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Joachim Winterstein, Geschäftsführer einer renommierten Firma in Lörrach, war ein erfolgreicher, aber auch ausgekochter Geschäftsmann, dessen Nebengeschäfte und sonstigen Aktivitäten vor dem Auge des Gesetzes nicht immer auf Wohlwollen gestoßen wären. Daher sah er sich auch immer wieder mal genötigt, ungeliebte Mitwisser durch großzügige Vereinbarungen zum Stillhalten zu bringen. Doch einer dieser Deals stellte sich als verhängnisvoll heraus.
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Seitenzahl: 284
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Joachim Winterstein, Geschäftsführer einer renommierten Firma in Lörrach, war ein erfolgreicher, aber auch ausgekochter Geschäftsmann, dessen Nebengeschäfte und sonstige Aktivitäten vor dem Auge des Gesetzes nicht immer auf Wohlwollen gestoßen wären. Daher sah er sich auch immer wieder mal genötigt, ungeliebte Mitwisser durch großzügige Vereinbarungen zum Stillhalten zu bringen. Doch einer dieser Deals stellte sich als verhängnisvoll heraus.
Ellen Heinzelmann, Fachfrau für Marketing und Kommunikation, wurde 1951 im Kreis Waldshut geboren. Während ihrer langjährigen beruflichen Tätigkeit - zuletzt als Marketing- und PR-Verantwortliche in einer Organisation des öffentlichen Rechts in Basel - übersetzte sie Texte vom Deutschen ins Französische und Englische, wirkte als Dolmetscherin bei Vertragsverhandlungen in Paris. Sie schrieb viele Artikel in Fachzeitschriften und Heimatbüchern, war Redakteurin eines offiziellen Vereinsorgans, entwarf Broschüren und Werbematerialien und organisierte umfangreiche geschäftliche Events. Sie lektorierte Fremdtexte und wirkte als Ghostwriterin. Schon in früher Kindheit hatte die geschriebene Sprache große Faszination auf sie ausgeübt, und diese Faszination bewahrte sie sich bis heute. Nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben ist sie ihrer Berufung gefolgt. Mit ihrem Debütroman ›Der Sohn der Kellnerin‹, eine nicht alltägliche Geschichte, startete sie 2011 ihre schriftstellerische Laufbahn und nahm ihre Leser gleich mit auf eine emotionale Reise. Mittlerweile entstanden aus ihrer Feder sechs Romane.
www.ellen-heinzelmann.de
Erklärung
Personen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Danksagung
Ich habe mich in diesem Roman wieder einmal mit einem brisanten sozialkritischen Thema auseinandergesetzt. Es werden Fragen aufgeworfen, die uns alle angehen. Wegschauen ist sträflich.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ellen Heinzelmann
Rechtsbeistand und privater Ermittler
Celine Endress, Rechtsanwältin
Friedhelm Kulau, Detektiv
Mitarbeiter der Hi-Tec Lörrach AG
Joachim Winterstein, Geschäftsführer
Stephan Förster, stv. Geschäftsführer
Nicole Renner, Wintersteins Sekretärin
Ralph Siebert, Mitarbeiter
Elisabeth Klein, Personalleiterin
Uschi Kaiser, Leiterin Buchhaltung
Ines Humboldt, Leiterin Marketing und PR
Manfred Kellermann, Portier
Familien
Joachim Winterstein und Ehefrau Charlotte
Stephan Förster und Ehefrau Cecilia mit den Kindern Sebastian und Carmen
Ermittler / Polizei
Björn Albrecht, Hauptkommissar
Klaus Reiff, Kommissar
Rebecca Schäfer, Assistentin
Andreas Faber, Staatsanwalt
Herbert Bürgelin, Ermittlungsrichter
Weitere Personen
Carola Hauser, Wintersteins Geliebte
Eva Bammert, Lehrerin Hans-Thoma-Gymnasium
Michael Sasse, Nicole Renners Freund
Geschafft«, seufzt Charlotte Winterstein, als sie ihren Wagen in der Einfahrt ihres Anwesens in der Jurastraße in Lörrach am Leuselhardt abstellt. Erschöpft lehnt sie sich zurück und presst die Hände gegen ihre brennenden Augen. Gut sieben Stunden hatte sie bei meist strömendem Regen am Steuer gesessen. Eine einzige kurze Pause genehmigte sie sich bei der Autobahnraststätte Bruchsal. Sie hätte zwar noch eine Nacht bei ihren Eltern in Hamburg bleiben können, aber schließlich entschloss sie sich, doch zu fahren. Was ich heute hinter mich gebracht habe, muss ich Morgen schon nicht mehr auf mich nehmen, so ihre selbst verfasste Devise, in Anlehnung an den Volksmund 'Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf Morgen'. Sie blickt auf die Zeitanzeige am Armaturenbrett ihres Wagens. Es ist ein Uhr.
