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Fünf Jahreszeiten einer Liebe. Eine überwältigende Geschichte. Eine unglaubliche Geschichte. Und doch eine wahre Geschichte. Alles beginnt mit einer großen Liebe. "Sowohl als auch" heißt das Café in Prenzlauer Berg, in dem Syd Theo kennenlernt. Theo ist Filmemacher, alleinstehend, charismatisch. Syd weiß sofort, dass es die Art von Liebe ist, die sie vermutlich nur einmal erleben wird. Die beiden bekommen ein Kind, ziehen zusammen, erleben großes Glück und überstehen kleine Krisen. Doch dann erhält Theo eine niederschmetternde Diagnose: ALS. Die Krankheit, an der auch Stephen Hawking litt. Von dem Mann, in den Syd sich einst verliebt hat, ist Tag für Tag weniger übrig. Und doch kämpft sie um ihn. Sie will das, was von ihrem Glück noch übrig ist, unbedingt bewahren. Bis sie eines Tages eine ungeheuerliche Entdeckung macht.
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Seitenzahl: 286
Syd Atlas
Eine wahre Liebesgeschichte
Manchmal sind es nur Sekundenbruchteile, die das ganze Leben verändern. Dinge gehen zu Bruch, Vasen oder Ehen. Nun, das hier sollte der Sekundenbruchteil sein, in dem mein Leben zerbrach.
Zwei Menschen verlieben sich, heiraten, bekommen ein Kind. Aber dann passiert etwas, was beinahe ihr ganzes Leben zerstört …
Dies ist eine wahre Geschichte – meine Geschichte.
Syd Atlas wurde in Brooklyn, New York, geboren. Sie studierte Theaterwissenschaften an der Brown University und begann wenig später, als Schauspielerin zu arbeiten und Soloprogramme zu schreiben. Mitte der 1990er Jahre zog sie nach Berlin, wo sie zum integralen Bestandteil der Berliner Performance-Art-Szene wurde und Dokumentarfilme drehte.
Seit mehr als zehn Jahren coacht Atlas als Rhetorik- und Kommunikationstrainerin Geschäftsführer und hochrangige Manager von Fortune-100-Unternehmen. Nebenbei moderiert sie Diskussionsrunden und Preisverleihungen auf der Frankfurter Buchmesse sowie das Books-at-Berlinale-Event der Internationalen Filmfestspiele. Syd Atlas lebt und arbeitet in Berlin. «Das Jahr ohne Worte» ist ihr erstes Buch.
Martin Ruben Becker lebt als Übersetzer in München und hat u.a. Bücher von Joseph Luzzi, Robert Goolrick, Favell Lee Mortimer und David Bergen übersetzt.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Five Seasons of Love» Copyright © 2020 by Syd Atlas
Redaktion Annekatrin Heuer
Strophe aus «Für mich soll’s rote Rosen regnen», S. 206: Hildegard Knef, Europaton Musik Edition/Peter Schaeffers
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung FAVORITBUERO, München,
nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00788-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Henry und Sam
Wenn man im Handy seines Partners herumschnüffelt, wird man aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas finden. Oder wie Dan Savage, der Autor von Savage Love, einer weitverbreiteten Beziehungs- und Sex-Kolumne, schreibt: «Schnüffeln ist natürlich immer falsch, es sei denn, der Schnüffler entdeckt etwas, was er wissen darf.»
Er bat mich in sein Zimmer, um zu reden, nicht um auch zu reden, sondern um zu reden. Präpositionen vor Verben bedeuten immer: Es wird ernst. Wir halten beide unsere iPhones in der Hand. So sprechen wir miteinander, seit er vor achtzehn Monaten seine Sprache verloren hat. Er weiß noch nicht, was ich weiß, was ich entdeckt habe, aber er weiß, dass etwas nicht stimmt.
Als Erstes hat ALS, die Amyothrophe Lateral-Sklerose, ihm seine Stimme genommen. Er klang zunächst, als wäre er beim Zahnarzt gewesen, dann betrunken, schließlich grunzte er nur noch, und die Kinder und ich waren die Einzigen, die ihn noch verstehen konnten. Nach seinem Luftröhrenschnitt drang gar kein Laut mehr aus seinem Mund. Ein Jahr nachdem er die Diagnose erhalten hatte, konnte er kein Wort mehr über die Lippen bringen. Die Krankheit befiel seinen Körper nicht mit dem üblichen Kribbeln und den Zuckungen in den Gliedmaßen. Sie attackierte als Erstes seine Zunge, seine Fähigkeit zu sprechen, seine Fähigkeit, selbständig zu atmen. Was er sagte und wie er es sagte, war so sehr ein Teil von Theo wie ein Plié bei einer Ballerina.
Er wollte leben und sein gewohntes Leben so lange wie möglich weiterführen. Für mich hingegen sollte er ein Held sein und uns alle retten, und genau da fingen die Probleme an.
Wie ich es vermisse, seine Stimme zu hören, tief, mit einem Unterton wie Steve McQueen in Lederjacke. Wie ich die Gespräche mit ihm vermisse, normale Unterhaltungen. Es fehlt mir, wie es zwischen uns war. Aber man gewöhnt sich an alles. Die Stimme, die mich bittet, hereinzukommen und Platz zu nehmen, ist die Stimme einer Britin, die er sich auf sein Handy heruntergeladen hat. Die Kinder und ich haben ihn nie gefragt, warum er die Stimme einer Frau wollte, genauso wie keiner fragt, weshalb Siri weiblich ist.
