Eternumity - Stephan Schöneberg - E-Book

Eternumity E-Book

Stephan Schöneberg

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Beschreibung

Eternumity – Der Traum von der Unsterblichkeit Wie "fühlt" es sich an, geistig unsterblich zu sein? Ist es überhaupt möglich, ohne seinen Körper weiter zu leben? Würde ein Mensch das tun? Wie kann so etwas technisch funktionieren? Was entstehen für Konflikte? Wie ist es, mit seinen toten Verwandten zusammen zu leben? In der Welt von Eternumity ist das möglich geworden. Aber es konnte nicht einfach so "geschehen". Die Welt musste verändert werden. Anhand von drei scheinbar unabhängigen Geschichten erfährt der Leser, wie eine solche Welt entstanden ist, wie das "Leben" dort ist und wie sich diese Welt noch weiter entwickeln kann. Denn die Probleme des Lebens lösen sich mit der Unsterblichkeit nicht auf. Es entstehen neue globale und persönliche Probleme, die ebenfalls gelöst werden müssen, wenn sich die Menschheit von ihrem biologischen Fluch emanzipiert. Eternumity erklärt den Wert des "Lebens" und unsere globale Verantwortung für die Welt auf eine andere Weise, denn ein Leben in einer Welt ohne Tod kann nur dann funktionieren, wenn das Leben in dieser Welt lebenswert ist und bleibt.

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Stephan Schöneberg

Eternumity

Das Leben in der Unendlichkeit ...

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Interaktives Inhaltsverzeichnis

Pink Floyd (A)

Unheilig (B)

Myléne Farmer (C)

Kim Stanley Robinson (D)

Mike And The Mechanics (E)

Paso Double (F)

Amaranthe (G)

Joan Osborne (H)

Isaac Assimov (I)

Garri Kasparow (J)

Diogenes von Sinope (K)

Arch Enemy (L)

Subway To Sally (M)

Arthur Schopenhauer (N)

Marius Müller Westernhagen (O)

Mahatma Gandhi (P)

Lucius Annaeus Seneca (Q)

Sir Julian Huxley (R)

Nightwish (S)

Yukito Kishiro (T)

Aristoteles (U)

Friedrich Wilhelm Nietzsche (V)

Lao Tse (W)

Samuel Taylor Coleridge (X)

David Guetta (Y)

Frank Herbert (Z)

Genesis

Einige Haupt- und Nebenfiguren

Impressum neobooks

Interaktives Inhaltsverzeichnis

Impressum

Texte: © Copyright by Stephan SchönebergUmschlag: © Copyright by Stephan Schöneberg, Der vitruvianische Mensch – DaVinciVerlag: Stephan Schöneberg, Elbestraße 2b, 26548 Norderney, [email protected]

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

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INTERAKTIVES INHALTSVERZEICHNIS

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( ) Pink Floyd (A)Christian, Jochen, Michaela

( ) Unheilig (B)Sam/Eva, Sami, Simone

( ) Myléne Farmer (C)Ludwig, Max, Niklas, Rudolf, Sylvia

( ) Kim Stanley Robinson (D)Jimmy, Pedro, Sarah, Michael

( ) Mike And The Mechanics (E)Daniel, Evelyn, Maren, Samantha

( ) Paso Double (F)Jimmy, Pedro, Petra, Sarah, Sam/Eva

( ) Amaranthe (G)

John, Sam/Eva

( ) Joan Osborne (H)

Ludwig, Max, Niklas, Rudolf, Sylvia, Jochen, Michaela

( ) Isaac Assimov (I)Gordon, Karen, Daniel, Sam/Eva

( ) Garri Kasparow (J)John, Samantha/Eva, Simon

( ) Diogenes von Sinope (K)Christian, Mike

( ) Arch Enemy (L)Sam/Eva

( ) Subway To Sally (M)Michelle, Sam/Eva, Simon, Wladimir

( ) Arthur Schopenhauer (N)Clark, James, Justine, Margareth

( ) Marius Müller Westernhagen (O)Leevi, Sam/Eva, Sami, Simon

( ) Mahatma Gandhi (P)Petra, Sarah 

( ) Lucius Annaeus Seneca (Q)Sam/Eva

( ) Sir Julian Huxley (R)Alex, Christian, Michaela

( ) Nightwish (S)Leevi, John, Sam/Eva, Sami, Simone

( ) Yukito Kishiro (T)Andrew, Christian, Malte

( ) Aristoteles (U)John, Leevi, Sam/Eva

( ) Friedrich Wilhelm Nietzsche (V)Christian, Leevi, Malte, Michaela

( ) Lao Tse (W)Christian, Leevi, Malte, Michaela

( ) Samuel Taylor Coleridge (X)Amanda, Christian, Jochen, Martin, Samantha

( ) David Guetta (Y)Christian, Ludwig, Sylvia

( ) Frank Herbert (Z)Samantha, Simon

GenesisStephan Schöneberg

Einige Haupt- und Nebenfigurenalphabetisch nach Vornamen sortiert

Gelesene Kapitel können abgehakt werden. Ab dem Kapitel (D) bis zum Kapitel (W) müssen die Kapitel nicht mehr nacheinander gelesen werden.

Pink Floyd (A)

Christian, Jochen, Michaela

We don't need no educationWe don't need no thought controlNo dark sarcasm in the classroomTeachers leave them kids alone

Pink Floyd - Another Brick In The Wall

Der Wecker klingelte diesen Montagmorgen nicht so früh wie er es üblicherweise tat. Dr. Jochen Schuppien hatte ihn mit Absicht etwas später, auf 7:30 Uhr, gestellt. Seine erste Stunde in der Albert-Einstein-Schule zu Neustadt/Wied fiel heute aus. Daher konnte er sich den Luxus leisten, heute eine halbe Stunde später als üblich unter der Dusche zu stehen. Die Kinder waren wohl schon aus dem Haus. Seine Ehefrau Maria hatte das Haus auch schon verlassen, sodass er mit sich und seinen Gedanken, sowie den verblassenden Träumen, allein war.

Er duschte heute sehr lange. Das entspannte ihn meistens. Auch diesmal half das viele Wasser. Relaxt setzte er sich danach an den noch gedeckten Frühstückstisch. Maria war in diesen Dingen immer sehr fürsorglich. Sie wusste, dass er diese erste Mahlzeit des Tages liebte. Darum hatte sie den Tisch für ihn gleich mit gedeckt. Sie selbst hatte heute Morgen einen sehr frühen Termin, den sie nicht absagen konnte, weswegen sie schon um sechs Uhr aufgestanden war. Es gab keinen Grund, ihren Mann, den sie über alles liebte, ebenfalls zu wecken. Jochen war sehr glücklich darüber, denn so konnte er sehr viel länger schlafen.

Seit Neuestem nahm bei ihm die Intensität seiner Träume wieder zu. Er wischte die verrückten Geschichten mit einem Brotaufstrich extra dicker Marmelade aus seinem Kopf. Es waren schließlich nur Träume.

Auch Christian war noch im Haus, seine erste Stunde fiel wohl auch aus: „Hallo Papa“.

Jochen hatte nicht bemerkt, dass sein Sohn hereingekommen war. Eigenartig, eine Fehlfunktion im System gab es nicht. Er war scheinbar noch zu sehr in Gedanken, als dass er das grüne Licht für Christians Anwesenheit am nahegelegenen Monitor bemerkt hätte.

„Guten Morgen, Christian“ erwiderte er, vielleicht eine Spur zu unfreundlich. Nach einer kurzen Pause antworte Christian: „Oh, guten Morgen, Papa. Tut mir leid, ich wollte nicht einfach so hereinplatzen.“

„Schon gut, aber es gehört sich eigentlich die Tageszeit zu nennen, wenn man sich 'an den Frühstückstisch setzt'.“ Natürlich wusste Jochen, dass Christian nicht einfach so aufgestanden war. Im Grunde benötigte sein Adoptivkind keinen Schlaf im klassischen Sinn. Sie hatten innerhalb der Familie jedoch festgelegt, dass auch er sich an den Tagesrhythmus der 'normalen' Welt anpassen sollte, zumindest hier im Haus. Insbesondere für Kinder gab es in vielen Familien meist vorgeschriebene Regeln. Das war logisch begründet und nur zu verständlich, da sonst die beiden Welten zu weit auseinanderdrifteten und so ein familiärer Alltag schwer bis unmöglich wurde. Sicher, es gab Strömungen und Meinungen das eben dies möglich sein sollte. Sowohl in der einen wie der anderen Welt. Aber intern, in der Familie Schuppien, galt die Regel, dass es so sein sollte, wie es in jeder Familie mit normalen Kindern nun einmal auch ist. Er lächelte ein stilles Lächeln. Die eine Welt, die andere Welt! Dabei gab es eigentlich nur diese eine, unsere Welt! Schließlich lebten alle jetzt und hier und in der gleichen Zeit. Zumindest dachten Jochen, Maria und Alexander so.

Eine Welt … was ist das eigentlich? Die einfachste Definition davon war wohl: Es ist der Platz, in dem wir 'leben'. Nur ... leben SIE wirklich? Was ist das überhaupt, das Leben?

Jochen hatte sich viele, viele Stunden während seines Studiums und seines bisherigen Lebens mit genau diesen Fragen beschäftigt. Es war Teil seiner Ausbildung zum Lehrer für 'alle' Schüler gewesen. Dies ist ein 'Job', den nicht jeder oder jede leisten konnte oder wollte. Um eine bessere Bindung und ein besseres Verständnis für 'die Anderen' zu bekommen, hatten er und Maria damals entschieden, ein Kind aus der zweiten, virtuellen Welt zu adoptieren. Der Zeitpunkt dieser Suche hätte für Christian nicht besser sein können, denn er war gerade auf der Suche nach einer 'neuen' Familie. Für ihn war dies alles ein großes Glück. Er hatte bisher nicht so viel davon gehabt, vom Glück.