Das Haus ist dunkel. Daraus schließt sie, dass Joachim sich vermutlich längst schon in Morpheus Armen befindet. Sie betätigt den automatischen Garagentoröffner. Das Tor öffnet und schließt sich hinterher fast lautlos. Leise betritt sie durch die Garage das Haus, geht routinemäßig nochmals durch den Hauseingang zum Briefkasten. ›Ah, geleert; war ja nicht anders zu erwarten‹, denkt sie und schließt die Haustüre von innen wieder ab. Im großzügig gestalteten Entrée streift sie ihre Schuhe ab und in Strümpfen geht sie in die Küche zum Kühlschrank. Eine Kleinigkeit zwischen den Zähnen könnte sie jetzt nämlich noch gut gebrauchen. Doch es sieht ziemlich mager aus im winterstein'schen Kühlschrank. Joachim hatte doch versprochen, fürs Wochenende einzukaufen. Aber so wie es aussieht, hatte er wieder mal keine Lust dazu gehabt und außerdem hat er mit diesem spätnächtlichen Überfall auf gekühlte Vorräte vermutlich nicht gerechnet. Zwei Fruchtjoghurts, eine halbe Gurke, ein paar Tomaten, Milch, Butter, etwas Käse, genau gesagt ein winziges Anstandsrestchen eines Emmentalers, und ein Landjäger sind die karge Ausbeute dieses riesigen Küchengeräts. Na ja, wenigstens hat der treusorgende Gatte von den zwei Paar Landjägern einen einzigen übriggelassen. Mit dem Landjäger und der angebrochenen Flasche Merlot, die Charlotte auf der Anrichte dankbar entdeckt hatte, verzieht sie sich ins Wohnzimmer, lässt sich in den tiefen Relaxsessel fallen, legt ihre Füße hoch und genießt die wenigen Köstlichkeiten. Nach langen Autofahrten hält sie es immer so. Sie geht nie gleich zu Bett, sondern ›kommt erst mal runter‹, wie sie es nennt.
Es ist Viertel vor zwei, als sie sich nach oben in ihr Zimmer aufmacht. Nanu, Joachims Zimmertüre steht einen Spalt weit offen. Sie riskiert einen kurzen Blick ins Innere und erkennt im Licht, das von der Flurlampe schummrig ins Zimmer geworfen wird, dass Joachims Bett unberührt ist. »Aha, da hatte er mich wohl heute noch nicht zu Hause erwartet, der Schwerenöter«, sagt sie mit sarkastischem Humor vor sich hin.
*
Sie und Joachim führen schon seit einiger Zeit nur noch eine … na ja, nicht ganz platonische Ehe … aber in diese Richtung tendiert sie, denn Sex haben sie nur noch gelegentlich … wenn's hoch kommt, einmal die Woche, ansonsten einmal in vierzehn Tagen, oft sogar nur einmal im Monat. Sie gehört eher zur Gattung der Sexmuffel, die mit gelegentlichem Beischlaf, wie sie es ja handhaben, eigentlich zufrieden ist. Kein Wunder war sie von seinem unstillbaren sexuellen Verlangen, schlicht einfach überfordert, konnte seinen starken Trieb längst nicht mehr in dem Ausmaß befriedigen, wie er es benötigte - am liebsten täglich mehrmals - und schließlich hatte er mit ihrem Einverständnis eine Bettgefährtin zugelegt. Oder waren es mehrere? Sie weiß es nicht. Aber sie könnte es sich gut vorstellen. Jede Frau würde irgendwann einmal überfordert sein … vermutlich auch die ihres gegenseitigen Arrangements. Bei ihm braucht es auf die Dauer mehrere. Eigentlich ist es ihr egal. Doch eine Bedingung stellte sie damals an ihn, und zwar, dass er seine außerehelichen sexuellen Aktivitäten außer Haus verrichtete. Sie wollte schließlich nicht laufend Zeuge sein, von der laut stöhnenden Rammelei. Nachts jedoch schläft er meist zu Hause, denn sein eigenes breites Wasserbett ist ihm heilig. Hin und wieder fragte sie sich, warum sie überhaupt noch zusammenblieben? Ist's Bequemlichkeit, Gewohnheit oder sind es einfach wirtschaftliche Überlegungen? Ja, Joachim, der mit einer außergewöhnlichen Intelligenz gesegnet ist, ist im Beruf erfolgreich. Immerhin ist er der Bigboss der Hi-Tec Lörrach AG, die größte der drei in ganz Deutschland und der weiteren elf europaweit niedergelassenen Hi-Tec-Filialen der Automobilzuliefererbranche, die an der Wiesentalstraße angesiedelt ist. Mit den Kerngeschäften Lichtsysteme und Fahrzeugelektronik lässt sich so richtig gut Geld verdienen. Außerdem verfügt Hi-Tec im Bereich Aftermarket Sales über eine der größten Handelsorganisationen für Kfz-Teile, Zubehör, Diagnose und Serviceleistungen in ganz Europa. Sie beliefert die ganze Palette der Autoindustrie … ja, und Joachim als kaufmännischer Direktor und natürlich mit ihm der technische Direktor, Ingenieur Conrad Vogt, hatten maßgeblich zum Erfolg beigetragen. Joachim verdient dabei beachtlich. Wer sonst kann sich schon ein so feudales Haus auf dem noch feudaleren Leuselhardt in Lörrach leisten. Es ist überhaupt erstaunlich, wie alles, was Jo anfasst, zu Gold wird. Ja, und zugegebenermaßen ist er eine interessante, für sein Alter noch recht jung wirkende Erscheinung. Sehr große Statur, immerhin über eins-neunzig laufende Meter, sportlicher Typ mit breiten Schultern, immer gut gekleidet und ein im klassischen Sinne nicht schönes aber intelligentes, sympathisches Gesicht sind seine augenfälligen Vorzüge. Mit niemandem, den sie bisher kennenlernte, verstand sie sich so gut, wie mit ihm. Mit ihm zu diskutieren, war seit jeher ein Genuss. Kein Wunder, denn außer beim Thema ›sexuelle Appetenz‹, schwimmen sie auf gleicher Welle, aufgrund ihrer ähnlichen Auffassungen über dies und das. Und mit niemandem sonst konnte sie bisher so herumalbern, wie mit Joachim. Sie schmunzelt bei der Vorstellung, wie sie im Urlaub bei strömendem Regen auf der Straße tanzten. Joachim sang ziemlich laut dazu (ja er hat eine sehr gute Tenorstimme, die sich hören lassen kann); die Leute blieben stehen … einige lachten, andere schüttelten empört den Kopf, und je mehr Leute empört den Kopf schüttelten, desto mehr mussten sie selbst lachen. Gelegentliche Kissenschlachten enden meist in einem romantischen Sexakt, denn - das muss man ihm lassen - er versteht sich auch auf romantischen Sex. Da wird sogar ihre schwächelnde Libido entfacht und sie genießt es mit jeder Faser ihres Körpers … trotz seiner externen Eskapaden…was sie einfach ausblendet.