Sein Bett ist hochgekurbelt und geneigt, das Kopfteil hochgestellt, die Matratze unter seinen Knien kräuselt sich – ein seltsamer König in einer seltsamen Welt. Wenn ich stehe, blicke ich auf ihn hinunter, wenn ich sitze, muss ich den Kopf heben. Ich sitze.
Wir lächeln.
Er schreibt mir langsam. Ich warte.
«Du wirkst angespannt», erscheint auf meinem Handy. Wir sind nur Zentimeter voneinander entfernt. Es ist, als würden wir in Zeitlupe Fangen spielen.
Was ich an jenem Tag entdeckte, war, als würde man im Garten einen wunderschönen Stein aufheben und feststellen, dass sich darunter Würmer ringeln.
Wenn man nach Beispielen sucht, wie das Wort «entdecken» verwendet wird, findet man eine Menge:
Wir sind entdeckt worden.
Ich habe die Wahrheit entdeckt.
1492 hat Kolumbus Amerika entdeckt.
Tom und Mary haben etwas Erstaunliches entdeckt.
Tom hat zwei Leichen in seinem Keller entdeckt. (Oh nein.)
Tom war traurig, als er entdeckte, dass Mary nur auf sein Geld aus war, und Mary war traurig, als sie entdeckte, dass Tom arm war. (Oje.)
Die Regierung hat unser Geheimnis entdeckt.
Ich könnte so etwas den ganzen Tag machen, und das tue ich auch, wenn ich eigentlich erwachsene Angelegenheiten wie meine Steuererklärung erledigen muss.
Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist eine wahre Liebesgeschichte. Ich dachte, ich hätte alles im Leben: Nach neun Jahren war ich noch immer in meinen Ehemann verliebt, wir hatten regelmäßigen Sex, nicht die Einmal-die-Woche-Routine, sondern leidenschaftlichen, zwei Kinder, Arbeit, die uns beiden gefiel. Dann wurde er krank und lag auf einmal im Sterben. Gerade als ich glaubte, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen, entdeckte ich, dass sich darunter ein tieferes und noch viel dunkleres Loch verbarg.
Ich wollte herausfinden, was passiert, wenn ich in dieses Loch hinabstieg. Wie tief kann ich in der Erde bohren, um herauszufinden, was mit uns geschehen ist?
Dafür brauchte ich Zeit. Wenn die Liebe normalerweise vier Jahreszeiten hat, benötigte ich für diese Geschichte eine fünfte, sozusagen eine Extra-Runde.
Da dies eine Liebesgeschichte ist, sollten wir mit dem Anfang beginnen, als es noch Liebe gab, echte Liebe. Da bin ich mir ganz sicher.
TO FALL IN LOVE Wenn du dich verliebst, lässt du dich fallen. Du erhebst dich nicht zur Liebe oder steigst hinauf, du fällst. Und vergisst. Deshalb ist es jedes Mal überraschend, dass Liebe schmerzt. Aber dieses Gefühl zu fallen ist gleichzeitig so verdammt großartig. Wenn mein zukünftiges Selbst mir einen Rat hätte geben können, hätte es zu mir gesagt, ja, mach es, do it again, und wäre mein zukünftiges Selbst eine Französin gewesen, hätte es gemeint, non, je ne regrette rien.
Ich lerne ihn an einem Apriltag kennen. Es ist endlich Frühling, und man kann es in der Luft riechen. Aus der wunderbaren französischen Bäckerei lockt mich der Duft von frischen Croissants. Ein junger Mann mit Tattoos und Piercings spaziert mit einem Pudel und Zigarette rauchend an mir vorbei.
Gerade habe ich eine zweiwöchige Heilfastenkur hinter mir. Ich möchte einen Rundum-Neubeginn. Drei Jahre lang habe ich versucht, die Beziehung zu meinem ersten Ehemann wieder hinzubiegen. Er war der perfekte Schwiegersohn gewesen, und wir wurden viel zu schnell beste Freunde, was großartig ist, wenn du zusammen ins Zeltlager fährst. Ich aber war auf der Suche nach einer sexuell aufgeladenen Beziehung, und das war unsere überhaupt nicht. Es war nicht sein Fehler. Er ist ein sehr netter Mensch, und wir sind bis heute Freunde.
Aber leider langweilte ich mich mit ihm. Ständig stimmte er all meinen Ideen und Einfällen zu. Wenn wir uns stritten, gab er klein bei, bevor wir auch nur die Chance hatten, uns in die Haare zu kriegen.
In einer Beziehungs-Kolumne habe ich einmal gelesen, dass oft gerade die Eigenschaften des Partners, die man zunächst anziehend fand, später dazu führen, dass man ihn verlässt. Von einem: «Oh, er ist wunderbar und so verspielt» zu: «Er ist unreif und hält nicht einen einzigen Scheißjob durch.» Eine Zeitlang war ich mit einem Musiker zusammen, der jedes Mal Geräusche machte, wenn er etwas beschreiben wollte. Anfangs dachte ich: «Wie kreativ!» Später dachte ich: Wenn er noch ein einziges Mal mit der Zunge schnalzt und mit den Fingern trommelt, bringe ich ihn um.
Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Mann an mich klammerte, um sich selbst zu finden. (Außerdem hatten wir keinen Sex mehr.) (Aber daran war ich schuld.) Ich kann nicht mit jemandem schlafen, der mich als Mensch nicht anmacht.
