Ethnobombe - Michael Exner - E-Book

Ethnobombe E-Book

Michael Exner

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Beschreibung

Eine Pandemie bricht aus. Diese Heimsuchung lässt die Spanische Grippe von 1918-20 wie ein harmloses Schnupfenvirus aussehen. Schnell wird klar, dass diese Krankheit kein natürliches Phänomen ist. Doch warum werden die Wissenschaftler, die an der Bekämpfung der Seuche arbeiten, mit aller Macht angegriffen?

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Michael Exner

Ethnobombe

© 2018 Michael Exner

Umschlaggestaltung, Illustration: Michael Exner

Lektorat, Korrektorat: Michael Exner

Herausgeber: Michael Exner

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch:

978-3-7482-0908-9

ISBN Hardcover:

978-3-7482-0909-6

ISBN e-Book:

978-3-7482-0910-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Teil 1

Passagierschiff ‚Maaru‘

Westatlantik

Sie saßen in Alvas Büro. Ringstrøm, da Sibo, Lins und Germer beugten sich über einige Stapel von Ausdrucken und versuchten, einen Sinn in den Dossiers zu erkennen. Sara war dabei, eine Liste von Anforderungen für die Labore zu erarbeiten.

„Wir finden einfach keinen gemeinsamen Faktor. Die Spezialgebiete der verschwundenen Wissenschaftler weisen eindeutig darauf hin, dass an dem Virus weitergearbeitet werden soll, aber zu welchem Zweck, bleibt mir schleierhaft.“ Ringstrøm wirkte jetzt wirklich verzweifelt.

Auch Sara war unzufrieden. Die Koordination der Bestellungen für die inzwischen über 140 Wissenschaftler, Ingenieure und Laboranten an Bord der ‚Maaru‘ fraß immer mehr ihrer Zeit.

Sie hob den Kopf: „Hört ihr das?“

Die anderen lauschten. In die entstehende Stille drang ein leises Brummen, das sich langsam verstärkte.

„Sind das die Schiffsmotoren?“ Walos Germer schaute erstaunt. Die ‚Maaru‘ ist ein Kreuzfahrtschiff und eigentlich dazu da, gemütlich mit gedrosselten Maschinen Tausende von Rentnern durch die Weltmeere zu schippern. Jetzt schien irgendetwas den Kapitän veranlasst zu haben, die Geschwindigkeit beträchtlich zu erhöhen. Alva griff zum Telefon. „Da Sibo hier, Kapitän, was… Ja, wir kommen.“

Alle blickten ihn an. „Wir sollen auf die Brücke kommen. Solejow klang besorgt.“

Mauters und Winter waren schon auf der Brücke. Kapitän Solejow telefonierte konzentriert. Dann legte er das Telefon beiseite.

„Ich glaube, jetzt sind wir vollzählig. Ich muss Sie informieren, dass sich in den letzten Minuten eine Situation entwickelt hat, die eine gewisse Bedrohung für uns darstellen könnte.

Die Erdbebenzentrale der Region hat uns informiert, dass sich östlich der British Virgin Islands in einem Meeresgraben ein Seebeben ereignet hat. Es ist von mittlerer Stärke, etwa sechs bis sieben. Man hat für die Region eine Tsunamiwarnung ausgegeben.“

„Aber wie kann uns das gefährden?“ Ringstrøm polterte dazwischen. „Wir sind weit draußen auf See, hier hat eine Bebenwelle doch nicht die Kraft, uns in Gefahr zu bringen.“

„Das ist richtig.“ Der Kapitän stimmte zu. „Es gibt allerdings einen Faktor, der schwer einzuschätzen ist. Dieses Beben hat eine Hangrutschung in einem Tiefseegraben ausgelöst, der südlich des Puerto-Rico-Grabens verläuft und in diesen mündet. Das allein wäre kein Problem, denn das Epizentrum des Bebens und die Rutschung sind einige Hundert Meilen von uns entfernt.

Allerdings hat die zentrale Erbebenüberwachung auf Puerto Rico alle Reedereien informiert, dass dieses Beben einen riesigen BlowOut ausgelöst hat, weil Dutzende Quadratkilometer Methanhydrat freigelegt wurden.“

„Ja und? Auch das ist Hunderte Meilen von uns entfernt.“ Ringstrøm ging das alles zu langsam. „Kommen Sie auf den Punkt, Kapitän!“

„Das bewegt sich auf uns zu. Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt. Aber unsere Reederei versucht, jemanden zu bekommen, der das alles erklären kann. Vor allem jemanden, der uns sagt, wie wir der Bedrohung entgehen können- wenn es denn eine gibt.“

Da Sibo fragte sachlich: „Wie ist die momentane Lage, Kapitän? Wo befinden wir uns und wohin fahren wir?“

„Wir sind jetzt in dem Bereich, in dem der kleinere Graben, der Virgin Islands Trough, aus südwestlicher Richtung in den Anegada Trough mündet und dann auf den Puerto-Rico-Graben stößt. Die Gefahr bewegt sich also aus Südwesten auf uns zu. Wir sind zum Zeitpunkt des Bebens dem Verlauf des Puerto-Rico-Grabens folgend, von West nach Ost gefahren. Im Moment sind wir nach Nordost gedreht, um dem zu entgehen, was da auf uns zukommt.“

Das Telefon klingelte. Solejow nahm ab. Dann schaltete er den großen Monitor an der Wand ein. Anna Kampa, die UN-Generalsekretärin erschien. „Guten Tag, meine Damen und Herren, wie ich sehe, sind schon alle versammelt, dann können wir loslegen. Wie ist Ihr Kenntnisstand?“

Solejow informierte in knappen Worten.

„Gut, dann wissen Sie genauso viel wie ich. Allerdings wird gerade ein Geologe des Erdbebenzentrums auf Puerto Rico zugeschaltet. Er wird uns die Lage erklären und mit den neuesten Daten versorgen. Zusätzlich kommt noch Captain Charles Connors vom Flugzeugträger ‚USS Oriskany II‘ in die Konferenz.“

Connors, ein weißhaariger, rundlicher Offizier in Uniform nickte kurz in die Runde.

Dann erschien ein junger Mann mit altmodischer Brille und wirren Haaren auf dem Bildschirm. „Guten Tag, mein Name ist Christiano Molina. Ich bin mit der Lage im Bebengebiet vertraut und habe auch neueste Informationen. Als erstes eine Frage, Kapitän. Wie ist Ihr gegenwärtiger Kurs?“

„Wir fahren mit Höchstgeschwindigkeit in nordöstlicher Richtung.“

„Schaffen Sie es, innerhalb der nächsten zwei Stunden, den Puerto-Rico-Graben zu verlassen?“

Solejow blickte nur kurz zur Karte auf seinem Tisch. „Auf keinen Fall. In zwei Stunden befinden wir uns bestenfalls mitten über dem nördlichen Hang des Grabens, selbst wenn wir komplett auf Nord drehen würden. Die ‚Maaru‘ ist ein Kreuzfahrtschiff und nicht auf Geschwindigkeit ausgelegt.“ „Dann ändern Sie unbedingt Ihren Kurs so, dass Sie in spitzem Winkel wieder über den Grabenboden kommen, dem Sie dann in östlicher Richtung folgen. Ich erkläre das gleich. Und fahren Sie weiter so schnell wie möglich. Jede Meile, die Sie von der Stelle wegkommen, wo die beiden Tiefseegräben aufeinandertreffen, verringert die Gefahr. Wenn noch andere Schiffe in der Nähe sind, warnen Sie diese bitte. Sie müssen sich von den Hängen des Grabens fernhalten. Wenn Sie es nicht schaffen, den Graben zu verlassen, sollen Sie sich im Bereich der größten Tiefe aufhalten und in westlicher oder östlicher Richtung fliehen.“

Connors meldete sich. „Ich muss mit meinem Stab hier auf der ‚Oriskany‘ sprechen. Zusätzlich müssen die Russen informiert werden. Ihre U-Boote dürften es auch kaum schaffen, den Graben zu verlassen. Wir werden außerdem unsere Hubschrauber losschicken, um wenigstens ein paar Ihrer Leute von der ‚Maaru‘ zu evakuieren.“

„Gut“ Kampa hatte längst die Leitung des Meetings übernommen. „Beeilen Sie sich, wir treffen uns in fünf Minuten wieder.“

„Ich besorge inzwischen die neuesten Daten.“ Molina verschwand.

