Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin - Monique R. Siegel - E-Book

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin E-Book

Monique R. Siegel

0,0

Beschreibung

Mit viel Selbstironie erzählt eine der bekanntesten Frauen der deutschsprachigen Wirtschaftswelt von ihrem Werdegang.Nur wenige Frauen schaffen es, sich in der Wirtschaftswelt durchzusetzen. Als eine von ihnen blickt Monique R. Siegel auf unterhaltsame Art auf ihr Leben zurück. Jedoch war ihr Leben nicht immer einfach und auch diesen Aspekt lässt die Autorin nicht aus und erzählt von ihrer schweren Jugend und von dem Thema Krebserkrankung. Von Geburt an ging die junge Frau konsequent ihre eigenen Wege anstatt ausgetretenen Pfaden zu folgen und schaffte es so, eine Karriere aufzubauen. Heute ist sie für viele Frauen und Männer ein Vorbild geworden."Nach 10 Tagen spannender Lektüre bin ich auf Seite 419 der einzigartig erzählten Autobiographie von Monique Siegel angelangt - ein Buch, das mich von der ersten Lesestunde an gefesselt hat wie selten eines zuvor. Ich danke Monique für das Privileg, dass ich ihren wechselvollen Weg als Unternehmens- und Innovationsberaterin betrachten resp. nachvollziehen durfte" - Nelly Meyer-Fankhauser Gründerin NEFU Schweiz Netzwerk für Einfrau-Unternehmerinnen"Ein erfrischendes, amüsantes, berührendes und flüssig geschriebenes Buch über die Geschichte einer interessanten Frau, die einiges erlebt hat. Empfehle ich jeder Frau jeden Alters - und natürlich auch interessierten Männern! Schon während der Lektüre kriegt man Lust auf ihre früher erschienen Bücher die leider teilweise vergriffen sind - aber allenfalls über amazon gebrauchte Bücher noch erhältlich sind. Das Buch eignet sich auch sehr gut als Geschenk!" - Kunde bei Amazon-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 649

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monique R. Siegel

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin

Saga

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als UnternehmerinCopyright © 2002, 2019 Monique R. Siegel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726071283

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Für Rosmarie Michel,

die dieses Buch unbedingt wollte –

und die es nun hat

Wenn Sie diese Seite umdrehen,

Vorsicht bei der Wahl der Eltern!

Man muß den Tiger hören.

Wenn man ihn sieht, ist es zu spät.

Indisches Sprichwort

Lebensläufe in Kurzform sind so eine Sache. Die meisten lesen sich todlangweilig, weil sie alle nach demselben sachlich-knappen Muster gestrickt sind. Klappentexte sind da schon anders – sie verraten nicht nur mehr über die Schreibenden, sondern auch darüber, wie sie sich selbst sehen. Eins meiner Lieblingsbeispiele habe ich in einem Buch des bekannten Zürcher Karikaturisten Nico gefunden. Es beginnt so:

»Nico Cadsky wurde an einem sonnigen Augusttag von Maria Wallis und Hermann Cadsky, die er später als seine Eltern kennenlernen sollte, in die Welt geworfen. Das war im Jahre 1937 und löste prompt zwei Jahre später eine weltweite Krise aus.«

Ich war sehr froh, als ich das las, denn so kann ich bestimmt nicht für diese Krise verantwortlich gemacht werden. Ich bin nämlich erst zwei Jahre später auf die Welt gekommen, genau: am 12. Februar 1939, um vier Uhr morgens. An einem Sonntag. In Berlin-Lichterfelde. Vorkriegsware also, und ohne Bezug zu dem, was sieben Monate später ausbrach und beileibe nicht nur mein Leben grundlegend beeinflußt hat.

Ich bin eins der erwünschtesten Kinder, die man sich vorstellen kann. Fast neun Jahre war Else Erna Charlotte Hulda Ring, geborene Lange, bereits verheiratet; drei Versuche waren gründlich schiefgegangen (zwei Fehlgeburten, eine Totgeburt), aber wenn je eine Frau Mutter sein wollte und sollte, dann war es meine. Sie werden noch viel über diese Frau erfahren; sie hat mein Leben in vielfacher Weise geprägt. Ihr verdanke ich, daß sich Wörter wie Anstand, Vertrauen, Respekt oder Rücksicht mit Inhalt füllten, sowie die Erinnerung an wunderschöne Momente in schwierigen Zeiten.

Eine der kuriosesten Eigenschaften meiner Mutter war ihr ausgeprägter Aberglaube, der sich fast täglich in irgendeiner Weise manifestierte. Dazu gehörte auch die felsenfeste Überzeugung, daß Sonntagskinder etwas Besonderes sind und Glück im Leben haben. Also – so geht die Mär – soll sie die Wehen mit eisernem Willen so weit verlängert haben, bis es Sonntag war und sie in den frühen Morgenstunden endlich das heiß ersehnte Mädchen in den Armen halten konnte. Eine Tochter! Damals war das Geschlecht eines Babys noch eine Überraschung, und so konnte sie ihr Glück kaum fassen: ein lebendes, gesundes, acht Pfund schweres Töchterchen lag da in ihren Armen – was wollte sie mehr?

Natürlich kenne ich diese glücklichen Umstände meiner Geburt nur vom Hörensagen; ich bin zwar dabei gewesen, aber begreiflicherweise noch nicht in der Lage, sie selbst bewußt zu »erleben«. Daraus ist so etwas wie eine moralische Verpflichtung entstanden: Wenn man so heiß ersehnt worden ist, sollte man die Ersehnende doch nicht enttäuschen, nicht wahr? Meine Rolle als gute Tochter hat durch diese Geschichte ihr Fundament bekommen, und, wie sich später herausstellen sollte, war das nicht das schlechteste aller Fundamente.

Dieses Kapitel heißt nicht per Zufall »Vorsicht bei der Wahl der Eltern!«. Ich weiß, wovon ich spreche. Hätte ich wählen können, so hätte ich meine Mutter behalten – und zwar für viel länger als die siebenundfünfzig fahre, die ihr beschieden waren. Mein Vater hingegen hätte nicht einmal den ersten Grobraster geschafft: Er wäre gar nicht zur Auswahl zugelassen worden. Fünfundzwanzig Jahre und vierzehn Tage hat es gebraucht, bis meine Mutter sich endlich von diesem Mann getrennt hat; mein Kommentar als damals Sechzehnjährige war: »Fünfundzwanzig Jahre zu spät!« Dann hätte es mich zwar nicht gegeben, aber ich bin sicher, die Welt hätte das verkraften können.

Nein, nein, sagen Sie jetzt bloß nicht, das wäre aber schade gewesen. Zum jetzigen Zeitpunkt in diesem Buch wäre das ohnehin nur eine von diesen Floskeln, die ich hasse. Und ob Sie es, nach ein paar hundert Seiten Lesen, wirklich gemeint hätten, wird sich noch weisen. Überhaupt ist jetzt noch nicht Zeit für Kommentare, sondern für Else Erna Charlotte Hulda (ein Schicksalsschlag, mit diesen Vornamen in die Welt geschickt zu werden) Ring, geborene Lange...

Meine Mutter war einunddreißig, als ich geboren wurde. Das war damals spät fürs erste Kind. Sie hatte geheiratet, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war – den ersten Mann in ihrem Leben! Da stimmte nun rein gar nichts außer der Tatsache, daß die Ehe sie aus einem Elternhaus herausführte, in dem sie todunglücklich war. Sie war ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit, ohne Gerechtigkeit aufgewachsen, erzogen von einer Mutter, die fünf weitere Kinder geboren hatte, von denen noch drei lebten, und die nach sechs Schwangerschaften entdecken mußte, daß ihr Mann lieber mit einem anderen Mann Zusammenleben wollte. Was er dann auch tat, nachdem sie sich von ihm hatte scheiden lassen.

Auch ihre Großmutter war geschieden, aus was-weiß-ich für Gründen, aber es müssen gute gewesen sein. Mein Urgroßvater war Glasermeister – vielleicht hat er getrunken, vielleicht hat er sich nicht um die Familie gekümmert: ich habe es mal gewußt, aber es ist nicht so entscheidend. Entscheidend war, daß diese Großmutter zur drastischen Maßnahme der Scheidung griff, und beeindruckend war, daß sie daraufhin das Handwerk erlernte und die Glaser-Werkstatt übernahm.