Seine ursprünglichen Eltern entschieden sich vor Jahren, endgültig zu sterben. Christian war zu dem Zeitpunkt noch nicht 'alt' genug, um dies auch zu tun oder besser, um es tun zu dürfen. Inzwischen war er ein echter Teil der Familie Schuppien und sowohl Jochen wie auch Maria hatten eingesehen, dass es eine echte Adoption war und nicht zunächst ein Spiel. Wie naiv es doch war, zu glauben, ein virtuelles Kind zu adoptieren sei irgendwie einfacher … Es war traurig, aber viele taten dies mit genau dem Hintergedanken: „... und wenn es nicht funktionierte, dann konnte man es wieder abgeben.“

Aber so dachten sie beide schon damals nicht. Sie waren sich ihrer Verantwortung bewusst. Ihr Entschluss war bindend und endgültig, ihr ganzes Leben lang und natürlich auch noch darüber hinaus. Dennoch hatten sie nicht mit einer solchen Tragweite dieser Entscheidung gerechnet.

Vielleicht entscheiden sich erwachsenere Kinder auch generell anders, eventuell hätte ein älteres Kind sich nicht für sie entschieden? Christian war damals gerade einmal 9 Jahre alt gewesen. Er ahnte zunächst überhaupt nichts davon, dass seine leiblichen Eltern sich gegen das virtuelle Leben entscheiden würden, wie sie es schließlich auch getan hatten. Seine Eltern hatten dies nur für sich beschlossen. Sie hatten Christian in ihre Entscheidungsfindung nicht einbezogen.

Er hatte nie verstanden, warum seine leiblichen Eltern diese Entscheidung getroffen hatten. Er war noch sehr jung, wahrscheinlich dachten sie, er wäre zu jung. Aber egal wie alt jemand ist, ein Entschluss für einen Freitod ist für jedes Alter schwer zu fassen oder zu begreifen.

„So wie sie ging man nicht von dieser Welt. Nicht ohne sich richtig zu verabschieden!“, dachte Jochen damals, wie auch heute. Jochen konnte nicht verstehen, wieso echte Eltern das tun konnten. Oder … vielleicht doch? Wie ist es 'dort'? Andererseits war Jochen froh, mit Christian einen Gesprächspartner gefunden zu haben, der …

„Papa!“ … und etwas leiser „Papa?“

„Ja, Christian?“

„Träumst du?“, erklang die Stimme erneut mit einer leicht lächelnden Intonation.

„Träume ...“, dachte Jochen, „...ein weiterer Punkt in der langen Liste, der vielen, vielen Unterhaltungen.“

„Schon gut, Christian … es war ein langer Tag gestern, ich bin einfach zu spät ins Bett gekommen. Hast du noch die Gelegenheit gehabt, mit Mama zu besprechen, was heute ansteht?“

„Hmm?“

„Du hast doch heute Schule, oder etwa nicht?“

„Ja sicher, Paps; krank sein kann ich ja schließlich nicht“, kam als amüsiert unterlegte Antwort zurück.

Jochen lächelte … es hatte lange gedauert, bis Christian wieder so etwas wie Humor zurückgewonnen oder neu für sich entdeckt hatte. Natürlich knabberte auch er lange an den Folgen seines vorherigen Lebens.

„Sie haben sich natürlich von dir verabschiedet!“, versuchte er es ihm immer wieder zu erklären, „Sie haben dir doch einen langen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie haben dir erklärt, warum Mama und Papa von dir gehen mussten - aus ihrer Sicht heraus.“

In dem Brief erklärten sie, versuchten sie, genau zu beschreiben, warum sie sich so entschieden hatten. Zumindest gab es den Ansatz einer Rechtfertigung.

Jedoch kann dies wohl kein Kind verstehen. Wie soll es auch?! Nicht einmal Erwachsene können dies begreifen.

„Nun, was steht heute auf dem Stundenplan, Chris?“

„Och, das Übliche … Mathe, Chemie, Physik, Interaktion, Logistik, Ethik, Robotik, Kommunikation. Halt nix Besonderes, bis auf Sport in den letzten beiden Stunden“

„Sport?“ fragte Jochen interessiert. Er wusste natürlich nur zu genau, dass Christian Sport liebte. Und das war auch nicht weiter verwunderlich. Alle Kinder lieben Sport; naja - die meisten Kinder. Für die virtuellen Kinder war dies allerdings eine besondere und andere Herausforderung.

Die … „Virtuellen“ … …

Irgendwann hatte sich schließlich dieser Begriff in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Aber, es war nicht richtig, sie so zu nennen. Jochen hatte es immer abgelehnt, diesen Begriff zu verwenden - denn es wurde Ihnen natürlich bei Weitem nicht gerecht, zudem stimmte es nicht!

„Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ So lautete ursprünglich die gültige Erklärung für dieses Wort: Virtualität.

Nah dran - aber letztendlich doch so weit, weit weg.

„Paps, du weißt doch, wir spielen in 'mixed teams' gegeneinander Fußball, Klasse 9a gegen Klasse 9b“ erklang es aus dem Lautsprecher. „Die Gegner aus der B haben eine verdammt gute Virtuelle im Tor.“

Erstaunlich wie “locker“ Christian mit diesem Begriff umgehen konnte. Direkt und fast schon reflexartig kam Jochens Einwurf: „Ihr seid nicht virtuell!“

„Ja, ja … klar doch, ich weiß …“, kam die lächelnde Antwort, „ich bin betroffen - ich darf das!“

Jochen kannte die Klassen nur zu genau, er unterrichtete an derselben Schule, nicht in Christians Klasse, allerdings in der 9b. Er kannte den Torwart, oder besser die Torwartin Michaela. Er war sich nicht sicher, ob das Fußballspiel heute tatsächlich stattfinden würde. Aber das würde Christian noch früh genug erfahren. Außerdem durfte er darüber nichts sagen. Er war einer der Vertrauenslehrer an der Schule. In dieser Funktion hatte er kürzlich viel mit Michaela geredet. Gestern hatten sich die Ereignisse, zwar nicht unbedingt unerwartet, aber dann doch endgültig, zum Negativen verändert. Es war zu befürchten, dass dies passieren würde. Es wäre nur schön gewesen, wenn es noch ein paar Jahre gedauert hätte, oder sogar erst in ein paar Jahrzehnten passiert wäre.

Jochen betrat den Klassenraum zu seiner ersten Stunde, wie immer, gut fünfzehn Minuten bevor der Gong zum Stundenanfang ertönte. Der Gong war nur für die 'menschlichen' Kinder da. Auch dieser Begriff, menschlich, wurde möglichst vermieden, denn es sollten so wenig Unterschiede wie möglich zwischen den vielen Schülern gemacht werden. Ganz früher gab es den Begriff der Inklusion, also die Einbeziehung von behinderten MENSCHEN in die Gesellschaft. Vielleicht ist das, was Jochen als Lehrer tat, am ehesten mit einer erweiterten Inklusion zu erklären.

Geistig behinderte Kinder existierten so gut wie gar nicht mehr. Die Medizin hatte die letzten Jahrzehnte enorme Fortschritte gemacht. Es war frühzeitig erkennbar, ob ein Kind geistig gesund im Mutterleib heranwuchs, so dass so gut wie niemand sich mehr dazu entschied, solch ein Kind zu bekommen. Geburtsfehler traten ebenfalls kaum noch auf. So makaber es klang, aber der- oder besser diejenige die ein geistig behindertes Kind großzog, war ein echter Exot. Körperliche Behinderungen resultierten fast nur aus Unfällen.

Wenn ein Kind nach einem Unfall geistig behindert war, entschieden sie oder die Eltern sich meist dazu, zu sterben und damit auf einen Stand vor dem Unfall zurück zu fallen. Fast alle Kinder in der zweiten Welt waren daher auf Unfälle mit tödlichen Ausgängen zurück zu führen. Alle anderen nicht Erwachsenen starben durch Krankheiten. Vielleicht konnte man den Tod besiegen, aber sterben musste jeder Mensch irgendwann trotzdem noch. Manche traf es halt früher - leider.

So kam es, dass der Begriff Inklusion nun eher auf gemeinschaftliche Schulen zwischen der ersten und zweiten Welt angewandt wurde. So eine Schule wie die Albert-Einstein-Schule.

Früher dachte die Menschheit wohl, die Computer würden ihre eigene Intelligenz entwickeln. Künstliche Intelligenz wurde es genannt. Das Thema hat die Menschen schon immer fasziniert. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, die einzige Art im Universum zu sein, die einen höheren Verstand besitzt. Zudem war und ist es so, dass ein biologischer Mensch nicht im großen Kollektiv denken kann. Es fällt ihm schwer, über viele Generationen hinweg zu denken. Er denkt vielleicht noch an die eigenen Kinder und deren Kinder ... Aber schon über diese Generation hinweg sinkt seine emotionale Bindung. Biologische Menschen sind egoistisch.

Nun, vielleicht gibt es noch mehr und anderes Leben da draußen; eine weitere, andere Intelligenz? Aber bis heute ist die große Alieninvasion ausgeblieben. Man darf vielleicht annehmen, dass dort draußen vielleicht etwas ist. Aber den Weg zu uns hat es tatsächlich noch nicht gefunden. So spielt sich alles Außerirdische nur im Geist, in der grenzenlosen Fantasie, ab. Inzwischen halt nicht mehr in der biologisch-menschlichen Fantasie allein.