Ja, sie schätzt Joachim als Mensch, mag ihn wirklich sehr, wie man einen guten, teuren Freund eben mag. Doch lieben … nein, das konnte sie ihn schon lange nicht mehr, denn das geht nicht mit dem Wissen über seine externen Abenteuer. Und so entschied sie sich, diese Version des Zusammenlebens, zumindest bis auf weiteres, beizubehalten. Außerdem, an angemessenen Alternativen, die nur annähernd ein solches luxuriöses Leben hätten bieten können, mangelte es bisher am Markt. Außer gelegentlichen kleinen Flirts ist bisher nie etwas zustande gekommen.
Für beide ist diese Lebensführung schlicht einfach bequem.
*
Sie musste nicht lange überlegen, ob sie ihm zu nachtschlafender Zeit einen Streich spielen sollte, und wählt die Nummer seines Handys. Doch Joachim nimmt nicht ab. Komisch. Sein Handy ist eigentlich immer auf Empfang und er legt es, ob zu Hause oder nicht, auch immer neben seinem Nachtlager ab.
Charlotte zögert nicht lange und wählt eine andere Nummer. Sie lässt es lange klingeln. Ein Knacken in der Leitung, eine kurze Pause und dann schließlich »Hallo, wer stört?«, fragt eine verschlafene Stimme.
»Hallo, Carola, ist Joachim bei Ihnen?«
*
Carola Hauser ist eine junge Frau, die im Hause Winterstein zweimal die Woche Ordnung macht und ist eben ›das einvernehmliche Übereinkommen‹ zwischen den Eheleuten. Charlotte hatte, als Carola bei ihnen zu arbeiten anfing, gleich mal Joachims hungrige Augen, die der jungen Frau folgten, gesehen und eines Tages eben überraschte sie beide bei einer eindeutigen Situation. Zuerst gab's einen Riesen-Zoff, bis sie dann auf die Idee mit der Vereinbarung kamen. Dass Joachim Carola schon vorher kannte und sich mit ihr traf (es war schließlich kein Zufall, dass die junge Frau bei ihnen als Zugehfrau begann), brauchte seine Frau ja nicht zu wissen und schon gar nicht zu interessieren.
Eigentlich war es Charlotte, die auf die Idee der Spezialvereinbarung kam, weil Joachims Hypersexualität sie überforderte. Eine Frau alleine kann sein gesteigertes sexuelles Verlangen nicht befriedigen, das war ihr schon lange klar.
Eine solche Vereinbarung ist natürlich nicht üblich. Niemand würde so etwas verstehen. Aber, warum auch sollte es jemand verstehen müssen? Es ging nur sie etwas an. Und sie sind schließlich niemandem Rechenschaft schuldig.
*
Statt der erwarteten Antwort, ja oder nein, fragt Carola »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«
»Klar weiß ich das. Also ist er da?«
»Nein«, sagt Carola ziemlich mürrisch, »er war noch nie über Nacht bei mir. Das sollten Sie ja eigentlich wissen.« Sie weiß, dass sie jetzt gelogen hatte, aber zumindest war es die Regel, dass er nicht bei ihr über Nacht blieb. Jeder weiß aber auch, dass Ausnahmen die Regel bestätigen. »Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe, ich habe morgen einen langen Tag.« Sie legt auf, bevor Charlotte sich für diese rücksichtslose nächtliche Störung hätte entschuldigen können. Das mit dem Streichspielen ging auf jeden Fall gründlich daneben und es tat ihr ehrlich leid.
*
Charlotte wird durch das ziemlich penetrante Betätigen der Türglocke und dem lauten Poltern unsanft geweckt - sie braucht lange, bis sie zu sich kommt, denn sie hatte dieses Klingeln und Pochen gleich mit in ihren Traum hineingenommen.
Schließlich öffnet sie die Augen. Sie ist wie betäubt, als sie auf die Uhr neben ihrem Bett blickt. Oh, halb neun schon.
Das aufdringliche Poltern scheint immer lauter zu werden. Wer ist denn das, am frühen Morgen? Ach herrje, habe ich den Schlüssel heute Morgen in der Haustüre stecken lassen und Joachim versucht vergebens hereinzukommen. Aber warum kommt er denn nicht einfach durch die Garage? Außerdem, was will er überhaupt zu Hause? Er sollte doch im Büro sein. Sie beantwortet sich die Frage selbst. Klar, er braucht wieder ein frisches Hemd.
Hastig zieht sie sich den Morgenmantel über und geht, immer noch etwas wacklig die Treppe hinunter.