Ich nehme an, daß sie dabei nicht übermäßig viel Zeit auf die Erziehung ihrer Kinder verwendet hat. Jedenfalls ist wohl schon meine Großmutter ohne Liebe aufgewachsen, was sie dann später auf ihre Kinder übertragen hat. Sie ist mir als eine kühle, schlanke Dame in Erinnerung, die offenbar immer nur das gleiche trug: Blusen mit einem Jabot und lange, schmale Röcke. So jedenfalls habe ich sie gespeichert. Sie roch nach Pfefferminz und Lavendel; schon ihr fast antiseptischer Geruch verbreitete die klare Message: »Don’t touch me!« Hat sie mich je geküßt? Ich glaube nicht. Hat sie etwas mit mir unternommen? Das hätte ich sicher nicht vergessen. Hat sie sich überhaupt über mich gefreut? Weiß ich nicht, aber da sie meinen Vater nicht mochte (»haßte« wäre ein Wort, das mir im Zusammenhang mit meiner Großmutter mütterlicherseits nie in den Sinn kam – so viel Emotion lag bei ihr nicht drin), hat sie die Tatsache, daß ihre Tochter jetzt noch enger an diesen Mann gekettet war, sicher nicht gefreut. Ich habe sie nur die ersten vier Jahre meines Lebens oberflächlich gekannt; danach haben wir Berlin verlassen. Irgendwann ist sie einfach verschwunden. Sie soll – ich habe keine Ahnung, wie diese Nachricht zu uns gekommen ist – eine Geschwulst in einer Achselhöhle gehabt haben, in einem Krankenhaus gelandet und dort Opfer einer Euthanasie-Order im späten Stadium des Kriegs geworden sein. Ich kann mir das kaum vorstellen, vor allem nicht sie in dieser grauenhaft entwürdigenden Situation.

Kurios oder kein Wunder, daß meine Mutter mit diesem Hintergrund ein Mensch wurde, der Liebe verströmen und davon umhüllt sein wollte? Sie hatte ihre Jugend in höchst unangenehmer Erinnerung und wollte bei ihren eigenen Kindern alles anders machen. Bei mir ist ihr das weitgehend gelungen. In den ersten sechs Jahren meines Lebens habe ich in den grauenhaftesten Zeiten so viel Liebe bekommen, daß es die Absenz eines Vaters und seiner Liebe weitgehend wettgemacht hat.

Aber ich greife vor, denn bevor mein Vater die Bühne meines Lebens betritt, spielte er im Leben meiner Mutter die Hauptrolle. Wenn Sie je einen Fall von Fehlbesetzung gesehen haben, dann ist es der. Da ist also eine junge Frau, Anfang zwanzig, attraktiv, aber noch »unberührt«. Generell unglücklich und voller Sehnsucht; speziell auf der Suche nach Liebe, wenn auch nur latent. Daß mein Vater ein Charmeur gewesen sein muß, ist durch seine unzähligen Affären belegt. Anderseits war er Rheinländer, katholisch, fast zehn Jahre älter, geschieden, Vater eines jungen Sohnes und – arbeitslos. Eine umwerfende Kombination! Es ist die alte Geschichte, die viele Zeitgenossinnen meiner Mutter erlebt haben: Er war der erste Mann in ihrem Leben, und sie war der Meinung, daß, wenn man »das« mit einem Mann gemacht hatte, man bei ihm bleiben mußte. So einfach war das. Die standesamtliche Trauung hat an einem regnerischen Septembertag im Jahre 1930 stattgefunden; meine Mutter hatte diesen Regen in ihrer Erinnerung gespeichert, weil das Paar zu der Zeit so wenig Geld hatte, daß sie mit Löchern in den Sohlen ihrer Pumps zum Standesamt gegangen ist und nasse Füße hatte, als sie ihm das Ja-Wort gegeben hat.

Man sollte meinen, daß da genügend Warnzeichen vorhanden waren. Aber es genügt ja nicht, daß Warnzeichen vorhanden sind, man muß sie auch wahrnehmen und interpretieren können. Sie hat den Tiger wohl nicht hören wollen, denn das wäre einem Eingeständnis gleichgekommen, daß sie sich in eine Situation hineinmanövriert hatte, aus der es keinen Ausweg gab. Die Trauzeugen kamen von meines Vaters Seite, die Familie meiner Mutter hatte mit dieser Trauung nichts im Sinn.

Lange hielt die Armut jedoch nicht an. Mein Vater hatte etwas entdeckt, was ihn an die Fleischtöpfe Ägyptens heranführte, wo er für die nächsten anderthalb Jahrzehnte mehr als nur tägliche Nahrung fand. Ohne Umschweife: Mein Vater trug sein Parteiabzeichen bereits, als »man« es noch unter dem Revers trug und nur Eingeweihten zeigte. Mit untrüglichem Instinkt hatte er begriffen, daß das politische System, das sich da Deutschland aufzwang, Nieten wie ihm einen neuen Platz in der Gesellschaft sichern konnte. Und er war ganz früh zur Stelle. Die Belohnung für diese frühe Treue zu einer Partei, die sich erst definieren mußte, bestand u. a. darin, daß er es zu einer Position gebracht hatte, von der er vorher nicht einmal hätte träumen können.

Mein Vater war sehr intelligent, aber, soweit ich weiß, ohne eine echte Berufsausbildung, und er lief der Arbeit nicht gerade nach. Er hat sich meiner Mutter als Journalist vorgestellt, wurde bald schon Redakteur und dann wohl Chefredakteur. Jedenfalls war die Stelle, die er bekleidete, so viel wert, daß er zwei (!) Sekretärinnen hatte, ein großes Büro mit einem großen Schreibtisch, die seinem großen Ego den entsprechenden Rahmen boten. Schreiben konnte er, das muß sogar ich ihm lassen. Linientreu war er auch, und zwar egal, welche Linie: Mein Vater hätte, wären wir nach 1945 in der späteren DDR geblieben, ganz sicher auch einen ebenso statusbewußten kommunistischen Chefredakteur abgegeben.

Wie gerne hätte ich meine Mutter gefragt, wann sie zum ersten Mal von seiner Parteizugehörigkeit erfahren hat und wie sie damit zurecht gekommen ist. Sie war keine politische Aktivistin, aber die Nationalsozialisten waren ihr zutiefst zuwider. Hat sie die Auseinandersetzung gesucht? Hat sie sich eventuelle Konsequenzen überlegt? Hat sie sich meinem Vater wenigstens temporär verweigert? Oder war sie nur froh, daß endlich Geld da war, um die Miete für eine komfortable Vierzimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf zu zahlen? Bis ich mit ihr über diese Dinge sprechen konnte oder wollte, hatte sich mein Vater zusätzlich noch so viele Dinge zuschulden kommen lassen, daß seine frühe Parteizugehörigkeit nur ein Teil eines großen Sündenregisters war und wir andere, zeitgemäßere Prioritäten hatten.

Früh hatte sie erkennen müssen, daß wenigstens eine der beiden Sekretärinnen jeweils die Geliebte meines Vaters war, und daß die Parteifreunde, die sie in ihrer Wohnung antraf, nicht die Art Mensch war, mit der sie verkehren wollte. Sie sorgte dafür, daß mein Vater diese Kollegen oder Bekannten außerhalb der Wohnung traf; meine Eltern hatten keine befreundeten Ehepaare, mit denen sie gemeinsam etwas unternahmen. Soweit ich weiß, hatte mein Vater überhaupt nie einen Freund, und ich kann mich nur an zwei Frauen erinnern, mit denen meine Mutter befreundet war. Später waren unsere Wohnverhältnisse so undenkbar, daß sie sicher froh war, nicht dauernd erklären zu müssen, warum wir niemanden einladen konnten.

Wann mein Vater den Chefredakteurs-Sessel mit der Offiziersuniform vertauschte, weiß ich nicht, aber er hat keine Zeit vergeudet, als der Krieg ausbrach. Er hat es bis zum Hauptmann gebracht – auch hier ist er der Gefahr nicht nachgerannt – und war lange Zeit in Frankreich, wo er sich als Besatzer im Hinterland ein feudales Leben machte. Dann sollte er in Ostpreußen das Reich gegen die vorrückenden Russen verteidigen, was ihm, wie wir wissen, gründlich mißlungen ist. Schließlich ist er irgendwo im Rheinland in britische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er 1945 aus gesundheitlichen Gründen – es hatten alle die Ruhr, eine damals weitverbreitete Infektionskrankheit, und irgendwie muß er sich das zunutze gemacht haben – entlassen worden ist. Keine rühmliche Militärkarriere, aber, soweit ich weiß, auch keine besonders unrühmlichen Taten.

Jedenfalls führte das alles dazu, daß ich die ersten sechs Jahre meines Lebens nur mit meiner Mutter verbracht habe, die in mir eine durchaus ernst zu nehmende Partnerin im täglichen Leben sah. Ich besetzte gleichzeitig die Rolle des abwesenden Ehemannes, der fehlenden Freundinnen und der nur am Rande vorhandenen Familie meiner Mutter. Ich wurde eine kleine Erwachsene und das Zentrum all der Liebe, die meine Mutter zu verschenken hatte; mir galt all ihre Aufmerksamkeit.

