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Eine warmherzige Geschichte über Liebe und Versöhnung
»Es wird schon nicht das Ende der Welt sein.« – Als die Backpackerin Liz als Haushaltshilfe nach Timber Creek kommt, auf eine Farm im australischen Outback, geht erstmal einiges schief. Doch verfärbte Wäsche und verbrannter Toast sind Nichtigkeiten gegen eine schwangere Teenagertochter und den tragischen Unfall, der die Dawson-Familie einfach nicht loslässt.
Der 13-jährige Danny Dawson wehrt sich zunächst mit Händen und Füßen gegen die Neue, die alles durcheinander bringt, doch am Ende ist es die unbekümmerte Liz, die seine Familie aus ihrer Schockstarre reißt ...
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Seitenzahl: 368
Ali Lewis
Es wird schon nicht das Ende der Welt sein
Aus dem Englischen von Catrin Frischer
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform.
1. Auflage 2011Originalausgabe © 2011 Ali LewisDie englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Everybody Jam« bei Andersen Press Limited, London.deutschsprachige Ausgabe © 2011 cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenAus dem Englischen von Catrin FrischerUmschlagillustration und -gestaltung: *zeichenpool MünchenMI · Herstellung: UKSatz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-06140-1
www.cbj-verlag.de
Für Lucas, Ollie, Megan, Jess und Beth.
WIE MAN BABYS MACHT, war mir seit Ewigkeiten klar. Ich hatte genug Tiere dabei gesehen, um mir meinen Teil zu denken. Aber jetzt kriegte meine ältere Schwester Sissy eins, und deswegen guckten wir uns nicht mehr in die Augen, nur noch auf ihren Bauch. Alle machten das, hatte ich gesehen. Dad starrte jeden Abend beim Essen auf die Wölbung hinter der Tischkante, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde.
Sissy war vierzehn, nur ein Jahr älter als ich, und alle sagten, das sei zu jung, aber keiner wusste, mit wem sie es getrieben hatte. Als sie in den Osterferien aus dem Internat nach Hause kam, hatte sie sich immerzu übergeben. Morgens konnte man nicht ins Bad und aufs Klo, weil sie sich da drinnen die Eingeweide rauskotzte. Eines Morgens war es bei mir echt dringend gewesen, ich hab also an die Tür gehämmert und ihr gesagt, sie soll sehen, dass sie fertig wird, aber ich konnte sie nur würgen und husten hören, und dann hat was gespritzt. Schließlich kam sie rausgerannt, und dann ist sie gleich in ihr Zimmer und hat die Tür zugeknallt – als ob das meine Schuld wär.
Zuerst hat Mum gedacht, Sissy hätte sich in der Schule einen fiesen Virus eingefangen. Sie hat ihr Cracker gegeben und trockenen Toast, damit sich die Sache beruhigt. Aber als Sissy dann ein paar Wochen zu Hause gewesen war und immer noch jeden Morgen das Badezimmer besetzte, hab ich gehört, wie Mum Tante Veronica erzählt hat, der Groschen wäre gefallen – sie habe was in der Röhre. Ich wusste nicht so genau, was das heißen sollte, aber ich vermute, sie hatte rausgekriegt, dass Sissy nicht richtig krank war.
Und dann eines Abends beim Essen hat Sissy wie sonst auf ihrem Platz am Tisch gesessen, nur ihre Augen waren roter als sonst. Seit sie wieder zu Haus war, war sie so ein Lahmarsch gewesen, nur immer am Kotzen und in ihrem Zimmer am Heulen, da hab ich mir nicht allzu viel dabei gedacht. Aber als wir alle anfingen, uns übers Essen herzumachen, hab ich bemerkt, dass Sissy ihres nur auf dem Teller herumschob. Es gab Steak, also hab ich gesagt, wenn sie ihres nicht wollte, dann würde ich es essen. Da hat Dad dann Messer und Gabel hingelegt und Mum angeguckt, ich weiß auch nicht, warum, aber ich hab mich ein bisschen so gefühlt wie damals, als ich von Jonnys Unfall erfahren hab. Ich dachte, das Steak, das ich mir in den Bauch geschaufelt hatte, würde wieder raushüpfen. Ich hab Jonnys Foto oben auf dem Klavier angeguckt und mir gewünscht, hinlaufen und es anfassen zu können.