»Sorry Joachim …«, fängt sie gleich an zu sprechen während sie die Tür öffnet. Sie stoppt ihre Rede abrupt, als sie sich zwei fremden Herren mit ernsten Gesichtern gegenübersieht. Einer davon ziemlich groß mit stattlichem Bauchumfang, der andere gerade das Gegenteil. Mit einem »Oh … äh … ich …äh …«, sie weiß nicht, was sie sagen soll, und so erwartet sie mit fragender Miene, was da nun auf sie zukommen mag.
»Guten Morgen Frau Winterstein … Björn Albrecht mein Name, Hauptkommissar, Kriminalpolizei Lörrach«, stellt sich der Große mit angenehmer sonorer Stimme vor, während er sich gleichzeitig mit Ausweis legitimiert. Mit einer Handbewegung weist er zu seiner Begleitung, »und das ist mein Kollege Kommissar Klaus Reiff.« Auch dieser legitimiert sich mit mechanischer Bewegung.
Die Beamten schauen Charlotte etwas befremdlich an, bis sie selbst an sich herunterblickt und erschrickt. Oh mein Gott, sie hatte in der Eile und in Erwartung ihres Ehemannes ihren Morgenmantel nicht zugebunden, steht somit im durchscheinenden Negligé, also quasi halb nackt, vor den Beamten. Kein Wunder wirken die beiden Männer leicht irritiert. Charlottes üppige Rundungen lassen sich durchaus sehen, sie wirken geradezu verführerisch. Nur, jetzt ist nicht gerade der Moment, in dem sie Männer bezirzen will. Es ist ihr ziemlich peinlich.
Schnell rafft sie ihren Morgenmantel mit dem Bindegürtel vorne in der Taille zusammen. »Ähm … wissen Sie, ich bin nach einer längeren Autofahrt erst heute Morgen nach Hause gekommen … und …ja, Sie verstehen sicher, es war eine kurze Nacht ... und eigentlich habe ich meinen Mann erwartet«, gibt sie verlegen umständliche Erklärungen ab.
»Dürfen wir hereinkommen?«, zeigt sich Albrecht bewusst unbeeindruckt, um Charlotte das Gefühl zu vermitteln, dass dies keine außergewöhnliche oder gar peinliche Situation zu sein brauche, so dass sie in den Boden versinken müsse. Charlotte ist dankbar über die Diskretion und bittet die beiden Herren herein in den Wohnsalon. »Bitte gerade aus in den Salon«, weist sie mit einer Handbewegung den beiden Herren den Weg und schließt die Haustüre.
Als sie sich im Entrée beim Vorübergehen im Spiegel sieht, überkommt sie der nächste Schock. Sie ist total unfrisiert. Mit ihren wild durcheinander, vom Kopf abstehenden kurzen blonden Locken, sieht sie aus wie ein zerrupfter Vogel, ihre ungeschminkten blauen Augen wirken noch ziemlich verschlafen. Schnell streicht sie mit ihren Fingern durch die Haare, hofft inständig, ihnen damit etwas Form geben zu können, und folgt den Herren eiligen Schrittes in den Salon. Unter normalen Umständen wäre sie eigentlich vorausgegangen, um sie in den Salon zu bitten. Aber dies eben war absolut alles andere als ein normaler Umstand.
»Bitte setzen Sie sich«, fordert sie die beiden höflich auf und weist ihnen mit einladender Geste zwei Sessel vor dem Kamin zu. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder Tee anbieten?«, fragt sie, immer noch peinlich berührt von ihrem unpassenden Auftritt, während sie nervös am Bindegürtel ihres Morgenmantels nestelt.
»Machen Sie sich keine Mühe, wir werden Sie nicht lange belästigen«, lehnt Albrecht Charlottes Angebot ab.
Charlotte besteht auf das Praktizieren ihrer Gastgeberrolle, nicht zuletzt auch, um ihren etwas demolierten Hausdamestatus nach diesem missglückten Auftritt wieder herzustellen … eine Art Rehabilitation sozusagen. »Wissen Sie, ich hätte die Zeit, während Sie Kaffee oder Tee trinken genutzt, mir schnell etwas überzuziehen und meine Haare zu bürsten«, erklärt sie und lächelt dabei verlegen.
»Das könnten Sie auch ohne Kaffee oder Tee erledigen. Es wird ja nicht ewig dauern. Aber vielleicht möchten Sie vorher doch lieber noch erfahren, warum wir eigentlich hergekommen sind.«
Sie hält abrupt inne, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Stimmt eigentlich, ja. Die Polizei kommt schließlich nicht aus Spaß an der Freude. Sie spürt, wie ihr das Blut in den Kopf steigt, das ihrem Gesicht Farbe der Verlegenheit verleiht. Wieder ärgert sie sich über sich selbst. Das war ein weiterer Fauxpas, der haargenau zur ganzen peinlichen Situation passte. Wenn am Morgen um halb neun plötzlich zwei Polizisten vor der Tür stehen, muss ja irgendetwas passiert sein. Die kommen nicht, um sie im Morgenmantel zu sehen. Eigentlich hätte sie gleich fragen sollen, was der Grund ihres Besuches ist, aber vor lauter Peinlichkeit über ihren halbnackten Auftritt, lief nichts wie es unter normalen Umständen abgelaufen wäre. Sie versucht es zu überspielen: »Ja klar. Ist wieder etwas passiert? Machen Einbrecher die Gegend erneut unsicher, wie Anfang Mai?«, fragt sie und fährt, ohne die Antwort abzuwarten gleich mit einer Erklärung fort, »mir ist nichts speziell aufgefallen, als ich heute Nacht nach Hause kam.«
»Nein, Frau Winterstein, diesmal sind es keine Einbrecher. Die Angelegenheit heute ist etwas ernster. Wir sind von der Mordkommission und müssen Ihnen, leider eine traurige Mitteilung machen«, erklärt Albrecht, »Ihr Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden.« Es herrscht abrupte Stille. Der noch immer vor den Herren stehenden Dame des Hauses fällt die Kinnlade herunter. Tränen treten in ihre Augen, ihr Gesicht hatte sofort jegliche Farbe verloren, die sich zuvor so unerwünscht in selbiges geschlichen hatte. Sie fühlt sich plötzlich aller Kräfte beraubt, ihre Beine drohen wegzusacken. Sie lässt sich in den nächsten Sessel fallen.