In den ersten vier Jahren meines Lebens habe ich mehr gelernt und erfahren als viele Kinder überhaupt und sicher mehr als die meisten deutschen Kinder damals. Es gibt eine ganze Reihe von Fotos aus dieser Zeit; meine Mutter war eine passionierte Fotografin, und der Fotoapparat, den sie damals hatte, hat uns, wie die Fotoalben auch, durch alle Bombardierungen, Evakuierungen und Fluchten begleitet. Offenbar ist auch immer jemand da gewesen, der uns beide oder hie und da sogar alle drei fotografiert hat. Auf den Fotos sind eine glückliche Mutter, ein uniformierter Vater und ein aufgewecktes Kind zu sehen, das offenbar eine große Garderobe besaß. Meine Mutter war eine begnadete Näherin, die sogar noch aus Pferdedecken Wintermäntel schneidern konnte. Ich bin gewiß eines der bestangezogenen Kinder zu der Zeit gewesen, denn aus jedem Fetzen Stoff hat sie noch etwas Brauchbares für mich kreiert. Stricken und Häkeln konnte sie natürlich auch hervorragend – ich erinnere mich nicht nur an bildschöne Pullover mit aufgesticktem Monogramm, sondern auch an fürchterliche Unterhosen im Muster 3-R-1-L-versetzt (falls Sie das nachstricken wollen: drei rechte Maschen, eine linke – auf der Rückseite wird dann die linke Masche zur mittleren rechten –, aber ich warne Sie: das Resultat wird untragbar sein ...), aber das kam erst einige Zeit später.

Erinnerungen aus den ersten vier Jahren in Berlin? Da gibt es erstaunlich viele. Schneeige Winter zum Beispiel, in denen ich weiße Gamaschenhosen und einen dunkelblauen Samtmantel mit dazugehörigem Hütchen trug. Wir sind Unter den Linden spazierengegangen: Meine Mutter im Pelzmantel (wenn wir das so nennen wollen; es war, glaube ich, ein Fohlenmantel) und hohen Absätzen! Abgesehen davon, daß man damals nicht unbedingt Stiefel trug oder es dann bald auch keine gab, hatte sie wunderschöne Beine, die sie wahrscheinlich lieber gezeigt (und dabei gefroren) als bedeckt hat. Sie hatte offenbar dieselben Beinmaße wie Marlene Dietrich – mein Vater soll das mal nachgemessen haben –, hatte wunderschöne Hände und war überhaupt eine attraktive, elegante Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog. Aber vor allem war sie ein liebenswürdiger Mensch mit Charme und einem großartigen Sinn für Humor.

Woher ich das alles weiß? Ich habe unzählige Male erlebt, wie irgendein Mann uns irgend etwas zulieb getan hat; einem davon verdanke ich vielleicht mein Leben. Bei einem der Transporte, wo wir vor irgend etwas flüchten mußten – entweder aus dem zerbombten Berlin oder aus Ostpreußen, wohin wir evakuiert worden waren und von wo wir dann in letzter Minute nach Thüringen verfrachtet wurden –, ging es darum, im letzten Zug noch unterzukommen. Sie müssen sich das genauso vorstellen, wie man es in Kriegsfilmen sieht: Völlig überfüllte Züge, Trauben von Menschen an den Zugtüren und auf den Waggons, und Hunderte auf dem Bahnsteig, die noch mitwollen. Wer immer der Mann war, er schuf eine Lücke, stieß meine Mutter hinein, die von dem Sog der Menschen ins Wageninnere gezogen wurde und an einem der offenen Fenster landete. Sie schrie: »Mein Kind! Mein Kind!«, aber der Unbekannte hatte sie bereits am Fenster entdeckt und sich den Weg dorthin gebahnt. In Windeseile reichte er Kind und das draußen gebliebene Fluchtgepäck durchs Fenster; schluchzende Mutter und weinendes Kind vereint inmitten von aufeinandergetürmten Gepäckstücken – was hätte Hollywood daraus gemacht? Ich bin sicher, in dieser Geschichte hat es dann einen Mann gegeben, der im Innern des Zuges dafür gesorgt hat, daß diese hübsche Frau mit ihrem auch-nicht-so-häßlichen Kind ihr Gepäck verstaut bekommen und irgendeinen, wenn auch vielleicht improvisierten Sitzplatz gefunden hat.

Was immer der Ausgangspunkt dieser Reise gewesen ist, sie muß 1943 oder danach stattgefunden haben. Bis dahin lebten wir nämlich in Berlin, und gar nicht mal so schlecht. Meine Mutter war sehr praktisch veranlagt, und sie hatte schnell begriffen, wie man mit rationierten Lebensmitteln durchkam. Zum einen mußte sie die Lebensmittelmarken-Ausgabe für den Wohnblock übernehmen. Das brachte uns in Kontakt mit der ganzen Nachbarschaft, die einmal im Monat bei uns vorbeischauen und die Monatsmarken abholen mußte. Meine Mutter war (fast) immer gut gelaunt und allgemein beliebt. Ich bin sicher, daß ihr diese aufgezwungene Tätigkeit sehr geholfen hat, als sie anfing, ziemlich leichtsinnig im Luftschutzkeller Hitler-Witze zu erzählen. Obwohl das beileibe nicht allen gefallen hat, hat niemand sie verraten; in vielen anderen Fällen hat so etwas genügt, um in einem Konzentrationslager zu landen.

Lebensmittelkarten wurden noch in einer anderen Weise wichtig. Durch geschicktes Kombinieren von Fett-, Zucker-, Fleisch- und Brotmarken schaffte es meine Mutter, daß wir fast jeden Tag auswärts essen konnten. Schon bald hatten wir ein Lieblingslokal: das »Berliner Kindl« auf dem Kurfürstendamm. Dort kannten uns alle Kellner und wahrscheinlich auch alle aus der Küche. Jedenfalls haben wir beide fast täglich dort zu Mittag gegessen. Meine Mutter hat die Vorteile, die ihr Aussehen und ihr Charme ihr brachten, geschätzt, und obwohl sie gut und gerne flirtete, hatte sie keine Absicht, ihren in Frankreich weilenden Ehemann zu betrügen, was ihr nicht auf gleiche Weise vergolten wurde. Sie hatte sich ihre eigene kleine Welt geschaffen, in der ich die Partnerin in einer engen Zweierbeziehung war.

Und damit waren einige Lernerfahrungen verbunden. So mußte ich zum Beispiel schon sehr früh lernen, in diesem Restaurant (oder wo immer sonst wir einkehrten) alleine auf die Toilette zu gehen. Nachdem meine Mutter mich ein paar Mal begleitet hatte und ich mit drei Jahren durchaus in der Lage war, mein Geschäft ohne sie zu verrichten, schickte sie mich alleine auf die weite Reise. Diese Reise bestand aus ca. fünf Metern geradeaus, bevor ich eine kleine Treppe hinuntermußte, wo sich die Damentoilette befand. Ich wartete jeweils bis zum allerletzten Moment, nachdem ich vorher meine Mutter angefleht hatte mitzukommen. Sie erklärte mir immer wieder geduldig, daß ich lernen müßte, die paar Schritte alleine zu gehen, und wenn es dann wirklich eilte, stand ich tränenüberströmt auf, stolperte los und rannte prompt in den nächsten Tisch oder den ersten Kellner, dem ich begegnete. Das ist vielleicht nicht jedesmal so abgelaufen, denn irgendwann habe ich begriffen, daß meine Mutter nicht nachgeben würde, aber meine Erinnerung an diese Expeditionen ist so stark, daß ich heute noch das Restaurant, »unseren« Tisch und den hindernisreichen Weg zu »Damen« zeichnen könnte.

Meine Mutter hatte zwar keine glückliche Kindheit gehabt, aber sie hatte das mitbekommen, was man Kinderstube nennt. Dazu gehörten selbstverständlich gute Tischmanieren, und so konnte ich bereits im zarten Alter von drei Jahren sehr gut mit Messer und Gabel umgehen. Ich saß »anständig« am Tisch, rannte nicht im Restaurant herum und verschüttete keine Getränke. Ich glaube, meine Mutter hätte mich zu Hause gelassen, wenn ich das alles nicht schnell gelernt hätte; für gewisse Nachlässigkeiten hatte sie schon damals kein Verständnis. Im Grunde genommen fand ich das alles auch ganz gut, außer eben der Sache mit der Toilette.

Und wenn ich alleine zu Hause geblieben wäre? Na, dann hätte ich eben wie eine »kleine Große«, wie mich meine Mutter nannte, das Telefon bedient und meiner Mutter bei ihrem Nach-Hause-Kommen erzählt, wer angerufen hat und mit wem ich lange Unterhaltungen gehabt hatte. Oder ich hätte mir die Zeit mit meinen zahlreichen Spielsachen vertrieben oder im Kleiderschrank herumgestöbert – einem dieser alten, dreiteiligen mit einer Spiegeltür in der Mitte –, wo unten, in Seidenpapier verborgen, Schätze lagen. Dort fand ich zum Beispiel die Abendtasche meiner Mutter, die einen Knipsverschluß hatte. Offenbar konnte ich stundenlang damit spielen, wobei der Knipsverschluß bald einmal keiner mehr war und das Gelenk der Seidentasche zurechtgebogen werden mußte, damit die Tasche wieder schloß.

