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«So nostalgisch, charmant, liebevoll, empathisch, herzzerreißend und tieftraurig habe ich schon lange nicht mehr über das Erwachsenwerden und die erste große Liebe gelesen.» (Florian Valerius, literarischernerd) Es ist der heiße Sommer 1977 in Brooklyn. Juliette und David sind 17 Jahre alt und leben mit ihren Familien Tür an Tür. Seit Kindheitstagen sind sie beste Freunde, seit sie ihre Action-Figuren auf den Grill legten, um deren Schmelzen zu beobachten. In ihrer Highschool sind sie Außenseiter, aber nach diesem Sommer wird das Leben für beide ein anderes sein. Juliette wird die Stadt verlassen und aufs College gehen, der schwer kranke David hingegen weiß gar nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Als Juliette eines Abends mit dem smarten Pizzaboten Rico auftaucht, begreift David sofort, dass er handeln muss: Denn er liebt Juliette, und er hat nichts mehr zu verlieren ... Doch während sie ihren ersten Kuss erlebt und David allein das Yankees-Spiel auf seinem kleinen Fernseher verfolgt, wird plötzlich alles dunkel. Der große Blackout lässt New York im Chaos versinken. Als nach 25 Stunden das Licht wieder angeht, ist nichts mehr so, wie es einmal war.
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Seitenzahl: 310
Syd Atlas
Roman
WENN MAN NICHTS UND ALLES ZU VERLIEREN HAT
Es ist der heiße Sommer 1977 in Brooklyn. Juliette und David sind siebzehn Jahre alt und leben mit ihren Familien Tür an Tür. Seit Kindheitstagen sind sie beste Freunde, allerdings wird nach diesem Sommer das Leben für beide ein anderes sein. Juliette will weg von zu Hause und die Welt sehen, während der schwer kranke David gar nicht weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Als Juliette eines Abends mit dem charmanten Pizzaboten Rico auftaucht, weiß David, dass er handeln muss: Denn er liebt Juliette, und er hat nichts mehr zu verlieren … Doch plötzlich wird alles dunkel, und der große Blackout lässt New York im Chaos versinken. Fünfundzwanzig Stunden später geht das Licht wieder an, und nichts ist mehr so, wie es einmal war.
«Kennen Sie diese Romane, in denen jeder Satz nachhallt, in denen jede Figur so real und intim ist, dass man glaubt, ihre Hand zu halten? Ich habe diesen Roman so sehr geliebt, dass ich ihn zweimal gelesen habe.»
Caroline Leavitt, New-York-Times-Bestsellerautorin von «With or Without You»
Syd Atlas wurde in Brooklyn, New York, geboren. Sie studierte Theaterwissenschaften an der Brown University. Mitte der 1990er-Jahre zog sie nach Berlin, wo sie inzwischen lebt. Seit mehr als zehn Jahren coacht Atlas Manager in Rhetorik und Kommunikation. Nebenbei moderiert sie auf der Frankfurter Buchmesse oder den Internationalen Filmfestspielen. Ihr erstes Buch «Das Jahr ohne Worte» ist ein Memoir. Mit «Es war einmal in Brooklyn» legt Syd Atlas ihren Debütroman vor.
Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Olivia Manning übersetzt.
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «The Darlings».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«The Darlings» Copyright © 2023 by Syd Atlas
Redaktion Susann Rehlein
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01584-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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In Erinnerung an Gil Feldman, einen großen Latein- und Griechischgelehrten und einen noch größeren Vater.
Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, eine Liebesgeschichte – was sonst?
Am 13. Juli 1977 um 18 Uhr schloss Roy Assisi seinen Laden ab und ließ vor Tom, Dick and Harry’s FURNITURE das Rolltor herunter. Es war Roy juniors Geburtstag, und er musste nach Hause, wo alle schon auf ihn warteten. Er konnte ja nicht ahnen, dass das Tor vier Stunden später mit einem Brecheisen aufgestemmt und der Laden komplett ausgeräumt werden würde: Kanapees im Kolonialstil, Sessel, Zweiersofas, Couchtische mit fünf Lackschichten, alles bis auf einen Lampenschirm würde weg sein.
Bei den Daily News flatterte Kolumnist Jimmy Breslin ein Brief auf den Tisch. Der Absender lautete «Son of Sam».
Ich sende Ihnen Grüße aus dem Rinnstein von New York City, in dem Hundekot, Erbrochenes, billiger Wein, Urin und Blut fließen. Ich sende Ihnen Grüße aus der Kanalisation von New York City, die diese Köstlichkeiten aufnimmt, wenn die Kehrmaschinen mit ihnen fertig sind. Ich sende Grüße aus den Rissen im Asphalt der Bürgersteige und von den Ameisen, die in diesen Rissen hausen und sich von dem getrockneten Blut der Toten ernähren, das sich darin abgesetzt hat. J. B., ich schreibe Ihnen heute ein paar Zeilen, um Sie wissen zu lassen, dass ich Ihr Interesse an diesen entsetzlichen .44er-Morden zu schätzen weiß. Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich Ihre Kolumne täglich lese und recht informativ finde. Was glauben Sie, Jim, worüber Sie am 29. Juli schreiben werden? Wie soll ich es ausdrücken: Sam ist ein durstiger Mann und wird mich nicht aufhören lassen zu töten, ehe er sich nicht an Blut satt getrunken hat. Mr Breslin, Sir, nur weil Sie eine Weile nichts von mir gehört haben, heißt das noch lange nicht, dass ich schlafe. Nein, im Gegenteil, ich bin hier. Ein Geist, der die Nacht durchstreift. Durstig, hungrig, selten nur rastend, stets darauf bedacht, Sam zu gefallen. Ich liebe meine Arbeit.