»Unser herzliches Beileid«, vernimmt sie die an die tragische Situation angepasste Stimme des Beamten.
Sie blickt ihn mit tränenverschleierten Augen an und nickt nur, damit ihren Dank für das entgegengebrachte Mitgefühl ausdrückend. Sie braucht eine Weile, bis sie ihre Sprache wiederfindet. »Sie sagen gefunden? Was heißt gefunden? Wo gefunden?«
»In seinem Büro.«
»Im Büro? … um Gottes willen …« Charlotte ist wie betäubt. »Wie …ähm …was ist denn passiert?«
»Er wurde ermordet.«
Charlotte reißt erschrocken ihre Augen auf. »Was? Ermordet? Das kann nicht sein.« Sie glaubt zu träumen … böser, böser Traum. Das ist doch alles gar nicht wahr. Gleich wird sie aufwachen und feststellen, dass alles gar nicht stimmt … ja, sie ist sich sicher, es kann sich nur um einen schlimmen Albtraum handeln.
Durch Albrechts Stimme wird sie aus ihren Gedanken in die erschütternde Realität zurückgeholt. Er hatte zwei Fragen an sie gestellt und zwar, wann sie denn ihren Mann zum letzten Mal gesehen, und ob sie ihn denn nicht vermisst habe, als sie in den frühen Morgenstunden heimkehrte.
Die erste Frage war schnell beantwortet. Von Joachim hatte sie sich vor einer Woche verabschiedet, bevor sie nach Hamburg zu ihren Eltern fuhr. Bei der zweiten Frage wurde es schon etwas schwieriger. Die Fakts an und für sich wären eigentlich ganz einfach und schnell erklärt, aber nicht die Begleitumstände. Sie konnte den Herren doch nicht erzählen, dass sie ihren Mann bei irgendeiner Tussi vermutete, und dass eine Vereinbarung zwischen ihnen bestand, die ihm, und natürlich auch ihr, gewisse Freiheiten zugestand.
Sie stammelte, als sie erklärte, dass ihr seine Abwesenheit wohl aufgefallen sei, aber dass es in der Vergangenheit öfter schon vorgekommen sei, dass er nicht nach Hause kam, besonders wenn es im Büro mal wieder länger als normal dauerte und er dann einfach kein Ende fand. Es sei sogar auch schon vorgekommen, dass er spät abends über seinem Schreibtisch fast eingeschlafen sei. »Es gibt zu seinem Büro noch einen Nebenraum mit einer Schlafmöglichkeit. Also nichts Besonderes, wenn er mal nicht nach Hause kommt.«
Diese Aussage war unverfänglich, denn immerhin wurde er ja im Büro gefunden. So brauchte sie nichts von ihrer ungewöhnlichen Ehe zu erzählen … glaubt sie, wird aber gleich eines Besseren belehrt, denn der Kommissar hakt entschlossen nach.
»Aha, nichts Besonderes! Was ich aber dann nicht verstehe, Frau Winterstein, wenn das so ist, also nichts Besonderes, wie Sie sagen, warum haben Sie dann Ihren Mann heute Morgen gegen zwei Uhr auf dem Handy angerufen?«
Für einen Moment kehrt Charlottes Farbe ins Gesicht zurück. Schei…benkleister. Sowas Blödes aber auch. Wie soll sie das nun erklären? Sie konnte doch nicht erzählen, dass sie ihn ja eigentlich nur ärgern wollte, weil sie annahm, dass er vielleicht diese Nacht wieder mal am Sich-Verlustieren sei. Eine Tatsache natürlich, die bewiese, dass ihr die Vereinbarung ›Freischein für sexuelle Eskapaden‹ vielleicht doch nicht so gleichgültig ist, wie es sie sich bis jetzt selbst vormachte. Sie versucht es mit einer Ausrede und sagt schließlich: »Ähm … na ja … ich kam ja, wie gesagt, sehr spät nach Hause und … ich … ähm … ich wollte wissen, ob ich noch auf ihn warten soll. Nachdem er nicht abgenommen hatte, ging ich davon aus, dass er schon schlafe … eben halt, im Büro …und …ja, so kommt es auch, dass ich den Schlüssel von innen stecken ließ … und glaubte, als es klingelte, dass er es sei und wegen des Schlüssels nicht reinkomme.« Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie so stotternd daherredete und umständliche wie unnötige Erklärungen abgab. Sie benahm sich damit wie eine Verdächtige, denn ihr Anruf hätte ja auch so gedeutet werden können, dass sie sich vergewissern wollte, ob der Mörder, ihr Komplize, gute Arbeit getan hatte. Dabei hatte sie sich doch überhaupt nichts vorzuwerfen, außer eben, dass sie und Joachim keine Ehe im herkömmlichen Sinne führten. Dennoch kann sie sich im Moment ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Im Moment ist es einfach ein bisschen viel für Charlotte. In das darauffolgende Schweigen, erklärt sie schließlich, dass sie gerade mal eben sich anziehen und ein klein wenig zurechtmachen wolle … sprach's und verschwindet.