Mein Lieblingsschatz war jedoch der Fuchs, den man sich so malerisch umlegen konnte. Es kostete mich zwar etwas Überwindung, ihn anzufassen, denn damals nahm man noch das ganze Tier, und ich hatte irgendwie Angst vor seinen kralligen Extremitäten. Aber die Mischung aus dem Parfüm meiner Mutter, den Mottenkugeln und dem eigentlichen Tiergeruch übte eine große Faszination auf mich aus, und wenn es auch eher so aussah, als ob der Fuchs mit dem kleinen Mädchen herumlief, so guckte ich doch gerne in den Spiegel und fand mich ganz »grande dame«.

Ach ja, die Eitelkeit! Sie hat uns einmal sogar in Lebensgefahr gebracht. Meine Mutter hatte ein Kleid für mich geschneidert aus einem schwarzen und einem schwarz-weiß karierten Stoff, das ganz leicht anzuziehen war. Es war das »Kellerkleid«, das ich beim ersten Ton der Alarmanlagen alleine anziehen konnte, während meine Mutter alles andere zusammensuchte, was sie wieder einmal mit ihren zwei Händen in den Luftschutzkeller schleppen wollte. Eines Nachts bin ich offenbar sehr ungnädig aufgewacht und habe auf totale Verweigerung gemacht. Ich wollte dieses doofe Kleid nicht anziehen, und als meine Mutter mir dann schließlich das Ding über den Kopf stülpte, ließ ich eine kleine Szene vom Stapel. Es ist mir deshalb in Erinnerung, weil es eine der wenigen Male war, wo meine Mutter die Beherrschung verlor und mich schlug. Obwohl die britischen Flieger eigentlich keine Zeit für so etwas ließen, muß sie mein Geschrei in einem solchen dramatischen Moment dermaßen genervt haben, daß sie ins Kinderzimmer stürzte, wo ihr Vorzeigekind auf dem Bett auf und ab hopste und schreiend verkündete, daß es dieses Kellerkleid nicht anziehen wollte, dieses Vorzeigekind umdrehte und ihm den Popo versohlte. Unnötig zu betonen, daß wir danach nie wieder ein Problem mit dem Kellerkleid gehabt haben.

Meine Mutter war eine leidenschaftliche Berlinerin, und wie die meisten leidenschaftlichen Berliner war sie in der Provinz geboren: in Pommern – etwas, was sie dem Schicksal übelnahm. Nachdem sie ihre pommersche Herkunft abgestreift hatte, wurde sie eine hundertprozentige Städterin. Alles, was nicht Berlin war, war Provinz. Kein Wunder also, daß sie die Stadt freiwillig nie verlassen hätte, und so blieben wir fast unverantwortlich lange in Berlin, das zum Zentrum der Luftangriffe wurde. Zweimal ist unser Haus durch Bomben beschädigt worden, während wir im Luftschutzkeller waren. Ich spüre heute noch die kalte Zugluft, die durch die Wohnung fegte, als wir wieder oben waren. Die Fensterscheiben hatten beide Male dem Luftdruck nicht standgehalten und lagen danach als Tausende von Splittern buchstäblich überall herum.

Zweimal konnte man den Brand löschen, die Scheiben wieder ersetzen, aufräumen und weitermachen. Als das Haus dann einen Volltreffer abbekam, waren wir zum Glück nicht mehr in der Stadt, und während alles, was wir besaßen und nicht nach Ostpreußen hatten mitnehmen können, unter einem gewaltigen Trümmerhaufen verschwunden war, waren wir unverletzt. Natürlich mußte meine Mutter sehen, ob noch etwas zu retten war; wie es ihr gelungen ist, mit mir wieder nach Berlin zu reisen, weiß ich nicht, aber ich werde nie den Anblick vergessen, wie sie tränenüberströmt mit bloßen Händen die Trümmer durchgrub, um vielleicht doch noch etwas zu finden, was uns einmal gehört hatte.

Bilder, die in der Erinnerung leben. Da fällt mir noch eins ein, das zwar auch mit Bombardierungen zu tun hat, aber amüsant ist. Ich bin, wie gesagt, als kleine Erwachsene erzogen worden, und aufgrund der Nähe zu meiner einzigen Bezugsperson war ich auf Stimmungen oder Verhaltensweisen meiner Mutter sensibilisiert. Eines Tages, als ich offenbar noch nicht völlig toilettenfest war, hat sie mich aufs Töpfchen gesetzt, mir ein Bilderbuch in die Hand gedrückt, und mir erklärt, daß sie schnell zum Laden um die Ecke gehen müsse, um einzukaufen. Während sie anstand, gab es Alarm – zum erstenmal fand ein Fliegerangriff am hellichten Tag statt! Sie unten, in der Schlange, und das Kind oben alleine in der Wohnung! So schnell sie rennen konnte lief sie zurück, und schon beim Aufstoßen der Wohnungstüre rief sie mir zu, daß ich mich sofort anziehen sollte, weil wir in den Keller müßten. Bis dahin hatten wir über Tag nur Probe-Alarm gehabt, und ich begriff nicht, warum sie so aufgeregt war. Ich wollte sie beruhigen und sagte tröstend, während ich auf dem Töpfchen sitzenblieb: »Aber das ist doch nur Probe-Alarm.« Wenn Sie glauben, SIE hätten Probleme, wenn Sie Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn irgend etwas erklären müssen, stellen Sie sich mal vor, was es heißt, ein Kind davon zu überzeugen, daß man diesmal den Ernstfall probt. Offensichtlich muß es ihr gelungen sein – ohne Tracht Prügel –, aber auch der Ernstfall des ersten Tagesangriffs, dem natürlich weitere folgen würden, hat sie nicht dazu bringen können, freiwillig Berlin zu verlassen.

Eines Tages, im Sommer 1943, gab es dann aber keine andere Wahl mehr; es wurde der Zivilbevölkerung befohlen, die Stadt, die laufend bombardiert wurde, zu verlassen. Unser Ziel war ein Kaff namens Kreuzingen in Ostpreußen, wo man uns in Sicherheit glaubte.

Als verantwortungsbewußte Mutter wird sich die meine im voraus Gedanken gemacht haben, was sie in diese Exilierung mitnehmen wollte, und vielleicht wird Ihnen das im nachhinein alles etwas komisch vorkommen. Also, da waren, wo immer wir hinmußten – Keller oder anderes Gebiet in Deutschland – vor allem die Federbetten. In jeder Hand trug meine Mutter eines dieser unförmigen Bündel, die sich, wenn man sie entbündelte, als wahre Schatzkammern entpuppten. Ein paar Dinge sind mir noch in Erinnerung:

das Allernötigste an persönlicher Kleidung für uns beide Bettwäsche zum Wechseln das elektrische Bügeleisen ein paar Werkzeuge alle Papiere, ohne die man im Deutschland der 40er Jahre nicht auskommen konnte Fotos ein paar kleinere persönliche Erinnerungsgegenstände

Sicher wird da noch manches andere drin gewesen sein, aber an die vorher erwähnten Gegenstände erinnere ich mich noch genau, besonders an das Bügeleisen, das schwer und unhandlich war, aber noch sehr lange in unserem Leben blieb und uns viele gute Dienste geleistet hat.

Kreuzingen. Nicht Königsberg, sondern ein wirklich unterentwickeltes Dorf im Nordosten des damaligen Deutschlands. Die Dorfstraße hatte eine Molkerei, eine Metzgerei und eine Bäckerei. Es gab einen Gasthof, Zentrum des öffentlichen Gesellschaftslebens – und wir hatten das Glück, dort im zweiten Stock ein Zimmer zu bekommen. »Glück« bedeutet hier, daß alles andere noch viel schlimmer gewesen wäre, als es ohnehin schon war. Das Zimmer war klein und abgeschrägt; zwei Betten entlang den beiden Längswänden, vor einem der Eßtisch, anschließend an das andere der Gaskocher. An einem Ende ein Dachfenster, am anderen eine Waschgelegenheit. Ein Kleiderschrank und eine Kommode werden auch noch Platz gehabt haben, aber damit war das kleine Zimmer überfüllt. Ich erinnere mich an diese Möblierung sehr genau, aus verschiedenen Gründen:

Ich habe mich offenbar bemüht, in das Jahr, das wir dort hausten, so viele Krankheiten wie möglich hineinzupacken. Meine arme Mutter! Da war zuerst einmal das, was die Einheimischen »die polnische Krankheit« nannten: Infolge unzureichender Hygiene war der Körper mit unzähligen roten Pusteln übersät, die grauenhaft juckten. Wenn man kratzte, entstanden häßliche kleine Narben. Ich hatte mich angesteckt beim Spielen mit den einheimischen Kindern, zu denen auch die der Knechte und Mägde gehörten, die auf dem zum Gasthof gehörenden Bauernhof arbeiteten. Die Heilung war fast schlimmer als die Krankheit: Meine Mutter hatte eine stinkende Tinktur erworben, mit der sie mich von oben bis unten einreiben mußte. Das Zeug brannte dermaßen, daß ich schreiend zwischen dem offenen Fenster und der geöffneten Tür hin- und herlief, damit der Luftzug, der dadurch entstand, mir etwas Linderung brachte. Die Ausmaße des Zimmers haben sich mir also eingeprägt, zumal ich es geschafft haben, in diesem einen Jahr gleich dreimal die Krätze zu kriegen!

