Es waren Habichte in der Luft - Siegfried Lenz - E-Book

Es waren Habichte in der Luft E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

In Siegfried Lenz' erstem Roman geht es um die Existenz des Bösen, das die Formen menschlichen Zusammenlebens mit furchtbarer Konsequenz zerstört. Nach dem Ersten Weltkrieg wird der finnische Dorfschullehrer Stenka von der Revolutionsregierung verfolgt. Er versucht, in die Anonymität des Untergrunds abzutauchen, aber schließlich wird er wenige Schritte vor der rettenden Grenze zur Strecke gebracht. Bewahrheitet hat sich das Urteil der "Welt": "Siegfried Lenz, der Fünfundzwanzigjährige, ist mit einem Elan über die Anfangsrunde gegangen, daß man wegen seiner Reserven nicht bange zu sein braucht." Diese E-Book-Ausgabe von "Es waren Habichte in der Luft" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.

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Siegfried Lenz

Es waren Habichte in der Luft

Roman

Literatur

Hoffmann und Campe Verlag

Für meine Frau

Erstes KapitelIrreführung

Es waren Habichte in der Luft.

Roskow bemerkte sie nicht; er stand am Fenster seines Gasthauses und beobachtete ein Sperlingsweibchen, das über das Geländer der Holzbrücke flog, hart am Wasser des engen, energischen Baches entlangsegelte, plötzlich aber kehrtmachte und sich in unvermuteter Entscheidung auf einen häßlichen, verrunzelten Stein am Rand des Baches niederließ.

Der Vogel hat gewiß Durst, dachte Roskow.

Er irrte sich. Der Vogel tauchte seinen harmlosen Schnabel nicht ein einziges Mal ins Wasser. Der Vogel bewegte seinen kleinen, leichten Kopf, als ob er jemand erwartete. Roskow blieb am Fenster stehen. Er ließ sich die Sonne, die uralte Sonne, auf seine Bartflechte und auf sein schwarzes Haar scheinen und wartete. Da kam, auch über das Geländer der Holzbrücke, ein Sperlingsmännchen angeflogen. Während des Fluges, vielleicht aber auch schon früher, hatte es das Sperlingsweibchen auf dem verrunzelten Stein entdeckt. Die beiden Tiere stürzten aufeinander los, bissen sich, schlugen mit den Flügeln, zitterten wie in großer Erwartung und flogen plötzlich davon, jedes in eine andere Richtung.

So, so, dachte Roskow. Es ging ihn eigentlich nichts an, aber er ärgerte sich, daß die Vögel auseinanderflogen, als ob gar nichts geschehen wäre. Roskow murmelte halblaut: »Mir scheint, die Vögel haben ein schlechtes Gedächtnis. Außerdem sind sie gewissenlos.«

»Das stimmt«, sagte da jemand unter seinem Fenster, »das stimmt haargenau.«

Roskow beugte sich über die Fensterbrüstung. Er bemerkte einen schmalbrüstigen, kleinen Mann in einem sehr zerschlissenen russischen Kittel. Er trug einen Pappkarton in der Hand und lächelte zu Roskow hinauf. Er lächelte oder grinste. Roskow konnte das nicht genau erkennen.

»Hast du auch die Vögel beobachtet?«

»Ja«, sagte der Mann mit dem Pappkarton.

»Und?«

»Sie haben kleine Köpfe.«

»Hm. – Was machst du hier?«

»Ich suche jemand.«

»Bist du schon einmal hier in Pekö gewesen?«

»Ja, vor einigen Jahren.«

»Und wen suchst du?«

»Matowski.«

»Matowski?«

»Ja.«

»Meinst du den vom Blumenladen?«

»Ja.«

Roskow sah die Straße hinauf und hinunter, als ob er sich, bevor er weitersprechen konnte, vergewissern müßte, daß kein anderes Ohr in der Nähe war. Dann sagte er, etwas leiser: »Den Matowski wirst du nicht finden. Den haben sie erschossen, er ist tot. Er soll der neuen Regierung schwer zu schaffen gemacht haben.«

Der Mann stellte seinen Pappkarton auf die kleine Bank vor Roskows Gasthaus. Sein Gesicht verzog sich für einen Augenblick. Er richtete seine schrägstehenden, schwarzen Augen auf den verrunzelten Stein am Bach. Roskow beachtete ihn nicht weiter. Er blickte zu den mächtigen Kiefern hinüber und schwieg.

Nach einer Weile sagte der Mann im Russenkittel:

»Da sind Habichte in der Luft.«

Roskow erschrak etwas.

»Wo?« fragte er.

»Über den Kiefern. Aber sehr hoch. Habichte haben größere Köpfe.«

»Vier Habichte«, sagte Roskow, als er die Vögel entdeckte, die in scheinbarer Gelassenheit mit kaum zu erkennendem Strich über den Kiefern schwebten.

Der Mann im Russenkittel ergriff den Pappkarton und ging. Er ging auf die Holzbrücke und blieb am Geländer stehen. Roskow beobachtete die Habichte. Der Fremde ließ den Karton auf der Brücke liegen und kletterte die steile, zerrissene Böschung zum Bach hinunter. Er streckte ein Bein aus und berührte mit der Fußspitze den häßlichen Stein. Der Stein bewegte sich nicht. Da vertraute er ihm sein Körpergewicht an und beugte sich hinab. Mit einer Hand schöpfte er Wasser aus dem Bach und trank.

