere, wichtigere Dinge, geheimnisvolle und spannende Dinge, zu denen andere keinen Zutritt haben und sie zählt zu den Auserwählten. Das erfüllt sie mit Stolz.
Inzwischen passen ihr die Blicke des Lehrers zu Anja sogar ganz gut in ihre Pläne. Jetzt muss sie nur noch Anja überzeugen. Aber da ist sie sich sicher, dass Anja mitmachen wird, denn, wie sie findet, steht sie noch immer in ihrer Schuld. Konkret ausgedrückt, hatte sie Anja und vor allen Dingen ihren Bruder in der Hand. Sie lächelt, als sie sich bewusst macht, dass das tragische Ereignis vor etwas mehr als einem Jahr, die schlimmste Nacht in Anjas und ihres Bruders Leben, ihr einmal sehr dienlich sein würde.
Sie waren damals auf dem Weg von einer Lörracher Disko nach Hause. Florian, Anjas um zwei Jahre älterer Bruder, saß am Steuer des Autos ihrer Eltern. Die Sailers waren nämlich für ein paar Tage zu einem Ärztekongress nach Hamburg geflogen. Somit hatten die Geschwister sturmfreie Bude. Florians Kleinwagen war damals nicht ganz fahrtüchtig, weil er gerade daran herumbastelte.
Auf dem Weg nach Hause passierte es. Herr Gresslin aus Holzen war mit seinem Sohn unterwegs nach Hause. Nach der Lucke, kurz vor Rümmingen trug es ihn aus der Kurve. In der Zeitung stand später, dass er zu schnell in diese gefährliche Kurve hineingefahren war. Xaver, der vierzehnjährige Sohn, hatte erlebt, wie sein Vater, der nicht angeschnallt war, mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe schlug und starb. Unter Schock stieg er aus dem Auto aus und lief ganz verstört über die Straße, just in dem Moment, als die Jugendlichen auf ihrem Heimweg nach Kandern angefahren kamen. Es kam alles so plötzlich. Florian hatte den Jungen zu spät gesehen, Anja schrie noch auf, aber es war zu spät. Ihr Auto erwischte den Jungen und schleuderte ihn weg in den Straßengraben. Die beiden Mädchen schrien panisch vor Schreck und Florian fuhr einfach weiter. Er zitterte.
»Du kannst doch nicht einfach abhauen, Flo«, hatte Anja geschrien, »der Junge und vielleicht auch der Fahrer brauchen doch Hilfe. Wir müssen die Polizei rufen.«
»Bist du verrückt«, schrie er zurück, »dann bin ich doch dran.«
Mit schluchzender Stimme erklärte Anja, dass er doch nichts dafür könne, denn niemand konnte den Jungen sehen; der sei ihm doch aus dem Dunkeln heraus direkt vors Auto gelaufen. Ausweichen war gar nicht möglich, und zu schnell gefahren sei er ja auch nicht. Und genauso wenig könne er etwas für den Selbstunfall des anderen Fahrers. Doch Florian widersprach: »Schwesterchen, das nützt doch alles nichts. Ich kann doch noch so im Recht sein, denn es hätte jedem anderen wirklich auch passieren können, so unterwartet wie das alles auf uns zukam. Aber wenn die Polizei mir eine Blutprobe entnimmt, dann bin ich dennoch dran. Ich hatte doch Alkohol, wenn auch nicht viel, so doch sicher im Blut nachweisbar, und das nachdem ich den Lappen erst seit kurzem in der Tasche habe. Ich kann mir einen Führerscheinentzug in meinem Job beim besten Willen nicht erlauben.«
Florian hatte nach der Mittleren Reife bei Mercedes in Lörrach die dreieinhalbjährige Lehre als Kraftfahrzeugmechantroniker begonnen, ein neuer Beruf, der aus den Berufen Kfz-Mechaniker, Kfz-Elektriker und Automobilmechaniker zusammengefasst wurde. Er wollte verständlicherweise nichts auf Spiel setzen.
An diesem Abend leisteten die drei Jugendlichen einen Schweige-Eid. Dieses Geheimnis wollten alle bei sich behalten. Niemand würde bei der Suche nach dem Unfallflüchtigen jemals auf sie kommen.
Am Auto der Eltern war praktisch nichts zu sehen. Das bisschen Blut hatte Florian entfernt, das Auto selbst hatte keinen Schaden davongetragen. Dazu war der Aufprall zu wenig stark.
Sandra hatte die Weihnachtsferien, in der sich auch die BMG nicht getroffen hatte, weil Andy Weihnachten bei seiner Familie in Freiburg verbringen und anschließend eine Woche Ski fahren wollte, intensiv genutzt, den Stoff, der ihr fehlte, wieder aufzuholen. Sie hatte sich auch mit Lisa, die ganz speziell in den Fächern Mathematik und Physik besonders gut ist, zusammengesetzt. In den anderen Fächern brauchte sie keine besondere Hilfe. Da konnte sie sich, dank ihrer Intelligenz und vor allem sehr schnellen Auffassungsgabe selbst helfen. Sie musste nur die Zeit gut nutzen, und das tat sie auch. Als sie im Januar wieder zum Unterricht antrat war sie auf dem Laufenden und konnte wieder gut folgen. Mitte Januar traf sie sich auch wieder mit Andy. Das erste Mondtreffen war erst wieder bei Neumond am 1. Februar 2003 vorgesehen und Sandra freute sich schon darauf.
Die Begrüßung der Gangmitglieder war nach dieser langen Pause sehr herzlich. Sie saßen recht eng ums Feuer, denn es ist nach einem recht milden und nassen Januar auf Anfang Februar abrupt ziemlich kalt geworden. Sandra fröstelte vor Kälte. So gerne hätte sie es gehabt, dass Andy sie in die Arme genommen hätte, um ihr etwas Wärme zu geben. Doch auf solche Nähe mit dem Boss während der Mondtreffen musste sie verzichten. Das war schlicht verboten. Privilegien für einzelne Mitglieder waren bei der BMG-Satzung nicht vorgesehen. Damit hatte sie sich schon längst abgefunden. Dennoch fühlte sie sich als etwas Besonderes, ausgerechnet mit dem Boss liiert zu sein. Es war dieses Mal eine ziemlich kurze Sitzung. Die Mitglieder hatten ihre Aufträge erhalten; Sandra selbst hatte den bedeutendsten bekommen und somit war die Aufmerksamkeit ganz auf sie gerichtet. Sie fühlte sich in diesem Moment so wichtig. Schon um ein Uhr am Morgen des 2. Februar lag sie in ihrem Bett und schlief auch gleich ein.
Auch wenn sie gut und genug geschlafen hatte, so sitzt sie an diesem Februarmorgen wieder einmal ziemlich abwesend in der Klasse. Das geht ihr immer so nach einem Mondtreffen. Diese Treffen haben so etwas Mystisches, etwas Erhabenes. Sie spielen sich unentwegt vor ihrem geistigen Auge ab.
In der Pause nimmt sie Anja zur Seite, um ihr etwas Wichtiges zu sagen. »Du, der Thomasin schaut dich immer ziemlich lange an, findest du nicht auch? Ich glaube, der steht auf dich.«
»Ach, du spinnst ja«, kontert Anja, wobei ihr leichte Röte ins Gesicht steigt, so als fühle sie sich ertappt.