Damit es meiner Mutter und mir in den Zeiten dazwischen nicht langweilig wurde, bekam ich irgendwann Gelbsucht. Eine mühsam-langwierige Angelegenheit, der nur mit strikter Diät beizukommen war. Und krankheitsbedingte Diäten in Zeiten der Not sind alles andere als einfach einzuhalten. Während dieser Krankheit hatte ich viel Zeit, an die Decke zu starren oder meiner Mutter beim Kochen zuzusehen. Das Zimmer wurde mir sehr vertraut.

Irgendwann habe ich dann einen Unfall bewerkstelligt: Jemand hat mich auf dem Gepäcknetz eines Fahrrads mitgenommen. Dort sollte man die Füße auf die Radnabe stellen oder ganz weit Wegstrecken. Ich fand beides überflüssig – und schon war ein Fuß in den Speichen des Hinterrads! Eine Narbe am rechten Knöchel zeugt noch heute davon. Wiederum hatte ich Gelegenheit, das Zimmer zu »genießen«.

Schließlich setzte ich allem die Krone auf, indem ich Scharlach bekam. Windpocken, Keuchhusten und Masern hatte ich noch in Berlin abgehakt. Meine Mutter wartete mit angehaltenem Atem darauf, ob ich ihr jetzt noch Diphtherie antun würde, doch da habe ich sie enttäuschen müssen. Aber für ein Jahr waren dreimal Krätze, Gelbsucht, Scharlach und der Radunfall eigentlich auch genug, oder?

Den Scharlach habe ich übrigens nicht in dem Zimmer auskurieren können; ich wurde in das Kreiskrankenhaus eingeliefert. Eine einmalige Gelegenheit, das deutsche Spitalwesen im Kriegswinter 1943/44 kennenzulernen! Ich war auf der Quarantäne-Station im selben Zimmer mit drei Erwachsenen. Der Kontakt zur Außenwelt bestand darin, daß ich mit meinen Eltern (mein Vater war auf Weihnachtsurlaub) durch ein geschlossenes, vergittertes Fenster per Handzeichen kommunizieren durfte! Und ich hatte ihnen so vieles zu erzählen: Zum Beispiel, daß ich Hunger hatte und nicht genug zu essen bekam. Das nächste Mal brachte meine Mutter etwas mit. Ich aß nicht alles, hätte das aber gescheiter tun sollen. Das Übriggelassene hatte ich im Nachttischchen versteckt. Am nächsten Morgen war es nicht mehr da; dafür war der Nachttisch innen mit Mäusedreck übersät.

Als ich nach einigen Wochen endlich den schrecklichen Ort verlassen konnte, hatte ich nur noch ganz dünne Zöpfe. Ob das der Beginn meiner Haar-Obsession war? Es könnte sein, denn ich hatte als Kind sogenannte Schiller-Locken, die fast jeden Abend auf Holzwickler (!) aufgerollt wurden. Eigentlich könnte ich alle meine Webfehler damit entschuldigen: Man stelle sich mal vor, was das meinem Gehirn angetan haben muß ... Oder vielleicht war es ein Webfehler meiner Mutter, die eigentlich viel zu intelligent war, um so etwas zu tun. Jedenfalls haben wir beide viel Zeit damit zugebracht, meine Haare so hübsch wie möglich zu präsentieren. Sie selbst hatte sehr dünnes Haar; vielleicht hat sie deshalb den Haaren ihrer kleinen Tochter so viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Ach ja, die Haare! Sie waren mein ganzes Leben lang ein Thema. Es gibt Fotos von mir, die mich mit dichten Haaren, ja hie und da sogar mit einer sogenannten Löwenmähne zeigen. Aber ich war nie wirklich zufrieden mit dem, was ich hatte, denn selbst wenn es gut aussah, hatte es ziemlich viel Hilfe seitens der Chemie gebraucht, was wiederum bedeutete, daß Nebel, Nieselregen, aber auch große Hitze jede Frisur in größte Gefahr brachten und ich total abhängig von meinem jeweiligen Coiffeur war. Man sagt ja, daß jede Frau zuerst das bei einer anderen (kritisch) anschaut, was sie selbst nicht hat oder womit sie selbst nicht zufrieden ist. Ich kann das bestätigen: Mein Blick fällt bei einem weiblichen Gegenüber unweigerlich zuerst auf die Haare. In meiner Zeit in den USA hatte das eine geradezu masochistische Komponente: Amerikanerinnen haben meistens sehr gutes Haar und sehr viel davon, und so hatte ich also immer wieder Grund, mit meinem zu hadern. Kein Wunder auch, daß die amerikanische Filmschauspielerin Farah Fawcett mit ihrer unglaublichen Haarfülle eines meiner Idole wurde.

Als Fünfjährige fand ich die dünnen Zöpfchen auch nicht berauschend, aber sie waren ja kein Dauerzustand, und bald waren Krankheit, Mäuse und Haarausfall vergessen, besonders nachdem meine Mutter und ich wieder ein halbwegs normales Leben aufnehmen konnten. Dazu gehörte allerdings hie und da auch etwas Außergewöhnliches, wie zum Beispiel Kino. In Berlin hatte sie mich manchmal zu etwas Jugendfreiem mitgenommen. Das hatte mich damals wohl nicht so fasziniert, denn ich weiß noch, daß für mich das Wichtigste war, zu wissen, wo die Toilette war. Ich »mußte« einfach dauernd und hatte immer Angst, zu spät dorthin zu kommen.

In Kreuzingen hingegen gab es diese Gefahr nicht, denn es gab gar kein Kino! Manchmal aber schafften ein paar Filmrollen den weiten Weg bis fast an die Ostgrenze des damaligen Deutschlands, und dann gab es in einer großen leeren Scheune eine Filmvorführung! Allerdings nur für Erwachsene, was meine Mutter nicht daran hinderte, mich mitzunehmen. Wir warteten, bis das Licht ausging, und schlichen uns dann hinein. Bis dahin waren alle Sitzplätze besetzt, und wir mußten stehen. Wenn ich mich als fast einziges Kleidungsstück an den Pelzmantel meiner Mutter erinnerte, dann nur, weil sie ihn leicht öffnete während der Vorstellung, damit ich daraus hervorgucken konnte, und sie mich irgendwie darunter verbarg, wenn beim Wechseln der Filmrollen das Licht wieder anging. Jedenfalls sind wir nie geschnappt worden, obwohl sie sich mit solchen Eskapaden immer wieder in potentielle Konflikte mit offiziellen Organen brachte.

Ich kann mich nicht erinnern, einen Mangel an Spielzeug gehabt zu haben, sogar in der Evakuation. Wie viele Kinder träumte aber auch ich von einem Fahrrad, besonders angesichts der Tatsache, daß es in diesem Kaff keine andere Transportmöglichkeit gab als Radfahren, Laufen oder allenfalls von einem bäuerlichen Leiterwagen ein Stück mitgenommen zu werden. Und das Wunder geschah: Mein Vater bekam nochmals Urlaub, bevor er die Fleischtöpfe Frankreichs verlassen mußte und an die Ostfront verschoben wurde, und brachte ein nagelneues rotes Kinderfahrrad mit! Mein Gott, mitten im Krieg, nein, am Ende des vorletzten Kriegsjahres kommt ein Vater mit einem wunderschönen Fahrrad auf Urlaub! Wie ihm das gelungen ist, weiß ich nicht, aber ich konnte es kaum erwarten, bis das Wetter es zuließ, daß wir dieses Wunderding einweihen konnten.

Die meisten Erwachsenen können sich nicht so recht erinnern, wie sie radfahren gelernt haben. Sie konnten es eines Tages einfach. Ich nicht, und daher erinnere ich mich sehr gut – nicht zuletzt auch, weil es um diese Lernerfahrung herum die erste große Auseinandersetzung mit meinem Vater gab. Und das ging so: Vater geht mit Kind und Rad in ein Kornfeld, wo es breite Schneisen, aber keine Menschen gibt. Kind darf Rad selbst schieben. Vater zeigt, wie das aussieht, wenn man richtig radfährt – als nicht sehr Großgewachsener gelingt es ihm sogar, dem Kind das auf dem Rad selbst vorzumachen. Kind besteigt Rad – und fällt hin. Vater erklärt erneut – mit dem gleichen Resultat. Kind macht aber Fortschritte – es fährt einige Meter, bevor es wieder hinfällt. Vater wird zunehmend gereizt; es gibt die erste Ohrfeige. Kind weint jetzt, sieht noch weniger, wohin es fährt – und: Resultat wie gehabt. Zweite Ohrfeige von entnervtem Vater, was immer noch keinen Lernerfolg auslöst. Schließlich Drohung von Vater an Kind: »Herrgott, begreifst du denn gar nichts?! Wenn du noch einmal fällst, verkaufe ich das Fahrrad!« Den nächsten Versuch hätte sich das tränenüberströmte Kind eigentlich sparen können; es hat das Resultat nur um ein paar Minuten hinausgezögert. Natürlich bin ich wieder hingefallen – und, ja, das Rad habe ich nach diesem Nachmittag nie mehr gesehen. »Natürlich«, sollte ich auch hier noch hinzusetzen, obwohl ich das damals noch nicht gewußt habe. Mein Vater drohte nie einfach so. Er hielt seine Versprechen. Ich würde später lernen, seine Drohungen ernst zu nehmen.