Roskow beobachtete noch immer die Habichte.

Als der Mann seinen Durst gelöscht hatte, kletterte er die Böschung wieder hinauf, ergriff den Karton und kam zum Gasthaus zurück.

»Wann wurde Matowski erschossen?« fragte er leise.

»Es ist schon etwas länger her.«

Roskow betupfte mit einem weichen Tuch seine Bartflechte und benutzte dabei das Fensterglas als Spiegel. Er sagte, ohne den Mann anzusehen:

»Wie heißt du eigentlich?«

»Stenka.«

»So. Bist du Russe?«

»Ja, ich lebe aber schon vierzehn Jahre in Finnland. Ich arbeitete zuletzt in der Sägemühle.«

»Und was willst du von Matowski?«

Der Mann stellte den Pappkarton auf die kleine Bank. Er legte seinen Kopf weit zurück – fast wie Störche es tun – und schaute zu Roskow empor. Mit der Hand machte er eine merkwürdige Bewegung nach Osten. Dann sagte er:

»Ich habe einen Garten zu Hause, in Rußland, vielleicht 10000 Werst von hier entfernt. Da blühen jetzt die Natternköpfe und die Schweiflilien. Seit sechs Jahren will ich nach Hause fahren. Ich hatte mir Geld gespart bei meiner Arbeit in der Sägemühle. Aber wenn ich glaubte, es sei genug …«

»Dann hast du es vertrunken«, rief Roskow von seinem Fenster herab.

Der Mann sah auf seine Fußspitzen, seine Schultern zuckten. Roskow glaubte, er weine.

»Ich wollte nicht alles vertrinken.«

»So. Aber was willst du von Matowski?«

Stenka schob die Antwort etwas hinaus. Erst nach einer Weile sagte er: »Matowski schuldet mir noch etwas. Ich habe früher Blumenkästen für ihn gemacht. Er wollte mir die Arbeit schon damals bezahlen, aber ich dachte, daß es ganz gut sei, ein kleines Konto in der Welt zu haben. So bat ich ihn, mir das Geld schuldig zu bleiben.«

»Wolltest du das Geld heute verlangen?« fragte Roskow und ließ das Tuch, mit dem er die Bartflechte betupft hatte, in der Tasche verschwinden.

»Nein, ich wollte kein Geld von ihm verlangen. Ich wollte ihn nur um einige Blumen bitten, um einige Natternköpfe.«

»Hm. – Matowski wurde erschossen.«

In diesem Augenblick flog wieder das Sperlingsweibchen über das Geländer der Holzbrücke.

»Da, paß mal auf«, sagte Roskow.

Beide Männer blickten auf den häßlichen, verrunzelten Stein am Rande des Baches. Diesmal tauchte der Vogel seinen Schnabel ins Wasser und trank.

Irgendwo wurde eine Trommel geschlagen. Der Vogel flog fort. Roskow hob langsam seinen Kopf und wartete, daß sich der Trommelschlag wiederhole. Es blieb aber still.

»Was war das?« fragte Stenka.

Roskow antwortete ihm nicht, sondern machte mit der Hand ein Zeichen, daß der Russe zu ihm hereinkommen sollte. Als sie an einem braunen, breitrückigen Tisch saßen, nahm der Gastwirt eine Schnapsflasche mit grünem Etikett von einem Regal, stellte zwei gleich große Gläser vor sich hin und füllte sie. »Hier«, sagte er und schob Stenka ein Glas hin, »trink etwas. Dafür brauchst du mir nichts zu geben.«

Beide Männer reckten den Hals, legten den Kopf zurück und tranken. Nachdem der Gastwirt einen Augenblick aus dem Fenster gesehen hatte, sagte er, weit über die Tischplatte gebeugt: »Die Volksmiliz hat sicher wieder etwas vor. Vorgestern nacht wurden fast alle Lehrer verhaftet. Die neue Regierung räumt mächtig auf. Heute morgen waren bereits die ersten Prozesse. Man sagt, daß Kinder als Hauptzeugen aufgetreten seien.«

Stenka sah unbeweglich auf den Erzählenden. Die Finger der linken Hand hatte er unter der Schnur des Pappkartons eingeklemmt. Roskow stellte die Flasche wieder in das Regal, zog das weiche Tuch aus der Tasche und betupfte seine Bartflechte.

Unter dem Tuch hervor schlichen sich seine Worte: »Kinder haben gegen ihre Lehrer ausgesagt. Es sollen die dümmsten gewesen sein, die mit den einfachsten Zahlen und Worten nicht fertig werden. Sie sollen sich an ihren Lehrern für die Prügel gerächt haben, die sie wegen ihrer Dummheit und Faulheit empfangen hatten. Das hängt wohl auch mit der neuen Aufklärung zusammen.«

Roskow hatte diese letzten Worte sehr leise gesprochen. Der Russe konnte sie nicht richtig verstehen und fragte: »Aufklärung?«

»Die Aufklärung der Kinder«, antwortete Roskow, »die von der Regierung betrieben wird. Die Kinder sollen achtgeben auf ihre Lehrer, damit diese keine abgestandenen, gefährlichen Dinge lehren. – Sag mal, du hast in einem Sägewerk gearbeitet?« Stenka zuckte zusammen. »Ja«, sagte er, etwas betroffen, »was soll das denn? Warum fragst du mich das?«

Roskow lachte, als er merkte, daß der Mann bei seiner Frage erschrak.

