Es muss nicht immer Zyankali sein - Urs Wittwer - E-Book

Es muss nicht immer Zyankali sein E-Book

Urs Wittwer

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Beschreibung

Pius spezialisiert sich nach seiner Lehre zum Automobilmechatroniker auf die Restauration von Oldtimern und übernimmt in Altdorf die Garage seines ehemaligen Lehrmeisters. Bald wird er in eine Mordgeschichte verwickelt. Welche Rolle spielen dabei sein Vater und sein ehemaliger Schulkamerad Boris? Pius begibt sich auf die Suche nach Boris, der spurlos verschwunden ist und entwickelt zunehmend detektivischen Spürsinn. Durch einen Antiquitätenhändler erhält er Einblick in eine äusserst merkwürdige Familie. Der Leser wird nicht nur durch eine humorvolle, spannende Kriminalgeschichte geführt, sondern lernt auch einige besondere Gepflogenheiten der Urner und der Altdorfer im Speziellen kennen.

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Inhalt

Prolog

Die Hundepfeife

Hamlet

Die grüne Mamba

Der Junge mit der Baseball-Mütze

Mit 44 PS ausser Kanton

Mission Suworow

Der Kompaktwagen

Der Antiquitätenhändler

Sein oder Nichtsein?

Das kleine Mädchen unter der Palme

Der Brief

Das Taschentuch

Die Villa

Christine

Die Grabrede

Epilog

Prolog

Gewöhnlich, unscheinbar, aber unheimlich, so könnte man den Schulkameraden von Pius Portmann beschreiben. Boris Wiget sass immer in der mittleren Bank und in der dritten Reihe, nicht zu nahe am Geschehen, aber auch nicht zu weit weg. Er war weder gross noch klein, weder dick noch schlank, aber von kräftiger Statur. Senkte er den Kopf nach vorne, so fielen seine dunkelbraunen Haarsträhnen bis weit über seine Augen. Im Sommer trug er stets kurze Jeanshosen und ein schwarzes verwaschenes T-Shirt mit zwei weissen gekreuzten Knochen. Im Unterricht meldete er sich selten, und abgefragt wurde er kaum, denn als Liebling der Lehrer konnte man Boris nicht bezeichnen.

Pius war von schlanker Statur, und seine dichten Haare waren schwarz und kurz mit einem exakten Scheitel. Seinen Eltern war ein adrettes Aussehen ihres Sohnes wichtig, so trug er auch immer ein frisch gebügeltes weisses Hemd und gepflegte Stoffhosen, die oft ein bisschen zu kurz waren.

Während Pius und andere lernwillige Schulkameraden meistens aufmerksam den Lehrern zuhörten und zu begreifen versuchten, schauten Boris wässrige, grüne Augen im Klassenzimmer umher, als würden sie alles durchbohren, als sähen sie etwas, was andere Augen nie sehen könnten.

Mehr als den Unterrichtsstoff schienen Boris die umher surrenden Fliegen zu interessieren. Unermüdlich starrte er ihnen nach, mit seinem gläsernen, durchdringenden Blick. Pius, der in der Bank links neben Boris sass, konnte dessen Augenbewegungen, die die Flugbahnen der Fliegen aufspürten, stets gut verfolgen. Hatte Boris eine Fliege entdeckt, so begann ein bizarres Schauspiel: Die umherschwirrende Fliege begann, von Boris Blick getroffen, im Kreis zu fliegen. Ihre Fluggeschwindigkeit wurde schneller und schneller, bis die Fliege spiralförmig, in immer enger werdenden Kreisen, zu Boden stürzte und reglos liegen blieb. Dieses ‘Spiel’ wiederholte sich, so oft es Boris beliebte. Und jedes Mal, wenn eine Fliege spiralförmig am Boden landete, glänzten seine grünen Augen noch intensiver, als seien sie von einem stechenden Sonnenstrahl getroffen worden. Niemand, ausser Pius, nahm Notiz von diesem skurrilen Schauspiel, niemand hörte etwas, niemand sah etwas. So stürzten während einer Unterrichtsstunde oft mehrere Fliegen zu Tode.