Son of Sam
An der Ecke Valentine und 183rd Street in der South Bronx legte Grandmaster Caz die zweite Platte auf den Plattenteller. Die Männer tanzten eng auf der Straße und reichten Flaschen mit Olde English Malt Liquor herum, die Frauen reckten ihre Arme in den Nachthimmel, goldene Kreolen schwangen, die Luft war von Wassertropfen durchsetzt, weil Kinder durch den Strahl aus dem geöffneten Hydranten rannten, der Geruch von Marihuana war vermischt mit Dunst aus Müll, Hitze, Klebrigkeit, Sex, Schweiß, Freude.
Gerade als Grandmaster Caz mit Mittel- und Ringfinger sanft über das Vinyl streichen wollte, wurde der Plattenteller langsamer, er wurde sehr, sehr langsam und hörte dann auf, sich zu drehen, die Verstärker fielen aus, die Anlage war tot. Die Straßenlaterne über ihnen ging aus, und dann erlosch, wie Kerzen, die ausgepustet werden, pfff, eine Laterne nach der anderen, pfff, pfff, pfff, bis die ganze Straße im Dunkeln lag.
Und irgendwo weit, weit entfernt in einem dunklen Raum lag Juliette Darling auf dem Bettsofa im Keller ihres Elternhauses, bevor nur wenige Augenblicke später die Hölle losbrach.
Verliebt sein und betrunken sein ist dasselbe: Es macht die Menschen warm und fröhlich und locker.
Plutarch
Juliette Darling steckt in Schwierigkeiten. In betrunkenen Schwierigkeiten. Sie kniet auf dem babyblauen Badvorleger, umklammert die kalte Kloschüssel und blickt tief in das Wasser darin. Türkis. Die Farbe ferner Orte wie dem auf der Postkarte, die Tante Lois und Onkel Lenny ihr geschickt haben, als sie in Acapulco waren. Die beiden kommen ihr vor wie ein gutes Paar. Sie sehen sich sogar ähnlich, haben die winzigen Hände und Füße von Waldtieren, beide die gleichen Gesten, die gleichen Falten im Gesicht. Man sagt, dass Paare, die lange zusammenleben, anfangen, einander ähnlich zu sehen. Dadurch bleiben sie angeblich länger zusammen. Man sagt auch, dass Hunde und ihre Besitzer sich ähneln.
Als Juliette den Kopf hebt, wird ihr schwindelig, zum Kotzen schwindelig, was nie ein gutes Zeichen ist. Sie kann das Erbrochene bereits im Hals schmecken, was ein sehr schlechtes Zeichen ist. Nur Sekunden später würgt sie die vier köstlichen Sloe Gin Fizzes wieder heraus. Nach einer kurzen Pause geht es von vorne los, quasi ein Nachbeben nach dem eigentlichen Erdbeben. Heftig. Aber nicht überraschend. «Woher weiß man, wann ein Erdbeben vorbei ist?», hat Juliette ihren besten Freund David gefragt, der alles weiß. «Es ist nie vorbei», erklärte er ihr sachlich. «Die Nachbeben können ein Leben lang anhalten.»
Chrissy, Juliettes ehemals beste Freundin aus der sechsten Klasse, hat ihr einen Sloe Gin Fizz in die Hand gedrückt, und der hat so köstlich süß und einladend geschmeckt. Chrissy trug einen vollen Behälter mit fertig angemischter Flüssigkeit auf einem Tablett herum, das sie sich umgehängt hatte wie diese Süßigkeitenverkäuferinnen in den 1950er-Jahren, die immer «Zigarren, Zigaretten!» riefen. Sogar einen albernen Pillbox-Hut hatte sie aufgesetzt, aber Chrissy kann buchstäblich alles tragen, denn sie hat große Brüste wie Farrah Fawcett, und mit achtzehn ist das alles, was zählt.
Der erste Sloe Gin Fizz schmeckte wie ein Zaubertrank. Juliette hatte das Gefühl zu schrumpfen. Zum ersten Mal im Leben überragte sie nicht mehr alle anderen. Der zweite flößte ihr Wärme und tiefe Liebe für die Welt um sie herum ein. Das letzte Mal, dass sie sich so gefühlt hatte, war sie im Kindergarten gewesen und hatte die Windpocken bekommen. Ihr Vater hatte den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher in ihr Zimmer getragen, ihre Mutter hatte ihr gebutterte Toastdreiecke gebracht. Ihr älterer Bruder George hatte ihr ein paar Ausgaben des Highlights Magazine unter der Zimmertür durchgeschoben. Nach dem dritten Sloe Gin Fizz nahm Juliette ihren Körper nicht mehr als Einheit wahr, sondern in Einzelteilen – sind das meine Hüften? Chrissy und Susan kamen rüber, um mit ihr zu reden. Ihnen gefielen ihre Jeans. Sie mochten ihren Gürtel. Dein Shirt sieht gut aus, wenn du es in die Hose steckst. Sie standen so dicht vor Juliette, dass sie den Alkohol in ihrem Atem riechen konnte, gemischt mit Himbeerlipgloss. Sie stellten Fragen – was hatte sie diesen Sommer vor? War sie aufgeregt, weil sie bald aufs College gehen würde?
War sie aufgeregt? Juliette hatte, um in der Pause nicht allein in der Cafeteria sitzen zu müssen, so oft auf dem Klodeckel gehockt und ihr Pausenbrot gegessen, dass sie reflexhaft schon beim Rauschen einer Klospülung Erdnussbutter und Marmelade schmeckte.
«Ja, ich bin richtig aufgeregt», antwortete Juliette ihnen. Sie gurrten und gackerten.
Beim vierten Drink hatte Juliette das Gefühl dazuzugehören. So fühlt es sich also an, wenn man dazugehört, lächelte sie, und auf ihren Zähnen blitzte die Zahnspange, obwohl der Kieferorthopäde ihr versprochen hatte, dass sie ihren Schulabschluss ohne Spange machen würde. «Ich gebe dir mein Wort», hatte er zu ihr gesagt. Worte bedeuten nichts.