Es dauerte acht Minuten, dann waren alle wieder da.

„Admiral Connors, was haben Sie erreicht?“ Kampa verlor keine Zeit.

„Die ‚Oriskany‘ war etwa 20 Meilen nördlich auf Parallelkurs zur ‚Maaru‘. Sie hat auf Nord gedreht und wird es aufgrund ihrer deutlich höheren Geschwindigkeit schaffen, den Graben zu verlassen. Ebenso die beiden russischen U-Kreuzer, die den Flugzeugträger begleitet haben. Die anderen U-Kreuzer, die bei der ‚Maaru‘ waren, sind wie diese zu weit weg vom Grabenrand und werden bei dem Kreuzfahrtschiff bleiben. Wir haben nur drei Hubschrauber, die auf dem Kreuzfahrtschiff landen können. Sie sind bereits unterwegs. Leider werden sie nur einen Evakuierungsflug schaffen, da sich die Schiffe auseinanderbewegen. Jeder Hubschrauber kann maximal zehn Leute aufnehmen. Machen Sie eine Liste. In zwanzig Minuten landen wir bei Ihnen.“

Molina staunte: Ein Kreuzfahrtschiff, das von einem Flugzeugträger und U-Booten bewacht wird? „Darf ich fragen, was…“

„Nein.“ kam kategorisch von Kampa. Dieser Geologe musste wirklich von einer anderen Welt sein. Monatelang waren die Medien voller Meldungen gewesen von dem Schiff, auf dem Dutzende von hochrangigen Wissenschaftlern an der Bekämpfung der schlimmsten Seuche seit Menschengedenken arbeiteten und dieser Kerl kam aus dem Mustopf.

„Ich habe inzwischen nachgefragt, ob uns jemand helfen kann, wenigstens noch ein paar Leute von der ‚Maaru‘ auszufliegen. Keine Chance. Die Einzigen, die nahe genug wären, sind die Katastrophenschützer auf den Jungferninseln. Die haben aber alle Hände voll zu tun, die Bevölkerung der Küstenregion zu retten, die von dem Tsunami betroffen sein wird.

Herr Molina, jetzt bitte Ihre Erklärung dessen, was sich da im Puerto-Rico-Graben abspielt. Und bitte in allgemein verständlichen Begriffen.“

„Ja gut, das Seebeben, das sich vor etwa 40 Minuten ereignete, war zunächst einmal kein massives kurzes Beben, sondern eher eine Folge von mehreren kleinen und mittleren Beben, ein so genanntes Schwarmbeben. Das Epizentrum lag nicht sehr tief, sondern nur knapp unter dem Meeresboden auf Höhe der Virgin Islands, was an sich schon ungewöhnlich ist. Wir sind noch dabei, es zu analysieren.“

„Gut, wenn Sie etwas herausbekommen haben, lassen Sie es uns wissen. Jetzt bitte nur die bekannten Fakten.“ Kampa bremste Molina aus, bevor er sich in Spekulationen erging. „Das Beben, das mehrere Minuten dauerte, löste einen sogenannten Storegga-Effekt aus. Das ist eine massive Hangrutschung an beiden Hängen, also nördlich und südlich des Grabenbodens. Die beiden Schlammlawinen vereinten sich in der Mitte des Grabens. An beiden Seiten des Grabens wurden einige Hundert Quadratkilometer eines Sediment-Methanhydrat-Gemisches freigelegt, aber auch Millionen Kubikmeter dieses Gemisches mitgerissen. Das Methaneis, wie man es auch nennt, ist dadurch aus seinem einigermaßen stabilen Zustand gebracht worden und fast explosionsartig in seine Bestandteile zerfallen, Methan und Wasser. Das hatte einen gewaltigen BlowOut zur Folge. Weiterhin haben sich die beiden vereinigten Schlammlawinen am abschüssigen Grund des Grabens in Richtung Puerto-Rico-Graben in Bewegung gesetzt. Auf seinem Weg wird die Lawine große Teile des Grabenbodens und seiner Böschung mitnehmen. Auf Grund der starken Abschüssigkeit wird die Lawine an Geschwindigkeit und Mächtigkeit ständig zunehmen und mit einer kaum vorstellbaren Gewalt in den Puerto-Rico-Graben einbrechen. Soweit die schlechten Nachrichten.“

Christiano Molina brachte eine Reliefkarte zum Vorschein. „Hier sehen Sie die beiden Gräben, um die es geht. Ich habe die Karte um knapp 900 gedreht, damit man besser sehen kann, was dort geschehen wird.

Östlich der Virgin Islands ist der kleinere Graben nur etwa 3000 Meter tief, fällt dann aber bis zum Puerto-Rico-Graben auf etwa 6500 Meter ab. Auf diesem Weg wird die Schlammlawine ständig an Energie, Größe und Geschwindigkeit gewinnen. Wenn sie den Puerto-Rico-Graben erreicht hat und sich dann in östlicher Richtung bewegt, ist der Grabenboden nicht mehr abschüssig, sondern verliert sogar leicht an Tiefe. Deshalb meine Empfehlung, sich so schnell wie möglich in Richtung Osten zu bewegen, weil die Lawine hier mit der Zeit langsamer wird und an Masse verliert, weil die schwereren Bestandteile zurückbleiben bzw. liegenbleiben.

Noch ein Wort dazu, warum Sie über dem Grabenboden bleiben sollten. Die größte Gefahr geht von dem permanenten BlowOut aus, den die Schlammlawine auslöst. Am stärksten ist dieser über den Hängen des Grabens, weil hier das meiste Eis lagert. Am Boden entsteht das Methangas in erster Linie durch mitgerissenes Material, das einen großen Teil seiner Methanhydrat-Fracht schon verloren hat. Deshalb sind hier die Chancen am größten, dem Untergang zu entgehen.“

Molina war fertig. Niemand sagte etwas. Alle waren wie betäubt. Sara fing sich als erste.

„Wir müssen die Liste erstellen.“

„Dreißig Leute von zweihundertachtzig.“ Mauters war entsetzt.

Es stellte sich heraus, dass niemand evakuiert werden wollte. Da Sibo schüttelte den Kopf. „Verstehst du das, Sara?“

„Ich glaube schon. Willst du gerettet werden, wenn vielleicht alle Zurückgebliebenen sterben? Das schleppst du den Rest deines Lebens mit dir herum.“

Kapitän Solejow ließ sich auf keine langen Diskussionen ein. Er legte fest, dass die dreißig Jüngsten an Bord auf die ‚Oriskany‘ ausgeflogen werden. Wer protestierte, wurde einfach in die Hubschrauber gestopft. Solejow entwickelte dabei eine Zielstrebigkeit, die niemand dem laschen Kapitän zugetraut hätte.