«Kann Boris Fliegen töten? Kann Boris womöglich noch andere Lebewesen in den Tod stürzen lassen?», fragte sich Pius unentwegt.

Obschon Boris in der Nähe von Pius, in Erstfeld, sieben Kilometer südlich von Altdorf, wohnte, hatten die zwei nie viel Kontakt. Pius fühlte sich in Boris Nähe stets unbehaglich, für ihn blieb Boris unheimlich und unnahbar. Aber er musste zugeben, dass ihn das Fliegenschauspiel auch irgendwie fesselte. Und wäre es bei den paar toten Fliegen im alten Klassenzimmer der Primarschule geblieben, hätte Pius auch alles vergessen. Aber nicht nur Pius, auch Boris erhielt vom Klassenlehrer die Zuweisung fürs Gymnasium, das ‘Kollegi’ in Altdorf.

Altdorf ist der Hauptort des Kantons Uri. Ein Dorf, das mit seinen Gassen, den vielen Geschäften und Restaurants sowie den historischen Bauten und Herrschaftshäusern den Charakter einer Kleinstadt mit reger Geschäftstätigkeit vermittelt. Der Altdorfer ist stolz auf sein von Mythen und Geschichten begleitetes Dorf, ist es doch auch die Wiege der Schweiz, mit dem Nationalhelden Wilhelm Tell, dessen Denkmal das Zentrum des ‘Dorfes’ bildet. Und dadurch, dass der Kanton Uri ein Durchgangskanton ist, ist der bodenständige Urner weltoffen, kontaktfreudig und selbstbewusst, nach dem Motto: ‘Tue Recht und scheue niemand’.

Im ‘Kollegi’ sass Boris wieder in der mittleren Bank, in der dritten Reihe, rechts von Pius. Herumsurrende Fliegen schienen Boris nun weniger zu interessieren, seine Aufmerksamkeit galt jetzt vielmehr dem Biologieunterricht. Einzelne Körperteile verschiedenster kleiner Lebewesen wurden da unter dem Mikroskop betrachtet und deren Funktionen ausführlich besprochen. Pius interessierte dies wenig, vielmehr grauste es ihn, sodass er meist das Auge geschlossen ans Mikroskop hielt und sich dabei nach der folgenden Physikstunde sehnte.

«Pius, schau dir mal das grosse Auge dieser Fliege an!», rief Boris eines Tages begeistert und schob Pius das Mikroskop zu.

«Kein Interesse», sagte dieser.

«Nun komm schon! Keine Angst, die ist ja tot», drängelte Boris.

«Dann erst recht nicht!»

«Vielleicht wird sie ja wieder lebendig», lachte Boris höhnisch und drückte unsanft den Kopf von Pius über das Mikroskop, bis dessen rechtes Auge auf dem Okular auflag. «Und jetzt, öffne das Auge!»

Eine grosse schimmernde, dunkle Fläche mit einem bienenwabenähnlichen Muster, ein Fliegenauge, blickte zu Pius.

«Wechsle das Objektiv, dann kannst du die ganze Fliege sehen! Mach schon, und fokussiere mit diesem Rad!», befahl Boris.

Pius überwand seine Abscheu, denn, so tröstete er sich, bald würde die Biologiestunde zu Ende sein und er sich in der ihm vertrauten Welt der Physik befinden.

Da lag sie, die nun in voller Grösse sichtbare Fliege, tot unter dem Mikroskop: zwei durchsichtige, aus vielen Zellen bestehende Flügel, ein fetter, ekelerregender Leib und sechs, zum Körper unproportionale, dünne Beine.

«Da hat sich doch was bewegt!», erschrak Pius, schloss schnell sein Auge und öffnete es zögernd wieder. «Da bewegt sich wieder etwas! Ein Bein, jetzt ein zweites Bein, ein drittes, der fette Leib, ein Flügel, der andere Flügel.»

Pius hob den Kopf und schaute zaghaft auf die Glasscheibe unter dem Objektiv – die Fliege war weg.