Dad seufzte dann und schaute in die Runde, ehe er tief Luft holte und Sissy anstarrte. Als er ausatmete, sagte er, wir könnten ebenso gut alle wissen, dass Sissy schwanger sei. Dann schaute er wieder auf seinen Teller und aß noch einen Mundvoll Steak. Ich wäre fast an meinem Kartoffelbrei erstickt, aber die Farmarbeiter Lloyd und Elliot sagten nichts. Sie leerten nur ziemlich schnell ihre Teller und gingen nach draußen auf ein Bier. Ich starrte Sissy an, die wieder angefangen hatte zu weinen.
Als Mum fragte, ob noch einer mehr Gemüse wollte, wäre ich fast zusammengezuckt. Keine Antwort. Ich glaub, keiner hatte mehr Hunger. Und da sagte dann Emily, meine jüngere Schwester: »Was ist schwanner?« Sie hat keinen Schimmer. Sie ist sieben und kriegt rein gar nichts richtig hin. Andauernd redet sie nur von Nuckelkälbchen, aber sie füttert sie nie – sie will sie nur zum Streicheln und ihnen blöde Namen geben.
Mum seufzte und legte Emily den Arm auf die Schulter, während sie erklärte, schwanger bedeute, dass Sissy ein Baby bekommen würde. Emily kriegte echt große Augen und so ein bescheuertes Lächeln von einer Backe zur anderen, und sie sagte: »Ein echtes?« Als ob das was Gutes wäre.
Wenig später mussten wir den Tisch abräumen und in unsere Zimmer gehen. Dann gab es Riesenzoff. Ich hab alles durch die Wand zwischen meinem Zimmer und dem Esszimmer gehört. Es war der erste Zoff seit Langem in unserem Haus, ich glaub, der erste seit Jonnys Unfall. Am Anfang sprachen Mum und Dad in normaler Lautstärke mit Sissy, aber dann haben sie gebrüllt. Sie wollten wissen, mit wem sie es getrieben hatte, aber sie wollte es ihnen nicht sagen. »Komm schon, Sissy – wer war es?«, bedrängte Mum sie. »Nun sag es uns schon, Liebes.«
Dann mischte Dad sich ein: »Am Ende kommt es doch eh raus – solche Sachen kommen immer raus, du kannst uns also die Umstände ersparen und es gleich sagen. War es einer von den Jungs in der Schule? Diese kleinen Köter.«
»Warum willst du es uns nicht sagen?«, fragte Mum. »Weiß er, dass du schwanger bist?«
Ich glaub, Dad war es leid, auf eine Antwort zu warten, denn da hat er gesagt: »Verdammt noch mal, nun sag uns, wer es war. WER WAR DAS?« Ich nehm an, er hat auf den Tisch gehauen, denn es gab einen lauten Knall, und dann hat Sissy wieder angefangen zu heulen.
Mum sagte: »Derek, lass gut sein«, zur selben Zeit schrammte ein Stuhl über den Dielenboden. Ich hörte Schritte und die Tür zu Sissys Zimmer knallte.
Dad sagte: »Wenn ich den kriege … dann möge Gott dem kleinen Scheißer gnädig sein!«
Mum sagte: »Ach, halt die Klappe, Derek!«
Und dann hatten sie echt Streit. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf und stellte mir vor, ich hätte Jonnys Bild in der Hand.
Danach schien Sissy noch mehr zu heulen als vorher. Sie kam kaum noch aus ihrem Zimmer – und wenn doch, dann gab es immer Streit zwischen Mum und Dad. Sissy war immer ganz okay gewesen, nicht so wie die Mädchen, die man im Fernsehen sieht, total bescheuert und nur an Sachen wie Puppen oder Schminke interessiert. Sie konnte besser Motorrad fahren als ich und schießen konnte sie auch ganz gut. Natürlich nicht so gut wie Jonny. Weiß auch nicht, irgendwie hat sie mir Sachen erzählt – so was, was mir sonst nie jemand erzählen würde. Sie war es, die es mir gesagt hat, als der Fliegende Doktor wegen Jonny gekommen ist – und dem ganzen Blut.