»Du hast Hände, die viel eher einem Lehrer gehören könnten als einem Holzarbeiter. Ein Holzarbeiter kann mit seinen Händen fast diesen Tisch hier zudecken. Hast Du überhaupt Schwielen? Es laufen heutzutage viele in Finnland herum, die von der Volksmiliz gesucht werden.«

»Ich habe zwei Jahre an der Kreissäge gearbeitet. Später mußte ich in der Verwaltung des Sägewerks die Löhne ausrechnen«, antwortete Stenka ruhig.

»Hm«, machte Roskow und hob das weiche Tuch vom Boden auf, das ihm heruntergefallen war, als er es in die Tasche stecken wollte. »Kannst du denn gut rechnen? Ich will dich nicht ausfragen. Du kannst beruhigt sein. Aber vielleicht kann ich dir eine gutbezahlte Stelle verschaffen. Das heißt, der Mann, der dich beschäftigen soll, ist fett und geizig. Du mußt daher viel verlangen. Er wird dich zweimal hinauswerfen. Tue dann so, als ob du gehen wolltest. Dann wird er dich zurückrufen. Er braucht jemanden, der gut rechnen kann. Dann kannst du dir einen besseren Rock kaufen und zu deinen Schweiflilien fahren. In einem Sägewerk kann man doch nichts verdienen.« Roskow stand auf und ging an das Fenster. Er sah lange zu den mächtigen Kiefern hinüber, dann drehte er sich plötzlich um, so daß der Russe zusammenfuhr, und fragte mit hochgezogenen Brauen:

»Na, was sagst du zu meinem Vorschlag?«

Stenka ließ die Schnur des Pappkartons los. Wenn er nicht einginge auf diesen Vorschlag, oder wenn er nicht zumindest bereit wäre, ihn zu prüfen, würde er den Gastwirt noch mißtrauischer machen. Er konnte sich nur nicht erklären, warum Roskow ihm solch ein Wohlwollen entgegenbrachte.

»Einverstanden?« fragte Roskow wiederum.

»Ja«, sagte Stenka, »ja. Aber – was soll ich tun? Wer ist mein Chef? Wo wohnt er?«

»Er wohnt ganz in meiner Nähe. Er ist geizig und fett. Du kannst Leo zu ihm sagen, so nennen wir ihn alle. Als Matowski erschossen wurde, erwarb Leo das Blumengeschäft. Er hatte noch nie etwas mit Blumen zu tun gehabt, aber vielleicht kannst du ihm behilflich sein, damit er etwas besser zurechtkommt. Du hast doch selber zu Hause Schweiflilien und diese – Natternköpfe, wie du sagtest. Leo besitzt das einzige Blumengeschäft in Pekö. Es läßt sich also etwas machen; es gibt wenig Blumen in Finnland. Nur, wie gesagt, er ist geizig und fett.«

Der Russe erhob sich und sah an Roskow vorbei auf das grüne Etikett der Schnapsflasche. Er wollte sagen, daß ihm die Entscheidung, für die nächste Zeit in Pekö zu bleiben, nicht ganz leicht falle und er sich daher einige Bedenkzeit ausbitten müsse. Was seinen Besitz angehe, so brauche er natürlich keine Sekunde, um sich zu besinnen, denn sein ganzes Eigentum habe er, sogar bequem, in dem Pappkarton unterbringen können. Er überlegte sich, wie er das Roskow beibringen könnte, als die Tür des Schankraumes aufgestoßen wurde und ein junger, untersetzter, rothaariger Mann eintrat. Ohne Stenka eines Blickes zu würdigen, ging er auf Roskow zu, reichte diesem wortlos die Hand und deutete mit dem Gesicht auf eine Flasche. Roskow zog die bezeichnete Flasche aus dem Regal und goß ein Glas voll. Der Rothaarige trank aus und sah sich um. Er streifte Stenka mit einem flüchtigen Blick aus braunen Augen, wandte sich dann wieder an Roskow und fragte, mit dem Daumen nach hinten deutend: »Wer ist denn das? Kennst du ihn?«

Roskow fuhr auf und sagte laut: »Es ist gut, Erkki, daß du gerade jetzt gekommen bist. Das ist ein Russe, der sehr viel von Blumen versteht. Er zieht selber zu Hause Natternköpfe. Bisher hat er die Löhne in einem Sägewerk ausgerechnet. Er kann aber auch Blumenkästen anfertigen und Beete anlegen. Ich dachte, diesen Mann kann Leo gebrauchen.«

Der Russe erhob sich und ging mit kleinen Schritten auf die Männer zu.

»Selbstverständlich bin ich einverstanden«, sagte er und nahm Erkkis Hand. Roskow lächelte. Die Sonne stieg durch das Fenster und setzte sich auf die Schnapsflaschen. Die Sonne war fast überall: sie schien zu gleicher Zeit in Leos Blumenladen und auf Roskows Bartflechte, sie spazierte über den Marktplatz von Pekö, am Gefängnis vorüber, wo die Lehrer eingesperrt waren, sie zwängte sich in die frisch getünchten Wachstuben hinein und unterbrach den Schlaf eines Korporals der Volksmiliz. Sie klemmte sich in die Visiere der Gewehre, sprang über Gräber, über neue und alte, und das alles unhörbar, geräuschlos, scheinbar ein wenig neugierig, aber harmlos, verspielt, und wie in bester Laune.