Zum Glück ertönte die rettende Pausenglocke. Als Erster verliess der Lehrer das Biologiezimmer, gefolgt von einer rasend herumschwirrenden Fliege.

Schön gibt es die Physik, da ist alles erklärbar, und wenn sich etwas bewegt, so hat dies seinen Grund. Auch wenn man nicht alles versteht oder noch nicht versteht, scheint doch alles irgendwie logisch zu sein, jedenfalls für Pius.

Für Boris jedoch war die Physik ein Buch mit sieben Siegeln und der Physiklehrer sein grösster Feind. So freute er sich auch nicht auf die Physikstunde, in der die Klassenarbeit der letzten Woche ausgeteilt werden sollte.

Mit grimmigem Blick betrachtete Boris die Note auf dem halb leeren Blatt, das ihm der Physiklehrer abschätzig auf den Tisch warf. Boris faltete das Blatt und versorgte es gleichgültig in seiner Mappe. Von nun an verfolgten Boris Blicke den Lehrer auf Schritt und Tritt.

Herr Dr. Wanner, der Physiklehrer, der stets eine graue Jacke, ein weisses Hemd und eine knallrote Fliege trug, stellte ein Metallgestell, an dem fünf metallene Kugeln je an einem Faden hingen, auf das Lehrerpult.

«Das ist ein ‘Newtonsches Kugelpendel’», erklärte er. «Wir behandeln heute den Impulserhaltungssatz.»

Er hob die linke Kugel leicht an und liess sie zurück auf die anderen Kugeln prallen. Auf der rechten Seite prallte eine Kugel ab und prallte zurück auf die anderen Kugeln, wobei nun die linke Kugel abprallte und so weiter. Nun hob er zwei Kugeln auf der linken Seite an und der Vorgang wiederholte sich, mit zwei Kugeln allerdings. Interessiert verfolgte Pius dieses Experiment.

«Aber nun zur Theorie, wir wollen diesen Vorgang ja auch verstehen und berechnen können. Was schliessen wir daraus?», fragte Herr Wanner, dreht sich, ohne eine Antwort zu erwarten, um und begann an die Wandtafel zu schreiben.

Boris Augen funkelten und, als könnte Herr Wanner Boris durchdringende Blicke spüren, wurden dessen Schreibbewegungen immer langsamer und die Schrift immer unleserlicher. Er drehte sich zu den Schülern um, wurde kreidebleich, rollte die Augen, drehte sich spiralförmig um seine eigene Achse, stürzte zu Boden und blieb reglos liegen.

Entsetzt schaute Pius zu Boris, dessen grüne Augen glänzten und funkelten, als könnten sie Blitze aussenden. Boris stand auf und verliess wortlos das Klassenzimmer, ohne einen Blick auf den am Boden liegenden Physiklehrer zu werfen.

Herzinfarkt lautete schliesslich die Diagnose des Notfallarztes, der nach einer Viertelstunde eintraf und Herrn Wanner vergeblich mit dem Defibrillator wieder ins Leben zurückzuholen versuchte.

Die Hundepfeife

Nach vier Jahren verliess Pius das ‘Kollegi’. Biologie ekelte ihn meistens, und Sprachen interessierten ihn nicht sonderlich.

«Von Mathematik und Physik allein kann man nicht leben, höchstens von deren Anwendung», sagte er sich und begann in Altdorf eine Lehre als Automobilmechatroniker, die er erfolgreich abschloss.

Seine ersten Berufserfahrungen sammelte er in einer grossen Garage in Luzern, die auch Oldtimer restaurierte und verkaufte. Das gefiel ihm, sodass er nach drei Jahren eine zusätzliche Ausbildung zum Fahrzeugrestaurator begann, eine anspruchsvolle Ausbildung, die an den verschiedensten Orten der Schweiz stattfand. Für Pius war dies ein teurer Lehrgang, der sein Budget überschritten hätte, wenn er nicht zum Teil Subventionen vom Bund erhalten hätte.