Ich ersticke dann und bin uninspiriert. Dass wir ein Kind bekamen, Henry, inzwischen drei Jahre alt, schien alles nur noch zu verschlimmern. Dabei hatte ich geglaubt, ein Kind würde uns zusammenschweißen. Lag es an ihm? An mir? An uns beiden? Meine Freundinnen schauten bewundernd zu, wenn er die Küche putzte und den Müll raustrug. Das gefiel mir schon (wem nicht?). Ich fühlte mich, als ob ich in einer Serie «Happy Wife – Happy Life» mitspielen würde. Das Problem war nur – ich war alles andere als happy. Aber der Beziehungskolumnist schrieb auch, dass alles, was einem am Partner nicht gefällt, eine Projektion dessen ist, was einem an einem selbst nicht gefällt. Es lag wohl definitiv an mir.
Oder vielleicht hatte ich auch nur das Gefühl, mein Leben würde stillstehen. In all dem, was ich beruflich tat – Performance-Künstlerin, Comedy-Autorin, Dokumentarfilmerin, Übersetzerin, Englischlehrerin oder Coach –, hatte es stets kurze, beinahe erfolgreiche Phasen gegeben. Aber am Ende entpuppte sich alles immer nur als ein Job und führte nirgendwohin. Ich hatte mir mein Leben aufregender vorgestellt.
Es kam die Nacht, als ich merkte, dass es vorbei war. Er wollte mit mir schlafen. Ich wollte nicht. Ich war zu müde. Ich war immer müde, wenn ich mit ihm zusammen war. Also von mir aus, sagte er, kannst du ruhig einschlafen. Es war witzig gemeint, aber ich nahm es ernst. Ich weiß noch, wie ich da lag. Ich blickte ins Dunkel. Ich spürte sein Gewicht auf mir, und ich fühlte nichts. Ich schlief sogar ein.
Eine Freundin von mir war den Sommer über verreist und bot mir ihre Wohnung an, für eine Denkpause. Ich sagte sofort zu und erzählte meinem Mann: «Das ist gut für uns. Wir können ausprobieren, wie es ist, getrennt zu sein. So finden wir heraus, ob wir einander vermissen.»
«Du verlässt mich, oder?»
Also, dies sind nun die Tage, nachdem ich offiziell meine Beziehung zu Henrys Vater beendet habe, und ich bin glücklich, als ich ein Café namens SowohlAlsAuch betrete.
Weil es keine freien Plätze mehr gibt, setze ich mich an einen Tisch zwischen zwei Männer, die Zeitung lesen. Sobald ich mich hingesetzt habe, blickt mich einer der beiden über seine Brille hinweg an. Er wirkt wie ein Intellektueller, einer, der sich in Künstlerkreisen bewegt, wie jemand, den man heutzutage einen coolen Nerd nennen würde. Seine dicken Augenbrauen sind ständig in Bewegung. Unsere Blicke treffen sich, und ich will ihn fragen, ob ich einen Teil seiner Zeitung lesen darf. Ich benutze ein falsches deutsches Wort und sage: «Kannst du mir bitte ein Stück Zeitung rausreißen?»
Das tut er.
Wir unterhalten uns. Er erzählt mir, dass er Theo heißt und Filmregisseur ist. Die Intensität, mit der er mich mustert und dabei langsam blinzelt, macht mich verlegen, gleichzeitig fühle ich mich, als wäre ich etwas Besonderes. Ich muss erwähnt haben, dass ich ein Kind habe, denn Theo fragt beiläufig:
«Und was ist mit deinem Mann?»
Genauso beiläufig antworte ich: «Wir haben uns vor kurzem getrennt.»
Jetzt flirten wir offiziell.
Ohne zu zögern erklärt er mir, dass er auch gerade eine schlimme Beziehung hinter sich hat.
«Sie war verrückt.» Lachend fährt er fort: «An einem Tag wollte sie mit mir nach Hollywood ziehen, und am nächsten Tag trennt sie sich von mir. Frauen.»
Wir lächeln beide.
«Sie hat vier Kinder von drei verschiedenen Männern. Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten», sagt er.
Bevor ein unangenehmes Schweigen entsteht, weil wir zu schnell zu viel von uns preisgegeben haben, kommt der Kellner mit unserem Kaffee.
Wir tauschen unsere Telefonnummern aus. Als wir das SowohlAlsAuch verlassen, gibt es einen chaotisch verstolperten Abschied. Ich verpasse ihm beinahe einen Kinnhaken, als ich seine Hand schütteln will, weil er sich im selben Moment vorbeugt, um mich zu umarmen.
Als ich am Nachmittag nach Hause radle, summt es in meiner Tasche. Theo hat mir eine SMS geschrieben. «Sehen wir uns morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort?»
«Why not?», antworte ich.
Wir treffen uns am nächsten Tag. Meinen Vorsatz, es nach der Heilfastenkur mit dem Essen langsam angehen zu lassen, schicke ich zum Teufel: Wir bestellen Käsekuchen und klebrige Zimtschnecken, mein Mund ist ein einziges Geschmacks-Kaleidoskop. Während sich Theo ein brüllend komisches Gespräch zwischen einem Österreicher, einem Schweizer und einem Bayer ausdenkt, damit ich die Unterschiede heraushören kann, stellt der Kellner die nächste Runde Kaffee auf den Tisch. Als ich ihn nach seinem Lieblingsfilm frage, verfällt Theo in den De-Niro-Monolog aus Taxi Driver: «10. Mai. Endlich hat es geregnet …»
«Ich habe am 10. Mai Geburtstag», unterbreche ich ihn.