Aber dann, nachdem sie schwanger geworden war, hat sich das alles geändert. Sie redete nicht mehr mit mir, nicht richtig. Sie redete mit niemandem richtig, vermute ich. Sie weinte immer nur. Sie flennte, als ich blöde Kuh zu ihr sagte, weil sie meine Kricketmale geklaut hatte. Nach denen hatte ich ewig gesucht, und dann hab ich festgestellt, dass sie damit die Tür vom Hühnerstall festgeklemmt hatte. Wenn ich früher so was zu ihr gesagt hab, hat sie mir den Arm umgedreht.
Sowie sie was in der Röhre hatte, änderte sich alles. Ich durfte Sissy nicht mehr hauen, nicht mal wenn sie mich richtig nervte, zum Beispiel, wenn sie mir Essen vom Teller klaute. Vorher hätte ich ihr eine runtergehauen, ihr den Arm umgedreht oder so was, aber wegen des Babys kriegte ich schon Ärger, wenn ich sie beschimpfte. Dad sagte, ich müsse netter zu ihr sein, weil sie Mutter werden würde. Keine Ahnung, warum sich die Regeln plötzlich änderten, nur weil sie was in der Röhre hatte. Ich hab Dad gefragt, und er hat gesagt: »Tu’s einfach, okay?« Als ob ich derjenige wäre, der in Schwierigkeiten war.
MANCHMAL, WENN MICH ALLE WÜTEND MACHEN, gehe ich in mein Zimmer und setze mich auf Jonnys Bett. Er war fünfzehn, als der Unfall passierte. Da hat alles irgendwie aufgehört. Na ja, nicht richtig aufgehört, aber es war ein bisschen so, wie wenn der Jeep drei platte Reifen hatte oder die Bank anrief oder was anderes schiefging. Immer wenn so was passierte, achteten wir darauf, nicht im Weg zu sein, bis Mum und Dad alles geregelt hatten. Wir machten uns irgendwie unsichtbar, damit sie sich nicht auch noch über uns ärgerten. Bei den meisten Sachen ging das ein paar Stunden so oder auch mal einen ganzen Tag, wenn es was Ernstes war, wie damals, als der Generator kaputtging. Nur bei Jonnys Unfall, da konnten sie es nicht wieder hinkriegen, deshalb blieben wir eine ganze Zeitlang unsichtbar.
Darum wollte ich unser Zimmer genau so behalten, wie Jonny es gern gehabt hatte – so wie er es hinterlassen hatte. Keiner durfte seine Sachen anfassen. Keiner. Mum hat es ein Mal versucht. Ein paar Wochen bevor wir rauskriegten, dass Sissy schwanger war, kam sie in unser Zimmer. Sie wollte sehen, ob ich schmutzige Wäsche hatte, und als sie ein paar Sachen vom Fußboden aufsammelte, sagte sie, sie würde es für eine gute Idee halten, wenn wir anfingen, ein paar von Jonnys Sachen auszusortieren. Keine Ahnung, was sie damit meinte. Da gab es nichts zu sortieren, seine Sachen blieben, wo sie waren, so wie er es gern gehabt hatte. Als ich ihr das erklärte, legte sie die Sachen hin, die sie vom Boden aufgehoben hatte, und sagte, sie meine ja nicht, dass wir irgendwas wegwerfen sollten, nur die Bettwäsche wechseln und ein bisschen aufräumen. Ich bin aufgestanden und hab sie angebrüllt: »Auf keinen Fall.« Mum guckte mich einen Moment lang an, dann hob sie die Hände hoch und ging aus dem Zimmer. Ich glaub, sie wusste, dass ich recht hatte.
Jonnys Unfall passierte etwa sechs Monate, ehe wir das mit Sissy und dem Baby rauskriegten. Dass sie schwanger geworden war, bedeutete, dass alle Jonny zu vergessen schienen, als ob es ihn nie gegeben hätte oder so. Als ob sie nun eine Entschuldigung dafür hätten, nicht mehr an ihn zu denken. Damit sie ihn nicht vermissten, vermute ich. Es ging dann nur noch um sie und dieses Baby. Ich konnte es nicht ertragen. Ich wollte nicht, dass Jonny unsichtbar war. Auf dem Klavier stand ein Foto von ihm, und das berührte ich gern, jeden Tag, wenn es ging. Ich glaube, ich habe damit angefangen, weil ich mich daran erinnern wollte, wie er ausgesehen hatte. Weiß auch nicht, irgendwie fühlte ich mich dann besser. Genauso wenn ich all seine Sachen so ließ, wie er sie hatte. Wenn ich sie mir ansah, legte ich sie immer wieder an ihren Platz zurück. Ich brachte sie nie mit meinen Sachen durcheinander. Das wäre falsch gewesen, wie stehlen.