Die beiden Beamten indes schauen sich vielsagend an. In der aktuellen Situation können sie sich keinen Reim aus ihrem Verhalten machen. Hat Frau Winterstein etwas mit dem Mord an ihrem Mann zu tun? Doch gemäß Aussage des stellvertretenden Geschäftsleiters, Stephan Förster, und der Sekretärin, Nicole Renner, gibt es schon einen Verdächtigen, der einen Grund für Rache gehabt haben könnte … einer, der gemäß Aussage des Pförtners, am Mordabend panikartig aus dem Haus stürzte und dessen Aufenthaltsort seither unbekannt ist. Welche Rolle aber spielte nun Frau Winterstein dabei? Bevor er weitere Fragen an die gerade wieder eintretende, inzwischen adrett zurechtgemachte Frau Winterstein richten kann, kommt Charlotte ihm zuvor.
»Wie … wie ist er denn gestorben …ähm ich meine, womit hat man ihn umgebracht? Wer macht denn so etwas? Hat man denn eine Idee, wer es gewesen sein könnte? Und … und, wer hat meinen Mann gefunden?«
Diese Fragen könnten natürlich reine Taktik sein, das ist den beiden Polizisten bewusst. Dennoch beantwortet Albrecht wahrheitsgetreu Charlottes Fragen.
»Gefunden hatte ihn heute Morgen Frau Renner, seine Sekretärin. Gemäß erster vorläufiger pathologischer Bestimmung wurde Ihr Mann gestern Abend so zwischen 18:00 und 20:00 Uhr niedergestochen. Indes den genauen Zeitpunkt kann der Pathologe erst nach eingehender Untersuchung nennen. Der Täter hatte viermal zugestochen. Ein Stich traf die Lunge, knapp am Herzen vorbei. Dieser Stich war schließlich tödlich. Die Waffe war ein schmaler messerähnlicher Gegenstand; messerähnlich deshalb, weil die Klinge der Stichwaffe für ein Messer zu schmal war. Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Brieföffner gehandelt haben könnte.« Dass zwei Stiche die Genitalien des Opfers trafen, erwähnt er nicht.
Er macht eine kurze Pause, während er Charlotte genau beobachtet. »Um Ihre letzte Frage, ob es schon einen Verdächtigen gebe, zu beantworten … ja, den gibt es.«
Charlotte wird hellhörig. »Oh … und, wer ist es? Es kann doch nur jemand aus der Firma gewesen sein«, folgert sie.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na ja, dem Portier wäre ein Fremder doch aufgefallen.«
»Ja, da haben Sie allerdings recht. Es gibt keine Kampfspuren, das heißt, Ihr Mann muss seinen Mörder gekannt haben«, gibt Albrecht zu, »haben Sie denn eine Vorstellung, wer es gewesen sein könnte. Vielleicht jemand der ihren Mann hasste, sagen wir mal, wegen einer ungerechten Behandlung?« Er stellte die Frage, obwohl er die Antwort schon kannte, denn er wurde vom stellvertretenden Geschäftsleiter Stephan Förster darüber schon informiert. Albrecht will einfach die Reaktionen der Interviewten beobachten.
Charlotte schüttelt den Kopf. »Nein, absolut nicht. Mein Mann erzählt …«, sie hält inne, mein Gott er ist tot, »… er erzählte nur sehr selten vom Geschäft und wenn, dann nur die positiven Dinge. Ärger hielt er nach Möglichkeit von mir fern.«
Auf Charlottes nochmalige Frage, wer es denn nun sei, den man verdächtige, antwortet Albrecht, dass er noch keine Namen nennen könne, solange noch nichts feststehe. Eines sei nur gesagt, dass der Aufenthaltsort des möglichen Täters unbekannt sei.
Der Kommissar möchte gerne zum Ende kommen und richtet nochmals kurz seine Fragen an Charlotte: »Zwei letzte Fragen noch, Frau Winterstein, dann lassen wir Sie in Ruhe. Wie lange sind Sie verheiratet und wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben?«
Wieder zeigt ihr Gesicht eine verräterische Farbe. Solche Fragen sind ihr einfach unangenehm. ›Wozu will er das wissen? Das tut doch überhaupt nichts zur Sache, vor allen Dingen, da der Täter ja bekannt ist‹, denkt sie. Laut sagt sie »Wir sind seit dreizehn Jahren verheiratet. Tja, und wie war unsere Ehe?«, sie macht eine kurze Pause, um zu überlegen, wie sie ihre Ehe beschreiben sollte. Sie beschließt, ihr außergewöhnliches Zusammenleben sachlich zu schildern und erklärt, dass sie eine sehr offene Partnerschaft pflegten, das heißt, dass sie sich gegenseitig viel Freiraum zugestanden hatten, ja, und dass die Beziehung eher intellektueller, partnerschaftlicher, denn romantischer Natur gewesen sei. Ja, und es habe gut funktioniert, sonst wären sie nicht dreizehn Jahre verheiratet gewesen.