Nach drei weiteren Jahren hatte er den Lehrgang erfolgreich abgeschlossen und durfte sich nun ‘Fahrzeugrestaurator mit eidgenössischem Fachausweis’ nennen. Es waren drei harte Jahre, leisten konnte er sich in dieser Zeit nicht viel, so blieb er meistens in seiner Einzimmerwohnung, einer Einliegerwohnung am Stadtrand, und verbrachte die Zeit mit Lernen. Mit dem Stadtleben konnte er sich während der ganzen Zeit nicht anfreunden. Alles war für ihn hier zu gross, zu hektisch, zu fremd. Eines Tages traf er in Altdorf seinen ehemaligen Lehrmeister, der in Pension ging. Dieser bot ihm an, seine Autowerkstatt samt Wohnung zu einem guten Zins zu mieten.

Pius überlegte nicht lange, kehrte nach Altdorf zurück und zog in die schon etwas ältere Wohnung über der Autowerkstatt zwischen Altdorf und Flüelen ein. Hier fühlte er sich zu Hause, hier kannte er sich aus, hatte er doch vier Jahre in dieser Werkstatt gearbeitet und war mit den Einrichtungen bestens vertraut. Nichts hat sich verändert seit dieser Zeit. Da sah er sie wieder: die alte Hebevorrichtung, die Reifenwuchtmaschine, die Reifenmontiermaschine, die Lochwände mit den vielen, ordentlich sortierten Werkzeugen. Beim Büro seines Lehrmeisters, das durch Glasscheiben von der Werkstatt getrennt ist, fehlte immer noch die Glasscheibe, die Pius einmal zerbrochen hatte. Dass in dieser Werkstatt einige Reparaturen und Änderungen dringend nötig sind, war Pius klar, aber als erstes montierte er ein neues Firmenschild: ‘Garage Pius Portmann, Fahrzeugrestaurationen aller Marken’. Die Vertretung einer Automarke übernahm er nicht, er wollte frei sein und seine Garage einrichten, wie er es wollte.

Boris Wiget hatte Pius schon längst vergessen. Sein Interesse galt nun vor allem seiner Autowerkstatt, konnte er doch als Fahrzeugrestaurator seine Leidenschaft mit dem Beruf verbinden: In unzähligen Arbeitsstunden und mit viel Enthusiasmus restaurierte er Oldtimer. Schon immer bewunderte er diese schönen, verzierten Automobile, die oft in geschlossenen Verbänden durchs Dorf fuhren, um dann einen der vielen Pässe zu überqueren, nicht zuletzt den Gotthardpass.

«Das waren noch Autos mit Charakter, entworfen von pfiffigen, fantasievollen Konstrukteuren, nicht wie die heutigen modernen, uniformen Vehikel», schwärmte er.

Pius arbeitet am liebsten allein. Eine zusätzliche Hilfskraft hätte er sich eh nicht leisten können; bei seinem kleinen, dafür exklusiven Kundenkreis war dies auch nicht nötig. Und brauchte er trotzdem einmal Hilfe, half ihm ein Kollege, der mit ihm die Berufsfachschule besucht hatte.

Eines Tages erregte etwas auf der anderen Strassenseite seine Aufmerksamkeit. Dort, gegenüber seiner Autowerkstatt, wurde kürzlich ein neuer Laden eröffnet. ‘Tierbedarf & Haustierzubehör, Beatrice Bergman’ stand unter dem grossen bunten Schriftzug ‘Kolibri’.

Das interessante Etwas war weder ein exotischer Vogel noch ein niedliches Kätzchen oder ein bunter Fisch, dafür ist seine Tierliebe zu spärlich. Seine Liebe, oder sagen wir vorerst mal seine Schwäche, galt dem bezaubernden, weiblichen Wesen der Tierhandlung, welches es scheinbar rührend verstand, für einsame Menschen den richtigen Partner zu finden.

«Schön ist es, zuzusehen, wie die Tierhändlerin einen Kunden vor die Tierhandlung begleitet und den glücklichen Haustierbesitzer mit ihrem strahlenden Lächeln verabschiedet», bewunderte Pius das anmutige Wesen, als es wieder einmal mit einer älteren Frau, die einen Vogelkäfig trug, vor die Tierhandlung trat, bis er durch ein quietschendes Bremsgeräusch in seiner Verzauberung unterbrochen wurde.