Bekannterweise soll sich der menschliche Verstand durch die Evolution entwickelt haben: „Der Mensch stammt vom Affen ab!“

Und in der Vergangenheit hat er seine Vorfahren - jegliche Affenarten - so gut wie ausgerottet. Es konnte niemals sicher nachgewiesen werden, dass es tatsächlich so ist. Die Suche nach dem sogenannten „Missing Link“ - dem Bindeglied des Affen zum Menschen - ist erfolglos geblieben. Leider kann nicht gesagt werden, wann der erste Mensch auf der Welt sich über die Tierwelt emporgeschwungen hat und die Erde unterjocht hat - wie in einem alten, sehr alten Buch mit dem Namen 'Bibel' gesagt wurde: „Gehet hin und machet euch die Erde untertan“.

Dies wurde in Tausenden von Jahren auch in stetig steigendem Maße praktisch angewandt. So lange, bis die eigene Heimatwelt, die Erde, schließlich fast zerstört war. Was Kriege und Waffen nicht geschafft haben, hat schließlich die steigende Population fast erledigt. Aus einer Milliarde wurden zehn Milliarden und noch viel mehr - Tendenz steigend, … damals. Das Problem ist noch immer nicht vollständig im Griff. Aber das ist auch nicht möglich. Der Mensch kann niemals perfekt sein, so funktioniert Evolution nicht. Wenn keine Mutation mehr nötig wäre, dann würde die Evolution stoppen. Dieses Szenario ist nicht realistisch.

Lange Zeit, vielleicht immer noch, dachten alle, die künstliche Intelligenz würde mit den Menschen ähnlich verfahren. Sofern es so etwas wie künstliche Intelligenz überhaupt gab oder gibt. Sie würde als evolutionäre Weiterentwicklung des fleischlichen Menschen die Führung auf der Welt übernehmen und schließlich den Menschen ausrotten. Unzählige Filme, Bücher, wissenschaftliche Arbeiten, Berichte und Interviews mit damaligen hochrangigen Politikern und Wissenschaftlern behandeln dieses Thema. Die Gefahr war vielleicht gegeben und die Voraussetzungen waren vorhanden, oder in der Entwicklung?

Jedoch, es entwickelte sich bekanntermaßen ein wenig anders. Zudem wäre ein solches Verhalten einer künstlichen Intelligenz irgendwie nicht rational gewesen.

Der Gong ertönte, die Kinder strömten in die Klassenräume. Jochen unterrichtete heute - in der 2. Schulstunde - die Klasse 4b, bestehend aus 25 Kindern. Elf Jungen und Zwölf Mädchen waren in dieser Klasse. Zwei Kindern war es gleich, ob sie Mädchen oder Jungen waren. Acht Kinder haben sich bisher entschieden, ihr ursprüngliches Geschlecht bei zu behalten. Das war nicht weiter schlimm und durchaus positiv. Die physikalischen Gegebenheiten zur Entwicklung zum Mann oder Frau mögen vielleicht nicht mehr gegeben sein, aber es war und ist auch immer eine Haltung des Geistes ob eine Person sich wie eine Frau, oder wie ein Mann fühlt. Die individuelle Einstellung einer Person war schon immer ein hohes Gut der Menschheit - daran hatte sich nichts geändert. Nein es hatte sich eher durch die neuen Spielregeln, die mit der zweiten Welt dazu kamen, noch verstärkt.

Die Sprache war Englisch. Schade, dass fast alle anderen Sprachen ausgestorben sind. Die wenigen, die noch gesprochen wurden, existierten nur noch in Arbeitsgruppen zur geistigen Flexibilität. Im Laufe der Zeit zeigte sich mehr und mehr, dass die unterschiedlichen Sprachen und Ausdrucksformen die damalige und auch heutige Menschheit stark in ihrer Kommunikationsfähigkeit behinderten. So hatten sich einige Weltsprachen herausgebildet. In der früheren zivilisierten Geschichte der Menschheit war dies Latein, später war es Spanisch, Englisch und Portugiesisch. Weitere Diversifikationen wie Deutsch oder Französisch kamen auch noch dazu. Ebenso Russisch, Polnisch, Griechisch, Italienisch und und und. Dabei waren das nur die Sprachen in der europäischen Kultur. Ähnlich sah es im asiatischen Raum aus: Chinesisch, Indisch, Japanisch und so weiter und so weiter. Und dann gab es auch noch weitere Unterarten wie Hindu, Bayrisch oder Cockney - um nur mal drei Beispiele zu nennen. Kein Wunder, dass die Menschheit lange Zeit nicht so wirklich vorankam und es sogar so weit gekommen war, dass Kriege nur entstanden, weil irgendjemand nur etwas falsch verstanden hatte. 'Sprachen' waren ein Hobby von Jochen. Oder besser gesagt, es war ein lustiger Zeitvertreib, den er mit Christian teilte.

„Guten Morgen, Herr Dr. Schuppien“ erklang es aus fünfzehn Kehlen und mehreren Lautsprecher-Paaren. Die Schüler in der Klasse des „Doc“ - wie er von allen seinen Schülern respektvoll genannt wurde, konnten von außen betrachtet in dieser Klasse fast nicht unterschiedlicher sein. Das es dazu gekommen war, hatte vor allem mit seiner Ausbildung und seiner speziellen Qualifikation zu tun.

Der Doc hatte seinen Werdegang zum Lehrer für ALLE Kinder mit Auszeichnung abgeschlossen. ALLE Kinder konnte und sollte man hier durchaus wörtlich nehmen. Es betraf die Kinder der ersten Welt, der zweiten Welt, behinderte Kinder und schwierigere Kinder. Als schwierige Kinder galten Kinder ohne Eltern. Obwohl dies eigentlich überhaupt nicht mehr üblich war, wurde ihm bei der letzten von zahlreichen Prüfungen und Lehrgängen mitgeteilt, dass er es nicht hätte besser machen können. Dies führte unter anderem dazu, dass er auch zukünftige Lehrer für alle Schüler betreute und ausbildete.

Nun … heute, in dieser Stunde, stand zunächst einmal das Fach 'Kommunikation' auf dem Stundenplan. Früher wurde dieses Thema überhaupt nicht unterrichtet. Inzwischen ist es eines der wichtigsten Fächer in fast jeder Schulform. Es wurde notwendig, um die Kinder früh aneinander zu gewöhnen. Die unterschiedlichen Gruppen profitierten sehr davon. Natürlich war dies auch immer wieder eine Gelegenheit, etwas mehr auf die sozialen Aspekte zwischen den Kindern einzugehen.

Während die 'normalen' Kinder lokal sehr gebunden waren, besaßen die 'virtuellen' Kinder die Möglichkeit, an viele Orte auf der Welt innerhalb von Sekunden zu wechseln. Dies war eines der Vorteile in ihrem Leben, es gab ja schon genug Nachteile. Zu jeder Kommunikationsstunde gehörte daher ein kurzer Bericht mindestens eines Schülers, was er oder sie gestern getan oder erlebt hatte.

Per Zufallsgenerator wurde heute als Erstes Senol ausgewählt. Es war nicht so, dass jedes Mal das Zufallsprinzip gewählt wurde. Manchmal wählte der Lehrer auch ein Kind aus. Jochen hatte ein recht feines Gespür dafür, wann ein Kind das Vorrecht bekommen sollte vor allen Kindern zu sprechen. Einige Kinder sprachen gerne, einige weniger gerne. Aber es war wichtig für das Selbstbewusstsein des Kindes, dass es gelegentlich einmal einfach nur frei etwas erzählen konnte. Senol war heute der erste, er war ein virtuelles Kind.

„Hallo Senol“, begann Jochen. „Na, wie fühlst du Dich heute? Bist du gesund?“

Der Witz war zwar inzwischen ziemlich aufgebraucht, jedoch diente er immer noch sehr gut, um den Start in den Unterricht ein wenig aufzulockern, ja - man konnte es durchaus als „running Gag“ bezeichnen. Zudem konnte er ihn variieren, indem er zum Beispiel danach fragte, ob ein virtuelles Kind ausgeschlafen hätte.

Auf der riesigen Videowand, die heutzutage statt der ganz früher üblichen Tafeln angebracht war, erschien ein ehemals türkisch-stämmiges Kind im Alter von ca. 11 Jahren in etwa so, als würde ein echtes Kind in Lebensgröße vor der Klasse sprechen. Das Kind lächelte:

„Oh - soweit gut, Herr Dr. Schuppien. Danke der Nachfrage, bin kerngesund“. Das letzte Wort betonte er mit einem belustigten Unterton.

Denn wie auch Christian, konnte Senol natürlich nicht krank werden. Für ihn gab' es keine körperlichen Schmerzen mehr. Dies hatte er hinter sich gelassen.

„Dann erzähl mal...“ munterte Jochen ihn zum Sprechen auf.

„Ich war gestern in Indien. Dort gibt es einen … ich glaube man nennt es Tempel … er heißt, wie war das noch ...Tech Mahal? Mein Vater meinte, ich sollte das unbedingt einmal gesehen haben.“

„Ah, du meinst das Taj Mahal“, warf Jochen ein.

„Ja, stimmt - so hieß das ...“, erwiderte Senol fröhlich. Das Kind lächelte noch ein wenig mehr.

„Tempel war übrigens sehr nahe dran, aber es ist in Wirklichkeit ein Grabmal. Die damaligen Inder sagten auch Mausoleum dazu. Dort liegt ein ehemaliger Maharadscha begraben“, führte Jochen weiter aus. „Das Grabmal ist sehr, sehr alt und wurde schon viele Male wieder restauriert, ein Maharadscha ist ein alter indischer Adelstitel, soweit ich weiß.“

Johanna drückte den Knopf für eine Frage. Senol konnte dies sehen und erlauben, dass Fragen gestellt wurden. Ansonsten durfte nur Herr Schuppien den Sprecher unterbrechen. Dies war eine sehr wichtige Regel in der Kommunikationsstunde. Die heutigen Kinder lernten sehr, sehr früh miteinander geordnet zu reden. Ein 'Dazwischenplappern' war ebenso wenig erwünscht, wie ein Ignorieren des Gegenübers.