Als der letzte Hubschrauber abflog, tauchten nach und nach sieben Kanew- Kreuzer auf.

So etwas hatte noch keiner von ihnen gesehen. Jeder kannte U-Boote zumindest von Bildern, immer zigarrenförmig mit dem Turm obendrauf. Was hier zu sehen war, hatte damit nichts mehr zu tun. Sechzig Meter lang, flach und im vorderen Drittel fast 30 Meter breit, eher an Flundern oder Rochen erinnernd, lagen sie träge in der Sonne. Auf Höhe der größten Breite sind zwei flache Buckel, nur etwa drei Meter hoch. Das ist wahrscheinlich die Entsprechung der Türme an klassischen U-Booten. Das verstärkte noch den Eindruck, man hätte es hier mit riesigen Tieren zu tun. Es war keine Farbe zu erkennen. Je nachdem, wie das Licht einfiel, schimmerten sie in blauen, grünen oder dunkelroten Tönen.

„Wahrscheinlich irgendeine Beschichtung gegen Sonarortung.“ vermutete Sara.

„Wenn die nicht gewesen wären… Jetzt gehen sie vielleicht mit uns unter. Warum sind sie aufgetaucht?“

„Ich nehme an, sie können das Inferno, was uns erwartet, an der Oberfläche besser überstehen.“

„Oder die Besatzung kann wenigstens aussteigen, wenn sie havariert sind.“

Da Sibo schüttelte den Kopf. „Aussteigen mitten in einem BlowOut?“

Von Achtern näherte sich ein Geräusch. Eine Mischung aus Rauschen und Zischen, dazwischen dumpfe Explosionen. Eine gewaltige Nebelwand verdeckte den Horizont und schien bis in den Himmel zu reichen. Dünne, verästelte Blitze zuckten in der Wand, Ergebnis der elektrostatischen Aufladung durch die enorme Geschwindigkeit, mit der das Methangas-Wasser-Gemisch in die Atmosphäre gerissen wurde. Ab und zu gab es über dem Wasser Feuerbälle, wenn ein paar Kubikmeter Gas entzündet wurden.

Sara und Alva gingen mit den Letzten unter Deck.

Dann sackte das Heck der ‚Maaru‘ einfach weg.

Fünf Monate vorher

New York City

Kampa starrte immer noch hin. Ihr wurde nicht bewusst, wie hilflos sie wirkte. In den Medien zeigten sie seit Stunden immer dieselben Bilder. Im Moment war es Kalkutta. Am Straßenrand Berge vom aufgedunsenen Leichen, Schwärme von Fliegen, Helfer in weißen Anzügen, Gesichtsmasken.

Ihr fiel Albert Camus ein – so ähnlich musste es im Mittelalter bei den großen Pestepidemien ausgesehen haben.

Sie war erst seit 4 Wochen im Amt und dann gleich das hier. Als wenn die Wasserkriege nicht schon schlimm genug wären.

Hinter ihr meldete sich Caspian: „Der Stab wartet.“

„Ja, was sonst!“ entfährt es ihr gereizt. Natürlich wartet der Stab. Seit 8 Tagen jagte eine Sondersitzung die andere. Pure Hilflosigkeit. Andererseits gab es immer etwas Neues, doch nichts ergab ein Bild.

Passagierschiff ‚Maaru‘

Kleine Antillen

„Morgen wollten wir in Barbados anlegen“ Da Sibo war sauer. Dieser schmierige Kapitän wand sich wie ein Aal.

„Die Reederei hat Anweisung gegeben, auf offener See zu bleiben, Professor. Wir müssen jedem Risiko aus dem Weg gehen. Natürlich in erster Linie im Interesse unserer Passagiere.“

„Sie verdammter Feigling“. Da Sibo begann ganz leise. Und dann wütend und immer lauter: „Auf Barbados wurden noch keine Infektionen gemeldet. Dann hat jeder hier seine Verpflichtungen und Zeitpläne. Und noch etwas: Wie wollen Sie – wie will Ihre verdammte Reederei der Öffentlichkeit erklären, dass da draußen die Leute zu Tausenden infiziert werden und jämmerlich sterben, während hier auf Ihrem Kahn zwanzig der besten Mikrobiologen in der Sonne liegen und sich am Hintern kratzen?“ Dann stellte Solejow diese Frage; „Infektion? Woher wollen Sie wissen, dass es eine Epidemie ist?“

Da Sibo drehte sich einfach um und ging nach Achtern. Dort würden sie alle sitzen und zum hundertsten Mal alle Neuigkeiten durchkauen.

Unterwegs fing ihn Sara ab: „Mann Alva, ziehst du ein Gesicht“ maulte sie. „Mach‘ mal ein bisschen Sonnenschein, wir haben gleich `ne Videokonferenz mit New York, die wollen uns im Krisenstab haben.“

Er mochte Sara, sie ist klein, hübsch und quietschlebendig, leider aber auch anstrengend, weil mitunter aufdringlich und vorlaut. Aber sie ist auch die Assistentin von Prof. Elaine Mauters und damit gelegentlich ganz nützlich. Sie arbeiteten im selben Institut in Pittsburgh, kannten sich aber vor der Schiffsreise nur vom Sehen.

Im Konferenzraum quatschten alle durcheinander. Es war laut, es stank nach Schweiß und Qualm. Da Sibo war wohl der Einzige, den das störte. Misstrauisch blickte er zum Klimaschacht. Die Anlage war an, aber offensichtlich hoffnungslos überlastet.

Das Standbild auf dem Monitor wich einem freundlichen asiatischen Gesicht. Natürlich Caspian Shen, der Privatsekretär der UN-Chefin. Er begrüßte alle, stellte sich formvollendet vor und gab die bisher bekannten Fakten langatmig wieder. Da Sibos Aufmerksamkeitspegel sank rapide.

`Warum macht er das? ` sinnierte er und gab sich der Vermutung hin, dass es noch neue und uninformierte Teilnehmer der Konferenz gab.

„ …Da wir jetzt alle auf demselben Stand sind, können wir in die Diskussion eintreten. Vorher möchte ich Ihnen noch die angeschlossenen Standorte zeigen.“ Eine Weltkarte erschien mit einer Reihe von hervor gehobenen Punkten.

„Mann“, staunte Sara „das sind mindestens 20, reife Leistung bei dem Chaos!“.

Die Mikrofone waren wohl schon offen, so dass Shen sofort reagierte: „Tatsächlich sind es 22, und zwar weltweit. Wir hoffen, dass es in den nächsten Minuten noch mehr werden.“

Ein müdes Gesicht erschien auf dem Schirm: „Anna Kampa“ stellte sie sich sinnloserweise vor. „Ich möchte Ihnen, bevor die Experten zu Worte kommen, das Ergebnis der heutigen Ratssitzung bekannt machen. Die Bildung dieses Krisenstabes ist das eine. Hier werden in einer möglichst großen, weltweiten Vereinigung von Instituten, Hilfsorganisationen usw. in erster Linie Daten gesammelt. Wir wollen überhaupt erst einmal begreifen, mit welcher Heimsuchung wir es zu tun haben und wie sie bekämpft werden kann. Es geht hier ausschließlich um den wissenschaftlichen Aspekt.