»Also«, sagte Roskow und legte seine Arme den Männern auf die Schulter, »du nimmst Stenka mit, Erkki.« Stenka anblickend fügte er als Erklärung hinzu: »Erkki arbeitet schon eine gewisse Zeit bei Leo. Er kann dich deshalb gleich hinführen.« »Leo ist im Augenblick nicht zu Hause«, meinte Erkki. »Er wollte zum Bürgermeister. Er sagte, er habe einiges mit ihm zu besprechen. Ich weiß aber nicht, was sie zu besprechen haben.« Anscheinend wollte Roskow nun mit einem Male die beiden loswerden. Er schob sie zur Tür und reichte dem Russen seinen Pappkarton.

»Der Karton ist sehr leicht. Ist das alles, was du besitzt? Na, bleibe bei dem, was ich dir vorhin sagte, dann wirst du bald einen neuen Rock haben und deine Blumen besuchen können. Ich muß jetzt noch einige Briefe schreiben. Ihr entschuldigt mich doch, nicht wahr? Übrigens ist es auch schon Zeit, zu schließen. Wir sehen uns bald wieder, bestimmt, bestimmt.«

Stenka und Erkki standen auf der Straße und hörten, wie die Tür hinter ihnen verschlossen wurde.

Erkki blickte vorsichtig von der Seite auf Stenka. Ihm kam das Gesicht mit den schrägstehenden Augen bekannt vor. Er glaubte, diesem Mann vor langer Zeit begegnet zu sein, aber er wußte nicht, wann. Hastig forschte er in seinen Erinnerungen, doch das Gedächtnis ließ ihn im Stich. ›Vielleicht irre ich mich auch‹ – dachte er, ›vielleicht lasse ich mich durch die Ähnlichkeit dieses Mannes mit dem, den ich meine, täuschen.‹ Aber als Stenka ihn ruhig anblickte und ihn fragte, was nun zu tun sei, und als er dabei sein Ohrläppchen zwischen die Finger nahm, da hatte Erkki die Gewißheit, daß er sich nicht getäuscht hatte. Wenn das Gedächtnis nur funktionieren wollte!

Ein Schuß zerriß den Abend. »Was war das?« fragte Stenka. »Nichts Besonderes. Es wird viel geschossen. Ich glaube, es ist das beste, wenn wir zu mir gehen.« Erkki streckte seine kurzen, dicken Finger nach dem Pappkarton aus, um seinem Begleiter die Bürde abzunehmen. Dieser schüttelte den Kopf.

»Nein, danke, da ist nicht viel drin. Ein Hemd und ein paar Kleinigkeiten. Das ist zusammen nicht einmal so schwer wie ein Habicht. Wohnst du mit Leo in einem Haus?«

»Ja.«

»Wohnt ihr zusammen?«

»Nein. Ich habe nur einen kleinen Raum für mich. Wenn man am Fenster steht, kann man in den Garten sehen. Im Sommer ist es wunderbar. – Du willst bei uns anfangen?«

»Ja.«

»Das ist gut. Arbeit haben wir fast zuviel.«

Sie gingen über den leeren Marktplatz. Vor dem Gefängnis standen in Gruppen Kinder herum, die auf die kleinen, vergitterten Fenster zeigten und lachten. Ein blonder Halbwüchsiger ging mit ausgestopfter Brust, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Gruppen herum und stellte jäh an Einzelne – nach Art der Lehrer – Fragen. Wenn die Antwort nicht sofort erfolgte, zielte er auf den Befragten mit dem Zeigefinger und rief etwas, woraufhin alle Kinder in Lachen und Schreien ausbrachen und dann zu den kleinen Fenstern hinübersahen, in der Hoffnung, man habe diesen Spaß verstanden.

Der Angehörige der Volksmiliz vor dem Eingang trug sein Gewehr mit dem Lauf nach unten. Bei jedem Atemzug knarrte sein breiter, lederner Hüftriemen. Mittags, während seiner ersten Wache, hatte er über das Treiben gelacht. Jetzt beachtete er sie kaum. Es waren immer die gleichen Witze.

Ein einsamer Lastwagen rumpelte über den Marktplatz und hielt vor dem Gefängnistor. Der Posten drückte auf einen an der Mauer angebrachten Klingelknopf, und ganz von ferne hörte man das metallische Gerassel des elektrischen Klöpfels, einen hämmernden, warnenden Aufschrei. Zwei Männer mit breiten, schmutzigen Lederschürzen erschienen und öffneten die Flanke des Autos. Sie luden sich riesige, frische Fleischstücke auf die Schultern und trugen sie ins Gefängnis: halbe Schweine, Ochsenschenkel, blutige Bauchlappen und Rippen. Der warme Geruch des Fleisches stieg in die Luft und breitete sich allmählich aus.

Die Sonne verbarg sich immer mehr hinter den Kiefern. Ein junger, frohgemuter, lyrischer Frühling lag über Finnland, der mit nordischer Plötzlichkeit dahergekommen war und sich zu einem lauen Tyrannen aufgeworfen hatte über milchweiße Schenkel und Brüste, über verschlossene Herzen, über sprachlose Blumen und Gräser, zum Tyrannen vornehmlich auch über die jungen Männer und Mädchen und die klopfenden, atemlosen Leidenschaften des Fleisches und des Geistes. Die Fröste, die das Blut dick machen, waren verjagt. Der Sprungfreudige hatte ihnen sehr zugesetzt: der Frühling hatte den Frösten die Peitschen entwunden, mit denen sie das Fleisch zügeln.