„Ja, Johanna?“, nur Senol, als derjenige der gerade das Rederecht hatte, durfte, außer dem Lehrer, nun das Stellen einer Frage erlauben.

„Lebt dieser Mah... Maharra … wie auch immer, noch?“, fragte Johanna neugierig.

„Nein“ antworteten Jochen und Senol fast gleichzeitig. Jochen sah ihn kurz an und fuhr fort: „Er ist schon vor langer Zeit gestorben. Lange noch bevor die zweite Welt entstanden ist. Man kennt seine Gedanken nur ansatzweise, man sagt dazu auch ‚rudimentär‘. Ich weiß nicht genau, wie er hieß, wir können es sehr gerne später einmal genauer nachsehen.“ führte Jochen weiter aus. „James, bitte merke dir 'Taj Mahal' und 'Maharadscha im Taj Mahal'“. Im Monitor neben Senol erschienen die beiden Anmerkungen vom Doc.

James war der Name für den Klassencomputer.

„Lassen wir doch Senol mal weitererzählen“

Damit übergab er das Wort wieder an Senol.

Senol nahm die Erzählung wieder auf: „Ich glaube, sie liegen leicht daneben, Herr Doktor. Der alte Herrscher hatte das Gebäude für seine Frau oder Geliebte erbauen lassen. Viele, viele Menschen haben jahrelang gearbeitet, damit es entstehen konnte.“ Er machte eine kurze Pause, überlegte und fuhr dann mit seiner Erzählung fort: „Was ist das eigentlich, eine Geliebte? Darf ich dieses Wort auf die Merkliste setzen?“

„Oh ha“, dachte Jochen. „Das wird heute 'etwas' schwieriger“.

„Aber sicher, Senol“, bestätigte er. „James, füge bitte noch 'Maharani und Geliebte' hinzu.“ Jede Klasse hatte so einen digitalen Unterrichtsbegleiter und jede Klasse gab' ihm, oder ihr seinen eigenen Namen.

„Maharani?“ fragte Senol.

„Die Frau eines Maharadschas und im Idealfall auch seine Geliebte“, erklärte Jochen.

„Lassen wir dies für den Moment erst einmal so stehen.“

Jochen machte eine kurze Pause und fragte dann: „Hattest du die Möglichkeit einen 'Bot' zu benutzen und das Grabmal auf eigene Faust zu erkunden?“

„Eigene Faust?“ Der Junge auf dem Monitor blickte seine Hand an.

Jochen lachte: „Ein altes Sprichwort, es bedeutet so viel wie: Etwas selbständig unternehmen und erforschen.“

„Ah, … OK … und ne, leider nicht!“, antwortete Senol.

„Alle 'Bots' waren ausgebucht. Aber ich glaube, rund um das Gebäude gibt es sowieso nix, was nicht sowieso per Kamera besucht werden kann und drinnen ist das wohl auch so.“

Nach einer kurzen nachdenklichen Pause nahm Senol die Erzählung mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton wieder auf: „Ich hatte bloß den einen Nachmittag. Für einen Bot hätte ich mich früher anmelden müssen. Mama und Papa konnten ja schließlich nicht mit.“

„Oh, das soll kein Vorwurf sein, Senol.“, beruhigte Jochen, „Ich war einfach nur neugierig“.

Für die Entwicklung der Kinder der zweiten Welt war es unglaublich wichtig, dass sie eigene Erfahrungen sammelten. Die Bewegungsfreiheit ist mit einem sogenannten 'Bot' viel größer und vor allem individueller. Das gesamte Bot-System ist immer noch in der Entwicklung, schon seit Jahrhunderten. Eine der größten Entdeckungen der Menschheit, nach dem Internet und der Erschaffung der zweiten Welt, soweit man dies alles wirklich Entdeckungen nennen kann, ist nach wie vor immer noch nicht dort, wo sie die Menschheit gerne sehen würde. Nach und nach wurden die 'Bots' immer besser und ausgefeilter. Ein Mensch aus dem zwanzigsten Jahrhundert würde darin fast keine Maschinen mehr erkennen. Mit den heutigen 'Bots' kann man reden und in die Gesichter der jeweiligen 'Mieter' blicken. Die so genannte „Response“ ist inzwischen so gut, dass sie auch in der Lage sind, weitestgehend ohne Verzögerung die Gedanken und Gefühle desjenigen zu zeigen, der gerade den jeweiligen Bot steuert oder besitzt. Jedoch ist die allerneueste Generation der Bots der Allgemeinheit nicht bekannt, was durchaus seine Gründe besitzt.

Denn es gibt leider - oder auch zum Glück - nicht genug 'Bots' für alle, sodass sie ständig ausgebucht sind. Das 'leider' gilt für die Menschen in der zweiten Welt, die in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind. Der Gedanken 'zum Glück' galt allen anderen Bewohnern und Lebewesen der Erde, ansonsten wären wohl viele Orte auf der Welt schlichtweg mit meterhohen Stapeln von Bots aufgefüllt. Das wäre dem Sinn und Zweck dieser ansonsten nützlichen Helfer auch nicht mehr ganz so dienlich. Dazu kommt noch das Energieproblem. Bots benötigen naturgegeben viel Strom und müssen natürlich auch dann und wann gewartet und repariert werden.

„Aber genug für den Moment, andere Kinder möchten ja auch noch was erzählen - nicht jedes Kind hat die Möglichkeit, fast jeden Fleck auf der Erde zu besuchen, aber vielleicht kann ja Amelie mal weiter erzählen, wenn du soweit erst einmal fertig bist?“, Jochen wusste natürlich, dass Senol noch so viel mehr zu erzählen hatte, aber eine Unterrichtsstunde ist knapp - auch andere Schüler möchten vielleicht gerne etwas vortragen und von Amelie hatte er schon länger nichts mehr über ihr normales Leben gehört.

Amelie war kein Virtueller. Amelie war ein ganz normales Kind mit ganz normalen Eltern und sogar noch allen vier lebenden Großeltern. Lediglich ab den Urgroßeltern befanden sich die Verwandten im Status „zweite Welt“.

Sie begann ihre Zusammenfassung:

„Och, gestern hat es ja nur geregnet. Und kalt war es auch noch gewesen, obwohl wir doch schon Mitte April haben. Heute ist es wärmer Ich hab einfach nur mit Puppen gespielt. Papa kam früher nach Hause. Wir konnten dann noch ein wenig Spiele spielen.“

„Hört sich nach einem gemütlichen Nachmittag an.“ ergänzte Jochen.

„Ja, war nichts Aufregendes - später kam noch Urgroßoma dazu, wir haben dann den virtuellen Spieletisch benutzt.“

Der virtuelle Spieletisch war ein Segen für die Interaktion zwischen den Welten. Im Grunde war er in fast jedes Haus integriert. Mit Hilfe von Hologrammen, Kameras, Monitoren und diversen anderen technischen Dingen war es so, als würde ein virtueller Mensch mit am Tisch sitzen. Leider konnte nicht jeder Raum in einem Haus ein solch großzügig ausgestattetes 'Portal' besitzen. Meist beschränkten sich die sogenannten Portale, die so etwas wie eine Tür in die andere Welt waren, in den anderen Räumen auf einen Monitor, eine Kamera und einen Lautsprecher. Es war immens wichtig, dass die verstorbenen Verwandten am Leben der normalen Menschen teilnahmen. Das war mit Verwandten noch am Einfachsten. Hier bestand eine gemeinsame Basis. Sie teilten ihre Erinnerung aus dem vorherigen Leben mit der Familie, sofern es eine gab. Eine Familie war die vorherrschende Form des sozialen Zusammenlebens und meistens ein Segen für Kinder. Es gab aber auch andere Gemeinschaftsformen. Niemand schrieb Kindern das Leben in einer Familie vor und für erwachsene Menschen galt dies schon gar nicht. Jochen hatte solch ein anderes Leben, bevor er Marie kennen gelernt hatte, auch gelebt. Selbst mit der Geburt ihres Sohnes wäre es auch noch möglich gewesen in diesem alten Leben zu bleiben. Aber sie beide teilten die gleichen Werte und Vorstellungen von Erziehung. So entschlossen auch sie sich zu dem Modell „Familie“, ebenso wie dies Amelies Eltern getan hatten. Es gab aber auch noch mehr Möglichkeiten. Sowohl bei Marie wie auch bei Jochen sah das Lebensmodell anfangs anders aus, als das Leben das sie jetzt führten. Bereut haben sie es nie, eine Familie zu leben. Leider mussten aber auch Kinder ein anderes Schicksal annehmen. In gewisser Weise war der Tod besiegt, aber er hatte immer noch seinen Preis, der bezahlt werden musste.

Senol meldete sich und wurde von Amelie zum Sprechen autorisiert: „Ich würde alles dafür geben, noch einmal von meiner Mutter oder meinem Vater umarmt zu werden.“

„Uff, das war hier und jetzt etwas sehr überraschend, dies von einem virtuellen Kind zu hören.“ dachte Jochen. „Das werde ich mit Julia besprechen müssen.“

Julia war der virtuelle Vertrauenslehrer-Gegenpart zu Jochen. Natürlich war auch in der virtuellen Welt ein Lehrer angestellt, der auf die Inklusion von virtuellen und realen Schülern achtete und zu diesem Zweck jederzeit angesprochen werden konnte. Viele nicht direkt im Schulalltag eingebundene Menschen, seien sie nun real oder virtuell, ahnten oft nicht, wie viel zusätzlicher Aufwand notwendig war, um jedem Schüler gerecht zu werden. Die realen Schüler blickten neidvoll auf die speziellen Fähigkeiten der virtuellen Schüler. Es war unglaublich reizvoll, innerhalb von Sekunden überall auf dem Planeten direkt vor Ort zu sein. Darin lag aber auch eine gewisse Gefahr, denn die realen Menschen hatten etwas zu verlieren, was sie als virtuelle Menschen nicht mehr wiedererlangen konnten: Ihre Körperlichkeit.

Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern arbeiteten daran, diese Lücke zu schließen. Aber die Probleme zur Wiedererlangung von körperlichem Gefühl waren vielfältig. Jochen war sich sicher, dass es irgendwann einmal möglich sein würde, dass ein Virtueller sich irgendwann einmal wieder genau wie der Mensch fühlen wird, der er einmal war. Es war eine Frage der Zeit, wann dies möglich sein würde. Und Zeit hatte jeder Bewohner der zweiten Welt im Überfluss. Jedoch gehörte dazu Geduld. Kinder hatten wenig Geduld und es war oftmals schwer oder gar unmöglich, ihnen Dinge logisch zu erklären.

Es war nicht möglich, ihnen einen virtuellen Kratzer am Knie mit einem lustigen Zebrapflaster zu bekleben und damit den Schmerz einfach so zu 'heilen'. Virtuelle Kinder fielen nicht hin, oder verletzten sich.

Gerade Kinder zählten in der virtuellen Welt zu den verletzlichsten Wesen, da sie sich Begriffe wie Ethik, Mitgefühl aber auch Traurigkeit erst erarbeiten mussten. Ein menschlicher Vertrauter war hier genauso hilfreich und nötig, wie ein Virtueller.

Dementsprechend waren die virtuellen Kinder neidisch auf die realen Kinder, denn sie kannten keine Körperlichkeit. Früher gab es Kinder, die nicht laufen konnten. Es musste für virtuelle Kinder ein ähnliches Gefühl sein. Sie konnten nicht auf dem Schulhof fangen spielen oder sich an Spielgeräten austoben.

Es war schon immer Jochens Passion gewesen, gerade diesen Graben zwischen realen und virtuellen Schülern so weit wie möglich zu schließen und zum Beispiel jeder Klasse ein Gruppengefühl zu geben.

Jochen war abermals sehr froh, dass sie Christian gefunden und adoptiert hatten. Er hatte ihm vielleicht mehr bei der Ausübung dieser Lehrerpassion geholfen, als dies irgendeinem Buch oder einer einstudierten Vorgehensweise möglich gewesen wäre.

Letztendlich hatten sie sich wohl gegenseitig geholfen. Auch wenn Jochen sein Adoptivkind wahrscheinlich niemals so umarmen kann, wie er es mit seinem echten realen Kind, seinem Bruder Alex, machen konnte. Jedoch, es würde ihm niemals in den Sinn kommen, dass Christian nicht auch sein Sohn wäre. Auch sein biologischer Bruder akzeptierte ihn vorbehaltlos als sein wirkliches echtes kleines Brüderchen.

„Senol“, er holte tief Luft. „Eine Umarmung ist etwas Wundervolles. Die Liebe der Eltern ist im meistens grenzenlos und unendlich groß.“

„Aber ...“, Bryan, ein weiteres virtuelles Kind, wollte gerade etwas erwidern.

„Warte bitte“, sagte der Doc ruhig und gelassen.

„Ich war noch nicht fertig, Bryan ... Eltern, die ihre Kinder nicht mehr lieben - und so etwas kommt vor - verraten in meinen Augen ihre Menschlichkeit. Ich habe so etwas nie verstanden. Du hast als Mensch eine Verantwortung, du hast als Eltern eine noch größere Verantwortung. Dein Kind oder überhaupt irgendein Kind zu verraten gehört zu den schlimmsten Verfehlungen, die du dir als Eltern oder Mensch zuschulden kommen lassen kannst“, Jochen stockte ein wenig.

„Oh, entschuldigt, vielleicht könnt ihr das noch nicht voll verstehen.“

Er machte eine weitere kurze Pause und fuhr dann fort: „An Euch - Bryan, Senol, Sabine, Angelique, Markus, Marten, Nils, David, Mia und Jens: Niemand hat das Recht euch nicht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft anzuerkennen. Ihr habt den gleichen Wert wie ein Mensch in der ersten Welt. Merkt Euch das!“

Die letzte Ansage mag etwas zu deutlich ausgefallen sein. Aber es ist das, woran Jochen glaubte. Die Existenz eines virtuellen Menschen war nicht zu leugnen. Es hatte viele Generationen benötigt, damit so gut wie alle Menschen zu dem Punkt gelangt waren, an dem die nicht körperlich lebenden Menschen als gleichwertige sich selbst bewusste Lebewesen akzeptiert wurden. Dennoch gibt es immer noch Menschen, die anders denken. Wie auch immer, seine Schüler würden mit einer solch falschen Vorstellung niemals diese Schule mit seinem Segen verlassen.

„Senol, du magst im Moment nicht in der Lage sein, Deine Eltern körperlich zu berühren. Aber du kannst sie mit deiner Mimik, mit deinen Gesten und mit deinen Worten erreichen. Ehrliche Worte haben eine grenzenlose Macht. Du kannst sie, meiner Meinung nach, mit Wörtern fast genauso umarmen, wie mit einer realen Umarmung. Es mag schwieriger sein. Aber richtig angewendet wird es zum gleichen Erfolg führen.“

Jochen holte noch einmal tief Luft: „Bryan, Deine realen Eltern sollten dir egal sein. Das klingt hart, gerade in deinem Alter und ich weiß, dass ich mir hier und jetzt eine Menge herausnehme. Wir werden für Dich eine geeignete Adoptivfamilie finden.“

Bryan war derzeit der schwierigste Fall der ganzen Schule. Seine Eltern hätten ihn gerne für endgültig tot erklärt, nachdem er beim Spielen von einem Baum gefallen und dabei unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen war.

Die Uhr zeigte 11:30 Uhr an. Heute war der 15. April an einem warmen Frühlingstag. Dem ersten mit etwas Sonne, nach einem eher regnerischen Winter. Die fünfte Stunde begann. Pünktlich um viertel vor zwölf pfiffen die beiden Schiedsrichter Martin und Jerome das Spiel der 9a gegen die 9b simultan an. Martin als Feld und Jerome als virtueller Schiedsrichter.

Direkt nach dem Anpfiff übernahmen die Spieler der 9a die Initiative und versuchten durch geschicktes Doppelpassspiel nahe an den gegnerischen 16-Meter-Raum vorzudringen.

„Wir wissen genau, dass der momentane gegnerische Torwart kaum durch Fernschüsse zu bezwingen ist, dies haben die anderen Spiele deutlich gezeigt“, dachte Christian.

Sowohl die Klassen 9c, als auch 9d waren immer wieder an den unglaublichen Paraden des Torwart-Bots der Klasse 9b gescheitert. Er wurde von Michaela programmiert und gesteuert. Früher mag es ungewöhnlich gewesen sein, dass Mädchen Fußball spielen, vor allem zusammen mit Jungs. Zu deutlich war ab einem gewissen Alter der körperliche Vorteil der Jungs gewesen.

Aber für virtuelle Spieler galt dieses - nun ja - Handicap nicht. Viele, viele Monate an Vorbereitungszeit stecken in der Programmierung von Bots und natürlich war es auch so, dass die Fähigkeiten nicht zu weit fortgeschritten gegenüber den menschlichen Mitspielern sein dürfen. Es gab feste Regeln und Grenzen, sodass einiges an Kreativität gefragt war. Pro Team waren nur jeweils vier virtuelle Spieler und vier menschliche Spieler zugelassen. Die Regeln waren für die Bots hart. Die roboterähnlichen Spieler sahen tatsächlich aus wie ihre menschlichen Pendants: Zwei Beine, zwei Arme - die gleiche Kleidung. Die Größe durfte in der Altersklasse 15 bis 16 zwischen 159 und 182 Zentimetern variieren. Wer auch immer sich das ausgedacht hatte, so waren nun einmal die Regeln. Die Gelenke, Mikromotoren, Pneumatik, Platinen und was sonst noch so gerade in der Robotik angesagt war, konnten niemanden verletzen. Ein weicher Gummibelag schützte sowohl Gegenspieler wie auch die Bots, die durchaus gefoult werden konnten und sogar teilweise auch unfair gestoppt werden mussten.

Die Laufstrecke für die Bots war festgelegt - Kein Roboter durfte die Gesamtlaufstrecke von 8,5 Kilometern innerhalb von 90 Minuten überschreiten. Mit zunehmendem Alter wurde diese Strecke ausgedehnt, aber in der Altersklasse bis 16 Jahre waren es nicht mehr als eben diese 8500 Meter. Das war nicht viel, weswegen Bots meistens im Sturm zu finden waren, oder halt im Tor. Man konnte dabei keine Laufstrecken auf andere Bots übertragen. Wenn ein virtueller Spieler dieses Limit erreicht hatte, dann blieb er zunächst stehen. Danach musste er das Spielfeld bei nächster Gelegenheit verlassen, entweder durch 'Auswechslung' oder 'Verletzung', was aber letztlich das Gleiche bedeutete. Daher war das laufintensive defensive Mittelfeld normalerweise fest in der Hand der biologischen Menschen. Mann- bzw. Botdeckung war verpönt und kam auch in der Praxis kaum vor. Ein Bot konnte einem schlecht trainiertem Menschen eventuell - auf lange Sicht gesehen - davonlaufen, während eine direkte Manndeckung Maschine-Mensch so gut wie unmöglich war. Aber ein Mensch war einfach viel zu wendig für eine Maschine, trotz des virtuellen Spielers, der den jeweiligen Bot steuerte.