»Aha, offene Partnerschaft«, kommentiert Albrecht Charlottes Erklärungen, während er sich oberhalb des rechten Auges an der Stirn kratzt, wie jemand, der scharf nachdenkt. Genau genommen denkt es auch hinter seiner Stirn. »Ja … ähm … bedeutet offene Partnerschaft, dass Sie beide außereheliche Beziehungen pflegten …ich meine, sexuelle Beziehungen?«
Für Charlotte wird die Unterhaltung immer unangenehmer. Sie hatte nie mit jemandem über ihre Ehe gesprochen, bisher zumindest. Warum sollte sie es jetzt tun. »Ich frage mich, Herr Albrecht, was unsere Ehe mit dem Mord zu tun haben soll? Das tut doch überhaupt nichts zur Sache. Außerdem haben Sie ja schon einen Mörder …und …«
Albrecht unterbricht ihren Redefluss »wir sprechen von einem mutmaßlichen Täter.«
»Okay, sie haben einen mutmaßlichen Täter, der, wenn er flüchtig ist, meiner Meinung nach, mehr als verdächtig ist. Warum quälen Sie mich also mit diesen Fragen und lassen mich nicht einfach in Ruhe? Mein Mann ist tot, das trifft mich schwer genug, auch wenn Sie es nicht glauben mögen.«
»Bitte verstehen Sie, Frau Winterstein, dass wir routinemäßig alle Informationen im Zusammenhang mit dem Opfer klären müssen, damit wir uns ein Bild machen können«, mischt sich jetzt Klaus Reiff ein, der bis jetzt geschwiegen hatte. Seine Stimme war bei weitem nicht so angenehm wie die des Hauptkommissars Albrecht. »Was glauben Sie, wie viele Eifersuchtsdramen mit Mord oder Totschlag enden«, beendet er seine Rede.
»Ja, aber das kommt ja bei uns nicht in Frage. Es gab bei uns keine Gründe für Eifersucht. Ich sagte schon, wir führten eine offene Beziehung, und zwar in gegenseitigem Einvernehmen.«
»Dann können Sie uns doch auch sagen, ob ›offen‹ in ihrem geschilderten Zusammenhang ›außereheliche sexuelle Beziehung‹ bedeutet. Mehr will der Hauptkommissar gar nicht wissen.«
Charlotte fühlt sich in die Enge getrieben. »Mein Mann hatte eine … «, sie räuspert sich, »… eine, wie Sie es nennen, außereheliche sexuelle Beziehung. Und nein, ich war nicht eifersüchtig auf die junge Frau, um es nochmals zu betonen. War's das jetzt?«
»Fast«, lächelt der Hauptkommissar. »Kennen sie diese Frau? Nach Ihrer lapidaren, unverschnörkelten Schilderung, konnte man das schon irgendwie heraushören.«
»Ja, ich kenne sie; sie ist unsere Zugehfrau, zwei Mal die Woche … jung und hübsch, ja und intelligent. Mein Mann mochte gescheite Frauen.«
Albrecht zieht die Augenbrauen hoch, wohl ein Zeichen, seiner Überraschung über die etwas ungewöhnliche Kombination ›intelligent und Zugehfrau‹.
»Name? Adresse? Weitere Arbeitsstelle? Ich denke ja nicht, dass die junge Dame von zweimal ›Zugehen bei Ihnen‹ ihren Unterhalt bestreiten und ihre intellektuellen Bedürfnisse stillen kann«, gibt er immer noch keine Ruhe.
Die Hartnäckigkeit des Hauptkommissars geht Charlotte so langsam aber sicher auf den Geist. Sie ist sich keiner Schuld bewusst und sie möchte jetzt alleine sein. Sie möchte endlich um ihren Ehemann trauern dürfen. War das denn zu viel verlangt? Ihr Unmut ist ihr deutlich anzusehen und genauso deutlich anzuhören, als sie Carola Hausers Namen, Adresse und deren Arbeitsstelle nennt.
»Das war's auch schon, Frau Winterstein. Danke«, beendet Albrecht die Befragung. Die beiden Kommissare verabschieden sich von ihr, jedoch nicht ohne ihr nochmals nahegelegt zu haben, dass sie sich für eventuelle weitere Befragungen zur Verfügung halten solle.
Als die Beamten gegangen waren, setzt Charlotte sich in den tiefen Relaxsessel und lässt ihren Tränen, die sie bis jetzt, außer den Tränen, die der Todesnachricht folgten, tapfer zurückgehalten hatte, freien Lauf. Ihr Weinen wirkt schmerzerfüllt, ihre Trauer echt.
Die Beamten hatten es zuerst mit einem Anruf bei Frau Hausers Privatadresse, eine kleine Zweizimmerwohnung in Lörrach, versucht und als sich niemand meldete, fuhren sie gleich zu Aldi, wo selbige arbeitet, übrigens ein Faktum, das das von Frau Winterstein skizzierte Bild der jungen Frau, die sehr intelligent sein soll, nicht gerade bestätigt.
Sie betreten das Geschäft und lassen ihre Blicke über die besetzten Kassen schweifen. Albrechts Blick bleibt bei einer jungen, attraktiven Frau hängen. Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass es sich bei dieser Dame um Carola Hauser handeln muss.
»Denken Sie, was ich denke?«, fragt Reiff seinen Vorgesetzten.
Albrecht nickt lächelnd und gibt seinem Kollegen ein Zeichen, dass er handeln solle. Die beiden Kommissare sind so gut aufeinander eingespielt, dass Reiff ohne Worte sofort versteht. Handeln heißt in diesem Fall, dass er dafür sorgt, dass kein neuer Kunde sich an Frau Hausers Kasse anstellt. Albrecht selbst geht direkt zu Frau Hauser, zeigt ihr diskret seinen Ausweis und erklärt ihr, dass sie nach Bedienung der zwei Kunden, die ihre Einkäufe schon aufs Band gelegt hatten, sich bitte für ein paar Fragen zu Verfügung stelle. Er versichert ihr auch, dass es nicht lange dauern würde.