Ein paar Tage nachdem wir das mit Sissy raushatten, schlich ich mich in die Küche, ich hoffte, mir ein paar Kekse holen zu können, ohne dass Mum mich erwischte. Aber ich kam nicht weit, weil sie nämlich da drinnen am Telefon saß. Sie war voll dabei, Tante Ve in Alice Springs ein Ohr abzukauen. Ich wusste, dass sie es war, denn sie ist die Einzige, die bei uns anruft. Ich drückte mich herum und überlegte, ob ich mich wohl in die Speisekammer schleichen könnte, ohne dass Mum es merkte. Und da erzählte sie Tante Veronica dann, dass Sissy schon im dritten Monat war, es müsse also irgendwann um Weihnachten passiert sein.
Ich ging gerade auf den Boden runter und wollte zur Speisekammer robben, damit sie mich nicht sah. Da sagte Mum: »Keine Ahnung, wir können uns nicht vorstellen, dass es Elliot oder Lloyd waren – also wirklich? Das sind anständige Jungs, besonders Elliot.« Ich nehm mal an, Tante Ve kannte Elliot und Lloyd nicht so gut, denn auf keinen Fall konnten die es mit Sissy gemacht haben. Ging gar nicht. Schon weil die ein ganzes Stück älter sind als sie. Und dann wurde Mum wütend auf Tante Ve, ich blieb also, wo ich war, auf dem Bauch liegen und lauschte. Mum wurde nie wütend auf Tante Ve. Sie sagte so was wie: »Nur über meine Leiche, das könnten wir nicht, das können wir einfach nicht! Nach allem, was wir wegen Jonny durchgemacht haben. Ich kann nicht fassen, dass du so etwas vorschlägst – und das gilt auch für eine Adoption des Babys.« Das Baby adoptieren zu lassen, hielt ich für gar keine so schlechte Idee: Ich meine, schließlich machte es jetzt schon allen einen Haufen Stress und es war noch nicht mal geboren. Ich fand, schon lange hatte keiner mehr eine bessere Idee gehabt, aber ich glaub, Tante Ve muss sich entschuldigt haben für das, was sie da gesagt hatte, denn Mum beruhigte sich wieder und sagte, es tue ihr leid, dass ihr der Kragen geplatzt sei. Ihre Stimme wurde ganz leise, als sie sagte, sie würde nicht wissen, wie wir zurechtkommen sollten, wenn das Baby da war. Sie meinte, sie würde schauen, ob sie nicht weniger Stunden arbeiten könnte.
Eine Zeit lang lauschte ich nicht weiter, ich überlegte noch immer, wie ich über den Boden bis zur Speisekammer rutschen konnte, wo die Kekse waren, ohne dass Mum mich entdeckte. Ich dachte daran, einfach draufloszustürmen, als Mum das Schlimmste sagte. Sie sagte, Sissy hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, das Baby zu bekommen. »Der Viehauftrieb ist im selben Monat, in dem es kommen soll«, sagte sie.
Der Viehauftrieb ist das Beste, wenn man eine Rinderzuchtstation hat. Da treibt man das gesamte Vieh zusammen und entscheidet, welche Rinder zum Schlachten gehen und welche noch ein Jahr auf der Station bleiben. Das passiert nur ein Mal im Jahr, und dieses war mein letztes, ehe ich wegging aufs Internat in Alice. Ich wollte nicht, dass Sissy und ihr Baby das kaputt machten. Ich konnte nicht anders, ich war so wütend, dass ich die Kekse ganz vergaß und aufsprang und Mum anbrüllte. Ich brüllte, es sei ungerecht, Sissy und dieses Baby machten alles kaputt. Ich brüllte, dass ich Sissy und ihr blödes Baby hasste. Mum schüttelte den Kopf über mich und sagte Tante Ve, sie solle mal kurz dranbleiben. Dann legte sie die Hand über den Hörer und sagte, ich solle aufhören, mich wie ein Baby aufzuführen, und in mein Zimmer gehen, dann drehte sie mir den Rücken zu und redete weiter mit Tante Ve. Ich hörte, wie sie sagte: »Ach, nichts – Danny hatte nur wegen nichts einen Anfall, wie üblich.« Das machte mich noch wütender. Ich stürmte los zu meinem Zimmer, knallte die Tür zu und riss ein paar Seiten aus Jonnys Rinderlogbuch. Weiß auch nicht, warum. Hinterher tat es mir leid, also hab ich sie wieder eingeklebt. Keiner hat was gemerkt.