Maximale Sprintgeschwindigkeit, Sprunghöhe, Schusskraft, all dies und noch Einiges mehr war vorgeschrieben. Dies war nötig geworden. Schon vor langer Zeit war es einem normalen menschlichem Fußballteam nicht mehr möglich, in einem offenen Fußballspiel, also einem Spiel ohne spezielle Regeln - Bots gegen biologische Menschen - zu gewinnen. Damals wurden solche Bots noch programmiert und sie sahen auch teilweise abenteuerlich aus. Heutzutage ist das anders, zumindest in der mit Abstand beliebtesten Liga: MeBoMix, Mensch-Bots-Mixed, also Teams mit gemischten Spielern, sowohl biologische wie auch virtuelle Menschen. Es war die Spielklasse, in der das alljährliche Fußballturnier auf der Albert-Einstein-Schule ausgetragen wurde. Dieses Turnier zu gewinnen war das sportliche Ziel schlechthin - für jeden Schüler.

Die ganze Theorie interessierte Christian im Moment nicht wirklich. Er hatte mit seinem Team in jeder freien Minute der vergangenen Woche intensiv an der Taktik für das heutige Spiel gefeilt. Das Ergebnis der intensiven Analysen war letztendlich relativ simpel ausgefallen: Es galt mindestens zwei Spieler vor das Tor von Michaela zu bringen. Da mag sie noch so gut reagieren können, wenn sie ausgespielt und das Tor frei war, dann würde der Ball im Netz zappeln. Wenn dies sogar mehrfach gelingen würde, dann käme es nur noch auf die Hintermannschaft an, das Ergebnis auch über die Zeit zu retten.

Die Balance zwischen Geschwindigkeit und Gleichgewicht zu halten, erforderte ein gehöriges Maß an Konzentration. Zudem war der Speicher im Bot nicht so groß, als das neben seiner eigenen Identität noch so viel Platz wäre, um den Bot sozusagen autonom laufen, dribbeln und schießen zu lassen. Das war 'gewollt'. Zu einfach durften es die Bots gegen ihre humanen Gegner nicht haben. Es galt, eine gute Programmierung zu finden. Also die speziellen Motoren und Mikrochips und was auch sonst noch so im Bot steckte, optimal anzusteuern und genau im richtigen Moment mit entsprechenden Mikroprogrammen zu füttern. Oft genug ist schon ein Bot vor einem Mitspieler über seine eigenen Füße oder den Ball gestolpert, ohne dass der Gegner überhaupt eingreifen musste. Wie beim Mensch ist dem virtuellen Spieler dann der Hohn und Spott der Gegner und ein freundschaftlicher Klaps auf den virtuellen Rücken seitens der eigenen Mannschaftskameraden gewiss. Und dies betraf nur den physischen Aspekt des Bots - es galt auch noch die psychologische Seite des Spiels zu beachten.

Kaum hatte Christian den Ball von Johannes bekommen, wurde er auch schon von der gegnerischen Mannschaft ins Visier genommen. Andreas stürmte von vorne und Vanessa von der linken Seite auf seine rechte Mittelfeldposition zu. So blieb nur noch der beherzte Pass in den steilen Angriff oder der geordnete Rückzug. Innerhalb von Sekundenbruchteilen musste Christian sich entscheiden. Entweder das Risiko des Ballverlustes eingehen, oder mehr Laufmeter verbrauchen.

Wie viele andere Sportarten, wurde auch das Fußballspiel an das Spiel mit Bots angepasst. Fußball war ein sehr komplexes Spiel. Es bestand nicht nur aus anaeroben Belastungen für den Sportler. Es war auch in hohem Maße aerob veranlagt. Oder mit anderen Worten:

Der Fußballer musste nicht nur schnell laufen können, er sollte auch in der Lage sein, diese Fähigkeit über einen längeren Zeitraum von neunzig Minuten aufrecht zu erhalten. Ein Mensch verlor die Fähigkeit der Schnellkraft mit zunehmender Spieldauer und Anzahl der Belastungseinheiten. Er konnte vielleicht zwei- bis dreimal innerhalb von zehn Minuten vom eigenen zum gegnerischen sechzehn Meter Raum sprinten, benötigte dann aber zumeist eine längere Phase der Erholung. Ein Bot brauchte keine Erholung. Zudem lief er, wenn man ihn ließ, immer gleich schnell. Diese Fähigkeit war gegenüber den menschlichen Gegnern so nicht fair. Darum wurden Bots gebremst. Je mehr sie liefen, desto langsamer wurden sie, es sei denn sie machten - ganz wie ein Mensch auch - eine Pause. Sicher, man konnte die Energie sparen, lief aber dann Gefahr, vom Gegner schlichtweg austaktiert zu werden, da deren Spieler dann aufgrund der besseren Ressourcen ganz einfach nicht mehr so viel laufen mussten. Es gab sogar die Möglichkeit, das Bots vollkommen ausgepowert wurden und damit sozusagen für die Mannschaft ab einer gewissen fortgeschrittenen Zeit nicht mehr von Nutzen waren. Dazu kam noch die Limitierung durch die maximal erlaubte Laufstrecke.

Man konnte zwar jeweils drei menschliche Spieler und drei Bots auswechseln, aber es ist verständlich, dass hier auch einmal Schluss mit schnellen Sprints war. Nicht selten war es so, dass die menschlichen Spieler gegen Ende des Spiels mehr und mehr die Kontrolle übernahmen, da die Bots ihr Limit erreicht hatten. Hier galt es halt, die schon angesprochene gute Balance zu finden. Der heutige Fußball war ein hochkomplexer Teamsport geworden, der eine Menge Planung und Vorbereitung erforderte, sowohl bei den rein menschlichen wie auch bei den virtuellen Spielern. Genau dies machte den Erfolg dieses Sports aus. Fußball war nichts für Glücksritter und einzelgängerische Möchtegern-Superstürmer. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass ein einzelner guter Spieler allein das Spiel entscheiden konnte.

Christian entschied sich zunächst für die defensive Variante und opferte lieber ein paar aerobe Einheiten, als zu früh die Sprintfähigkeiten des Bot-Sturms einzusetzen. In den bisherigen Spielen agierte die 9b zumeist anfangs recht angriffslustig, um den Gegner aus der Reserve zu locken. Dabei vertrauten sie auch ein wenig auf die hervorragenden Fähigkeiten ihres sehr guten Torwarts Michaela.

„Lass sie doch erst mal sprinten!“, dachte er: „Die werden schon mit der Zeit langsamer werden und wenn wir später zu zweit Michaelas Tor attackieren, dann kann sie noch so gut reagieren oder die Ecke erahnen! Das gesamte Tor abdecken kann sie schließlich auch wieder nicht.“

Wie beim früheren rein menschlichen Fußball nahm auch der Torwart beim aktuellen Fußball eine Sonderposition ein. Falls er ein Bot war, galten für ihn spezielle Regeln, genau wie dies auch bei den Bot-Feldspielern der Fall war. So besaß er zum Beispiel nur ein bestimmtes Kontingent an sogenannten 'Glanzparaden'. Die Sprungkraft war ebenfalls eingeschränkt. Kein Bot konnte von einer Ecke links unten sieben Meter hoch in die rechte obere Ecke springen, um dort einen annähernd perfekt geschossenen Freistoß aus dem Winkel zu kratzen. Zudem konnte man den Torwart sozusagen einschläfern. Wenn er sich nicht genug bewegte, dann konnte er nicht mehr schnell genug reagieren und nicht mehr so weit springen.

Die 9a hatte sich genau dies vorgenommen. Mal sehen wie gut Michaela noch war, wenn sie von jetzt auf gleich zu annähernd hundert Prozent bereit sein musste. Die 9c hatte zwei Tage zuvor den Fehler gemacht, Michaela sprichwörtlich „warm zu schießen“. Sie wurden gnadenlos ausgekontert, nachdem Michaela zahllose, eben nur fast unhaltbare Bälle, gehalten hatte. Danach setzte sie dann über die menschlichen Abwehrspieler die ultraschnellen, bis dahin kaum eingesetzten, Angriffsressourcen der schnellen Angriffsbots ein. Das über 80 Minuten ausgeglichene Spiel kippte in den letzten Minuten meist deutlich zu Gunsten der 9b.

In der Taktikbesprechung eine Stunde vor dem Spiel hatten die virtuellen Strategen jedem Spieler klar gemacht, dass man nicht in die gleiche Falle rennen wollte, wie die 'Strategieschwachmaten' aus der 9'c'haos.

Christian gehörte zum Strategieteam. Dieses Team bestand so gut wie immer aus rein virtuellen Spielern. Spielanalyse war historisch immer schon die Domäne der Menschen aus der zweiten Welt. Umso peinlicher war es, wenn der mehr oder weniger ausgefuchste Plan dann grandios versagte, weil die menschlichen Spieler nicht mehr anständig von den Bots unterstützt wurden. Johann, taktisches Mastermind der 9c, hatte sich schon ziemlich blamiert und seinen Titel 'Superstratege' erst einmal auf unbestimmte Zeit eingebüßt.

Die 9a versuchte durch kontrolliertes Spiel den Ball in den eigenen Reihen zu halten und den Gegner, speziell den maschinellen, möglichst viel Laufen zu lassen. Das funktionierte soweit ganz gut. Allerdings war trotz einem Ballbesitz von annähernd 75 Prozent seitens der 9a bis zur zwanzigsten Minute noch immer kein Tor gefallen. Es kam nicht einmal zu irgendwelchen Abschlüssen. Zu gut waren die Räume auf der einen, wie auf der anderen Seite zugestellt. Die eine Mannschaft konnte scheinbar nicht, die andere wollte nicht. Der Gegner verbrauchte scheinbar grundlos seine Laufmeter mit „hinterherlaufen“.