Wenigstens haben wir von diesem Fahrrad ein paar gute Mahlzeiten gehabt. Im Frühsommer 1944 haben sich die Bauern noch um solche Raritäten gestritten und in Tauschgeschäften überboten, ein Jahr später hätten sie dafür nur noch ein müdes Lächeln aufgebracht, denn da lagen die Perserteppiche schon in ihren Kuhställen, weil sie so viele davon gegen ein Pfund Butter, ein paar Kilo Kartoffeln oder zehn Eier eingetauscht hatten. Sobald mein Vater sich als Fahrlehrer aus meinem Leben verabschiedet hat, habe ich selbstverständlich radfahren gelernt. Wie gut ich das später konnte, habe ich als Dreizehnjährige unter Beweis gestellt, als ich für einen Lesezirkel die wöchentliche Auslieferung in der Altstadt Duisburgs übernahm und ein Fahrrad mit einem großem Aufsatz auf dem Vorderrad über das holprige Pflaster balancieren mußte.

Meine Mutter hat nie ein Buch über Kindererziehung gelesen; als leidenschaftliche Mutter hat sie jedoch das meiste richtig gemacht. Mein Vater hätte nur gelacht, wenn man mit ihm die Existenz solcher Bücher diskutiert hätte – seine Erziehungsmethoden basierten auf Drohungen, auf der Hand, die ihm leicht ausrutschte, und auf dem Hohn, mit dem er mich überhäufte, wenn ich etwas auf Anhieb nicht verstand oder versuchte, ihn noch umzustimmen.

Aber noch sind wir nicht in Duisburg, sondern immer noch in Ostpreußen, wo es im Herbst 1944 zunehmend ungemütlich wird. Also beschließt der Staat, die bereits evakuierte Bevölkerung nochmals zu evakuieren. Diesmal ist es Thüringen, wo wir in einem Dorf namens Siersleben landen.

S-i-e-r-s-l-e-b-e-n! Wie wird man mit so etwas fertig? Wie überlebt vor allem eine elegante Städterin wie meine Mutter diese erneute Verpflanzung? Knapp, würde ich sagen. Zehn Kilometer weiter, und wir wären in Eisleben gelandet. Eisleben ist der Ort, wo Martin Luther geboren wurde – das können wenigstens einige Menschen nachvollziehen. Siersleben hingegen hätte es gar nie geben dürfen; dort sah sogar Kreuzingen in der Rückschau gut aus ...

Siersleben besteht in meiner Erinnerung aus einer Hauptstraße und einer Reihe von Bauernhöfen. Vielleicht hat es mehr als das gegeben, vielleicht war das schon alles. Wir jedenfalls waren im Parterre eines Privathauses an der Hauptstraße einquartiert, anfänglich in zwei Zimmern. Im zweiten Stock die Hausbesitzerin, im ersten ihr debiler alter Vater, der, wie sich dann herausstellte, so debil gar nicht war: Er war einer der ersten, der beim Einmarsch der amerikanischen Armee ein großes weißes Laken aus einem der Fenster hängte und die Befreier stürmisch begrüßte. Unnötig zu betonen, wie sehr sich diese beiden gefreut haben, daß da diese offensichtlich verrückte Berlinerin mit ihrem gräßlich aufgeweckten Kind bei ihnen zwangseinquartiert wurde – und später auch noch der aus der Gefangenschaft entlassene Ehemann dazukam!

Daß meine Mutter nicht normal sein mußte, konnte man leicht erkennen: Sie besaß einen Wintermantel, sogar einen aus Pelz. Diese Tatsache alleine machte sie in dem ganzen Dorf suspekt, was allerdings auf totaler Gegenseitigkeit beruhte: Meine Mutter starrte die Frauen an, die in eine Wolldecke gehüllt daherkamen, ihre kleinen Kinder auf dem Arm, in dieselbe Decke eingebunden. Es erinnerte an mexikanische oder südamerikanische Urbevölkerungen – und war doch nur einige hundert Kilometer von Berlin entfernt. Bald sollte wenigstens der Pelzmantel kein Stein des Anstoßes mehr sein, denn auch er wurde »verfuttert«. Aber meine Mutter konnte, wie gesagt, wunderbar nähen und sah halt auch zu der Zeit noch gut aus. Die Frauen haßten sie geradezu und ließen sie das spüren, wenn sie über Land ging, wie das damals hieß. Das bedeutete: Meine Mutter zog sich so an, daß sie auf matschigen Landstraßen von Bauernhof zu Bauernhof gehen konnte, um dort mit Tauschgeschäften für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie lernte bald, daß sie gar nicht erst anfangen mußte zu verhandeln, wenn die Bäuerin zuerst auftauchte. »Wir haben nichts!«, wurde ihr dann in breitestem thüringischen Dialekt zugerufen, bevor sie auch nur die Türe erreichte. Waren es hingegen die Bauern, die zuerst auf sie aufmerksam wurden – meistens alte oder invalide Männer, die nicht mehr an die Front geschickt werden konnten –, so hatten wir eine Chance (»wir«, denn manchmal nahm sie mich mit – mit dem Kind an der Hand erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht mit leeren Händen vom Hof gehen mußte, aber nur, wenn dieses Kind den Mund nicht aufmachte), daß ein paar Grundnahrungsmittel uns für ein paar Tage über die Runden bringen würden.

Warum mußte ich stumm dabeistehen, wenn meine Mutter verhandelte? Nun, die Dorfbewohner waren von mir genauso angetan wie von meiner Mutter. Im Gegensatz zu Ostpreußen schien es in diesem Dorf fast keine Kinder zu geben, jedenfalls kann ich mich kaum erinnern, daß Kinder mit mir spielten. Und so waren wir beide wieder einmal symbiotisch verbunden. Da ich mein ganzes sprechendes Leben lang dazu angehalten worden war, »anständig« zu reden, bitte und danke zu sagen, zu knicksen, wenn ich jemandem die Hand gab und was dergleichen Dinge mehr sind, waren mein Wortschatz und die Themen, die mich interessierten, weit jenseits des Horizonts der Dorfbewohner; sie verstanden mich nicht, und ich fand sie doof.

Der Krieg kam ins Endstadium. Die linientreuen Dorfbewohner hatten damit ihre Mühe und hielten tapfer an ihren Illusionen fest. Meine Eltern hatten sich auseinandergelebt. Meine Mutter hatte gelernt, ohne ihren Ehemann auszukommen, und wollte die hart erarbeitete Freiheit nicht mehr aufgeben. Inzwischen war mein Vater in Ostpreußen stationiert, nicht weit von dem Dorf entfernt, in dem wir gelernt hatten, was ländlich-sittlich heißt. Unter den schwierigsten Umständen gelang es meiner Mutter, ihn dort zu besuchen. Es war Januar 1945; die russischen Geschütze waren bereits in Hörweite. Am 19. hatte mein Vater Geburtstag, und sie hatte ein besonderes Geschenk für ihn: Sie war zu ihm gereist, um ihm persönlich mitzuteilen, daß sie sich nach Kriegsende von ihm scheiden lassen würde! Mein Vater honorierte das auf seine Weise, was sie jedoch erst später realisierte. Im März 1945 erkannte sie, daß sie wieder einmal schwanger war. Damit war das Thema Scheidung vorerst vom Tisch – und das war genau, was mein Vater gewollt hatte.

Ziehen Sie jetzt nicht die Augenbrauen hoch. So, wie ich das hier zu Papier bringe, wirft es ein etwas seltsames Licht auf meine Mutter, da gebe ich Ihnen Recht: Sie fährt unter den schwierigsten Umständen zu ihrem Ehemann, um ihm die geplante Scheidung mitzuteilen, und kommt schwanger zurück! Aber die Situation im Januar 1945 in Ostdeutschland war eine andere, und mein Vater war in bezug auf Charme und Verführung kein Anfänger. Er wußte zudem, was ihm guttat: die beste Zeit seines Lebens war die an der Seite meiner Mutter gewesen, und wohin wollte er denn aus dem Krieg heimkommen, wenn nicht zu einer Familie? Und dann: Können Sie sich eine bessere Zeit für eine Schwangerschaft vorstellen als das Ende des Zweiten Weltkriegs? Eben.