«Nicht im Ernst?», sagt er.
Wir sehen uns an und begreifen, dass wir Erwählte sind, dass wir das Glück haben, die Art von Liebe zu erleben, die man sonst nur aus Büchern oder Filmen kennt. Feuerwerkskörper explodieren, und Kate Perry singt nur für uns, De Niro fragt, worauf warten wir? Das Universum ist auf unserer Seite.
Und ehe wir es bemerkt haben, ist es schon Abend.
«Lass uns weiterziehen, ja?», schlägt Theo mit hochgezogenen Augenbrauen vor.
Ich sage, klar, obwohl mir der Gedanke an meinen Ex, der meinen Sohn ins Bett bringt, durch den Kopf schießt.
Wir wollen in die Weinerei, einer coolen Bar, wo man so viel trinkt, wie man möchte, und am Ende die Summe, die einem angemessen erscheint, in einen Keramikkrug wirft (das hier ist Berlin, und da klappt so was).
Es ist zu weit, um zu der Bar zu laufen, und so sagt Theo: «Wir nehmen meine Vespa.»
Er ist ein Mann, er hat Humor, er ist gutaussehend, und er hat eine verdammte Vespa – in La Dolce Vita fahren sie doch auch immer Vespa, oder? Das ist jetzt mein Dolce Vita, genauso fühlt es sich an. Theo hat einen zweiten Vintage-Helm für mich mit einem Stern darauf, natürlich hat er den. Er mustert mich, streicht mein Haar zur Seite, während er den Riemen schließt, und schenkt mir ein anerkennendes Lächeln: «Wunderschön», sagt er, und jeder Gedanke an meinen Ex ist verflogen wie Feenstaub.
Es ist schon lange her, seit ich so etwas gemacht habe. Habe ich überhaupt schon mal so etwas gemacht? Theo lässt den Motor an, ich springe auf und lege von hinten die Arme um ihn, schmiege mich an seinen kräftigen Schwimmerrücken, während wir uns mutig durch den Berliner Verkehr schlängeln. Ich fühle mich lebendig wie nie. Ich bin genau da, wo ich sein muss.
Die Bar ist gerammelt voll, aber wir finden eine Nische. Ich sitze auf einem alten Sessel, Theo kommt mit zwei verschiedenen Rotweingläsern und nimmt auf einer umgedrehten Weinkiste Platz. Wir prosten uns zu.
«Auf uns», sagt er. Gibt es schon ein Uns? Unsere Gläser klirren.
Ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben, ich weiß nur noch, dass ich mich gefragt habe, ob wir uns wohl küssen werden. Werden wir uns drinnen oder draußen küssen? Wie wird es sich anfühlen, einen anderen Mann zu küssen, nachdem ich zehn Jahre lang nur meinen Exmann geküsst habe?
Als sich der Abend dem Ende zuneigt und wir die Weinerei verlassen, greift Theo in seine Jeanstasche und füttert den Krug. Dabei zaubert er ein Durcheinander von Pesos, britischen Pfund, Mentos, Taxiquittungen und eine zerknüllte Snickersverpackung hervor wie ein Close-up-Magier.
Und als wäre es das Normalste von der Welt, wenden wir uns vor dem Eingang der Bar einander zu. Es hat angefangen, leicht zu nieseln. Wir küssen uns. Zuerst sind es vorsichtige Erkundungsküsse, zwei Zungen, die sich im Dunkel unserer Münder treffen. Ich kann den Rotwein in seinem Atem schmecken, oder schmecke ich den Rotwein in meinem Atem? Die Grenzen zwischen uns scheinen zu verschwimmen, und ich kann nicht sagen, ob wir uns fünf Minuten oder fünf Stunden lang küssen. Inzwischen regnet es heftiger. Theo nimmt mein Gesicht in seine Hände und verteilt darauf Küsse, jeder Kuss ein Gruß – hallo Augen, wir werden gute Freunde sein, hallo Nase, hallo Wangen. Seine Zunge kitzelt meine Ohren und sorgt für Empfindungen, wie ich sie noch nie gefühlt habe. Lieber Gott, ich stehe auf der Straße im Regen und küsse diesen wunderbaren Mann. Ich will diesen Augenblick nie vergessen. Niemals.
Aus diesem Augenblick werden viele Augenblicke – das erste Mal, als Theo meinen Sohn Henry sieht: Er besucht mich abends, wenn Henry schläft, weil ich möchte, dass sie sich erst kennenlernen, wenn ich mir sicher bin. Auf dem Weg zur Toilette erwische ich Theo, wie er in der Tür zu Henrys Zimmer lehnt und ihn beim Schlafen beobachtet, Henry mit offenem Mund, seine Brust hebt und senkt sich. Theo schließt mich von hinten in die Arme, und wir stehen schweigend im Dunkeln und lauschen den Träumen eines Dreijährigen.
Ab da beginne ich Henry vorsichtig von meinem neuen Freund Theo zu erzählen. Henry sitzt auf meinem Schoß und sieht mich an. Er hat viele Fragen:
«Ist er stark?»
«Ja.»
«Spricht er Englisch?»
«Ja.»
«Was ist sein Lieblingseis?»
«Pistazie.»