Zum Zweiten: Die logistischen Probleme wie die Entsorgung der Toten, die Versorgung der übrig gebliebenen Bevölkerung, die Verhinderung bzw. Bekämpfung von Sekundärseuchen obliegt anderen Krisenstäben. Wir werden uns natürlich gegenseitig zuarbeiten.

Die gesammelten wissenschaftlichen Daten werden zentral an das Kreuzfahrtschiff ‚Maaru‘ gesandt.

Ich weiß nicht, ob ich es einen glücklichen Umstand nennen soll, aber zum Zeitpunkt des Seuchenausbruches fand auf dem Schiff eine internationale Konferenz zu einem aktuellen mikrobiologischen Thema statt. Das heißt, dort sind zurzeit ein großer Teil unserer besten Virologen und Epidemiologen an Bord.

Das Schiff wird weiter in internationalen Gewässern kreuzen und nähert sich weder dem Festland noch irgendeiner Insel. Die „normalen“ Passagiere und ein großer Teil der Besatzung werden ausgeflogen. Es wird einiges an zusätzlicher Ausrüstung unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln an Bord geschafft werden, besonders um der Datenflut Herr zu werden. Vielleicht können wir später einige Techniker an Bord bringen, aber im Moment ist die Gefahr einer Infektion zu groß. Sie sind also erst einmal auf sich gestellt.“

Da Sibo fühlte sich regelrecht betäubt. Irgendwie war alles, was in den letzten Tagen auf ihn eingeprasselt war, weit weg und sehr theoretisch. Jetzt betraf es ihn direkt. Er war Gefangener auf diesem Kahn. Zwar ein Luxusgefängnis, aber ein Gefängnis. Andere dachten ähnlich: „Können nicht wenigstens unsere Familien… Hier ist doch Platz genug!“ begehrte eine Frau auf.

„Hast du nicht zugehört?“ kam sofort wütend zurück. Sekunden später brüllte der ganze Saal durcheinander. Prof. Mauters sprang auf einen Stuhl und breitete die Arme aus. Es dauerte noch mehrere Minuten, bis der Lärm verebbte. Mauters wollte etwas sagen, aber Kampa kam ihr zuvor.

„Danke, Frau Professorin. Bevor Sie sich weiter echauffieren, meine Damen und Herren, sollten Sie sich in die Lage der Menschen versetzen, die nicht das Glück haben, auf einem Luxusdampfer in relativer Sicherheit das Ende der Krise abzuwarten.

Und was die Frage nach Ihren Familien angeht – jeder von Ihnen hat natürlich die Möglichkeit, sich ausfliegen zu lassen, Ich würde Sie nur bitten, diese Entscheidung innerhalb der nächsten 24 Stunden zu treffen. Für die anderen wird es wohl eine sehr lange ‚Kreuzfahrt‘ werden.“ Kampa blickte scheinbar ruhig auf die Gruppe der etwa fünfzig Leute im Konferenzraum. Wer genau hinschaute, sah ihre Unterlippe zittern.

„Heute werden wir nur noch einige zusammenfassende Gedanken von Dr. Graber und Dr. Li zu den neuesten Fakten und Daten hören, die uns gestern und heute erreichten. Ich bin gebeten worden, noch einmal eindringlich darauf hinzuweisen, dass die meisten der Erkenntnisse eher den Charakter der Spekulation haben. Man kann in diesem Stadium keinesfalls von fundierter wissenschaftlicher Arbeit sprechen. Aber Sie wissen ja: Außergewöhnliche Situationen erfordern… “ Es war Kampa sichtlich peinlich, zu einem solchen Gemeinplatz gegriffen zu haben.

„Lassen Sie uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher von einem Brainstorming reden als von wissenschaftlicher Analyse. Bitte, Dr. Li“

Eine keineswegs zierliche Chinesin erschien auf dem Bildschirm. Ohne jede Einleitung begann sie in ruhigem Ton: „Wie Sie bereits vorhin gehört haben, wissen wir noch so gut wie nichts über diese Pandemie, außer dass sie eine Letalität von nahezu oder gleich 100 Prozent zu haben scheint, was für sich schon praktisch unerklärlich ist.“

„Entschuldigung, dass ich mich noch einmal einmische“, meldete sich Kampa „ich möchte Sie bitten, das Ganze in eher populärwissenschaftlichen Begriffen darzustellen, da zur Zeit auch Regierungsvertreter und andere Nicht-Experten anwesend sind.“

„Natürlich, das heißt also, dass wahrscheinlich jeder, der infiziert wird, auch stirbt. Wenn das so wäre, sprechen wir von einem Novum. Dann wäre diese Epidemie, Pandemie -nennen Sie es, wie Sie wollen - die erste Krankheit, die nicht wenigstens zehn Prozent der Erkrankten die Chance gibt, zu überleben. Es ist sinnlos für einen Krankheitserreger, alle seine befallenen Wirte zu töten – das würde bedeuten, dass er seine eigene Überlebenschance auf ‚Null‘ setzt, wenn er alle Infizierten tötet.

Wir wissen noch nicht, ob es Personen gibt, die immun sind. Die Inkubationszeit konnten wir auch noch nicht bestimmen, sie scheint aber so extrem kurz zu sein, wie es noch nie beobachtet wurde. Wir schließen das aus der Tatsache, dass die Seuche praktisch an mehreren Orten der Welt gleichzeitig ausgebrochen zu sein scheint. Verstehen Sie, wenn die Pandemie, also die Krankheit an einer Stelle ausbricht, dann muss sie an die anderen Stellen übertragen…“ Li verhaspelte sich. In die Stille platzte ein Bass: „Was war denn das? An mehreren Stellen gleichzeitig? Warum hat davon noch niemand gesprochen?“

Li fand ihre Sicherheit wieder. „Weil wir erst vor Kurzem darauf gestoßen sind. Fakt ist, dass der gegenwärtige Ausbruch an drei Stellen innerhalb weniger Stunden stattfand. Das lässt sich nicht mit herkömmlichem schulmedizinischen Wissen allein erklären. Es gibt allerdings doch zwei Erklärungsansätze. Der eine wäre dieser: Es gab schon vor Wochen oder Monaten einen Ausbruch der Seuche, der sich dann wieder 'tot lief'. Das ist schon öfter beobachtet worden, zum Beispiel bei Ebola. Es gab Ausbrüche, die einige Dörfer entvölkert haben. Dann breitete sich die Seuche nicht weiter aus. Das lag aber wahrscheinlich daran, dass es keine Überträger mehr gab, die die Krankheit in die nächsten Dörfer tragen konnten.

Es könnte sein, dass wir hier einen ähnlichen Fall haben, allerdings mit anderen Hintergründen. Wenn wir irgendwo einen früheren Krankheitsausbruch finden, könnte es erklären, wie die gleichzeitigen Ausbrüche an drei Stellen entstanden sind. Das Virus ist zunächst in einer schwächeren Form entstanden, dann mutiert und weiter getragen worden.“ Man sah ihr an, dass sie kein Freund von Spekulationen war.