Sissy konnte nicht zurück ins Internat in Alice Springs und musste stattdessen mit Emily und mir ins Schulzimmer auf der Station gehen. Da lernen wir Mathe und schreiben und so Sachen. Das Schulzimmer ist ein alter Schuppen, den Dad hergerichtet hat, als Jonny und Sissy klein waren. Er ist ziemlich einfach, aus Holz mit einem Blechdach, wenn es also regnet, wird es so laut, dass man vom Unterricht nichts mehr hören kann. Geregnet hatte es aber schon ziemlich lange nicht mehr, jedenfalls nicht so richtig. Wenn wirklich Regen fällt, dann füllen sich die Flüsse und treten ein bisschen über die Ufer – aber das war schon Jahre nicht mehr vorgekommen. Wir hatten nicht mal so viel Regen gehabt, dass der Boden nass wurde, nicht so richtig – schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Einen kleinen Schauer hatten wir mal, aber Dad meinte, wenn er ausspuckte, würde das mehr bringen.
Na egal, jeden Morgen um sieben gingen wir in das Schulzimmer bis um die Mittagszeit, wo es dann so heiß wurde, dass man sich nicht mehr konzentrieren konnte. Aber ins Schulzimmer gingen wir nur, bis wir dreizehn waren. Deshalb würde ich nach Weihnachten auf das Internat kommen, auf das Jonny und Sissy gegangen waren. Ich vermute, deshalb war Sissy so unglücklich darüber, wieder im Schulzimmer zu sein. Sie muss sich irgendwie blöd vorgekommen sein, weil sie mit uns da sitzen musste, obwohl sie ihre eigenen Schulsachen zu erledigen hatte. Jeden Tag, wenn wir vom Haus rübergingen, machte sie ein Gesicht, als hätte ihr jemand eine runtergehauen. Ich redete nicht mit ihr, aber Emily, immer von dem Baby und welchen Namen sie ihm geben würde. Sie waren beide echt blöde.
Bobbie war schon über ein Jahr unsere Hauslehrerin. Mit diesem Radioprogramm, das sich »Funkschule« nennt, half sie uns, Sachen zu lernen. Das ist speziell für Kinder, die wie wir an Orten wie Timber Creek wohnen, zu weit weg von einer normalen Schule. Timber Creek Station liegt zweihundert Meilen westlich von Alice Springs mitten in der Tanami Wüste im Northern Territory. Die nächstgelegenen Städte sind Warlawurru, dreißig Meilen südlich der Farm, und Marlu Hill, fünfundzwanzig Meilen weiter nördlich. Aber das sind Städte für die Blackfellas. Mum arbeitet im Büro der Gesundheitsstation in Marlu Hill, sie fährt also jeden Tag rüber, da gibt es zwar eine Schule, aber die ist nur für die Kinder der Blackfellas. Manchmal nennen wir sie Gins, wie in Abori-GIN-es.
Bobbie war zweiundzwanzig, sie kam von einer Farm in Victoria und wohnte in einem der alten Nebengebäude auf unserer Farm. Die Hälfte davon hatte Dad zu einem Zimmer für sie umgebaut und sie hatte ihre eigene Dusche und alles. Wir durften da nicht rein. Betreten verboten. Bobbie meinte, sie brauche ein bisschen Freiraum und Privatsphäre. Keine Ahnung, wozu. Nachmittags tat sie da nichts anderes als lesen oder fernsehen. Morgens war sie mit uns im Schulzimmer.