«Und er fährt eine Vespa», erzähle ich ihm aufgeregt, während ich mit den Fingern durch sein langes, dickes, blondes Haar streiche; sein Hinterkopf ist verschwitzt.
Henry fängt haltlos an zu kichern, weil er glaubt, dass ich das deutsche Wort Wespe meine.
«Es ist wie ein kleines Motorrad.»
«Cool. Ich möchte auch mal mitfahren.»
«Vielleicht», sage ich.
Henry sucht sich seine Anziehsachen selbst aus. Oft gehört auch eine Kopfbedeckung dazu. An diesem Tag ist es ein Drei-Musketiere-Hut. An dessen Krempe steckt eine Feder, die mich an der Nase kitzelt. Dazu trägt Henry Shorts und knallrote Strümpfe, die er sich bis übers Knie hochgezogen hat. Auf einmal legt er seine Hand auf meinen Brustkorb, an die Stelle, wo er mein Herz fühlen kann. Er nennt das «die Berührung». Es ist wie ein Ladegerät.
An dem Tag, an dem sie sich kennenlernen, spielt die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft ein wichtiges Europameisterschaftsspiel. Wir wollen es uns draußen in einem Café ansehen. Ich hebe Henry aus seinem Fahrradsitz und drehe mich um, als Theo auf uns zukommt.
«Das ist Theo», sage ich, zeige auf ihn, und Henry flitzt los. Theo hebt ihn hoch, so mühelos, wie ich es nie könnte, und mein Herz schmilzt. Sie umarmen sich wie alte Freunde, und Deutschland gewinnt sogar das Spiel.
Das erste Mal kocht Theo an einem Samstag für mich. Henry ist an diesem Tag bei seinem Vater. Das geteilte Sorgerecht verschafft mir eine Menge freier Wochenenden. Theo trägt eine Schürze, als er die Tür öffnet: Quiche, Weißwein, Salat stehen auf dem Tisch, während er zu Maria Callas im Hintergrund singt.
«Warte, bis du deiner Mutter erzählst, dass dein Freund Opern hört.»
Meine Eltern mochten meinen ersten Mann und reagierten wie meine Freunde perplex und verständnislos auf meine Entscheidung, mich von ihm zu trennen. Aber meine Mutter ist weniger verstört darüber, dass ich meinen Mann verlassen habe, als vielmehr darüber, dass ich nun allein bin. Vielleicht ist es eine Generationssache, aber absichtlich Single sein zu wollen, ist, direkt nach Welpen quälen, eines der schlimmsten Dinge, die man im Leben tun kann, ginge es nach meiner Mutter.
Doch sobald ich ihr erzähle, dass ich in einem Café einen kreativen Typen kennengelernt habe, überschlägt sich ihre Stimme regelrecht: «Ich will alles wissen!»
Und das will sie wirklich.
«Ich frag dich mal was», beginnt sie.
«Frag einfach, Mom.»
«Was macht er nun eigentlich? Ich hab’s noch nicht verstanden.»
«Er hat seine eigene Filmproduktion. Er ist Regisseur und Produzent.»
«Das hört sich ja großartig an. Du bist selbst sehr kreativ, du brauchst jemanden, der anspruchsvoll ist wie du. Ich frag dich noch was …»
«Mom, frag einfach, du musst nicht jedes Mal fragen, ob du fragen darfst.»
«Was?»
«Was willst du wissen?»
«Hat er Kinder?»
«Nein, hat er nicht.»
«Das ist schon in Ordnung, Daddy und ich haben auch erst spät geheiratet… Weißt du, ich habe fünfzehn Jahre in der Werbung gearbeitet, und ich weiß absolut, was du meinst. Kreative Typen sind attraktiv.»
Nach der ersten Begegnung mit seinen Freunden erzählt Theo mir, dass alle begeistert waren: Marc, der DJ, und seine Freundin, die sich ein Kind wünschen; auch das Künstlerpaar aus Argentinien – sie ist froh, dass Theo nicht mehr mit seiner verrückten Ex zusammen ist, und bewundert meine grünen Sandalen –, und Fabian, der aus einer guten Familie mit altem Geld stammt und uns seinen Wagen für unseren ersten Wochenendausflug leiht.
Eines Tages dann unsere erste Reise zu zweit nach Mallorca. Das erste Mal mit ihm zusammen in ein Flugzeug steigen und an einem neuen Ort als Paar ankommen. Es ist Nachsaison, die Insel ist leer, und Gäste wie Einheimische sind entspannt. Wir spazieren zu einer Bar voller Fischer und Zimmermädchen aus den umliegenden Hotels.
«Dos gin tonic, por favor», bestellt Theo.
Der Barkeeper gießt Gin ein, während er mit den Gästen redet, und dann werden zwei große Gläser Gin mit Eis auf den Tresen gestellt und daneben eine Flasche Tonic. Aha, so wird das also hier gemacht. Wir trinken, und Theo unterhält sich mit den Mallorquinern, zu meiner Überraschung in perfektem Spanisch. Er übersetzt für mich, und nach dem zweiten Gin Tonic lädt uns einer der Männer ein, im Hotel seines Cousins zu wohnen. Als wir die Bar verlassen, umarmen wir alle und glauben, dass wir sie nächstes Jahr wiedersehen.