„Das geht fast zu glatt“, dachte Christian und die schlechte Vorahnung sollte sich bewahrheiten, denn nur wenig später änderte der Gegner die Taktik.

Exakt ab der 21. Minute wechselten fast alle gegnerischen Spieler ihre Position. Die beiden menschlichen Mittelfeld-Spieler Jens und Simon zogen sich in die Abwehr zurück und überließen den eigentlichen Abwehrbots Andreas und Vanessa das Mittelfeld. Das Mittelfeld der 9b bestand nun komplett aus drei Bots! Eigentlich war dies ein taktischer Fehler, denn so konnte die bessere Spielfähigkeit der Menschen im Mittelfeld nicht eingesetzt werden. Die wollten doch das Mittelfeld nicht kampflos abgeben? Menschen waren meist im Sprint gegenüber Bots kurzfristig schneller, sonst wären die Maschinen zu mächtig im Spiel.

Aber Michaela und ihr Team hatten sich einen Plan ausgedacht: Sie überbrückten das Mittelfeld durch weite Pässe in die Spitze und vertrauten auf die nun zusätzlich in den Sturm vorgerückten menschlichen Stürmer. Drei menschliche Stürmer, das war komplett gegen jegliche taktische Logik. Es stand auf der Seite der 9b nun ein Bot-Torwart, einer komplett menschliche Abwehr aus lediglich zwei Spielern, drei Mittelfeld-Bots, und zwei menschliche Stürmern den überraschten Spielern der 9a gegenüber. So konnten doch niemals die Synergie-Effekte aus Bot und Mensch genutzt werden? Und … was machte der eine Bot, der übrig war? Christian konnte dies nicht einschätzen. War er nun Stürmer, Abwehr oder sonst irgendwas? Er sollte es bald erfahren.

Der eine übrige Bot unternahm schnelle Vorstöße in die Spitze, mal auf der rechten, dann wieder auf der linken Seite. Er konnte zwar nicht schneller laufen, dafür aber längere Sprints in gleichbleibendem Tempo durchhalten. Dies führte schnell zu zwei Toren und damit es nicht noch mehr wurden, musste die 9a viel anaerobes Kontingent in ihren Abwehrbots verbrauchen. Zudem wurden die beiden menschlichen Abwehrspieler auch nicht gerade geschont.

Natürlich brannte der eine Flügelbot läuferisch recht schnell aus - aber er wurde einfach nach 15 Minuten aus dem Spiel genommen und gegen einen neuen Bot ausgetauscht, der sich im Mittelfeld einsortierte, während ein weiterer schon länger auf dem Feld befindlicher Bot aus dem Mittelfeld dann in den Flügelsturm wechselte und sich dort auf Kosten von viel, viel Abwehrarbeit der 9a austobte.

„Verdammt … fünf Minuten vor Halbzeit! Wir liegen zwei zu Null zurück! Unsere Gesamtlaufstrecke dürfte ähnlich groß sein, wie die der Michaela-Truppe!“ Diese Nachricht wurde vom menschlichen Trainer Rene quer über den Platz gebrüllt.

Christian verdrehte im Geist seine virtuellen Augen. „Na super“, dachte er: „Den Bots ist es ja egal, was du da so erzählst. Aber die menschlichen Gegner werden sich ein Grinsen nicht verkneifen können. Die bekommen jetzt mit Sicherheit einen Adrenalinschub und rennen dann noch mal mehr. Eine bessere Motivation als sich ärgernde oder panisch werdende Gegner kann man doch gar nicht bekommen!“

„Tja ihr lahmen Enten, dann müsst ihr halt mehr laufen!“, brüllte Christians Bot zurück.

'Enten' war das Stichwort für den ersten Spurt Annas - dem Sturmbot der 9a. Und immerhin - das klappte … die zwei menschlichen Abwehrspieler konnten gerade nicht folgen, da sie zu offensiv ausgerichtet waren, sodass Anna nach einem langgezogenen Sprint mit Ball schließlich allein vor Michaela auftauchte.

„Schieß das Ding bloß nicht vorbei, mach es ihr wenigstens schwer!“, dachte Christian.

Anna schoss in die linke untere Ecke …

Und zur Überraschung fast aller Anwesenden, Zuschauer als auch der Spieler, … hielt Michaela den Schuss … … … nicht.

„Na, hätte auch schlechter laufen können, 1:2 ist noch im Toleranzbereich“, dachte Christian kurz bevor der Halbzeitpfiff ertönte.

Die Sprechzeit in der Halbzeitpause gehörte meist den Virtuellen. Menschen versuchen überwiegend sich zu erholen und ihre natürlichen Tanks wieder aufzufüllen. In diese Tanks gehören Sauerstoff und Flüssigkeit, sowie ein wenig Mineralien.

Bots brauchen so was nicht und können daher die Zeit mit Analysen und taktischen Anweisungen, gerade auch für die ausgepowerten Menschen, nutzen.

Es gab einiges bei der 9a zu besprechen und sie schafften es gerade so innerhalb der fünfzehn Minuten die Taktik anzupassen und den Menschen Andreas, Jens, Michael und Daniel zu vermitteln.

Beide Mannschaften kamen unverändert aus der Kabine. Dies war nicht weiter ungewöhnlich. Natürlich hatte man in der Pause Zeit, das eine oder andere durch zu sprechen. Beim Schulsport waren externe Trainer nicht erlaubt. Dies erhöhte den Lerneffekt für die virtuellen Spieler, wenn es die Aufgabe auch schwieriger machte. Es wäre tatsächlich sinnvoll, einen erfahrenen Fußballlehrer auch mal das Spiel von außerhalb betrachten zu lassen. Aber zumindest auf ihrer Schule wollte man dies nicht erlauben. Es wäre nicht fair gegenüber einer anderen Klasse gewesen, wenn hier ein Vater oder eine Mutter eines erfahrenen Fußballspielers zu viel Einfluss auf die Begegnung nehmen könnte.

Anders als in der ersten Halbzeit hielten sich dieses Mal beide Teams nicht großartig mit vorsichtigem Abtasten auf. Beide schienen die heutigen Schwächen des jeweils anderen Teams in der Halbzeit sehr gut analysiert zu haben. So recht traute man der scheinbaren Schwäche der ansonsten recht sicheren Torwartin Michaela noch nicht, obwohl man dies in der Pause klar kommuniziert hatte.

„Eigentlich hält sie so was doch im Schlaf!“, war der erste Kommentar von Andreas in der Pause.

„Das ist mit Sicherheit eine Finte!“, mutmaßte Anna.

„Könnte sein“, dachte Christian laut.

„Stimmt, vielleicht wollen sie uns in eine Falle locken? Ich erinnere nur an die 9c!“, noch einmal Andreas.

„Wir sollten es aber auf jeden Fall noch einmal verstärkt versuchen. Der eine oder andere Schuss mehr aufs Tor kann nicht schaden.“ meinte Olaf, ein virtueller Auswechselspieler, der für Anna zu gegebener Zeit eingewechselt werden wird.

„Das stimmt!“, bestätigte Christian Olafs Vermutung. „Anna?“

„Ich werde zu Beginn der 2. Halbzeit mein Sprintkontingent erhöhen und noch einmal den einen oder anderen Versuch starten“, fiel sie Christian ins Wort.

„Ja, wir werden die ursprünglich eher defensivere Ausrichtung etwas mehr in Richtung Offensive verändern!“, gab Christian die Marschrichtung für die 2. Halbzeit vor. „Wir wechseln auf 3 Stürmer mit Anna als vorläufigen echten Mittelstürmer.“

Plötzlich war Platz im Mittelfeld. Sowohl die 9a, wie auch die 9b versuchten nun mit langen Pässen ihr Glück.

So stand es recht schnell zwei zu drei, drei zu drei, vier zu vier und sogar fünf zu fünf. Christian war es immer noch ein Rätsel, warum Michaela heute einen rabenschwarzen Tag hatte. Sie hielt weit unter ihrem üblichen Niveau. Andererseits war dies aber auch das große Glück der 9a. Taktisch war die überraschende Aufstellung mit drei Stürmern und nur zwei Abwehrspielern eine echte Glanzleistung. Schließlich endete das Spiel unentschieden. Vielleicht half es am Ende sogar beiden Mannschaften in der Tabelle, denn ein Fußballspiel geht nicht gerade sehr oft sieben zu sieben aus. Da bei gleicher Tordifferenz die mehr geschossenen Tore zählten, war das zumindest schon einmal nicht das schlechteste Ergebnis für beide Klassen.

„Was für ein Ergebnis!“, sprudelte es aus Christian heraus, als er seinen Vater in der Umkleidekabine bemerkte.

„Ja, allerdings“, kam die prompte Antwort von ihm.

„Irgendwie war das nicht der Tag der Torwarte“, sprach Christian das aus, was wohl fast alle im Team dachten.

„Bei Dirk mag das ja annähernd normal sein ...“ begann er seinen nächsten Satz, was ihm einen recht bösen Blick aus einem anderen Monitor in der linken Ecke des Raumes einbrachte.

„Hey, alles gut Dirk - du hast uns so oft den Allerwertesten gerettet, jedem passiert mal so ein Ding - nimm's locker! Niemand hier ist dir wirklich böse, das weißt du!“

Ein Tor der 9b war wirklich kurios. Ein Schuss aus gut zwanzig Metern ist eigentlich sichere Beute für jeden virtuellen Torwart. Egal ob der nun noch an der Strafraumgrenze leicht abgefälscht wurde, oder nicht.