Erkki führte seinen Begleiter zu einem zweistöckigen, trübselig dreinschauenden Haus. Auf der rechten Seite vor dem Eingang befand sich ein Schaufenster und dahinter standen in Tontöpfen und Metallkübeln, seltsam angeordnet, zum Teil gesunde, zum Teil aber auch sehr angekränkelte Blumen: Waldtulpen mit unvollständigen Hüllen, behäbige, feiste Trollblumen, Leberblümchen, Schwertlilien, die aus dem Regenbogen entsprungen sein sollen, gezähnter Klatschmohn, große Blüten der Pfingstrose, deren Wert eine chinesische Chronik mit »Hundert Unzen puren Goldes« angibt, und dann und wann erblickte man den pfeilförmig-erotischen Aronstab.

Mit unheimlich knarrendem Geschrei flogen große Vögel über den Marktplatz, den Kiefern zu.

»Komm«, sagte Erkki, »wir wollen hinaufgehen. Wir werden uns das Zimmer teilen müssen, denn es gibt keine andere Möglichkeit, dich hier unterzubringen. Leo wird hoffentlich bald zurückkommen, der elende Geizhals.«

Sie betraten einen unebenen, mit rotgebrannten Steinen ausgelegten Flur. Es roch hier sehr merkwürdig; das Alter des Hauses, die Blumen, ein grünlicher Spiegel und die weiche, schwarze Topferde schienen sich im Geruch zusammenzufinden. Eine ächzende Treppe führte hinauf in das obere Stockwerk. Irgendwoher kam sogar auf unerklärliche Weise etwas Licht, das dem Auge half, einen Weg zu finden.

»Halte dich am Geländer fest«, sagte Erkki und stieg dann selber rasch die Treppe hinauf. Als sie oben standen, rief plötzlich eine Frauenstimme:

»Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Ich bin gleich da. Nur einen Augenblick. Ich komme ja schon. So.«

Eine Frau in mittleren Jahren mit breiten, fetten Hüften und nackten Knöcheln stand vor ihnen. Sie trug einen ärmellosen Kattunkittel, der – wie man bemerken konnte – in Eile über den Körper gezogen war. Ihre Füße steckten in ausgetretenen Pantoffeln.

»Ach, du bist es, Erkki«, gurrte sie. »Ich wollte gerade zu Bett gehen.« Sie schob ihren Leib vor und strich sich das Haar nach hinten. »Du hast ja jemanden mitgebracht?«

»Ja«, sagte Erkki, »das ist …«

»Ich heiße Stenka«, sagte der Mann mit dem Pappkarton. Erkki hatte das Gefühl, daß sein Begleiter log. Sein Gedächtnis begann wieder zu arbeiten, aber er konnte nicht herausfinden, wann er diesem Mann bereits begegnet war.

»Ist das dein Freund?« fragte die Frau.

»Wenn du willst, ja. Er wird uns außerdem bei der Arbeit helfen. Er versteht etwas von Blumen.«

»Hat er schon mit Leo gesprochen?«

Erkki antwortete der Frau nicht mehr, er hatte die Tür zu seinem Raum geöffnet und zog den Russen am Ärmel zu sich herein. Der Raum war fast kahl. Auf einem nur zur Hälfte in die Wand eingeschlagenen riesigen Nagel lehnte ein Spiegelscherben. An der Innenseite der Tür hing offenbar Erkkis Arbeitszeug, eine zerrissene Hose und eine in den Nähten geplatzte und an manchen Stellen glänzende Jacke. Unter dem Fenster stand ein aus Kisten zusammengenageltes Bett, am Fußende ein kleiner Klapptisch mit eisernem Gestell. Eine umgekippte Kiste diente als Sitzgelegenheit, eine andere als Waschtisch.

Stenka wollte etwas sagen, aber Erkki deutete ihm durch ein Zeichen an, vorläufig nicht zu sprechen. Leise, so daß der Russe Mühe hatte, ihn zu verstehen, erklärte er:

»Puh, dieses verdammte Weib! Immer wenn ich an ihrer Tür vorüberkomme, fragt sie: Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Und dann taucht sie in ihrem sparsamen Kittel auf und kichert: Ach, du bist es. Ich wollte gerade zu Bett. – Ich habe sie eigentlich nur in Erinnerung, daß sie gerade ins Bett will, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie ist Witwe. Früher einmal war sie Leos Geliebte. Jetzt duldet er sie nur noch. Puh! Sie hat es schon seit langem auf mich abgesehen. – Denkste! – Sie wird es auch bei dir versuchen. – Na, deinen Karton können wir einstweilen da unter den Tisch stellen.«

Erkki setzte sich auf das Bett und zog die Knie an. Stenka nahm ein Ohrläppchen zwischen seine Finger, die schrägstehenden Augen blickten über den Garten. Er wagte nicht, seinen neuen Gefährten nach Matowski zu fragen, dem dieser Garten einst gehört hatte. Er war froh, einen Menschen wie Erkki gefunden zu haben, der ihm freimütig Aufklärung gab über alles, was er noch nicht einmal zu wissen begehrte, und der es sich offenbar angelegen sein ließ, den zukünftigen Arbeitskollegen in jeder Hinsicht ins Vertrauen zu ziehen.

»Bist du eigentlich verheiratet?« fragte Erkki nach einer Weile.