Wir hatten ein paar Leute, die für uns auf Timber Creek arbeiteten. Das waren immerhin sechzehnhundert Quadratmeilen Wüste und wir hatten mehrere Tausend Stück Vieh, Dad konnte das nicht alles allein machen. Deshalb hatten wir Elliot und Lloyd. Elliot war am längsten bei uns, und er war echt nett, irgendwie still, konnte aber richtig hart arbeiten. Bei ihm saß jeder Handgriff. Ich weiß, Dad mochte ihn richtig gern, hielt ihn für absolut zuverlässig. Elliot kam von nur ein Stück die Straße bei Tennants Creek hoch. Seine Leute hatten in der Gegend eine Farm, aber er war der jüngste von vier Brüdern, und es gab nicht genug Arbeit für sie alle. Ihre Farm war ein bisschen kleiner als unsere, und weil er der Jüngste war und seine älteren Brüder schon da arbeiten, musste er sich woanders einen Job suchen. Ich hab mal zu ihm gesagt, dass ich das ungerecht fand: war doch nicht seine Schuld, dass er der Jüngste war. Ich hab gesagt, sie hätten Strohhalme ziehen sollen, eine Münze werfen oder so was. Aber er hat nur gelächelt und die Schultern gezuckt. So ist Elliot – der würde nie einen Aufstand machen.
Lloyd war anders, so richtig groß und stark, deshalb war er echt nützlich, aber Dad meinte, man müsse ihn im Auge behalten, weil er nicht so helle war und ziemlich aufbrausend. Er war noch nicht so lange auf Timber Creek. Er war erst kurz vor Jonnys Unfall gekommen und war ein Top Ender, das bedeutete, dass seine Eltern irgendwo da oben bei Darwin wohnten. Unsere Nachbarn, die Crofts, die eine Farm fünfzig Meilen östlich von uns haben, hatten von Freunden von Freunden gehört, dass Lloyd Arbeit suchte, und Dad vorgeschlagen, ihn einzustellen. Damals war Dad sich nicht so ganz sicher gewesen. Ihm gefiel es nicht, dass der alte Dick Croft seine Nase in unsere Angelegenheiten steckte. Dad meinte, wir würden ganz gut zurechtkommen, aber Mum sagte, sie finde, er würde zu schwer arbeiten, und für Elliot wäre es gut, einen Kameraden auf der Farm zu haben. Sie fand, es sei ein bisschen einsam für Elliot. Dad gab ihr recht und sagte, er wolle Elliot nicht verlieren, er fand, er sei Gold wert. Dad dachte also ein bisschen darüber nach, und nachdem er Lloyd kennengelernt hatte, fand er, glaub ich, dass es ganz praktisch wäre, ihn mit dabeizuhaben. Und dann nach Jonnys Unfall fehlte uns irgendwie ein Mann, und ich nehme mal an, Dad war echt froh, Lloyd eingestellt zu haben.
Die Crofts waren schon seit vielen, vielen Jahren Freunde und Nachbarn meiner Familie. Sie betrieben eine Rinderfarm namens Gold River, die östlich von unserem Land lag. Emily hat Dick mal gefragt, warum sein Vater der Farm diesen Namen gegeben hat. Er hat eine Weile gezögert und gesagt: »Nun ja, ich glaub, mein Opa war Optimist.« Später hat Emily gesagt: »Danny, was macht ein Optimist?«
Alle Flüsse in unserer Nähe waren wegen der Dürre schon so lange trocken, dass sie dieselbe goldene Farbe hatten wie der Rest der Wüste. Vielleicht war damals auch Dürre gewesen.
Mein Urgroßvater hat die Timber Creek Station gekauft, nachdem der Vorbesitzer Arthur Simpson 1930 gestorben war. Seitdem, hat Dad gesagt, hatten die Dawsons und die Crofts Seite an Seite gearbeitet, um ihren Lebensunterhalt von der Wüste zu bestreiten. Mein Großvater Alex Dawson ist ein guter Freund von Dick Croft gewesen. Dick war echt nett, aber jetzt war er dürr geworden, sah aus wie ein toter Baum, dem Kleider übergezogen worden waren. Er rasselte, als ob eine Erbse in seinen Atemwegen steckte, und wenn er redete, keuchte er wie ich, wenn ich in den Gattern hinter einem Stier herhetzte – nur hatte Dick keinen Inhalator, damit das aufhörte. Ich hab Dicks Sohn Greg mal gefragt, was mit seinem Vater los war. Er hat nur gesagt: »Zu viele Kippen.«
Greg rauchte selbst. Er war total zum Totlachen. Einmal hat er uns diesen Witz erzählt: Was ist der Unterschied zwischen einem Gin und einem Hundehaufen? Einer von beiden wird irgendwann weiß und verliert seinen Geruch. Wir haben uns alle totgelacht. Nach Jonnys Beerdigung hat Greg mir einen Hut geschenkt. Der war echt klasse: Leder. Er hat gesagt, es werde Zeit, dass ich anfange, mich zu kleiden wie ein echter Viehzüchter. Er hat ihn in Alice gekauft, als er sich da mit seinen Kumpels getroffen hat. Da war ordentlich was los gewesen. Es hatte eine Schlägerei gegeben und einer seiner Kumpels war zusammengeschlagen worden.