„Du weißt es nicht, oder?“, fragte Jochen mitten in das allgemeine Gemurmel.

Christians Gesicht auf dem einen Monitor bekam einen unwissenden Ausdruck.

„Scheinbar nicht?“, bestätigte er diese Annahme. „Michaelas Bruder ist letzte Nacht gestorben“, bemerkte Jochen beiläufig.

Christian begriff sofort den Inhalt dieser Aussage. Von jetzt auf gleich ändert das Gesicht seinen zufriedenen Ausdruck. Bis hierhin war er, dank des letztendlich glücklich erreichten Unentschiedens im Spiel, eigentlich recht zufrieden mit dem heutigen Tag. Sein Gesicht wechselte die Stimmung aber fast unvermittelt in einen traurigen, man kann schon fast sagen, schockiert-traurigen Ausdruck.

Jochen brauchte keine weiteren Erklärungen abzugeben. Christian hatte direkt verstanden, was dies für Michaela bedeuten musste. Sie liebte ihren Bruder Arndt über alles. Es war deutlich ruhiger in der Kabine geworden.

„Ich werde heute in die andere Kabine gehen!“, sagte Christian nach einem kurzen Augenblick.

Es war gute Sitte, dass ein Spieler der eigenen Mannschaft, der anderen Mannschaft gratulierte. Im Erfolgsfall war es so, dass der Verlierer dem Gewinner gratulierte. Gab es keinen Sieger, dann wurde gelost, wer den Gegner besuchte. Dies wird immer schon vor dem Spiel festgelegt. Heute hatte das Los bestimmt, dass ein Vertreter der 9a die 9b besuchen würde, falls es keinen Gewinner geben würde.

Mit sichtlichem Stolz vernahm Jochen Ansage seines Sohnes. Sein Ausspruch lies keine Widerworte zu. Es war nun schlagartig ganz ruhig im Raum und so blieb es auch die nächsten leicht unangenehmen fünf Sekunden, bevor es der Doc war, der die Stille durchbrach: „Danke dir, Christian. Ich weiß, dass dies heute keine leichte Aufgabe wird!“

Er machte eine kurze Pause: „Aber, du wirst die richtigen Worte finden. Vielleicht auch an Ihren Bruder, sofern er bei ihr ist.“

„Zum Glück lebt er weiter!“, Andreas startete den Versuch, die Truppe ein wenig aufzumuntern, aber scheinbar nur mit bedingtem Erfolg. Die traurige Miene auf Christians Monitor änderte sich nicht, als der Lautsprecher daraus sarkastisch antwortete: „Ja, was für ein Glück ...“

Jochen realisierte, dass sein Sohn die volle Tragweite dieser Tragik in Sekundenbruchteilen erfasst hatte. Mit dem Tod von Arndt war die Familie Scholz sozusagen ausgelöscht. Sicher, alle lebten weiter. Niemand war wirklich tot. Aber, es würde zukünftig kein neues Familienmitglied mehr geben. Arndt war das letzte Kind von Melanie Scholz. Nach ihm konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Ihr Mann, Jürgen Scholz war vergangenes Jahr gestorben. Sie wusste, dass in Arndts Genen eine Krankheit schlummerte. Trotzdem hatten Sie alle gehofft, dass er vom Schicksal der Familie Scholz verschont bliebe.

Seit gestern Nacht wusste auch Jochen, dass es nicht so kommen sollte. Es würde kein neues Kind, kein neues Leben geben, Michaela würde niemals Mutter werden. Dies war klar. Aber sie würde auch niemals Tante werden. Eigene Kinder, oder zumindest verwandte Kinder, würde Michaela niemals von Kindern bis ins Erwachsenenalter aufwachsen sehen.

Immer noch war der Tod nicht wirklich besiegt. Er hatte immer noch eine gewisse Macht. Zwar vernichtete er kein bestehendes Leben mehr, aber er radierte die Zukunft aus. Und immer noch war einer seiner besten Freunde und Helfer - der Krebs - mächtig genug, um echte Tragödien zu erschaffen. Michaela hatte bisher nichts davon erzählt. Aber so erklärte sich, warum sie die letzten Wochen kaum irgendwo gesehen wurde. Sie hatte wohl doch nicht an der Taktik für die Bots gearbeitet, sondern war ganz einfach mit wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen.

Damit waren er und Michaela sozusagen Seelenverwandte, wenn man nur die biologische Komponente sah. War es Zufall, oder geplant, dass er heute derjenige war, der zum gegnerischen Team in die Kabine gehen wollte?

Jedenfalls war ihm vollkommen klar, dass er auf jeden Fall der Richtige war. Auch wenn ihm jetzt noch nicht die passenden Worte einfallen wollten, er würde sie finden.

Natürlich ging er nicht physikalisch in den anderen Raum. Er schaltete sich einfach via Monitor zur gegnerischen Mannschaft. Das mag sich unpersönlich anhören, war es aber für keinen der anwesenden Gegner, denn es war so einfacher, als mit Bots durch die Gegend zu laufen, die zudem natürlich auch nicht den gesamten virtuellen Menschen speichern konnten.

„Hallo, ihr Fast-Loser!“, begann er seine Ansprache. „Da habt ihr ja soeben noch mal Glück gehabt, dass das Spiel nicht noch 5 Minuten länger gedauert hat!“

Dies stimmte so nicht und das wussten alle Spieler der beiden Mannschaften. Die 9a hatte mit Glück den Vorsprung so gerade noch ins Ziel retten können. Fünf Minuten länger und sie hätten verloren … haben sie aber nicht.

Es kamen überraschenderweise keine mürrischen Wiederworte von der 'B'. Seine einleitenden Worte kamen wohl doch nicht so lustig rüber, wie er gedacht hatte. Daher änderte Christian seine Ansprache spontan ab.

„Ist Michaela Scholz noch anwesend?!“, fragte er mit ruhiger und betont emotionsloser Stimme.

Nun ging doch ein Raunen durch den Raum. Einzelne Spieler wurden nur bei einer besonders herausragenden Leistung erwähnt. Michaela hat heute jedoch bei weitem nicht ihr - auch nur normales - Potential abgerufen.

„Ja, ist sie“, erklang es leise aus einem Monitor in der linken hinteren Ecke.

„Danke!“, begann Christian und machte eine kleine Pause: „Nicht für den Punkt, den wir heute bekommen haben, sondern dafür, dass du ein Vorbild für alle bist! Ich meine, du hättest allen Grund gehabt, heute nicht dabei zu sein. Niemand wäre dir böse gewesen, jeder hätte es verstanden! Aber … du lässt Dein Team nicht im Stich! Die gesamte Klasse 9a gratuliert der 9b zu diesem unglaublichen Spieler. Wir alle sind unglaublich stolz auf dich! Heute ist kein Tag zum Feiern, aber ein Tag der in Erinnerung bleiben wird. Heute war der Tag von Michaela Scholz, der besten Torwartin, den diese Schule bisher gesehen hat, wenn es nach mir geht!“

Auch in diesem Raum war es nun ruhig geworden. Christian erschrak ein wenig, hatte er etwas Falsches gesagt?

Dann aber wurde ihm klar, dass jeder, wirklich jeder mit dem innegehalten hatte, was er gerade tat und ihm zu hörte. Schließlich sagte er noch: „Danke, mehr habe ich nicht zu sagen.“

Der Jubel war unbeschreiblich. Fast alle klatschten. Michaela nicht, sie schickte ihm eine persönliche Nachricht: „Danke, du bist wundervoll. Aber bitte habe Verständnis, dass ich mich nun um meine Familie kümmern muss. Wir hören und lesen voneinander.“

Zum Mittagessen traf Christian einen sehr stolzen Vater. „Christian, das war echt groß. Eine tolle Kabinenansprache. Ich bin sehr stolz auf dich!“, sagte er ihm, nachdem er die Tomatensuppe gegessen hatte, noch bevor Marie mit dem Hauptgang aus der Küche kam. Es war für Christian selbstverständlich, dass er virtuell mit am Tisch saß, auch wenn er selbst nicht essen konnte. Er hatte die Tischmanieren von seinen ursprünglichen Eltern gelernt. Sehr viel aus seinem alten Leben war jedoch nicht mehr in seinen digitalen Erinnerungen enthalten. So sehr er auch versuchte, hier ein Gefühl oder eine Bindung zu ihnen herzustellen, es wollte nicht so richtig funktionieren. Es war fast so, als wäre von irgendwem eine Blockade errichtet worden, damit er sie vergessen sollte. In Wahrheit war dem nicht so, aber vielleicht wollte er dies irgendwo tief in sich drin auch. Vielleicht war es besser, wenn er sie vergessen würde. Er fühlte sich wohl bei den Schuppiens. Dies waren wundervolle Menschen. Sowohl die Erwachsenen wie auch sein Bruder. Anders wie in manch anderen Familien, wurde hier die zweite Welt voll und ganz akzeptiert und anerkannt. Für jeden hier war er und jeder virtuelle Mensch ein eigenständiges Lebewesen, vielleicht mit einer Behinderung, obwohl diese Erklärung natürlich in keinster Weise zutraf.

Die Bewohner der zweiten Welt hatten gänzlich andere Vorzüge als beispielsweise eine überragende körperliche Ausdauer oder ein fantastisches Aussehen. Es war nicht für jeden leicht, das zu erkennen und damit zu leben. Nicht wenige Menschen wollten mit der zweiten Welt so wenig wie möglich zu tun haben. Viele meinten - aus ihrer Sicht heraus vielleicht verständlich - dass sie noch früh genug dorthin kamen.