Ein älterer Herr mit grauen Schläfen in buntem Hemd und mit einer hellgrauen Baseball-Mütze stieg aus einem alten, grossen, roten Amerikanerwagen, der neben seinem nur 1,7 Meter grossen Fahrer noch wuchtiger erschien.

«Hallo mein Sohn. Ich wollte nur mal fragen, wann mein Austin endlich fertig wird, den du mir versprochen hast. Dieser ausgediente Amerikaner macht es sicher nicht mehr lange und braucht eh zu viel Benzin, über ein Liter für die acht Kilometer von meinem Seniorenheim zu deiner Werkstatt.

Schau mich doch an, wenn ich mit dir spreche! Was blickst du die ganze Zeit rüber zu dieser Tierhandlung? Willst du dir einen Wachhund kaufen? Aha, jetzt sehe ich auch, was du siehst. Ist sie neu? Wird auch endlich Zeit, dass du unter die Haube kommst, in deinem Alter! Hoffentlich ist eine Tierhandlung einträglicher als deine Autowerkstatt.»

«Also Vater, bitte! Ich werde mit dem Austin nächste Woche bei dir beim Altersheim vorfahren.»

«Vor das Seniorenheim, mein Sohn, vor das Seniorenheim! Und ruf mich vorher an, du weisst ja, ich bin oft unterwegs», sagte der Vater, stieg in seinen Amerikanerwagen und brauste, begleitet von einem aufheulenden, ohrenbetäubenden Motorengeräusch, davon.

Der Vater von Pius, Jean Portmann, ist zwar noch rüstig, aber nach dem Tod seiner Frau vor drei Jahren beschloss er, ins Altersheim in seinem Dorf, in Erstfeld zu ziehen.

«Man braucht nicht zu kochen, die Wäsche wird besorgt, das Zimmer wird gereinigt, man lebt dort wie in einem Hotel, und das Essen ist hervorragend», meinte er.

Im Altersheim, ausserhalb des Dorfzentrums, traf Pius Vater auch wieder einige seiner früheren Berufskollegen, ‘Bähnler’, die er dort wie früher, mit seinen guten Ratschlägen belehren konnte.

Eigentlich ist Pius Vater ein liebenswürdiger Mensch, aber ein sturer Egoist und Besserwisser. Was ‘er’ sagt, das stimmt, und was ‘er’ tut, ist richtig und nur das, da gibt es keine Zweifel. Klar, dass er sich für seinen Sohn, sein einziges Kind, eine etwas andere Laufbahn vorgestellt hatte, was Pius auch des Öfteren zu hören bekam. Dass Pius das Gymnasium frühzeitig abgebrochen hatte, verstand er nie, lagen doch Pius Zeugnisnoten stets weit über dem Durchschnitt, ausgenommen in Biologie. Pius störten die Bemerkungen seines Vaters schon lange nicht mehr. Etwas anderes, viel Wichtigeres beschäftigte ihn nun.

«Wie schaffe ich es nur, sie anzusprechen?», fragte er sich immer wieder. «Ich gehe einfach in die Tierhandlung. Aber was tue ich dort? Was sage ich ihr? Soll ich ein Haustier kaufen? Einen Vogel, einen Hamster oder einen Goldfisch, doch ja, einen Fisch, der ist wenigstens stumm? Aber, wieso etwas Lebendiges, es gibt ja auch Zubehör, wie für Autos, aber was: ein Hundehalsband, einen Hundeknochen, eine Hundepfeife, einen Katzenbaum?» Pius entschied sich für die Hundepfeife.

Voller Mut, nach einem Gläschen Weisswein, sorgfältiger Maniküre und zehn Minuten vor dem Spiegel betrat er eines Tages endlich die Tierhandlung, nachdem er sich aus Distanz vergewissert hatte, dass kein Kunde im Laden ist.