Mark und Doug stießen zu dem Grüppchen, das sich um Juliette gebildet hatte. Mark war der Klassensprecher, Doug der Bully, beide waren auf ihre je eigene Art gleich mächtig. Wenn Mark einen anlächelte, fühlte man sich auserwählt. Bei Doug gab man sich Mühe, unter seinem Radar zu fliegen. Er konnte charmant sein, so charmant, dass man unvorsichtig wurde, und dann schlug er zu. Heutzutage würde man wahrscheinlich sagen, dass er austeilte, weil sein Vater ihn verprügelte, aber damals war das nichts Außergewöhnliches. An diesem Abend wirkte sogar Doug aufrichtig. Alle lachten und redeten durcheinander, beendeten gegenseitig ihre Sätze. Juliette dachte, vielleicht sind wir, nachdem wir so viele Jahre zusammen zur Schule gegangen sind, doch noch Freunde geworden. Ich werde sie vermissen, wenn ich aufs College gehe.
«Juliette, es gibt da etwas, was ich dich schon immer fragen wollte.» Doug beugte sich zu ihr vor.
Wird er mich gleich küssen?, fragte sie sich.
«Törnen dich tote Dinge an?» Wie ein Comedian machte er eine strategische Pause, bevor er fortfuhr. «Ich glaube nämlich, dass im Garten ein totes Eichhörnchen liegt.» Jetzt lachte er und fuhr sich mit der Zunge von Mundwinkel zu Mundwinkel.
Im Nachhinein ist für Juliette offensichtlich, dass er sich über sie lustig gemacht hat. Vor den vier Sloe Gin Fizzes war Juliette Zielscheibe vieler Witze (die nicht so gemein gewesen sind, dass man hätte Mobbing dazu sagen können, zumal Mobbing erst Jahre später zum Begriff wurde). Sie ist einfach zu groß, hat immer noch eine Zahnspange und liebt Latein. Drei Merkmale, die garantiert gegen einen verwendet werden, wobei schon ein einziges davon ausreichen würde, um aufzufallen. Juliette, mit der man so viel Spaß haben kann, wenn man sie gut kennt, ist für die meisten ihrer Mitschüler eine Fremde geblieben.
«Buchstabiere Schildkröte rückwärts», lautete Davids Ratschlag, wann immer sie ihm von einer Doug-Geschichte berichtete. «Vor mich hinstarren und buchstabieren, das klappt bei mir immer.» Über David haben sie sich auch lustig gemacht, weil er ein Genie ist und superdünn, aber nur so lange, bis sie erfahren haben, dass er krank ist. Jetzt lassen ihn alle außer Doug in Ruhe.
Nach den vier Sloe Gin Fizzes kam es ihr so vor, als hätten sich die Regeln geändert. Die Gruppe lachte, und sie durfte mitlachen.
Als Doug das sah, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen: «Ich meine wegen der toten Sprache, die du so liebst, und deinem halb toten Freund.»
Gespanntes Schweigen. Die Runde wartete, wie sie reagieren würde.
«Je toter, desto besser», antwortete Juliette wie eine eifrige Erstklässlerin.
Sie begegnete starren Blicken und Schweigen. Juliette hatte gerade für einen Lacher ihre Seele verkauft und ihn nicht einmal bekommen.
«Er ist übrigens nicht mein Freund», sagte sie zu den abgewandten Gesichtern der anderen. Die Clique hatte bereits angefangen, über etwas anderes zu reden.
«Wir sind bloß Freunde.»
Sie sah Doug an. Er zwinkerte ihr zu und ging weg, tanzen.
«Ich muss pinkeln», rief Juliette in die Lücke, die eben noch ihr Rudel gewesen war.
Sie schloss hinter sich ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Tür. Wie von weit her drangen gedämpft Musik und Stimmen herein, die unvorstellbarerweise bloß von der anderen Seite der Tür kamen. Sie atmete tief durch, ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte zu Hause bleiben und mir mit David das Spiel anschauen sollen. Als sie die Augen öffnete, drehte sich das Badezimmer. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, die flauschige blaue Toilettensitzabdeckung hochzuklappen, bevor sich ihr Körper des sirupsüßen Mischgetränks entledigte.
Sie ist sich nicht sicher, wie lange ihr Kopf schon in der Toilette steckt. Ein paar Sekunden? Ein paar Tage? Die Zeit macht irgendwelche Salti. Juliette steht auf und fühlt sich sofort besser. Fühlt sich großartig. Sie hat diesen Initiationsritus überstanden, check. Jetzt muss sie noch den Führerschein machen und ihre Jungfräulichkeit verlieren. Dann wird sie eine vollwertige Erwachsene sein.
Zur Schadenskontrolle wirft sie einen Blick in den Spiegel. Das Zusammenspiel von feuchtwarmem Wetter und Kopf nach unten halten hat dafür gesorgt, dass ihr braunes Haar aufgeplustert ist. Sie öffnet den Medikamentenschrank. Darin sieht es genauso aus wie in dem bei ihr zu Hause: Aspirin, Old Spice, Wick Vaporub, eine pinke Pepto-Bismol-Flasche, Secret-Deodorant, «stark genug für den Mann, gemacht für die Frau». Sie schnüffelt an ihren Achselhöhlen und sprüht. Excedrin, BIC-Rasierer, Halspastillen mit Menthol.
Sie starrt das Bild auf der grünen Plastikflasche des Clairol- Kräutershampoos an. Die nymphenhafte Schönheit mit wallendem Blondhaar, zwei schwarze Punkte, die ihre Nasenlöcher andeuten. Sie ist körperlos. Ihr Kopf schwimmt in einem hellblauen Teich, darunter schlanke Arme und zarte Hände, umhüllt von rosa und blauen Blumen. Ätherisch, anmutig, zerbrechlich, was Juliette mit ihren 1,77 niemals sein wird. Sie drückt sich Crest-Zahnpasta auf den Finger und rubbelt sich damit durch den Mund. Hallo, Minze, tschüs, Kotze. Sie spuckt aus.