»Nein, warum fragst du mich danach?«

»Ich dachte, du könntest mir etwas über die Frauen erzählen. Ich kenne nämlich ein Mädchen, weißt du: fleißig, ernst, braune Augen …«

»Wann beginnt ihr am Morgen mit der Gartenarbeit?« unterbrach ihn Stenka.

»Sehr früh. Zu früh vielleicht. Um fünf. Es kann dir passieren, daß du einen schönen Traum hast, daß du mit einem Mädchen irgendwo allein bist – und wenn du vielleicht gerade die Hände nach ihr ausstreckst –, dann rütteln dich riesengroße Finger an der Schulter, rütteln, daß du meinst, alle Knochen würden dir brechen, und dazu schreit dir eine Stimme ins Ohr: Raus, du Angorabulle, wie lange willst du noch schlafen?! Ausgebrummt, alte Nähmaschine! – Weißt du, wer so schreit?«

»Nein.«

»Leo, der alte Geizhals. – Aber, ich kenne ein Mädchen, weißt du, fleißig, ernst, lange glatte Beine. Es war ein prächtiges Mädchen, als wir noch die alte Regierung hatten. Wir wollten damals heiraten. Nun haben wir einen neuen Bürgermeister …«

»Wie heißt der neue Bürgermeister?«

»Wir nennen ihn den Grauen. Wir nennen ihn so, weil er ständig eine graue Hose und eine graue Jacke trägt, und weil sein glattrasierter Schädel grau aussieht.«

»Hm. Arbeitet das Mädchen jetzt für die neue Regierung?«

»Ja. Man hat ihr etwas in den Kopf gesetzt. Seitdem lebt sie nur noch ihrer Arbeit und einigen sonderbaren Ideen. Ich kann damit nicht konkurrieren. Ich habe sie sehr lieb, ja, wir wollten heiraten. Alles war bereits besprochen.« Erkkis Stimme wurde immer leiser. Er dachte an das Mädchen, stellte sich vor, wie sie an der Schreibmaschine saß, ernst und fleißig, übermüdet, den weißen Nacken herabgebeugt.

Der Russe setzte sich auf eine Kiste, beide Männer schwiegen. Lautlos zwängte sich die Dämmerung durch das Fenster. Der Spiegelscherben auf dem nur zur Hälfte eingeschlagenen Nagel erblindete. Draußen war es still und warm. Nebenan weinte die Witwe. Ihr heiseres, feuchtes Heulen erstickte regelmäßig für einen Augenblick – wahrscheinlich biß sie in ihre Bettdecke – und drang dann wieder durch die dünne Seitenwand.

Da hörten die Männer weithin hallende Schritte, Schritte, die von einem Riesen herrühren konnten. Jemand kam über den Marktplatz.

»Das ist Leo«, sagte Erkki halblaut und erhob sich von seinem Bett.

Wenige Sekunden später wurde unten die Tür aufgerissen. Stenkas Blut überfiel ein Schauer. Er glaubte jetzt schon den mächtigen Atem des Mannes spüren zu können, für den er arbeiten wollte. Dieser Atem erfüllte das ganze Haus. Das heisere Heulen der Witwe erstarb plötzlich und war nicht mehr zu hören. Erkki ging langsam zur Tür, als ob er darauf wartete, hinuntergerufen zu werden. Auch Stenka erhob sich und zog seinen Karton unter dem Tisch hervor, um ihn zur Hand zu haben. Da erklang auch schon eine Stimme, die so viel Gewalt hatte, daß sich die Türen fast von selber öffneten. Es war nur ein einziger Schrei, dazu ausreichend, einem Menschen den letzten Fetzen Boden unter den Sohlen fortzuziehen:

»E-r-k-k-i!«

Der Gerufene riß die Tür auf und sprang die ächzende Treppe hinunter. Am Treppenabsatz stand Leo: an die zwei Meter hoch, fett, kleine, gerötete Augen, die immer in Bewegung waren, tellergroße, fleischige Hände, dicke Lippen, schlecht rasiertes Doppelkinn und geöltes Haar. Er trug riesige Schuhe – Roskow sagte dazu Kindersärge –, weite, braunkarierte Hosen und eine nach innen gekehrte Pelzjacke.

Da Leo mit seinem Körper den Zugang zum Flur versperrte, blieb Erkki dicht vor ihm auf der Treppe stehen.

»Na, du Beuteltier«, sagte Leo (er liebte zoologische Vergleiche), »hast du die Hyazinthen hineingetragen?«

»Ja«, antwortete Erkki.

»Hast du ihnen frisches Wasser gegeben?«

»Ja.«

»Gut, lassen wir das. Warum solltest du nicht die Wahrheit sagen. – Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Er will heute nacht an den Booten arbeiten … unten … am See … Du wirst auch hingehen … um ihm zu helfen natürlich. Du wirst Werkzeug mitnehmen: Messer, Bohrer, Hammer … Gut, lassen wir das. Etwas Neues?«

»Ja.«

»Wieso?« fragte Leo und verlagerte das Gewicht seines Körpers von einem Bein auf das andere. Erkki versuchte, den kleinen, geröteten Augen auszuweichen; er stützte sich auf das Treppengeländer.

»Da ist jemand, der viel von Blumen versteht. Er zieht selber zu Hause Natternköpfe. Er will bei uns arbeiten. Bisher hat er die Löhne in einem Sägewerk ausgerechnet.«

»Können wir brauchen … Wo ist er … was will er haben?« In diesem Augenblick trat Stenka, der das Gespräch mit angehört hatte, aus Erkkis Zimmer und stieg langsam, den Pappkarton in der Hand, die Treppe hinunter.