Zurück in Berlin. Das erste Mal, dass wir von einer Reise zurückkehren und einander im Arm halten und uns nicht verabschieden wollen. Die ersten Automatenfotos, die wir zusammen aufnehmen, eine Schwarzweiß-Serie im Fotoautomaten am Alexanderplatz. Ich sitze auf seinem Schoß auf dem kleinen, runden Hocker und blicke in die Kamera und dann – Blitz-Blitz-Blitz-Blitz. Wir küssen uns, seine Hände erkunden fiebrig meinen Körper, ich wende mich ihm zu, noch mehr Küsse.
Syd aus Brooklyn ist weit gekommen. I am falling in love. Sich zu verlieben ist, als würde man Zirkusartisten dabei zusehen, wie sie durch die Luft wirbeln, sich drehen und rollen, immer mit dem Risiko, in den Tod zu stürzen, aber mühelos die Schwerkraft überwinden wie eine Zeitfalte. Genau so habe ich mich gefühlt.
Hätte ich wissen müssen, dass Küsse im Regen nicht romantisch sind, sondern kalt und nass?
Wie hätte ich das wissen sollen?
Es kommt der Tag, an dem man anfängt, vor den Augen seines Freundes zu pinkeln und sich gegenseitig die Pickel auszudrücken. Und wenn man diese Grenze der Intimität einmal überschritten hat, ist es schwer, wieder dahinter zurückzukehren.
Dieser Tag ist für Theo und mich noch nicht gekommen. Ich schlafe ohne meine Wollsocken, ohne alles und lege am Morgen als Erstes Lipgloss auf. Wir wohnen nach wie vor in getrennten Wohnungen, obwohl wir beinahe jeden Abend zusammen verbringen. Ich möchte die Dinge langsam angehen lassen und sicherstellen, dass Henry nicht von zu vielen Veränderungen auf einmal überfordert wird. Das scheint er nicht zu sein. Doch ich weiß genau, dass eine Beziehung niemals funktionieren wird, wenn Kinder mit dem neuen Partner ihrer Eltern unglücklich sind. Zu viele Bindungen, die man ausbalancieren muss. Unter der Woche ist Theo bei mir, aber ich versuche, zumindest einen Abend nur mit Henry zu verbringen. Und da mein Exmann für seine neue Arbeitsstelle in eine andere Stadt gezogen ist, zwei Stunden entfernt, habe ich an den Wochenenden frei, wenn Henry bei ihm ist.
Nachdem Henry und Theo sich das erste Mal getroffen hatten, habe ich meinem Exmann erklärt, dass ich jemanden kennengelernt habe. Ich wollte fair sein. Wir sind eine Familie, sagte ich ihm. Und dass ich ihn liebe wie einen Bruder oder einen Freund. Selbst wenn wir kein Paar mehr sind, sind wir immer noch Henrys Eltern. Ich wollte mich außerdem nicht schuldig fühlen, und so machte ich meinen Ex mit der Freundin einer Freundin bekannt. Und es funktionierte, immerhin gehen die beiden seit sechs Monaten miteinander aus. Auf dem strahlenden Antlitz meiner neuen Beziehung sind keine Makel.
Meine Sorge, dass Henry sich abgeschoben fühlen könnte, ist unbegründet. Das Gegenteil ist der Fall. Theo und mein Sohn verstehen sich großartig. Er spielt mit ihm auf eine Weise, wie ich es nie könnte. Sie kuscheln im Bett miteinander, Henry sitzt auf seinem Schoß und lässt sich Donald-Duck-Comics vorlesen, wobei Theo seine Stimme verstellt. Und Theo kann auch Dialoge mit den Plastik-Dinos improvisieren, als wäre er mit einem Tyrannosaurus Rex aufgewachsen.
Ganz am Anfang unserer Beziehung, etwa nach einem Monat, bekam ich erst spät meine Tage. Es machte mich ein wenig nervös, aber ich war noch nie so gut darin, meinen Zyklus im Blick zu behalten, es hätte also auch sein können, dass ich mich im Datum geirrt hatte. Das war lange, bevor es Menstruations-Apps gab. Bevor es überhaupt Apps gab. Als ich meine Periode ein paar Tage später bekam, war ich erleichtert.
Aber Theo meinte nur: «Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen enttäuscht.»
Das überraschte mich. Wir hatten gerade erst eine Beziehung angefangen, und schon wollte er Kinder. Normalerweise bin ich es, die sich wünscht, dass die Beziehung verbindlicher werden soll. Wow, dieser Mann wollte Verantwortung übernehmen.
«Eines Tages werden wir ein Kind zusammen haben, aber noch nicht jetzt», sagte ich, erstaunt über meine eigene Kühnheit.
Seine Exfreundinnen konnten oder wollten aus dem einen oder anderen Grund nicht schwanger werden, zu alt, oder sie arbeiteten für Greenpeace – es gibt schon genug Kinder auf der Welt. Eine von ihnen, die ich sehr mochte, hatte gesundheitliche Probleme. Tatsächlich hatte ich fast alle seine Exfreundinnen kennengelernt, außer der letzten verrückten, Mimi Lu. Die schien einfach nur ein Drama auf zwei Beinen zu sein.
Also hörte ich auf, die Pille zu nehmen. Einerseits dachte ich, das ist zu schnell, aber der Gynäkologe versicherte mir, dass mein Körper ungefähr ein Jahr brauchen würde, um sich von der Einnahme der Pille zu erholen, und das klang schon vernünftiger.