Juliette hört es draußen an der Tür klingeln. Geschrei und Gelächter. «Die Pizza ist da. Hey, wer hat Pizza bestellt? Der Pizzatyp ist da!», schallt es herein.
Ich muss mal wieder da rausgehen, denkt Juliette. Was ist der Plan? Alle werden sich fragen, was ich so lange gemacht habe. Was soll ich sagen?
Ganz hinten im Medizinschrank versteckt sich ein Flakon Charlie. «Gerüche bestimmen unser soziales Leben und unser Sexualleben», hat ihre Mutter ihr einmal zu einem unpassenden Zeitpunkt und an einem unpassenden Ort gesagt. Juliette sprüht sich wie in der Werbung etwas Parfüm auf die Handgelenke und den Hals. Pfirsich- und Zitrusnoten. Dann stößt sie die Tür auf und geht einfach raus.
Aber da ist niemand. Alle sind entweder oben in der Küche, oder sie tanzen. Keiner hat auch nur bemerkt, dass sie weg war. Juliette sieht sich noch einmal um, sagt in die Luft: «Ich glaube, ich gehe jetzt mal.» Sie hält einen Moment inne in der Hoffnung, dass jemand antworten wird: Nein, noch nicht. Bleib hier. Noch einmal, lauter diesmal: «Doch, ich mache mich jetzt auf den Weg. Tschüs, es war soooo ein Spaß.» Sie verstummt und öffnet die Tür.
Dort steht der Pizzabote mit sechs Pizzen auf dem Arm.
«Ich läute hier schon seit zehn Minuten. Hast du Pizza bestellt?», fragt er wütend.
«Ich?»
«Nein, der Typ hinter dir.»
Juliette dreht sich suchend um.
«Hör mal, die Pizza wird kalt. Bist du Chrissy White?»
«Ich bin Juliette Darling.»
«Und ich bin Romeo, Süße. Wo zum Teufel steckt Chrissy?»
«Chrissy? Die ist da drin.»
Und damit geht Juliette an ihm vorbei. Ihr Körper hat dieselbe Temperatur wie die schwere Nachtluft, mit der er sogleich verschmilzt. Ätherisch wie die Clairol-Frau auf der Shampooflasche schwebt sie an den großzügig angelegten Rasenflächen und der Doppelgarage vorbei zum Ende der Auffahrt, wo zu beiden Seiten je ein steinerner Löwe Wache steht. Chrissy ist reich. Ihr Vater ist im Autohandel tätig und lose mit der Mafia assoziiert. Er trägt eine dunkle, umlaufende Sonnenbrille. Später wird er achtzehn Monate im Bundesgefängnis absitzen, weil das FBI eine halbe Million in Hundertern aus einem Versicherungsbetrug aufgerollt in seiner Duschstange findet, was Chrissys Beliebtheit beeinträchtigt. Wenn Juliette damals gewusst hätte, dass Beliebtheit in der Highschool in etwa so zuverlässig auf künftiges Lebensglück verweist wie die Kenntnis des Alphabets im Kindergarten darauf, dass man mal einen Pulitzerpreis bekommt, dann hätte sie es deutlich leichter gehabt.
Juliette geht die 82. Straße hinunter. Fort von der Löwenburg, fort von den Häusern mit doppeltürigen Garagen, fort von den mit altem und mit neuem Geld gekauften Villen. Innerhalb von nur zwei Blocks werden die Häuser bescheidener, es gibt viele Doppelhaushälften, einige aus Backstein, einige mit Aluminiumverkleidung. Ein Lieferwagen fährt langsam neben ihr her. Ihr Magen verkrampft sich. Sie dreht sich um und liest Heiß! Heiß! Heiß! Genau, wie du sie haben willst in dickbauchiger Schrift neben einer aufgemalten roten Flamme. Ach so, Pizzatyp.
«He, willst du mitfahren?»
«Nein, ist schon okay.»
Pizzatyp schaltet im Wagen das Licht an. «Du solltest nicht allein nach Hause gehen, solange sich dieser Verrückte da draußen rumtreibt. Du musst niemandem was beweisen.»
«Und woher weiß ich, dass du nicht der Son of Sam bist?»
«Der arbeitet nicht am Wochenende.»
Juliette weiß alles über den Son of Sam. Wie auch nicht, wo doch alle ständig über ihn reden, als wollten sie ihr absichtlich den letzten Sommer vor dem College versauen.
Erst zwei Monate später, im Psychologiegrundkurs in Yale, wird ihr klar werden, dass sie an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden muss. Aber als der Professor diejenigen der Kursteilnehmer auffordert, die Hand zu heben, die diese Störung zu haben meinen, tun das fast alle der egozentrischen und jungen Erwachsenen. Der Professor wird den Studierenden erläutern, dass es jedes Jahr dasselbe sei. Sie litten an nichts anderem als daran, jung und dumm zu sein. Im selben Kurs wird Juliette darüber nachsinnen, dass David, der nicht nur Statistiken über jedes Yankee-Spiel, sondern auch eine detaillierte Tabelle der «Son of Sam»-Morde führte und Juliette bat, sich die Haare blond zu färben («Der Mörder mag nur Brünette»), wahrscheinlich unter einer Zwangsneurose litt. Juliette wird viele weitere Jahre brauchen, um zu erkennen, dass David einfach nur versuchte, sich von der Tatsache abzulenken, dass er sterbenskrank war.
Juliette überquert den Ridge Boulevard, ohne nach rechts und links zu schauen. Es ist spät. Sie ist betrunken. Pizzatyp wendet und hupt, um sie auf sich aufmerksam zu machen.