Leo trat einen Schritt zur Seite, um dem Fremden den Weg auf den Gang frei zu machen. Er sagte zu Erkki:

»Du kannst das Werkzeug zusammensuchen … Du mußt dich beeilen …«, und zu Stenka gewandt:

»Komm in den Laden.«

Der Russe folgte ihm schweigend. Leo zündete eine Kerze an und befestigte sie mit ihrem eigenen Wachs auf einer Tischdecke. Die Blumen warfen sonderbare Schatten an die Wand. Stenka betrachtete sie lange.

»Also«, sagte Leo mit seiner mächtigen Stimme, »du willst bei uns arbeiten? Wir brauchen einen Mann, der etwas von Blumen versteht und rechnen kann. Aber lassen wir das. – Blumen sind empfindlich wie kleine Vögel oder wie junge Mädchen. Man kann sie im Vorübergehen knicken. Oh, so eine Handvoll Blumenfleisch!«

Leo griff mit seiner riesigen Hand nach einer Waldtulpe, riß ihr den Kopf ab, preßte diesen auf die dicke Oberlippe und schloß die Augen.

»Die sind immer nackt«, röchelte er, »nackt und betäubend. Da möchte man krepieren vor Wonne, einfach umfallen und liegenbleiben. Oh, diese duftenden Biester. Allen möchte ich die Köpfe abreißen, allen!«

Seine Augenlider zuckten. Stenka blickte ihn aus schrägstehenden dunklen Augen ernst an.

»Wer die nur gemacht hat«, grunzte Leo. »Jemand wird sie wohl erschaffen haben … ganz bestimmt hat die jemand erschaffen … sonst wären sie ja nicht da. Fragt sich nur, wer diesen Einfall hatte … diesen seltenen Einfall … ein Schullehrer war es nicht, nein … aber die heilige Jungfrau … Manche Blumen haben Stiele wie Mädchenschenkel.« Er stockte einen Augenblick, zog aus einem Topf eine Blume mit langem Stiel hervor und wand ihn sich um das feiste Handgelenk.

»Da ist gar kein Unterschied … absolut nicht!«

Auf einmal öffnete er die Augen, kratzte sich in der Achselhöhle und sah mit einem stieren Blick auf Stenka.

»Gut«, gröhlte er, »lassen wir das. Wir brauchen einen Mann, der etwas von Blumen versteht … Du verstehst etwas, das sehe ich dir an deinem Kopf an … Was willst du haben … an Geld, meine ich?«

Stenka erinnerte sich, was Roskow ihm geraten hatte, aber er beschloß, diesen Ratschlag nicht zu beherzigen und nur eine ausreichende Summe zu fordern.

»120«, sagte er leise.

»Was?« schrie Leo, »120? Dafür bekomme ich drei Männer! Lassen wir das. Nimm deinen komischen Karton und verschwinde. Los, los!«

Als Stenka an der Tür stand, rief ihn Leo zurück.

»Ich gebe dir hundert«, sagte er.

»Gut.«

»Na also! Du fängst morgen schon bei uns an. Wir stehen früh auf, aber man gewöhnt sich daran. Du wirst zu Erkki hinaufgehen und in seinem Zimmer wohnen. Er ist ein guter, fleißiger Junge. Ich glaube, daß du mit ihm gut auskommen wirst. Nebenan wohnt eine Frau, die euch nichts anzugehen hat.«

Er zerrieb den Kopf der Waldtulpe zwischen den Händen und warf mit dem Rest nach dem Schatten einer Pfingstrose. Dann rief er so laut, daß über Stenkas Rücken eine Gänsehaut lief:

»E-r-k-k-i!«

Die Tür wurde aufgerissen, Erkki stand im Laden. Anscheinend hatte er draußen auf dem Gang gelauscht.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte Leo den Neuen.

»Stenka.«

»Gut. Du wirst ihm aus Kisten ein Bett machen, Erkki … Aber nicht jetzt … Er kann heute in deinem Bett schlafen … Du gehst ja fort … Du …«

Seine Rede wurde unterbrochen. Es tönten kräftige Schläge an der Haustür. Ein geringschätziges Lächeln huschte über Leos Gesicht. Die Schläge wurden immer stärker. Bald mußte das Holz zersplittern.

»Öffne die Tür.«

Es klackte, als Erkki den Schlüssel umdrehte. Der Schlüssel war rostbraun und groß, man hätte ihn als Waffe verwenden können. Stenka hielt den Karton in der Hand und blickte auf die Türöffnung. Zugluft schoß herein. Der spitze Feuerschein der Kerze fuhr erschrocken zurück, begann aufgeregt und wild zu flackern und warf kleine, irre Reflexe auf Leos geöltes Haar. Erkki trat gegen die Wand des Ganges zurück. Aus der Dunkelheit tauchte ein Mann in der engen Uniform der Volksmiliz auf und trat zögernd, einen mattglänzenden Revolver in der Hand, in das unruhige Licht der Kerze. Hinter ihm bemerkte Stenka die Silhouetten von zwei anderen Männern, die vor der Türöffnung stehen blieben.

Leos kleine, gerötete Augen funkelten den Angehörigen der Volksmiliz böse an, der den Revolver in eine knirschende Ledertasche schob, als er den Besitzer des Blumenladens erkannte.