Frau Hauser wirkt für den Moment perplex. Albrecht kennt das. Er weiß, dass die Leute, auch wenn sie sich ihrer sauberen Weste sicher sind, sich dennoch irgendwie betroffen fühlen, wenn die Kripo auftaucht. Sie fragen sich im Stillen, wann, wo und was sie vielleicht angestellt haben könnten, das vor den Augen des Gesetzes keine Gnade finden würde.
Frau Hauser übergibt das Hinweisschild ›Kasse geschlossen‹, das Herr Reiff auf dem Tisch des Laufbandes platziert. Nach der letzten Kundin führt sie die beiden Herren nach hinten. Dem Filialleiter, Rolf Sütterlin, der gerade zwischen den Regalen entgegenkommt und verwundert dreinblickt, erklärt sie, dass die beiden Herren von der Polizei seien. Sütterlin schaut mit fragender Miene von den Beamten zur Mitarbeiterin und wieder zu den Beamten.
Albrecht sieht dessen Verwirrung und klärt sofort auf, damit dieser nicht voreilige Schlüsse über die Rechtschaffenheit seiner Angestellten ziehe: »Es handelt sich um eine Zeugenvernehmung, Herr …«.
»Sütterlin«, stellt der Filialleiter sich selbst vor.
»… Herr Sütterlin. Hätten Sie für uns vielleicht einen Raum, wo wir uns ungestört unterhalten können«
Sütterlin führt die Herren in ein Büro, das gerade leer steht.
Als die drei alleine sind, eröffnet Albrecht das Gespräch: »Zuerst entschuldigen wir uns, dass wir Sie so unangekündigt überfallen und dann noch bei Ihrer Arbeit. Das ist natürlich immer unangenehm. Aber Sie können versichert sein, dass für solche Aktionen immer schwerwiegende Gründe vorliegen.«
Frau Hauser spürt plötzlich ihr Herz bis zum Hals pochen. Schwerwiegende Gründe. Welche Gründe könnten das sein, die auch sie selbst betreffen.
»Nun Frau Hauser, zuerst einmal die Frage: kennen Sie Joachim Winterstein?«
Beschämte Röte steigt vom Hals her in Carolas Gesicht. Sie nickt.
»Wie gut kennen Sie ihn?« Er stellt diese Frage, obwohl er schon von Frau Winterstein die Antwort kennt. Es dient taktischen Gründen, wenn er mit Vorliebe nochmals nachhakt. Die Beobachtung der Befragten gibt ihm manchmal Aufschluss darüber, wie er weiterfahren oder wo er intensiver nachforschen soll.
»Ich kenne ihn gut«, gibt Carola ohne zu zögern Auskunft, denn sie ist intelligent genug, zu kombinieren, dass die Polizei ihren Namen nur von Frau Winterstein wissen kann (Herr Winterstein würde ihr Verhältnis niemals preisgeben, ebenso wo sie arbeitet). Und in diesem Fall weiß die Polizei sicher auch von ihrem Verhältnis zu Jo. Niemand sonst ist eingeweiht, außer ihr selbst, Jo und Frau Winterstein. Es fehlt ihr nur noch der Zusammenhang des Verhörs. Aber das wird sie ja gleich erfahren.
»Können Sie mir das ›gut‹ bitte näher erklären?«
»Er ist … mein Freund …«, erklärt sie und als sie sieht, wie der Hauptkommissar seinen Kopf schräg zur Seite neigt und dabei seine Augenbrauen hochzieht, so als stünde die nächste Frage schon auf seinen Lippen, fügt sie hinzu, dass Herr Winterstein ihr Intimfreund sei. Ja und sie wisse auch, dass er verheiratet sei, doch die Beziehung sei in Ordnung, auch für seine Ehefrau. »Aber das wissen Sie ja vermutlich schon, sonst wären Sie nicht hier. Können Sie mir nun auch verraten, worum es geht? Warum fragen Sie mich das alles?«
»Herr Winterstein wurde heute Morgen in seinem Büro tot aufgefunden, ermordet«, gibt Albrecht, der über den selbstsicheren Auftritt dieser jungen Frau ziemlich überrascht ist, Auskunft.
Carola schlägt beide Hände vors Gesicht, aus ihren Augen schaut das blanke Entsetzen. Sie ist nicht in der Lage etwas zu sagen oder zu fragen.
Albrecht lässt ihr etwas Zeit, den ersten Schock zu verdauen, bevor er mit seiner Befragung weiterfährt. Schließlich fragt er, wann Frau Hauser Herrn Winterstein zum letzten Mal gesehen habe.
»Gestern, Donnerstag, hatte er mich zum Mittagessen eingeladen. Wir sind dann hinterher noch zu mir, bevor er wieder ins Büro ging. Er habe im Moment sehr viel zu tun, hatte er gesagt. Das war auch der Grund, warum wir uns auf heute Abend nicht verabredet hatten«, erklärt Carola mit leiser, bebender Stimme. Tränen laufen ihr über die Wangen. Die Nachricht scheint sie sehr getroffen zu haben.
›Die dritte Frau, der bei der Todesnachricht die Tränen kullern. Der Winterstein muss ein sehr begehrter Mann gewesen sein … zumindest bei der Damenwelt‹, denkt Albrecht bei sich. »War Ihre Beziehung nur ein Deal, also eine Vereinbarung oder haben Sie Herrn Winterstein geliebt?«
»Wenn Sie mit Deal meinen, dass er mich für meine Liebesdienste bezahlte, dann muss ich das verneinen. Ich bin keine Prostituierte.«