«Nee, das gefällt mir nicht, du willst nicht einsteigen, das ist dein Problem.»
Der Trunkenheitsnebel lichtet sich etwas, doch als Juliette sich zu ihm umdreht, sieht sie zwei heiße Typen, die zurückstarren.
«Vergiss nicht, dein Leben ist das Ergebnis deiner Entscheidungen. Ich fahre hier neben dir her, bis du sicher zu Hause bist.»
«Zu Hause ist aber praktisch nicht mehr zu Hause. Ich gehe in sechs Wochen weg, aufs College.»
«Aufs College? Schön für dich. Wohin denn?»
«Nach Connecticut», sie schluckt, «Yale.»
«Oh, là, là, nobel geht die Welt zugrunde.»
Juliette hat gerade ihren Abschluss an der Poly Prep Country Day School gemacht, einer teuren Privatschule in Bay Ridge, der einzigen nicht katholischen, so weit man Ave-Maria schreien kann. Die Gegend wird hauptsächlich von Italienern und Iren bewohnt, einer Handvoll Norwegern, einigen Polen und Griechen. Deshalb gibt es jede Menge katholischer Schulen. Fontbonne, St. Anselm, St. Patrick, St. Ephrem, Visitation Academy, eine von Nonnen geführte Mädchenschule, deren Campus von einer sechs Meter hohen Stein- und Betonmauer umgeben ist, dann sind da noch die Xaverian High School und die Our Lady of Perpetual Health Catholic Academy.
Auf der Poly Prep gab es eine Kleiderordnung. Blazer, Hemd und Krawatte für Jungen. Für Mädchen Blazer und Hose oder Rock mit Bluse. Man hat dort so getan, als wäre man eine Schule in Connecticut. Nein, in England. Die Freshmen wurden Klasse III genannt, Seniors Klasse VI. Man verwendete römische Zahlen, viele Eltern wussten gar nicht, in welcher Stufe ihr Kind nun eigentlich war.
Der Campus war weitläufig, sechsundzwanzig Hektar groß. Zwei Teiche. Sechs Enten. Und diese sensationelle Naturlandschaft lag tatsächlich mitten in Bay Ridge, Brooklyn, nur ein paar Straßen entfernt von dem Ort, wo Saturday Night Fever gedreht wurde und der dafür bekannt war, dass es mehr Bars und Schönheitssalons pro Quadratmeter gab als irgendwo sonst auf der Welt. Aus frisierten Autos schallte laut Musik, und die Männer trugen genauso viel Gold wie die Frauen.
Juliettes Eltern konnten sich die Schule nicht leisten, denn das Geld war knapp. Das Geld war knapp, weil Jack Darling das Glücksspiel immer geliebt hatte. Die Liebe zum Glücksspiel ist nur dann ein Problem, wenn man nicht damit aufhören kann. Und er konnte definitiv nicht aufhören. Also bezahlten Juliettes Großeltern die Schulrechnung.
Der Pizzawagen schleicht langsam neben ihr her, als wollte er sie zum Tanzen auffordern. Es ist eine klare Nacht. In der Ferne lärmen Grillen oder vielleicht Feuerwerkskörper, die von der Feier zum 4. Juli übrig sind.
«Yale, verstehe», sagt Pizzatyp. «Die Hauptstadt ist Hartford, falls du dich das fragst. Und Connecticut ist von einem alten indianischen Wort abgeleitet, das ‹Land am langen Gezeitenfluss› bedeutet. Man nennt es den Muskatnuss-Staat, den Staat der Verfassung oder das Land der festen Gewohnheiten. Ich nenne es die Tri-State Area. Connecticut. Scheißschwer zu buchstabieren.»
Pizzatyp mochte schon immer gerne Landkarten. Als er klein war, hatte er ein Tischset mit den Vereinigten Staaten von Amerika darauf und eine Globuslampe. Als das Licht im Globus kaputtging, warf seine Mutter ihn weg. Das machte nichts, weil sich die Welt ohnehin ständig veränderte. Aber da Amerika sich nicht veränderte, benutzte er das Tischset weiter.
Juliette geht neben dem Pizzawagen her, die Straßen entlang, die jetzt von kleinen Doppelhäusern gesäumt sind. Sie kommt an Häusern vorbei, in denen Mittelschichtler im Wohnzimmer eine Lampe brennen lassen, um Einbrecher abzuschrecken, die aber nie auftauchen. Betrunken läuft Juliette durch die heiße Sommernacht und fühlt sich körperlos und sorgenlos. Steigende Kriminalitätsrate in New York? Ihr doch egal. Unerbittliche Hitzewelle? Es ist Sommer. Serienmörder auf freiem Fuß? Wahrscheinlicher ist, dass man in der Badewanne oder an einem Herzinfarkt stirbt.
Wenn es etwas gibt, das Juliette wirklich beunruhigt, dann ist es die Tatsache, dass sie noch Jungfrau ist und es wahrscheinlich für den Rest ihres gottverdammten Lebens bleiben wird. Eine verdammte alte Jungfer wie die verfluchte Jane Austen. Nie wird ein Mann sie berühren, ihr Haar anheben und ihren Nacken küssen, sie draußen im Regen gegen eine Wand pressen. Nein, nicht im Regen. In einem Maisfeld, wo seine Hände ihren Körper erforschen, fieberhaft, weil seine Leidenschaft nicht zu bändigen ist. Sie würde sich ihm unter dem sternenklaren Sternenhimmel hingeben. Nein, das wird nie passieren. Wäre sie nicht Jüdin, könnte sie genauso gut Nonne werden.