Pius war überrascht, wie klein diese Tierhandlung war. Tiere hatte es kaum, nur ein paar Kleintiere und einige Vögel konnte Pius sehen, darunter ein grosser bunter Papagei. Das Sortiment schien hauptsächlich aus Zubehör zu bestehen, was Pius gerade recht war. Interessiert betrachtete er eine mechanische Maus, die wohl als Spielzeug für Katzen bestimmt sein musste, als er erst einen schlanken Schatten sah und dann das wunderhübsche Wesen erkannte, das auf ihn zu kam.

Das Wesen war eine attraktive Frau, mit langen schwarzen Haaren, die bis zur Hüfte reichten. Enge blaue Jeans mit einem breiten silbrigen reichlich verzierten Gürtel mit grosser Schnalle betonten ihre vollendete Figur. Die weisse glatte Hemdbluse trug sie offen über einem königsblauen T-Shirt.

«Darf ich Ihnen behilflich sein?», fragte sie mit einem strahlenden, sympathischen Lächeln.

«Ähm, ich suche … Haben Sie auch Hundepfeifen?», fragte Pius stotternd mit hochrotem Kopf.

«Was haben Sie denn für einen Hund?»

«Ähm, einen ..., eigentlich keinen. Ich möchte testen, ob man damit Marder von Autos fernhalten könnte. Ich besitze die kleine Garage dort drüben, auf der anderen Strassenseite. Wenn Sie wüssten, welchen Schaden diese kleinen Biester anrichten.»

«Immer noch besser als Gift. Dann nehmen Sie am besten eine Hochfrequenzpfeife, eine ‘Galtonpfeife’. Aber, ob dies funktionieren wird?», meinte die Tierhändlerin zweifelnd, verschwand mit langen Schritten in einem Raum hinter der Theke und kehrte bald mit einigen Hundepfeifen zurück, die sie Pius zur Auswahl in einer Reihe auf die Theke legte.

«Diese hier, ja ich nehme diese hier. Die gefällt mir», sagte Pius, ohne lange zu zögern, bezahlte und verliess rasch die Tierhandlung.

«Wie habe ich mich auch wieder angestellt?», ärgerte sich Pius, als er die Strasse überquerte. «Wie ein verliebter Schuljunge. Und gestottert habe ich auch die ganze Zeit. Und zur Tür hat sie mich auch nicht begleitet, wie sie dies sonst mit anderen Kunden tut. Wieso sollte sie? Wegen einer Hundepfeife!»

Es vergingen einige Tage, bis Pius neuen Mut geschöpft hatte und einen zweiten, wie er hoffte, erfolgreicheren Anlauf wagte. Von nun an besuchte er die Tierhandlung mehrmals in der Woche und kaufte irgendetwas, angeblich Geschenke für Verwandte und Freunde.

Die Tierhändlerin schien die Umwerbungen von Pius zu geniessen. So zeigte sie ihm bald einmal auch den Nebenraum, der grösser als der Laden selbst war und über einen separaten Lieferanteneingang verfügte, der auf einen Hinterhof führte. Verschiedene Käfige, einige Aquarien und zwei grosse Terrarien mit grünen Schlangen standen im Raum, für Pius nicht gerade eine behagliche Umgebung. Da gab es auch allerlei Dinge zur Tierpflege und einen Schrank mit einem grossen roten Kreuz für die wichtigsten Medikamente für Mensch und Tier. Sogar Schlangenserum war dabei, in einer schwarzen Schachtel mit einem grünen Schlangenkopf, überklebt mit einer Etikette mit dem Namen des Herstellers ‘Seranga’.

Ausführlich erklärte sie ihm, wie dieses Serum angewendet wird. Auch dass sie extra einen Kurs zur Haltung von Giftschlangen besuchte, erwähnte sie stolz. Sogar ein Buch schenkte sie ihm: ‘Du und Dein Haustier’.

«Ich glaube, wir sagen uns jetzt auch du», meinte sie mit einem verschmitzten Lächeln, als sie Pius das Buch in die Hand drückte.