Das erste Mal, als ich Theos Wohnung betrat, fiel mein Blick auf das Foto eines einäugigen Filmregisseurs mit einer Augenklappe über dem linken Auge, der mich anstarrte. Es war ein Schwarzweiß-Poster von John Ford. Als ich mich in der Wohnung umsah, stellte ich fest, dass Theos Bücherregal mit nur einer Schraube notdürftig an der Wand befestigt war, dass sich Hardcover, Taschenbücher und leere CD-Hüllen über den Boden verteilten. Aus Kaffeedosen quollen Unmengen von veralteten Münzen: Lire, Pesos, Deutsche Mark, Nickel und zerknüllte Dollarscheine.
Ich sagte zu ihm: «Ich weiß ja nicht, was aus uns werden wird, aber eins kann ich dir jetzt schon versichern, wir werden nie zusammenwohnen.»
Ich war nicht die Erste, die ihm das sagte. Mimi Lu war derselben Meinung gewesen, wie er mir lachend erzählte.
Tatsächlich hatte sie Theos Mischung aus Hypochondrie und Unordnung so komisch gefunden, dass sie ihm einen knallorangefarbenen Bademantel geschenkt hatte, auf dem Felix & Oscar aus Ein seltsames Paar stand. Theo trug ihn voller Stolz. Ich fand das Ganze nicht so lustig, und die Farbe hat mir, um ehrlich zu sein, nie gefallen.
Einige Wochen nach unserem Kennenlernen überließ Theo mir die Schlüssel zu seiner Wohnung, sodass ich dort meine Wäsche waschen oder ein Bad nehmen konnte, weil es in meiner Wohnung weder Badewanne noch Waschmaschine gab. Ich ließ mich ins Badewasser sinken, doch statt Musik zu hören beobachtete ich, wie die Persil-Megaperls, die oben auf der Waschmaschine achtlos verstreut lagen, während des letzten Schleudergangs die gesamte Oberseite der Maschine bedeckten. Die Maschine ruckelte laut, und Hunderte von Kügelchen voller Ultrafrische stoben in alle Richtungen auseinander, als wären sie voller Jetzt-stürze-ich-mich-in-den-Tod-Energie. Und gerade, als sie drohten, von der Klippe der Waschmaschine auf den Badezimmerfußboden zu fallen, ruckelte die Maschine ein letztes Mal, wurde langsamer und noch langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kam. Die Megaperls kullerten zurück auf ihren kuscheligen Platz in der Mitte. Genau so lebte Theo auch sein Leben, immer am Rand, aber nie wirklich abstürzend.
Das heißt, bis er krank wurde. Ich glaube, da begann sein Unglück. Er ist immer tiefer gerutscht. Aber das war nur der Anfang, es sollte alles noch viel schlimmer kommen.
Ich beschloss auf der Stelle, seine Wohnung zu putzen – hier zu wischen, dort aufzuräumen, frische Blumen in eine leere, grüne Weinflasche auf seinen Küchentisch zu dekorieren. Ich brachte sogar die sechzig leeren Bier- und Wasser-Pfandflaschen, die in der Küchenecke herumstanden, zum Supermarkt. Mit den zwölf Euro, die ich dafür erhielt, kaufte ich eine Flasche Rotwein. Himmel, was war ich gut. Ich konnte es kaum erwarten, dass Theo nach Hause kam und darüber staunte, was ich in nur ein paar Stunden zustande gebracht hatte. Ich hoffte, er würde mich dafür noch mehr lieben.
Aber das tat er nicht. Er sah sich um und war richtig sauer. Es war unser erster Streit. Keiner schrie, aber es war der erste Streit.
«Ich möchte, dass du mich liebst, aber nicht, dass du mich änderst», sagte er zu mir.
«Aber das ist meine Art zu lieben», entgegnete ich. «Ich will dich nicht ändern, ich wollte nur etwas Nettes für dich tun.»
«Das bin ich», meinte er und zeigte auf seinen Mantel, der an der Türklinke hing. «Ich möchte nicht, dass du meine Mutter bist. Oder meine Putzfrau. Ich möchte, dass du meine Geliebte und Freundin bist.»
Ich lachte, aber es war ein falsches Lachen. Ich kam mir blöd vor. Ich hatte das Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben. Dabei dachte ich, dass es in der Liebe genau darum geht, Grenzen zu überschreiten, und jetzt werde ich wieder zurückgejagt hinter meine Demarkationslinie.
Zwei Wochen später betrat ich seine Wohnung erneut, und sie war blitzsauber. Theo hatte sich eine polnische Putzfrau gesucht, die jede Woche für drei Stunden vorbeischaute. Er hatte die Botschaft verstanden, und ich liebte ihn jetzt sogar noch mehr. Dennoch musste ich grinsen, wenn ich Magda murmeln hörte: «Tsunami, Tsunami», während sie seine Kaffeebecher und die Zeitungen aufsammelte, die über seine ganze Wohnung verstreut waren.
Wenn ich an die «fünf Sprachen der Liebe» denke, wie sie der Paartherapeut Gary Chapman formuliert hat, die fünf Arten, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen, nämlich Anerkennung, Hilfsbereitschaft, Geschenke, Zweisamkeit und Zärtlichkeit, fällt es mir sehr schwer, mich zwischen Worten und Taten zu entscheiden. Meine erste Wahl wäre jedoch, mich für einen geliebten Menschen einzusetzen. Nach dem Putzfiasko (was ja eigentlich auch ein Erfolg war) wollte ich Theo etwas Gutes tun, weil sein erster Marathon bevorstand. Als ich ihn kennenlernte, ist er mindestens dreimal die Woche gelaufen. Diese Leidenschaft teilten wir. Ich bin auch immer viel gelaufen und hatte Bilder von uns im Kopf, wie wir zusammen am Strand joggen. Eines Tages werden wir zusammen einen Marathon laufen, dachte ich, wir werden einander ermuntern weiterzumachen und über unsere Grenzen zu gehen.