Erst vor ein paar Monaten, am Silvesterabend, sind David und sie im Cannonball Park an der Shore Road gewesen und haben sich eine halb leere oder halb volle Flasche Southern Comfort geteilt, je nachdem, wie man zum Leben steht. Eigentlich hatten sie in die City fahren wollen, zum Times Square, aber David war erkältet und hatte Husten, also blieben sie in der Nähe ihres Viertels und betranken sich. Als das Feuerwerk um Mitternacht die Dunkelheit erhellte, umarmten sie sich durch ihre dicken Wintermäntel und die anderen Schichten auf ihren Körpern hindurch. «Frohes neues Jahr!» – «Frohes neues Jahr!» Sie tätschelten sich gegenseitig den Rücken. Um sie herum Geschrei und Heiterkeit, Fremde, die sich um den Hals fielen. Mit dem flüssigen Mut des Alkohols im Blut schlossen sie den Pakt, ihre Jungfräulichkeit aneinander zu verlieren, bevor sie aufs College gehen würden. Ja, sie waren bloß Freunde, aber genau für so was waren Freunde ja da. Es wäre eine Win-win-Situation. Das College würde ein Neuanfang sein. Juliette in Yale, David in Harvard. Sie wollten, dass die anderen Studenten ihr wissendes Nicken als ein «Ja, ich habe von der fleischlichen Lust gekostet» erkannten und sie auf die wichtigen Partys einluden. Der nach Aprikose schmeckende, scharfe Whiskey brannte in ihren Kehlen, erfüllte sie aber mit der Hoffnung, dass das Leben besser und immer besser werden würde.
Ein paar Monate danach, kurz nach Davids Diagnose, platzte Juliette in sein Zimmer. Es war das einzige Mal, dass sie ihn jemals weinen sah. Er saß da und hatte den Kopf zwischen den Knien wie bei einem Flugzeugabsturz.
Er blickte zu ihr auf, Rotz lief ihm aus der Nase, seine Augen waren rot und verquollen. «Ich schätze, unser Versprechen gilt dann auch nicht mehr.»
Nicht nur, dass sein Leben nun plötzlich kürzer sein würde, er würde auch noch Jungfrau bleiben. Sie tätschelte ihrem Freund die Schulter, klopf, klopf – sie war nicht daran gewöhnt, jemanden absichtlich zu berühren.
«Versprochen ist versprochen», sagte sie.
«Echt?» Er blickte hoffnungsvoll zu ihr auf.
«Echt», sagte sie, weil David ihr Freund und das hier sein letzter Wunsch war.
Am Eingang der Auffahrt wedelt sie mit den Armen und ruft zu dem Typen im Pizzawagen rüber: «Hier ist es.»
«He, komm mal kurz her.» Er hält an.
Sie tritt an das geöffnete Seitenfenster.
«Ich habe eine sehr spezifische Frage an dich. Es geht um etwas, wobei du, weil du ja nach Yale gehst und so weiter, mir vielleicht helfen kannst.»
Sie beugt sich vor, will das hören.
«Lebe frei oder stirb. Warum ist das wohl das Motto von New Hampshire?»
Unwillentlich entfährt ihr ein Grunzen, und sie bedeckt Nase und Mund schnell mit der Hand, als hätte sie geniest. Sie hat nicht gedacht, dass jemand, der süß ist, zudem noch Humor haben könnte. Zurzeit bringt niemand außer David sie zum Lachen. Früher hat ihr älterer Bruder George das gemacht, er hat sie immer unter den Achseln und am Bauch gekitzelt. Sie weiß noch, dass sie sich nie entscheiden konnte, ob er damit aufhören oder nicht aufhören sollte.
«Juliette Darling, was bist du?»
«Wie meinst du das?»
«Also zum Beispiel irisch, italienisch, chinesisch? Was bist du?»
«Ich bin jüdisch.»
«Ja, das habe ich mir gedacht, ich wollte dich nicht beleidigen, aber ich mag Juden besonders gern.»
Das Letzte, was Juliette sein möchte, ist anders, besonders. Juliette möchte nicht gesehen werden. Unsichtbar sein, das wär’s. Sie glaubt nicht, dass sie irgendwo reinpasst, nicht einmal in ihren Körper. Besonders nicht in ihren Körper. Es ist schwer zu erklären, aber sie fühlt sich, als ob sie nicht in ihren Körper gehöre, falls das irgendwie Sinn ergibt.
Egal in welchem Winkel zu dem einen Ganzkörperspiegel bei ihnen zu Hause Juliette sich aufstellt, sie sieht ihren Körper nie in einem Stück. Sie ist zu groß. Sie kann ihren Körper wahlweise ohne Kopf oder ohne Füße sehen. Der Spiegel ist für ihre Mutter aufgehängt worden, die natürlich niedlich und klein ist. Bevor Juliette in die Pubertät kam, schien ihr Körper keine Rolle zu spielen, er war einfach da. Aber jetzt ist er etwas, das sie mit sich herumschleppt.
«Hey», er rutscht auf den Beifahrersitz, zu ihr ans Seitenfenster, sodass sich ihre Gesichter beinahe berühren, «schau mich mal kurz an.»
Sie blickt auf, ihre Blicke treffen sich.
«Willst du mal mit mir rumfahren?»
«In deinem Pizzawagen?»
Er holt tief und hörbar Luft, bevor er antwortet. «Jetzt bist du plötzlich witzig? Glaubst du, das ist der einzige Wagen, den ich fahre?»
«Ich weiß nicht.»
«Tja, wenn du es weißt, Juliette Darling, lass es mich wissen. Du findest mich hier.» Er schlägt gegen das Gehäuse des Pizzawagens, wo auf einer knallroten Pizza die Adresse steht.
Juliette geht die Auffahrt hoch und zur Seitentür. Sie schließt auf. Sie hört den Motor leise brummen. Er wartet. Sie geht rein und macht beinahe einen Luftsprung. Das war der beste Abend meines Lebens, denkt sie. Sie will nachsehen, ob bei David noch Licht brennt, und ihm alles erzählen, entscheidet sich dann aber dagegen.