Am 12. Februar 1945, in einem der kältesten Winter, wurde ich sechs Jahre alt. Jeder Geburtstag vorher war ein erinnerungswürdiger Tag gewesen. Ich glaube, meine Mutter hat jeweils das ganze Jahr über geschaut, was sie mir zu meinem großen Tag schenken könnte, und wenn es nichts Gekauftes war, dann war es etwas Selbstgemachtes – immer aber gab es einen Gabentisch, wenn er auch noch so bescheiden war. Im Februar 1945 war ihr das aber nicht gelungen; anderseits wollte sie ihre Tochter nicht enttäuschen. Und dann erinnerte sie sich an einen ziemlich teuren Schildpattkamm, den sie in ihrer »guten« Handtasche hatte. Ich spielte so gerne mit diesem Ding, das sich eigentlich als Kinderspielzeug nicht so eignete und mir deshalb auch dauernd weggenommen wurde. Als gar kein Geschenk aufzutreiben war, beschloß meine Mutter, sich von diesem Kamm zu trennen, damit ich wenigstens etwas auspacken konnte. Dazu hatte sie einen Kartoffelkuchen gebacken und eine der kostbaren Kerzen als Lebenslicht in die Mitte des Kuchens gestellt. Beim Aufwachen gab es ein besonderes Ritual: Weil es in dem ungeheizten Raum so bitterkalt war, blieb ich im Bett und mußte die Augen ganz fest zudrücken, bis die Kerze angezündet war. Dann kam die erlösende Aufforderung, sie zu öffnen – und da war eben doch ein Päckchen zum Öffnen, ein Kuchen zum Probieren und das Lebenslicht, die eine Kerze, die bei allen Geburtstagen leuchten mußte, egal wie viele andere noch darum herum brannten! Ich liebte meine Mutter heiß und innig.

Ich habe viele schöne Erinnerungen an wunderbare Geburtstage, aber mein sechster ist als etwas ganz Besonderes in meinem Gedächtnis verankert. Wen wundert’s, daß Geburtstage in unserer Familie einen extrem hohen Stellenwert haben? Wir betrachten diesen Tag als den wichtigsten Tag im Jahr und tun alles, damit das Geburtstagskind das auch 24 Stunden lang – und davor und danach auch noch, wenn möglich – so empfindet.

Der Frühling 1945 ist eine Zeit voller Falschmeldungen, Ängste, Gerüchte. Und permanent lauert die Gefahr, daß ganz überzeugte Nazis, von denen es immer noch genügend gibt, jemanden wie meine Mutter, die laut über das Kriegsende und eine Zeit danach nachdenkt, erschießen. Endlich: der Mai 1945. Zum Glück sind es die Amerikaner, die uns befreien. Denken Sie an all die Hollywood-Filme, die diesen Teil der Geschichte auf Zelluloid verewigt haben – so ähnlich war das schon, aber erst, nachdem die Befreier wußten, daß sie an einem Ort sicher waren. Bis dahin benahmen sie sich durchaus so, wie man sich eine erobernde Truppe vorstellt.

Aus der sicheren Distanz von bald sechs Jahrzehnten ist das vielleicht schwer verständlich; wenn ich mir die Situation damals vergegenwärtige, überrascht es mich jedoch gar nicht. Es sind zum Teil blutjunge GIs, auf Eroberung getrimmt. Sie müssen beim Einzug in die Dörfer jedes Haus durchsuchen und jeden Bauernhof bis in die letzte Ecke durchstöbern, auf der Suche nach Waffen oder deren Besitzern. Sie agieren mutig, indem sie die Menschen, denen sie begegnen, anschreien – dabei ist ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben. Danach verteilen sie Schokolade und Zigaretten, reagieren aber äußerst nervös auf unvermutete Bewegungen ihres Gegenübers. Vergewaltigungen waren gewöhnlich nicht ihr Stil – sie waren auch nicht angesagt, denn die meisten Frauen haben sich nur zu gerne hingegeben. Was hat eine Frau damals nicht alles getan für ihr erstes Paar Nylonstrümpfe, für Milchpulver oder Hershey Kisses, diese lustigen kleinen Schokoladestückchen aus den amerikanischen Militärrationen?

Ich erinnere mich an all das sehr genau, denn an dem Vormittag, als Siersleben »erobert« wurde, stand ich mit meiner Mutter vor dem Dorfladen. Wir standen wieder einmal an. Das ist die Beschäftigung, die in Kriegs- und Krisenzeiten wohl die meisten Stunden beansprucht: Anstehen, in der Hoffnung, daß man rechtzeitig »drankommt«, um noch etwas von dem zu ergattern, was an dem Tag gerade verfügbar war. In vielen Fällen hatten wir überhaupt keine Ahnung, was das Tagesangebot war; man nahm, was man kriegen konnte. Wenn man es selbst nicht brauchen konnte, hatte man wenigstens etwas zum Tauschen. Wir stehen also in einer langen Schlange, und plötzlich kommt der erste Panzer um die Ecke, gefolgt von mehreren anderen, Jeeps und Lastwagen. Ein Offizier springt herunter, rennt mit vorgehaltenem Gewehr auf die völlig verängstigten Frauen zu und schreit in bestem Deutsch: »Na, wo ist er denn, euer Führer? Wo ist er jetzt, wo ihr ihn brauchen könntet?« Die Dorfbewohnerinnen schreien und weinen ihrerseits und wollen nach Hause rennen. Das verhindern jedoch die Amerikaner, von denen jetzt einige um uns herumwuseln. Weiß der Himmel, wofür sie trainiert worden waren; so wie sie da herumstehen, alle mit Gewehren schußbereit in der Hand, scheinen sie auch nicht so recht zu wissen, was sie mit diesen aufgelösten Frauen anfangen sollen.

Meine Mutter übernimmt die Führung, nicht zuletzt, weil der aufgeregte Offizier sie direkt anschreit. Sie erklärt ihm, daß er von dieser Gruppe nichts zu befürchten hat, muß aber weitere höhnische Bemerkungen über sich ergehen lassen. Was immer sie dann noch geredet bzw. geschrieen haben, hat dazu geführt, daß sich die Frauen schließlich nach Hause flüchten dürfen, während die Besetzung ihren Gang nimmt. Ein paar GIs werden abkommandiert, um meine Mutter die ca. hundertfünzig Meter nach Hause zu begleiten. Das ist das Ende unseres zweiten Zimmers, das die Soldaten sofort beschlagnahmen. Wir dürfen noch ein Bett ins andere Zimmer tragen, dann wird das ehemalige Schlafzimmer geräumt, und so haben wir die Besatzer direkt im Haus.

Mai 1945. Nachdem sich alle vom ersten Schock erholt hatten, nachdem alle Waffen eingesammelt worden waren (erstaunlich, wie viele davon noch in diesem verschlafenen Dorf vorhanden waren), nachdem die alten oder invaliden Männer – einschließlich des Vaters unserer Hausbesitzerin vom ersten Stock – verhört und meistens wieder freigelassen worden waren, kehrte eine gewisse Normalität ein. Wir gewöhnten uns an die freundlichen, heimwehkranken Soldaten, die immer irgend etwas verteilten und zu einer Sechsjährigen ausgesprochen nett waren. Die Menschen konnten wieder lachen oder einen Frühlingstag genießen. Selbstverständlich beeilten sich alle, den Amerikanern zu versichern, wie froh sie über die Befreiung seien. Selbstverständlich hatte keine(r) im Dorf je etwas mit den Nazis zu tun gehabt – warum hätten auch diese Dorfbewohner anders sein sollen, wo es doch, wie wir später herausfinden würden, in ganz Deutschland keine Nazis gegeben hatte ...?!

Ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger GI war besonders freundlich. Er hatte sich wohl ein bißchen in meine Mutter verguckt. Sie war zwar Ende dreißig und im vierten Monat schwanger, aber sie hatte immer noch die Allure einer Städterin, und sie war ein liebenswürdiger Mensch. Sie konnte den jungen Mann auf Distanz halten und sich trotzdem auf ihn als Beschützer verlassen. Für sie war er wie ihr Stiefsohn, der ihr 1943 abhanden gekommen war.

»Stiefsohn? Was für ein Stiefsohn?« höre ich Sie sagen. Also, erwähnt habe ich ihn schon, aber nur im Zusammenhang mit meinem Vater, erinnern Sie sich? Aber Sie haben Recht: Ich schulde Ihnen diesen »Stiefsohn«, der jetzt, wo er in diese Geschichte platzt, bereits zwei Jahre als »vermißt« gilt. Also, hier ist er: Günter Ring, geboren ca. 1922/23 in Duisburg.