Theo wollte mit seinem älteren Bruder Frank, der jeden Monat mehrmals Langstrecken lief, am Berlin-Marathon teilnehmen. Seit seiner Scheidung hatte Frank seine Leidenschaft aufs Laufen verlegt und reparierte außerdem regelmäßig irgendwelche Dinge im gemeinsamen Elternhaus. Theo hingegen hatte Der Marathon-Mann mit Dustin Hoffman gesehen und sofort beschlossen, mit dem Laufen anzufangen. Das war der Unterschied zwischen den beiden. Frank besaß alle möglichen teuren Laufschuhe und Hightech-Laufkleidung und maß regelmäßig seine Laufzeit. Er nahm das überaus ernst. Theo jedoch streifte ein altes T-Shirt über, zog sein einziges Paar blauer Shorts an und rannte los.
Als der große Tag kam, fertigte ich Kopien von zehn berühmten Filmstills aus Der Marathon-Mann an und trommelte acht Freunde zusammen, damit alle paar Kilometer jemand mit einer ausgedruckten Filmszene am Straßenrand stand. Ich hatte sogar einen Freund mit einem Still der berühmten «Sind sie außer Gefahr»-Zahnarzt-Szene bei Kilometer dreißig postiert. Diese Stelle kennt man in der Läufer-Szene als «die Wand», weil an diesem Punkt die Kräfte der Läufer einbrechen, das Atmen mühsam wird und sich negative Gedanken einstellen. Ich stand am Start und dann wieder am Zieleinlauf und hielt Szenenbilder von Abebe Bikila hoch, dem äthiopischen Marathonläufer, der berühmt dafür war, barfuß zu laufen, und mit dessen dokumentarischen Bildern der Film beginnt. Später starb er, erst einundvierzig Jahre alt, einen tragischen Tod. Seit einem Autounfall war er gelähmt gewesen.
Theo liebte mich durch Worte und Berührungen – die beiden Dinge, die er später verlor.
«Mein Mädchen aus Amerika, sie ist ganz wahr so wunderbar», hat er immer gesungen, was ich mir so übersetzte, dass sein Mädchen aus Amerika wirklich fuckin’ aufregend ist und er sie liebt, liebt, liebt (mehr oder weniger).
Eines Tages beklagte ich mich: «Du schenkst mir nie etwas oder bringst mir Blumen mit oder so.»
«Ich bin doch hier», sagte er dann und wedelte mit beiden Händen.
Ich lachte. Er kriegte mich jedes Mal wieder rum.
Oder er sagte: «Und was ist mit den Eiern? Ich mache die besten Rühreier in ganz Berlin.»
Sie waren wirklich sehr gut.
«Aber die isst du doch auch selbst», meinte ich daraufhin, wir küssten uns, und das war das Ende dieses Lieds.
Und dann der eine Abend nach meiner Schicht in der Bar. Es war spät, ich fuhr mit dem Rad zu seiner Wohnung. Seit meiner Scheidung arbeitete ich wieder im Tempodrom, dem legendären Veranstaltungsort in einem Zirkuszelt, gegründet von einer Krankenschwester, die eine Million von ihrem Vater geerbt hatte. Eigentlich wollte ich zu dieser Zeit Dokumentarfilmerin werden, aber die Arbeit im Tempodrom war eine gute Möglichkeit, schnelles Geld bei flexibler Arbeitszeit zu verdienen. Das war mir wichtig, besonders in Hinblick auf Henry. Ich arbeitete am Grill oder hinter der Bar für bis zu zweitausend Gäste pro Abend. Meine Schichten bestanden aus Bob Dylan, Björk, The Cure, Nina Hagen, Würstchen, Hefeweizen und Limetten mit braunem Zucker für Caipirinhas.
Es war spät, als ich an diesem besagten Abend zu Hause eintraf, und schließlich tranken wir Gin Tonic in der Küche und redeten über seine letzte Freundin Mimi Lu, Halbkoreanerin und Halbfinnin, Maskenbildnerin und Kneipenbesitzerin. Theo erzählte mir, dass er, während er mit ihr zusammen war, die Diagnose Hashimoto erhalten hatte, eine Schilddrüsenkrankheit, die zu einer hyperaktiven Schilddrüse, Schlafstörungen und dem ständigen Wunsch nach Sex führt. Er erklärte, dass er und Mimi Lu bei dem Kurzfilm, den er gerade drehte, zusammenarbeiten würden.
Der zweite Gin Tonic hatte mir Schwung verliehen, und ich platzte heraus: «Ich verstehe nicht, warum du nicht mit jemand anderem zusammenarbeiten kannst.»
«Mach dir keine Gedanken, zwischen uns ist es aus.»
«Ich habe nicht gesagt, dass ich mir Sorgen mache. Ich finde es nur seltsam.»
«Ich will nicht zu ihr zurück, sie hat mich beinahe zerstört.»
«Ich will keine Mimi-Lu-Geschichten mehr darüber hören, wie sie dich fast zerstört hat.»