„Moment!“ Anna Kampa unterbrach. „Nur für mein Verständnis – wenn wir schon bei Ebola sind – wie erklären Sie dann den großen Ausbruch in Westafrika? Wann war das, 2015? Damals lief sich nichts ‚tot‘, im Gegenteil, hier musste man monatelang mit Hilfe aus aller Welt die Epidemie bekämpfen.“

Doktor Li schüttelte den Kopf. „Anfangs, im Frühjahr 2014, waren wir tatsächlich der Meinung, es mit einem neuen, deutlich virulenteren Stamm von Ebola zu tun zu haben. Das hat sich aber schnell als Irrtum herausgestellt. Der Stamm war bekannt, die Erklärung für die schnelle Ausbreitung der Epidemie war ein Bündel von Ursachen. Die neue Qualität in der Krankheitsausbreitung war in erster Linie dem religiösen Totenkult in dieser Ecke der Welt zuzuschreiben. Bei diesem Kult kommen die Lebenden mit den Toten in engen Körperkontakt – der ideale Weg zur Ansteckung. Dazu kam, dass der Ausbruch erstmals in einer dicht bewohnten Gegend mit größeren Städten stattfand und nicht, wie früher irgendwo im Busch, wo höchstens ein paar Hundert Menschen in wenigen Dörfern wohnten.“

„Aber man konnte doch die Leute aufklären; ihnen beibringen, Erkrankte und Tote zu isolieren oder in Auffangstationen zu bringen.“

„Sie glauben nicht, wie schwer es ist, gegen jahrhundertealte Traditionen anzukämpfen. Dazu kam, dass die Menschen dort von den Priestern aufgehetzt wurden. Man machte ihnen weis, die Kranken und Toten würden nur von ihren Familien getrennt, weil man ihnen Organe entnehmen wollte.“

„Tja,“ da Sibo hatte wieder diesen Gesichtsausdruck, den nur Sara verstand. „Religiosität korreliert mit dem Alter, fehlender Intelligenz und, wie vor allem hier, mit mangelnder Bildung.“

„Ja, aber stellen Sie sich die Situation vor, als die Zahl der Infizierten Ende 2014 regelrecht explodierte. Es kam zu kaum vorstellbare Szenen. In den Dörfern und Städten wurden Kranke und Tote stunden- manchmal tagelang von einem Krankenhaus zum anderen gekarrt, praktisch ohne die Möglichkeit, Hilfe zu finden, weil alle medizinischen Einrichtungen, die Ebola-Patienten aufnehmen konnten, hoffnungslos überfüllt waren.“

„Doktor Li?“ Sara fragte ganz leise. „Sie waren damals dabei?“

Die Chinesin hatte sich im Griff. „Mit den ‚Ärzten ohne Grenzen‘. Ab Mitte 2014 bis zum Ende. Das heißt - zwölftausend Tote später.“

Der Bass meldete sich wieder: „Wir sind ziemlich weit vom Thema abgekommen. Was ist jetzt mit der zweiten Möglichkeit, die Sie uns versprochen haben? Ich hoffe nicht, dass Sie uns erzählen wollen, dass jemand so ein Monstrum absichtlich und an drei Orten gleichzeitig unter die Leute gebracht hat!“

Wieder mischte sich Mauters ein: „Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Krankheitserreger bewusst freigesetzt werden.“

„Aber das wäre vielleicht das letzte Mal, weil die Menschheit dann ausgerottet ist.“ Diesmal sah da Sibo den Sprecher, denn er war aufgesprungen: Ein hagerer Hüne von über zwei Metern, mindestens siebzig Jahre alt, mit einem Raubvogelgesicht. In dem Moment wusste er auch, woher er diese Stimme kannte. Sie gehörte Dr. Søren Ringstrøm, Professor der Paläomikrobiologie an der Smithsonian Institution. Alva hatte ihn als Student erlebt und wusste, dass ihm der Ruf vorausging, keinem Streit aus dem Weg zu gehen.

Li hatte offensichtlich nicht vor, mit dem Professor in den verbalen Clinch zu gehen. Sie schwieg einfach. Ringstrøm sah wohl ein, dass im Moment die Situation entschärft war und setzte sich.

Anna Kampa war wieder zu sehen. „Da hierzu noch keine Fakten vorliegen, bitte jetzt Sie, Dr. Graber!“

Das nichtssagende Gesicht eines Mittfünfzigers erschien. Graber räusperte sich mehrmals und begann: „Wir sind seit vier Tagen dabei, die Todesursachen zu ermitteln. Das gelingt uns zwar in praktisch jedem Fall, ist aber genauso vielfältig wie verwirrend. Vorwiegend ist es eine Art multiples Organversagen, manchmal auch Infarkte, innere Blutungen - besonders Hirnblutungen. Wir haben aber auch regelrechte Organverflüssigungen gefunden, die tatsächlich an Ebola erinnern, allerdings nur in einem kleinen Teil der Fälle. Hier kann man noch am ehesten erkennen, was passiert ist – nämlich die Zerstörung der Zellstruktur, d.h. der Zellwände. Es gibt jedoch keinen gemeinsamen Faktor, ja, wir haben es noch nicht einmal geschafft, einen Virus oder ein Bakterium nachzuweisen. Die Krankheit beginnt meist mit schwerem, wässrigem Durchfall, Bauchschmerzen, Erbrechen, heftigen Brust- und Lungenschmerzen, Halsschmerzen und Husten. Das erinnert an die anfänglichen Krankheitsbilder von Malaria, Typhus oder Gelbfieber.“

„Ein hämorrhagisches Fieber?“ Das war wieder Ringstrøm.

„Ja, schon möglich, aber wie gesagt, wir konnten bisher noch keinen Erreger nachweisen.“

„Und wenn es weder ein Virus noch ein Bakterium ist?“ hörte sich da Sibo erstaunt selbst fragen. Ihm war die Frage des Kapitäns nicht aus dem Kopf gegangen.

„Ah, Professor da Sibo“ Graber grinste „wenn die Frage nicht von Ihnen gekommen wäre, hätte ich sie wohl ignoriert.

Also, woran denken Sie?“

„An nichts Konkretes“, versuchte da Sibo zurück zu rudern „ich möchte nur, dass wir uns alle Optionen offen halten und nicht in irgendetwas verrennen.“

Aber zu spät, Ringstrøm stand schon wieder: „Soso, Professor, jetzt wird nicht gekniffen, Sie haben doch eine Idee – raus damit!“

Da Sibo wusste, dass er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. „Vielleicht eine Art Vergiftung oder irgendetwas völlig Neuartiges, wir sollten einfach alles in Erwägung ziehen.“ Jetzt hatte Ringstrøm den Anlass, den er gesucht hatte.

„Sie meinen also“, höhnte er „dass irgendjemand mit der Giftspritze herumläuft und wahllos Leute zu Tausenden abmurkst?“ Bevor da Sibo antworten konnte, war Kampa übergroß auf dem Bildschirm. „Was soll das, meine Herren, wir sind hier nicht auf dem Schulhof.

In einem Punkt hat Professor da Sibo allerdings recht: Wir sollten uns alle Optionen offen halten. Und wenn wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese Pandemie bewusst ausgelöst wurde, sollten wir auch in Erwägung ziehen, dass irgendwelche Irren Tausende Menschen vergiften oder infizieren.“

Ringstrøm setzte sich schulterzuckend und da Sibo atmete auf.

Graber ergriff wieder das Wort: „Bevor ich fortfahre, möchte ich etwas zu dem Euphemismus sagen, der noch im Sprachgebrauch ist. Es ist immer noch von Tausenden Toten die Rede, das dürfte aber der Stand von vor drei oder vier Tagen sein. Inzwischen gehen wir von einigen Hunderttausend aus, es gibt Schätzungen von ein bis zwei Millionen weltweit zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Aber dazu kann der Krisenstab Logistik sicherlich mehr sagen.