Als meine Eltern heirateten, gab es im Rheinland einen kleinen Jungen namens Günter, der in einem Waisenhaus untergebracht war. Normalerweise befinden sich ja in solchen Institutionen Kinder, die keine Eltern mehr haben. Dieser Junge hingegen hatte vier, denn die Ex-Frau meines Vaters hatte auch wieder geheiratet. Beide natürlichen Eltern wollten jedoch nichts mit dem Kind zu tun haben und hatten es in dieses Waisenhaus abgeschoben. Als meine Mutter davon erfuhr, war sie empört; kurz entschlossen machte sie dieser absurden Situation ein Ende, indem sie meinen Vater veranlaßte, »das Kind« nach Berlin kommen zu lassen. Und so wurde die zweiundzwanzigjährige, frisch gebackene Ehefrau in kurzer Zeit Stiefmutter eines Siebenjährigen.

Muß man erwähnen, daß dieser Junge meine Mutter anbetete? Die beiden haben sich vom ersten Moment an gut verstanden – ich habe ja schon erwähnt, daß meine Mutter für die Mutterschaft geradezu prädestiniert war. Aus dem verstörten Waisenhaus-Insassen wurde in kurzer Zeit ein intelligenter, fröhlicher Junge, der sich enorm gefreut haben soll, als er eines Tages als Siebzehnjähriger eine kleine Schwester in den Armen hielt. Ich hätte mir keinen besseren Bruder vorstellen können, nur habe ich nicht viel von ihm gehabt. Er wurde früh eingezogen, kam dann ein paar Mal auf Urlaub nach Hause – und dann eben eines Tages nicht mehr. Es hat lange gedauert, bevor meine Mutter akzeptieren konnte, daß dieser Junge, der so abrupt in ihr Leben gekommen war, genau so plötzlich daraus wieder verschwunden war. Sie und ich haben ihm ein liebendes Andenken bewahrt; ich kann mich nicht erinnern, daß mein Vater je von ihm gesprochen hat. Ich glaube, die beiden konnten es nicht so gut miteinander; Günter hat es seinem Vater wohl nie verziehen, daß dieser sich eigentlich schon sehr früh aus seinem Leben verabschiedet hatte.

Der junge GI also, altersmäßig zwischen meiner Mutter und mir, war für sie so etwas wie der Ersatz für den Stiefsohn. Er, der nur Englisch sprach, sah sie wohl eher als Frau. Jedenfalls war die Trauer groß, als er von Siersleben abgezogen wurde, und die Briefe, die er ihr danach geschrieben hat und die sie anhand eines Wörterbuches, das er ihr geschenkt hatte, zu entziffern versuchte, waren eindeutig schwärmerische Liebesbriefe.

»Von Siersleben abgezogen«. Diese drei Wörter bilden den Hintergrund für ein ganzes Horror-Szenario, das von da an für den Rest des Jahres unser Leben bestimmen sollte. Bald nach Ankunft der Amerikaner nämlich teilten die Sieger Deutschland unter sich auf – und leider fiel Thüringen an die Russen. Die Amerikaner räumten das Feld, und wir bekamen danach wirklich zu spüren, was es heißt, unter Besatzung zu leben. Die Russen sahen anders aus, rochen anders, stießen komische Laute aus und waren andauernd betrunken. Sie rollten ebenfalls auf Panzern herein, aber denen folgten keine Jeeps oder Lastwagen, sondern das, was man Panje-Wagen nannte: Leiterwagen, von kleinen Pferden gezogen, voll besetzt mit ungewaschenen Soldaten in schlammbedeckten Stiefeln. Wenn sie nur ungewaschen gewesen wären! Auch sie entsprachen dem, was man später in Hollywood-Filmen in epischer Breite vorgeführt bekam: Hier stießen wirklich zwei Kulturen aufeinander.

Sogar ich hörte die Schreie der Frauen, die sich nicht rechtzeitig hatten in Sicherheit bringen können. Nichts, was einen Rock trug, war vor diesen in jeder Beziehung ausgehungerten Fronttruppen sicher. Ich weiß nicht, wie es meiner Mutter gelungen ist, dem zu entkommen; da müssen die Schutzengel Überstunden gemacht haben. In vielen Fällen haben auch fortgeschrittene Schwangerschaften nicht als Schutzfaktor dienen können; bei ihr hingegen scheint es funktioniert zu haben. Dafür gibt es ein eindrückliches Beispiel:

Mein Vater war wieder da. Er hatte Glück gehabt: Das Kriegsende hatte er in britischer Kriegsgefangenschaft erlebt, und sein Lager war wegen Infektionskrankheiten aufgelöst worden. Irgendwie war es ihm gelungen, sich bis nach Siersleben durchzuschlagen, und plötzlich war er da. Sein einziges Kleidungsstück war seine von allen Abzeichen befreite Uniform – nicht unbedingt das, was man trug zu einer Zeit, als so etwas auf die Russen äußerst animierend wirkte. Nicht nur, daß die Uniform etwas repräsentierte, was sie jahrelang bekämpft und jetzt erobert hatten, sondern auch die dazugehörenden Stiefel, die mein Vater durch die Gefangenschaft hindurch gerettet hatte, waren für sie ein Objekt der Begierde. Da ist wieder so eine Szene, die wohl für immer in meinem Gedächtnis verankert ist:

Das Bürgermeisteramt war schräg gegenüber dem Haus, wo wir das eine Zimmer hatten, das wir nun zu dritt bewohnten. Mein Vater hatte auf dem Amt vorsprechen müssen. Soeben war er aus der Tür auf die Straße getreten, ohne zu wissen, daß sich in der Zwischenzeit eine Gruppe von Soldaten zur Abfahrt versammelt hatte, direkt vor dem Bürgermeisteramt. Beim Anblick meines Vaters oder vielleicht eher seiner Stiefel wurde es plötzlich ganz ruhig. Mein Vater fing an, in unsere Richtung zu gehen; meine Mutter, nun sichtbar schwanger, stand am offenen Fenster; ich habe wahrscheinlich auf der Fensterbank gesessen, denn ich habe alles sehen können. Einige Russen fingen an, um meinen Vater herum einen Kreis zu bilden, der enger und enger wurde. Mein Vater kam geradewegs auf uns zu und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf meine Mutter. Wie lange hat das Ganze wohl gedauert? In meiner Erinnerung hat es in Zeitlupe stattgefunden; in Wirklichkeit wird es ziemlich schnell gegangen sein. Keiner sprach ein Wort, und selbst als Kind konnte ich das Unheil, das in der Luft lag, spüren.

Die unheimliche Stille wurde plötzlich durch einen gellenden Pfeifton unterbrochen. Ein Offizier hatte die Gefährlichkeit der Situation erkannt; vielleicht wollte er ein Lynchen verhindern, vielleicht wollte er nur vermeiden, seinen Vorgesetzten gegenüber diesen Akt rechtfertigen zu müssen. Jedenfalls befahl der Pfiff die ganze Mannschaft wieder auf ihre Leiterwagen; die Stille war gebrochen, sie hatten plötzlich viel zu reden und zu lachen. Offensichtlich machten sie sich über meinen Vater lustig, der kreidebleich wie festgeklebt vor unserem Fenster stand. Dann zog die ganze Gruppe davon, und der Spuk war vorbei.

Als mein Vater wieder im Zimmer war, versuchte meine Mutter, die Spannung abzubauen, indem sie ihm eine Szene machte. Er hatte uns alle aus purem Leichtsinn in Todesgefahr gebracht; sie zitterte, und ich weinte für alle Fälle mal eine Runde. Es waren wirklich schreckliche Zeiten in diesem Frühsommer 1945, und die Tatsache, daß der furchtbare Krieg endlich zu Ende war, hieß nur, daß die Hauptgefahr vorbei war. Zu den »Nebengefahren« gehörte diese Begebenheit, gehörten Blindgänger (Bomben, die beim Aufprall nicht explodiert waren, dies aber bei unsachgemäßer Handhabung jederzeit tun konnten), gehörten weggeworfene Handwaffen, verseuchtes Wasser ebenso wie Denunziationen aller Art oder, vor allem, der Hunger.

Es gab nur einen Trost, was den Hunger anging: Ganz Deutschland hungerte 1945. Geteiltes Leid wurde so zwar nicht zu halbem Leid, aber es war etwas leichter zu ertragen. Ich würde später noch hungriger sein, aber das spielte sich dann zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders ab, als alle um mich herum mehr als gesättigt waren, und das war viel schwerer zu ertragen. Aber ich greife vor ...

Also, der Hunger. Es war der Sommer des Brennessel-Salats, der vielen Kilos Blattspinat, der Suppen, die auf mirakulöse Weise aus einer Handvoll Kartoffeln, ein bißchen Lauch und ein paar Karotten kreiert wurden. Herbst und Winter brachten dann Kohlrabi, Steckrüben, die ich heute wieder gut finde, aber damals fast nicht mehr schlucken konnte, und Kürbis. Ich weiß nicht, wie er das fertiggebracht hat, aber mein Vater hatte ein Talent für die Mirakel-Suppen, die endlos lange auf dem Zwei-Flammen-Gaskocher in unserem Zimmer vor sich hin köchelten und verführerisch dufteten. Diese Art von Suppe mit Kartoffelbrot war der Höhepunkt des Tages, wobei der nicht immer gesichert war.