Nach zwei Wochen besass Pius viele schöne, aber für ihn eher unnütze Dinge: eine Hundepfeife, ein Hundehalsband einen Katzenbaum, eine aufziehbare Spielmaus und drei Tierbücher. All diese Dinge packte er in eine Kartonschachtel und schrieb gross darauf: ‘Warenmarkt Altdorf’. Das Buch ‘Du und Dein Haustier’ behielt er.

Doch einen Nutzen hatten diese Investitionen gebracht; jeden Morgen, wenn er die Garage aufschloss, winkte Beatrice ihm lächelnd zu.

Hamlet

Nach einer weiteren Woche, nachdem Beatrice Pius wieder einmal lächelnd zuwinkte und ihm einen Luftkuss über die Strasse sendete, fand Pius sogar den Mut, Beatrice ins Theater einzuladen, denn, den vielen Gesprächen, die sie über Tierliebe und die Notwendigkeit von Tierzubehör führten, konnte er auch ihre Vorliebe für kulturell anspruchsvolle Anlässe entnehmen: Sie liebt es, bei Vernissagen dabei zu sein, klassische Konzerte zu besuchen oder ins Theater zu gehen und sich eine Oper oder ein Schauspiel anzusehen.

Von Bildern hat Pius keine Ahnung, klassische Musik interessiert ihn nicht, Opern langweilen ihn und beim Schauspiel kennt er sich nicht aus, besuchte er doch höchstens Mal ein volkstümliches Lustspiel und die Tellspiele. Doch vor Beatrice wollte er sich schliesslich nicht blamieren, so nützte er die Gelegenheit, dass im Theater Uri Shakespeares Hamlet gegeben wurde.

Natürlich hatte er keine Ahnung, um was es in diesem Schauspiel geht. Den Namen Hamlet jedoch, hatte er im Gymnasium schon einmal gehört, so kaufte er zwei Theaterkarten für beste Plätze und eine Kurzbeschreibung zu Hamlet, die er allerdings nicht las. Pius hatte sich dieses Rendezvous mit Beatrice etwas kosten lassen, sogar einen neuen Anzug hatte er sich gekauft, im Ausverkauf.

Es war Freitag, ein schöner, warmer Abend im September, als Pius Beatrice von ihrer Wohnung, ausserhalb des Dorfzentrums von Altdorf, abholte und sie zum Theater fuhren, natürlich in seinem neuen, auf Hochglanz polierten Wagen, das heisst in einem frisch renovierten, alten Wagen – ja, davon verstand er etwas.

Viel zu früh standen sie vor dem Theater. Pius rechnet immer genügend Zeit ein, um einen, von jedermann gut sichtbaren Parkplatz für seinen Oldtimer zu finden, so mussten sie noch warten, bis das Theater die Türen öffnete und setzen sich auf die Bank vor dem Theater.

«Wie spät ist es?», fragte Pius ungeduldig. Seit er seine teure, silbrige, mechanische Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters, verloren hatte, trug er selten wieder eine Uhr.

«Die sollten doch schon lange die Türen öffnen», drängelte Pius.

«Wow, was hast du da für eine grosse Armbanduhr?», staunte Pius, als er die schöne goldene Uhr an Beas linkem Arm bewunderte, die eher an eine Herrenarmbanduhr erinnerte als an eine Damenarmbanduhr.

«Ein Geschenk oder ein Erbstück?», fragte Pius neugierig.

«Nein, weder noch, die habe ich gestern beim Juwelier hier in Altdorf gekauft. Ich liebe grosse Uhren mit grossen Ziffern, die sind todschick, finde ich. Sicher kein Erbstück», erklärte Beatrice beleidigt.

«Die war wohl nicht billig?», meinte Pius, mit einem schon fast neidischen Blick.

«Nein, bestimmt nicht, ich glaube, die würde dein Budget übersteigen, dies ist eine Luxusuhr, die ist sogar nummeriert. Ich bin mit dem Juwelier befreundet, vielleicht kann ich da etwas für dich arrangieren, wenn du willst. Aber trotzdem, diese Uhr hat ihren Preis.»

Endlich sahen sie, wie die Eingangstüren zum Theater geöffnet wurden und bereits einige Theaterbesucher eintraten.»