Tante Veronica, die Schwester von meiner Mum, hat mal gesagt, es wäre an der Zeit, dass Greg sich eine gute Frau suchte. Keine Ahnung, was das sollte. Greg führte die Viehstation Gold River mit dem Mann seiner Schwester Mary, Ron. Dick war zu alt und zu klapperig und konnte nicht mehr viel arbeiten. Er hatte eine Freundin namens Penny, die sich um ihn kümmerte. Er hat sie in einer Kneipe kennengelernt. Sie war jünger als Dick und hatte so richtig gelbes Haar. Mum hat gesagt, das sei aus der Flasche. Keine Ahnung, wo Dicks alte Frau Mavis abgeblieben war. Über die redete irgendwie keiner. Mum hat gesagt, Mavis wär mit einem Typen aus Katherine abgehauen, als Greg und Mary noch Kinder waren. Das hieß, dass Dick ganz allein die Farm am Laufen halten und sich um die Kinder kümmern musste. Gold River war auch größer als Timber Creek. Ich glaub, Dick war richtig froh, als er Penny kennenlernte, das bedeutete, dass er nicht mehr alles allein machen musste. Als ich das zu Dad sagte, hat er genickt und gesagt, er schätze, Penny könne jedem Mann wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Gregs Schwester Mary sagte nicht viel, aber Mum fand sie echt nett. Und ihren Mann Ron mochten alle. Als die beiden heirateten, haben die Crofts eine große Grillparty veranstaltet. Es gab jede Menge Essen und eine Band. Wir sind alle so richtig lange aufgeblieben. Sogar Emily.
Die Crofts waren ganz toll, nachdem das mit Jonny passiert ist und alles, aber sie hatten ihre eigene Farm zu versorgen, und wir konnten nicht ständig darauf zählen, dass sie uns halfen. Ich hab gehört, wie Mum zu Dad sagte, sie mache sich Sorgen, wie wir zurechtkommen sollten. Sie redete von der Zukunft, und dass alles anders werden würde, wo das Baby nun kam – und ohne Jonny. Ich glaub, alle hatten drauf gewartet, dass Jonny mit der Schule fertig wurde und anfing, auf der Farm zu arbeiten. Er sollte Dads rechte Hand werden. Da war ich empfindlich, ich wusste, ich war jünger, und wo ich nun in Alice zur Schule gehen würde, wäre ich auch nicht viel da, aber trotzdem wusste ich doch eine Menge darüber, wie das auf der Farm laufen musste. Ich war gespalten, ein Teil von mir wollte sie anbrüllen, damit sie sich daran erinnerten, dass ich auch noch da war, und der andere Teil von mir wollte nie wieder ein Wort mit ihnen reden. Aber dann hat Mum was gesagt, wonach ich mich nur noch schlechter fühlte. Sie sagte, sie brauche ein weiteres Paar Hände, jemanden, der sich um das Haus und die Kleinen kümmerte. Jonny und Sissy waren nie die Kleinen gewesen, als sie dreizehn waren. Sie hat Dad gesagt, sie müsse ein Hausmädchen haben, und er hat gesagt, okay.
HAUSMÄDCHEN GESUCHT. Das stand in großen roten Buchstaben auf dem Zettel, den Mum schrieb. Darunter hatte sie gesetzt: Zu den Aufgaben gehört: kochen, putzen, Hühner, Schweine und Kälber füttern und drei Kinder im Alter von 7–14 beaufsichtigen– auf einer Viehstation in der Tanami Wüste. Kost und Logis frei. Angemessene Bezahlung. Bei Interesse bitte anrufen.
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