Jetzt noch ein paar Worte zum Krankheitsverlauf. Auch hier gibt es große Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten. Manche Patienten sterben ohne vorherige Anzeichen einfach binnen weniger Minuten. Das sind die, die wir der Kategorie multiples Organversagen zuordnen. Andere klagen Stunden vorher über diffuse Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen aller Art, vor allem Bauchschmerzen, Schwindelgefühle. Später kommt es zu Tremor, Hyperkinesien, Koordinations- und Sprachstörungen, außerdem psychischen Veränderungen, vor allem Aggressivität und Verfolgungswahn. Die letzteren Symptome lassen zum Teil an die Veränderungen der Patienten im Endstadium von Chorea Huntington denken – allerdings in einem nie zuvor beobachteten Tempo. Tatsächlich lassen sich degenerative Veränderungen an sämtlichen Nervenzellen der Patienten finden. Gerade diese Veränderungen, die eher an eine Zellstoffwechselstörung denken lassen, geben Anlass zu Zweifeln, dass wir es mit einem klassischen Virus zu tun haben. Ich denke, dann hätte Dr. Li ihn schon gefunden.

Noch ein Bemerkung zu dem Typ des Patienten. Normalerweise ist es so, dass zunächst Alte, Schwache und Kleinkinder von Massenerkrankungen betroffen sind. Hier sieht es so aus, als ob Kinder nicht und Menschen jenseits der fünfzig nur bedingt betroffen sind. Die Bevölkerung in den mittleren Jahrgänge wird praktisch ausnahmslos ausgerottet.“

Passagierschiff ‚Maaru‘

Da Sibo ging über das Achterdeck. Sara hing schon wieder an seinem Arm. „Ist dir eigentlich dieser Zufall aufgefallen? - Alva, ich rede mit dir.“ Sie schüttelte seinen Arm.

„Entschuldige, ich war in Gedanken, welcher Zufall?“

„Findest du es nicht seltsam, dass auf der Welt die schlimmste Seuche seit Menschengedenken ausbricht und zufällig macht die gesamte Crème de la Crème der Mikrobiologie Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff?“

„Also erstens sind lange nicht alle Koryphäen hier an Bord, zweitens macht hier niemand Urlaub, sondern hier wird ernsthaft gearbeitet und drittens scheinst du zu denken, wir haben dieses Inferno entfacht, um es in Ruhe von hier aus beobachten zu können.“

„Genauso werden es die Verschwörungstheoretiker sehen.“

„Aber jeder weiß doch, dass es seit einigen Jahren in Mode gekommen ist, mehrtägige Konferenzen auf Kreuzfahrtschiffen abzuhalten. Es gibt inzwischen viele Reedereien, die darauf spezialisiert sind und ihre Schiffe entsprechend ausgerüstet haben - mit Konferenzräumen beliebiger Größe und auch mit der entsprechenden Technik.“

Alvas Verteidigung war schwach, weil er wusste, dass sie Recht hatte. In solchen Sachen hatte sie immer Recht. Sie kannten sich erst seit zwei Wochen, aber sie hatte ihn vom ersten Tag an mit ihren Analysen verblüfft. Sie war keineswegs so unbedarft, wie sie tat und hatte schon so manche verquere These vom Kopf auf die Füße gestellt.

Inzwischen saßen sie in seiner Kabine und schlürften Rotwein. Er musste immer wieder den Kopf darüber schütteln, wie selbstverständlich sie sich bei ihm eingenistet hatte. Als Assistentin der Pittsburgher Institutsleiterin Mauters hatte sie hier an Bord nicht viel zu tun und da sie nicht Nichts tun konnte, hatte sie sich dem etwas weltfremden Alva da Sibo angeschlossen. Auf dem ganzen Schiff wurde getuschelt und gefrotzelt, was beiden allerdings herzlich egal war. Es ließ sich auch gut Witze reißen über ein Pärchen, bei dem der eine fast zwei Meter groß ist und der andere gerade eins fünfzig.

Sie schauten fern, ohne allerdings wirklich etwas wahrzunehmen, denn die Bilder von Leichenbergen aus aller Welt waren sich so ähnlich, dass sie die Menschen kaum noch erreichten.

„Wann ist das eigentlich genau losgegangen?“

Da Sibo schreckte hoch. „Vor 14, nein 15 Tagen gab es die ersten Meldungen von einer Masseninfektion in Bogota, kurz darauf dasselbe aus Dar es Salaam und Anchorage.“

„Was ist das denn für eine Mischung? Versteht das jemand?“ „Wir versuchen einen Zusammenhang zu finden, aber es gibt offensichtlich keinen. Nahe liegend wäre eine zentrale Infektionsquelle, von der aus alle drei Städte infiziert wurden. Wir haben alles gecheckt, vor allem Flugrouten, aber es ist aussichtslos, solange wir die Inkubationszeit nicht kennen. Wenn es denn wirklich eine Virusinfektion ist.“

„Das geht dir einfach nicht aus dem Kopf, glaubst du immer noch an eine Vergiftung?“

„Nein, nicht wirklich, so und so passt vieles nicht zusammen.“

„Es sei denn, man glaubt tatsächlich an eine Verschwörung, so `ne Art Völkermord, nur größer. Man sollte sich fragen, wem das nützt. Nur fällt mir da niemand ein. Es sei denn…“ Sara drehte das Weinglas und schaute konzentriert hinein.

„Siehst du was?“ fragte er amüsiert.

„Ich spinne wohl schon langsam. Ich sollte nicht so viel Wein trinken. Aber Eines ist mir noch aufgefallen. Frau Kampa sprach davon, dass es schon vorgekommen ist, dass man Epidemien vorsätzlich ausgelöst hat. Gab es so etwas wirklich schon?“

Alva zuckte die Schultern. „Wirklich verbürgte Fälle gibt es wohl nicht. Zumindest ein Versuch ist geschichtlich nachweisbar. Im 18. Jahrhundert hat man mit Pockenviren verseuchte Decken an indianische Stämme verteilt. Ob der Ausbruch der Pocken unter den Indianern danach wirklich durch die Decken ausgelöst wurde oder durch natürliche Übertragung lässt sich heute nicht mehr beweisen. Das war übrigens bei der Belagerung des Fort Pitt, dem heutigen Pittsburgh, wo unser Institut steht. Dann gab es noch einige Krankheitsausbrüche Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in Indien, bei denen man vermutete, dass sie absichtlich herbeigeführt wurden. Es konnte aber nichts bewiesen werden.“

Sara wirkte immer noch nachdenklich. Dann schüttelte sie ihre Gedanken ab und fragte:

„Wollen wir mal fragen, ob heute was Vernünftiges im Bordkino kommt?“

Kediet Ijill

Mauretanien

„Wie konnte das schief gehen?“ Kalner war stinkwütend.

„Damit konnte keiner rechnen. Wir haben uns gegen alles geschützt. Es konnte keinen unkontrollierten Ausbruch geben. Alles war sicher, nur auf die Idee, dass einer mit dem halbfertigen Virus einen Selbstversuch macht, kam keiner.“ Der Laborleiter war beleidigt.