David kaut auf seinem schwarzen BIC-Stift herum und schreibt auf seinem gelben Notizblock. Erst Yankees-Statistiken, seinen Namen mit der rechten und linken Hand gleichzeitig, dann macht er eine Timeline, wo der Son of Sam zugeschlagen hat. Daten, Namen, Adressen in dem Versuch, ein Muster zu finden.
Die Nacht ist die einzige Zeit, in der David sich frei fühlt, befreit vom wachsamen Blick seiner Eltern, die a) darauf achten, was er isst. Wie viel hast du gegessen? Wie viele Kalorien? Zu wenige Kalorien, zu viele Kalorien. b) Sieht er besser oder schlechter aus als am Tag zuvor? c) Ist er müde? Nein. Natürlich ist er müde. Er ist immer müde, also hat er angefangen zu lügen. d) Warum hat er dunkle Ringe unter den Augen? (Siehe vorherige Frage.) Für zusätzliche Punkte fülle bitte folgende Felder aus _____. Hm, vielleicht weil ich Krebs habe? Pssst. Sprich dieses Wort nicht aus! Sagt seine Mutter mahnend. e) Keins von den oben Genannten.
Er kommt sich vor wie ein Käfer unter einer Lupe, kurz davor, von der Sonne verschmurgelt zu werden.
In diesem Moment hört er das Motorengeräusch vor seinem Fenster. Er kniet sich auf den Boden und beobachtet durch die Ritzen in der Jalousie, wie Juliette von dem Pizzawagen weggeht und dann zurückkehrt. Sie beugt sich hinein, spricht mit jemandem. Dann dreht sie sich um und kommt die Einfahrt herauf. Der Typ im Pizzawagen wartet und beobachtet sie. David spürt einen stechenden Schmerz hinter den Augen, als hätte jemand plötzlich das ganze Blut aus seinem Gehirn gesaugt. Er drückt sich die Finger in die Schläfen, um sich zu konzentrieren. Nein, Mama, ich habe keinen Hunger, und ich muss mich nicht ausruhen. Und nein, Papa, ich muss mich nicht bemühen, die verdammte Anzahl an roten Blutkörperchen zu erhöhen. Leber und Aprikosenkerne essen, auf die sein Vater schwört und von denen er glaubt, dass sie helfen werden. Natürlich nur in Kombination mit dem sensationellen Buch Von Krebs geheilt, aus dem sein Vater der Familie laut vorliest wie ein Sektenführer.
Er schreibt sich das Nummernschild 426-KQL auf. An Juliettes Gang kann man sehen, dass sie getrunken haben muss. Wirkt sogar so, als wäre sie besoffen. Juliette, das Mädchen seiner Träume, das Mädchen, das er zu seiner Seelenverwandten erkoren hat, seit er sie im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hat, stolpert von einer Party nach Hause. Er hat das Gefühl, als würden ihm die Eingeweide mit einem Skalpell aus dem Leib gekratzt. Er zuckt zusammen. Er schließt die Augen. Deshalb ist sie also heute Abend nicht gekommen. Er ist nicht bereit, sie damit zu konfrontieren, noch nicht.
Rico sieht zu, wie Juliette ihr Haus betritt. Er lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken. In einem verdammten Pizzawagen. Warum hat sie das gesagt? Komm schon, Rico, das hast du nicht nötig, sagt er sich und drückt auf die Play-Taste des Kassettenrekorders. Die beruhigende Stimme erfüllt den Wagen: «Ich habe die Kontrolle über mein Leben und kann alles erreichen, was ich will. Ich lasse mich nicht von negativen Gedanken entmutigen. Heute ist ein großartiger Tag, morgen wird noch besser.»
Er fährt die Straße hinunter und biegt links auf die Shore Road ein, die schnurgerade am Wasser entlang zum Belt Parkway führt. Im Hintergrund die Verrazano-Brücke, die elegante doppelstöckige Hängebrücke voller Potenzial, die aber nur nach Staten Island führt. Normalerweise ist die Shore Road voll mit Autos, aber um diese Zeit ist sie leer. Er ist der König der Straße. Er liebt das Autofahren.
Als er seine Fahrprüfung ohne einen einzigen Fehler bestanden hatte, wusste er, dass er ein guter Fahrer ist. «Das passiert nur einmal alle paar Jahre», hat ihm der Mann von der Zulassungsstelle gesagt. Sein Vater hat lauthals gelacht, als er das hörte. «Jeder Idiot besteht.»
Er dreht die Lautstärke auf. «Sich in sich selbst zu verlieben, ist der Schlüssel zum Glück.»
Er schaltet die Scheinwerfer aus und fährt mit hoher Geschwindigkeit die Straße hinunter ins Nirgendwo. In der Dunkelheit fühlt er sich frei.
Freitagmorgen acht Uhr ist in Bay Ridge eine tote Zeit. Das Frühstück ist vorbei, der Rasensprenger angestellt, die Männer sind bei der Arbeit, die Mütter räumen das Geschirr ab und beten darum, wenigstens für eine verdammte Sekunde ihre Ruhe zu haben.
Juliette ist in ihrem hübschen rosa Kinderzimmer aufgewacht, sie liegt in ihrem Barbiemädchen-Himmelbett, das ihre Mutter unbedingt kaufen wollte, um den Anschein einer märchenhaften Kindheit zu erwecken. Was ihre Mutter dabei vergessen hat, ist, dass es in Märchen keine biologischen Mütter gibt. Vielleicht ist sie adoptiert. Bitte, lieber Gott, lass mich meine richtigen Eltern finden. Lass meine echten Eltern cool sein.