»Was gibt es?« schrie Leo mit seiner mächtigen Stimme.

»Was wollt ihr hier? … Ihr hättet mir fast die Tür kaputtgeschlagen! Wer sollte das bezahlen … glaubst du, ihr könntet das mit jedem machen … wie? … Macht, was ihr wollt, – aber nicht in meinem Haus … Seitdem du Korporal bist, wirst du immer frecher.«

Der Korporal umfaßte mit beiden Händen die blitzende Schnalle seines Hüftgürtels. Er sagte:

»Ich habe Befehl, sämtliche Häuser in Pekö zu durchsuchen. Ich darf kein Haus auslassen. Wir haben Roskow die Tür eingeschlagen, weil er nicht öffnen wollte. Er stand am Fenster und rief: Es ist schon geschlossen, es gibt nichts mehr zu trinken. Er wollte nicht glauben, daß wir zu einem anderen Zweck zu ihm kamen.«

»Also«, sagte Leo gereizt, »was gibt es? Wollt ihr mich etwa verhaften?« Er lachte dröhnend.

Dem Korporal waren die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengewachsen, er hatte sehr lange Arme und glich in mancher Hinsicht einem Affen. Aus seinen Augen sprach eine gewisse Klugheit und Brutalität.

»Uns ist einer entwischt«, grinste er und zeigte dabei große gelbe Zähne. »Ein Lehrer, wir hatten ihn schon eingesperrt. Weiß der Teufel, wie er das fertigbrachte. Ich glaube, er hat sich zwischen den Gittern hindurchgezwängt. Er muß schmalbrüstig sein und außerdem Kraft haben. Wenn wir ihn einfangen, hängt er.«

Erkki, noch immer auf dem halbdunklen Gang stehend, blickte auf Stenka. Sein Gedächtnis funktionierte plötzlich. Als der Korporal das Wort »Lehrer« genannt hatte, war ihm klar geworden, daß es Stenka nur einmal gab und daß er sich richtig erinnert hatte, diesem Mann vor einigen Jahren begegnet zu sein.

»So«, grunzte Leo den Korporal an und schlug mit seiner riesigen Hand nach einem Käfer, der klirrend zu Boden fiel, »und ihr glaubt, daß der Lehrer noch hier ist … hier in Pekö?«

»Das ist eigentlich unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Er wird vielleicht annehmen, daß er hier weniger gesucht wird, als an einem anderen Ort.«

»War er aus Pekö?«

»Nein. Sie hatten ihn in Kalaa eingesperrt. Von dort ist er auch entwichen.«

»Wißt ihr denn, wie er aussieht?«

»Nein, das heißt, ungefähr wissen wir es schon. Er soll klein sein, ist schmal, hat …«, sein Blick fiel auf Stenka, »da – so wie der da, so stelle ich ihn mir vor, genau so. Etwas klüger mag er allerdings aussehen.«

Leo trat auf Stenka zu und legte ihm die schwere Hand auf die Schulter.

»Der hier versteht etwas von Blumen … er arbeitet bei mir … früher hat er in einem Sägewerk die Löhne ausgerechnet.«

»Na ja«, sagte der Korporal grinsend, »so war es auch nicht gemeint. Aber ich muß das Haus durchsuchen. Ihm hier …«, er deutete mit einer Kopfbewegung auf Stenka, »ist wohl etwas bange geworden?«

Leo kniff seine zerklüfteten Brauen zusammen. Erkki wußte, daß gleich ein Wutausbruch erfolgen würde.

»Wer wohnt noch in diesem Haus?«

»Ich«, schrie Leo plötzlich, »ich. Und wenn ihr Angorabullen nicht sofort verschwindet, dann – werde ich mit dem Bürgermeister sprechen … So weit sind wir noch nicht … so weit nicht …« Er fuchtelte mit seinen fleischigen Händen in der Luft herum, ergriff unvermutet die Kerze und schleuderte sie gegen die Wand.

»Verschwindet! Ich bin noch ganz bei Sinnen … Ich weiß noch ganz genau, wer und was sich in meinem Hause aufhält.«

In der Dunkelheit tastete er sich an den Korporal heran, erfaßte diesen an seinem ledernen Hüftriemen und drängte und zog ihn zur Tür. Der Korporal wußte, daß ein großes Lamentieren bei Leo keinen Zweck hatte: Der Bürgermeister war sein Freund, und außerdem fanden die theoretischen Schulungen in des Blumenhändlers neuer Scheune statt. Er ließ sich daher ohne Widerstand hinausschleppen, und als er das metallische Klacken des braunen Schlüssels hinter sich hörte, lächelte er höhnisch und verlegen.

Einen Augenblick blieb Leo, mit dem Rücken gegen die Haustür gelehnt, stehen. Stenka und Erkki hörten auf seinen gewaltigen Atem.

»Lassen wir das«, röchelte der Riese etwas erschöpft und zündete eine neue Kerze an, die vor dem grünlichen, mißtrauischen Spiegel stand.

»Ich sagte dir doch, daß du heute nacht an den Booten arbeiten sollst, Erkki … hast du das vergessen? Wie? … Hast du schon das Werkzeug zusammengeholt?«

»Ich wollte gerade gehen«, antwortete Erkki.

»Gut. Und du, Stenka … Du kommst mit mir. Ich werde dir zeigen, wo du schlafen wirst … Bring deinen komischen Karton mit.«