„Und wieso kam O'Hara dann auf diese hirnrissige Idee?“

„O'Hara war für die Entwicklung des Impfstoffs zuständig. Die Ergebnisse waren nicht zufriedenstellend. Ja, ich habe ihn pausenlos Maß genommen. Er behauptete, die Misserfolge lägen daran, dass wir nur an Versuchstieren testen konnten. Er wollte, dass wir ein paar von den Einheimischen wegfangen sollten. Sie erinnern sich, ich habe gefragt.“

„Ja, und ich habe abgelehnt, weil wir uns kein Aufsehen leisten können. Für die ansässige Bevölkerung sind wir eine friedliche Forschungsstation für die hiesige Wüstenfauna und -flora. Da können wir uns keine Gerüchte wegen ein paar verschwundener Mauretanier erlauben. Was ist genau passiert?“

„O'Hara hat sich im Abstand von 3 Tagen zwei Impfungen gesetzt. Nach weiteren 10 Tagen hat er sich infiziert und zwei Tage später in Quarantäne begeben. Soweit alles normal. Da das am Wochenende passiert ist und niemand die ungenutzte Quarantänestation kontrolliert, ist es nicht entdeckt worden.“

„Weiter!“

„In der übernächsten Nacht ist O'Hara aus der selbst verordneten Quarantäne ausgebrochen und ist mit dem kleinen Jet nach Nouâdhibou geflogen, dort ein paar Stunden durch die Gassen geirrt und in einer Bar zusammengebrochen.“

„Warum? Ich meine, warum ist er geflohen. Er hätte sich behandeln lassen können.“ Kalner hatte sich vorgebeugt.

Agah Bayari nickte. „Das haben wir uns auch gefragt. Wir können nur spekulieren. Wahrscheinlich sind die psychischen Veränderungen, die wir bei den Laboraffen beobachtet haben, beim Menschen ungleich gravierender. Er hat vielleicht Wahnvorstellungen gehabt und ist deshalb an die Küste geflogen.“

„Und weiter?“

„Er ist in der Bar gestorben. Hat wohl noch ein paar Leute einer Touristengruppe angesteckt, die am nächsten Tag abgeflogen ist. Den Rest kennen Sie.“

Kalner dachte nach. Sie mussten schnellstens verschwinden. Aber das war das kleinere Problem, darauf waren sie vorbereitet. Viel mehr Sorgen machte er sich über die Reaktion seiner Auftraggeber. Er wusste nicht, wie er ihnen erklären sollte, dass er den eingetretenen Fall nicht vorhergesehen hatte. Er hätte wissen müssen, dass dieses unzuverlässige Zivilistenpack nicht zu berechnen war.

„Verdammte Eierköpfe“ knurrte er. Dann straffte er sich und griff zum Telefon. „Ja, Kalner hier, bereiten Sie die Evakuierung vor. Nein, nicht 'Rot', nur 'Gelb', also morgen Mittag, 1300.“

Passagierschiff ‚Maaru‘

Kleine Antillen

Am nächsten Morgen kamen die Hubschrauber.

Und die Patrouillenboote.

Und die Seuche erreichte Europa.

„Ausgerechnet Andalusien. Spanien hat schon vor 5 Tagen sämtliche Grenzen dicht gemacht, alle Häfen und Flughäfen geschlossen. Und trotzdem…“

Sie saßen wieder im Konferenzraum und versuchten die neuen Nachrichten zu verdauen.

Kampa sprach weiter: „Das Seltsamste ist, dass die Seuche nicht in irgendeiner Hafenstadt Spaniens ausgebrochen ist sondern mitten in Andalusien, in Marmolejo, ein verschlafenes Nest am Rande der Sierra Morena, ohne Flughafen. Keine nennenswerte Industrie, praktisch kein Tourismus, nichts.“ Verzweiflung sprach aus ihrer Stimme.

Sara fragte: „Was heißt ‚praktisch kein Tourismus‘? Gibt es trotzdem Möglichkeiten der Einschleppung?“

„Wir haben nur eine Möglichkeit gefunden. Einen ziemlich seltsamen Kerl aus Ostdeutschland, der zwei Mal im Jahr mit dem Auto nach Marmolejo fährt, um einen exzentrischen deutschen Zahnarzt im Altersruhestand dort zu besuchen.“

„Der fährt mit dem Auto durch halb Europa, statt zu fliegen? Das müssen doch bestimmt 3000 Kilometer sein.“ Alva staunte nicht schlecht.

„Das hat uns auch gewundert. Hat aber den einfachen Grund, dass er seinen Bekannten- und Verwandtenkreis mit Produkten aus Spanien versorgt, in erster Linie Oliven und Olivenöl, Schinken, Wurst, Whiskey usw. Kriegt er natürlich nicht mit dem Flugzeug weg. Wir sind dabei, den Typen und sein Umkreis zu untersuchen – bisher kein positives Ergebnis. Allerdings wäre dieser Mann der ideale Überträger, denn sein Urlaub dort scheint daraus zu bestehen, den halben Tag durch die Bars zu ziehen, Bier und Tappas in Größenordnungen zu konsumieren und dabei natürlich Dutzende Leute zu treffen.“

Sara schüttelte den Kopf. „Leute gibt’s…“

Anna Kampa wollte das Thema wechseln.

Sie hatte als erstes heute Morgen vorgeschlagen, die Pandemie einfach 'die Seuche' zu nennen. Alle hatten es schulterzuckend hingenommen. Diese Bezeichnung war so gut wie jede andere.

Es begann ein lahmes Rätselraten, wie denn die Seuche mitten in einem hermetisch abgeriegelten Land ausbrechen konnte.

Ein Gong ertönte und Grabers verschwitztes Gesicht erschien auf dem Monitor. „Kann ich gleich sprechen? Ja? Dann Guten Morgen miteinander. Das heißt, ich weiß nicht, ob es ein guter Morgen…“

„Hallo?“ Kampa war sauer.

„Jaja, also ich habe Neuigkeiten, was das Patientenprofil entspricht. Wir haben die Zahlen ausgewertet, die wir bisher hatten und kommen zu folgendem Ergebnis:

Erstens: Die Letalität ist nicht gleich 100%, sie dürfte irgendwo bei 92-94% liegen, das heißt wir haben immer wieder einzelne Patienten, die die Krankheit überstanden haben und auf dem Wege der Genesung sind.

Zweitens: Es gibt auf jeden Fall auch Personen der gefährdeten Altersstruktur, die immun sind, sich also gar nicht erst anstecken. Wir schätzen 15-16%, Das macht natürlich Hoffnung, einen Impfstoff zu finden.

Drittens: Die Vermutung von gestern hat sich bestätigt, d.h. Kinder bis etwa 11,12 Jahre erkranken nicht. Ab diesem Alter werden fast alle Personen infiziert. Und jetzt kommt es: Frauen ab der Menopause werden wieder verschont.“ Graber war sichtlich stolz.

„Also betrifft es einfach nur alle geschlechtsreifen Personen?“ Das war wieder Ringstrøm. „Und wie ist es dann mit Männern und Frauen entsprechenden Alters, die sich sterilisieren ließen?“

„So weit sind wir noch nicht“ Jetzt war Graber beleidigt. „Wir können nicht hexen.“

„Solltet ihr aber besser.“ Ringstrøm war schon wieder in Kampflaune.

Da Sibo merkte plötzlich, dass Sara ihn anstarrte.

„Was ist?“

„Weißt du, gestern Abend, als ich ins Weinglas …“ fing sie an. Sara war plötzlich ganz aufgeregt.

„Dürfen wir teilhaben an der angeregten Diskussion? Ja, die junge Dame neben Professor da Sibo!“ Kampa war ganz Oberlehrerin.