Sie ist in ihren Sachen eingeschlafen. Sie ist buchstäblich einfach auf ihr Bett gefallen und acht Stunden später mit dem Abdruck der Tagesdecke im Gesicht wieder aufgewacht. Juliette hat keine Erinnerung daran, wie sie in ihr Zimmer gekommen ist. Weder hat sie Kopfschmerzen, noch ist ihr übel. Sie horcht auf die Stille im Haus. Es ist sicher, sich hinauszuschleichen. Auf Zehenspitzen trippelt sie ins Bad und füllt ihren Plastikzahnputzbecher fünfmal mit Wasser, trinkt ihn aus.
Die Luft ist voller Rauschen. Es ist nicht das Rauschen, an das Juliette gewöhnt ist: unauffällig, gleichmäßig, beständig. Es ist nicht das statische Knistern und Zischen, das man manchmal im Telefon hört oder wenn das verdammte Radio oder der verdammte Fernseher miesen Empfang hat. BAM! Heute spürt Juliette beim Aufwachen Elektrizität in der Luft. Als sie ihren Türknauf berührt, bekommt sie einen Stromschlag.
Juliette holt sich Römisches Arkadien und ihr Album mit Yankees-Baseballkarten. Ja, sie verbringt ihren Sommer damit, Bücher auf Latein zu lesen. Doug hat jedes Recht, sich über sie lustig zu machen. Aber sie kann nichts dafür, dass die Konstruktion lateinischer Sätze sie erregt. Wie Subjekt und Verb getrennt werden können und etwas völlig anderes bedeuten, das verursacht in ihrem Körper ein Kribbeln. Die Befriedigung beim Zusammenpuzzeln der Zeilen ist unvergleichlich. Manchmal kann sie die Geister toter Dichter heraufbeschwören, und sie sagen ihr, was gemeint ist. Für jemanden wie sie muss es ein Wort geben. Nerd. Freak. Idiot. Absolut. Total. Bekloppt.
Mit zwei großen Schritten überquert sie die Auffahrt hinüber zu den Haddads. Die Haddads sind die einzige libanesische Familie in der Nachbarschaft, die Darlings die einzige jüdische. «Als wollten sie, dass wir den Nahostkonflikt in unserer gemeinsamen Auffahrt lösen», sagt Dr. Darling oft in der Hoffnung auf einen Lacher.
Es ist dieselbe Einfahrt, auf der Juliette und David ihren rosa Springball gegen die Wand geworfen haben. Obwohl David ein Junge war, spielte er mit Juliette, was sie wollte.
Miss Susie hat ein Schiff,
das Schiff, das fährt mit Schwung.
Es stößt auf ein Geröll.
Miss Susie fährt in’n Himmel,
der Dampfer fährt zur Höll.
Ihre Hände trafen im Takt aufeinander, wieder und wieder.
Lieber Angler,
fang mir ’nen Barsch.
Wenn du mir keinen fängst,
tret ich dich in den …
Einmal Luft holen und dann …
Vor dem Kühlschrank
lag ein Ei, es war roh.
Miss Susie rutschte aus
Und knallte auf den …
Ohne dass sie nachdenken mussten, bewegten sich ihre Hände immer schneller, klatschten, für ihre Hirne kaum mehr nachzuvollziehen.
Frag nicht, wie und wo,
so ist’s auf jeden Fall:
Die Jungs, die sind im Klo
Und öffnen ihren Hosen…
Schneller und schneller, es war wie ein Rausch, sie spürten, dass sie gleich am Ende angelangt sein würden.
Fliegen in der Stadt,
Bienen auf dem Land,
Miss Susie und ihr Freund,
die küssen sich im Schrank.
Handfläche an Handfläche. Handrücken an Handfläche an Handrücken.
SCH-R-A-N-K
SCH-R-A-N-K
SCH-R-A-N-K
Schrank, Schrank, Schrank.
Sie malten mit Pastellkreide eine Welt auf den Weg: eine Schule, ein Haus, eine Scheune, der Pool kam an die Stelle, wo aus der Klimaanlage vor dem Wohnzimmer der Darlings Wasser tropfte.
Natürlich war da auch das unvergessliche Grillfest am 4. Juli, als Juliette und David sieben Jahre alt waren. Unvergesslich nicht, weil Vietnam immer noch brannte und Amerika zwischen Kriegsfanatikern und Friedensbewegung erbittert gespalten war. Unvergesslich nicht, weil Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet worden waren. Unvergesslich nicht, weil die Demonstranten auf den Straßen verprügelt und mit Tränengas angegriffen wurden.
Unvergesslich, weil an diesem Tag Juliettes Barbie und Davids T-Rex heirateten. Als gerade niemand hinsah, legten sie die beiden heimlich auf den heißen Grill neben die Burger und Würstchen, um zu sehen, was passieren würde. Unter dem wolkenlosen blauen Himmel geschah das Wunder der Vereinigung. Das pfirsichfarbene Plastik von Barbies Haut brutzelte Seite an Seite mit den fetttriefenden Burgern. T-Rex schmolz hinüber in Richtung Würstchen, versuchte verzweifelt, sie mit seinen viel zu kurzen Armen zu erreichen.
Es wäre mit Sicherheit ein ganz außergewöhnliches Grillfest geworden, wäre da nicht ihr neugieriger Nachbar Captain Donovan gewesen, Feuerwehrmann im Ruhestand. Schnüffelnd nahm seine Nase die giftigen Dämpfe auf wie die feinen Aromen eines guten Bordeaux. Er sprang über den Zaun (rüstig, rüstig) und strahlte alles mit dem Feuerlöscher ab, den er zu jeder Zeit neben seiner Tür aufbewahrte.
Die Nachbarn schüttelten hinter verschlossenen Türen die Köpfe. Wie erziehen die ihre Kinder? «Kein Erwachsener weit und breit, der sie im Blick hatte.»
David und Juliette wurden auf ihre Zimmer geschickt. Das hielt sie nicht davon ab, sich in der Nacht hinauszuschleichen, um ihre deformierten Freunde aus der Mülltonne zu befreien.