Sara stand auf und plötzlich war sie keine plappernde Nervensäge mehr, sondern konzentriert und analytisch: „Sara Sander, Assistentin von Prof. Mauters.“ stellte sie sich vor. „Wir haben gestern Abend den Aspekt diskutiert, wer denn Nutzen aus einer terroristischen Aktion hätte. Mir kam ein Gedanke, den ich zunächst verworfen habe. Die Analysen Dr. Grabers scheinen diesen Gedanken allerdings zu stützen: Wenn es eine Gruppe von Leuten gibt, die Vorteile aus der Vernichtung der geschlechtsreifen Bevölkerung ziehen, dann sind es die Mitglieder des radikalen Zweiges der ‚Liga‘.“

Sara saß schon wieder. Kampa war immer noch sauer: „Das ist so nahe liegend und doch ist noch niemand außer Frau Sander drauf gekommen?“

„Moment!“ Ringstrøm meldete sich. „Die Leute müssten damit rechnen, selbst umzukommen. Das wäre schon ziemlich dicht dran an religiösem Fanatismus, eher eine Art gesellschaftlichen Selbstmordes.“

„Wenn es so wäre, könnten sie Vorsichtsmaßregeln getroffen haben, z.B. ein Gegenmittel, Impfungen, Isolation oder…“ Eine junge Frau im Laborkittel hatte sich in Rage geredet. „Außerdem sind die wirklich fanatisch genug, um..“

„Genug.“ Anna Kampa unterbrach. „Wir spekulieren nur. Jeder soll sich dazu Gedanken machen. Ich beauftrage die amerikanischen Bundesbehörden. Sie sollen prüfen, ob diese Gruppierung die Möglichkeit für einen solchen Anschlag hatte. Mehr dazu in der Nachmittagssitzung.

Nächster Tagesordnungspunkt: die Evakuierung. Die Einsatzleitung hat mir berichtet, dass alles planmäßig verläuft. Die 4800 Passagiere und die meisten Besatzungsmitglieder werden bis morgen 16 Uhr evakuiert sein. Können Sie das bestätigen, Kapitän Solejow?“

„Ja, Frau Kampa. Es gab keinerlei Widerstand.“

Da Sibo sah erstaunt auf. Widerstand? Wer hatte Widerstand erwartet? Er sah Sara an. Die schien das aber nicht seltsam zu finden und folgte der erneuten Diskussion.

„ ..müssen sein. Heute Morgen ist die Nachricht von Ihrer Gruppe auf der 'Maaru' in der Presse erschienen. Es sind bereits erste wütende Kommentare in den Medien aufgetaucht. Einige Journalisten sind zum Angriff übergegangen. Ich zitiere: 'Die Damen und Herren Wissenschaftler wollen sich wohl nicht die Finger schmutzig machen, indem sie vor Ort das Mördervirus suchen. Besser lässt es sich wohl in der warmen Nachmittagssonne beim Drink am Pool nachdenken.

Vielleicht hat ja sogar der eine oder andere Eierkopf etwas mit dieser Katastrophe zu tun.'“

Da Sibo fühlte regelrecht den triumphierenden Blick Saras auf seiner rechten Gesichtshälfte. Er grinste.

„Sie sehen also, dass hier Stimmung gegen Sie gemacht wird. Wir müssen damit rechnen, dass Sie von rachsüchtigen Gruppierungen angegriffen werden, die dieser Pressekampagne glauben. Oder andere versuchen, auf das Schiff zu gelangen, weil sie sich hier einigermaßen sicher glauben. Deshalb die Patrouillenboote. Sie werden Tag und Nacht in mindestens 100 Meter Entfernung um die 'Maaru' kreisen. Die Besatzungen sind bewaffnet, die Boote sind mit modernster Technik ausgerüstet, auch gegen Unterwasserangriffe. Weiterhin wird sich die `Maaru‘ weder dem Festland noch einer der Inseln der Antillen nähern. Sie liegen jetzt 30 Meilen vor Barbados. Nach der Evakuierung und nachdem Sie die nötige Ausrüstung an Bord genommen haben, hat Kapitän Solejow die Anweisung, auf mindestens 50 Meilen Abstand zum Land zu gehen.“

Betretenes Schweigen. Niemand wollte etwas sagen, jedem wurde noch einmal klar, dass sie für die nächsten Tage, Wochen, ja vielleicht Monate auf dem Schiff gefangen sein würden.

In der Stille hörte man umso deutlicher das an- und abschwellende Geräusch der Hubschrauber, die pausenlos die Passagiere von den beiden Landeplätzen der 'Maaru' holten. „Noch etwas:“ Kampa meldete sich wieder: „Seit drei Stunden sind zwei Teams in Quarantäne gegangen:

Team Nr. 1 sind 16 Wissenschaftler und Laboranten, die Ihre Gruppe auf der 'Maaru' verstärken sollen.

Team Nr. 2 besteht aus 5 Technikern, die insbesondere die Ausrüstung installieren sollen, die ab heute Nachmittag eingeflogen wird. Wir haben ein paar Techniker an Bord, die das bestehende Equipment warten und erweitern können. Das, was uns heute erwartet, überschreitet das Wissen unserer Wartungstechniker wohl bei weitem. Deshalb benötigen wir die Verstärkung schnellstmöglich. Um die Quarantäne beenden zu können, brauchen wir allerdings die Inkubationszeit. Dr. Li und Dr. Graber: höchste Priorität für Sie und Ihre Teams. Noch Fragen?“

„Was meinte Solejow mit Widerstand?“ Alva pustete in seinen Kaffeetopf.

„Wir haben im Stabsmeeting darüber diskutiert, ob es Probleme bei der Evakuierung geben könnte. Mauters hatte die Befürchtung, dass sich einige Passagiere weigern könnten, das einigermaßen sichere Schiff zu verlassen. Sind aber alle freiwillig gegangen. Sie sind lieber zu Hause bei ihren Familien und Freunden als hier. Komisch, nicht?“

„Hm, weiß nicht, aber was mich mehr interessiert: du hast heute Morgen was vom radikalen Flügel der ‚Liga‘ erwähnt. Jeder schien zu wissen, was gemeint ist. Ich habe zwar schon von der ‚Liga‘ gehört, aber dass die inzwischen auch radikale Tendenzen zeigen, ist mir neu.“

„Vielleicht solltest du ab und zu mal die Nase aus dem Labor stecken. Dann bekommst du auch was von den wichtigen Sachen mit. Hast du nicht mal von der Anschlagsserie auf die Samenbanken in Frankreich, Japan und Deutschland gehört?“

Er schaute überrascht auf: “Klar, aber ich wusste nicht, dass die das waren. Bisher habe ich diese Leute einfach nur für verschrobene Spinner gehalten. Schon dieser theatralische Name: ‚Liga der Vernunft‘ Wahrscheinlich denkt man, das sei medienwirksam. Los, erkläre mal einer alten Laborratte, wie die ticken.“

Sara saß wieder im Schneidersitz auf seinem Bett. Jetzt legte sie die Zeitschrift beiseite:

„Da muss ich ein wenig ausholen: Die 'Liga der Vernunft', wie ihre Mitglieder sich nennen, ist die bekannteste Gruppe von einigen Dutzend, die sich einen gemeinsamen Feind auserkoren haben: die rapide wachsende Zahl der auf der Erde lebenden Menschen. Die meisten Probleme, die die Menschheit seit vielen Jahren haben, werden der Überbevölkerung zugeschrieben. Kennst du die Fakten??“

„Ich weiß natürlich davon, aber nur flüchtig. Aber du scheinst dich ja da richtig auszukennen!“

Jetzt war Sara in ihrem Element.

„Viele Jahrtausende lang hat sich die Zahl der Menschen nur sehr langsam erhöht. Seit etwa 300 Jahren nimmt die Größe der Menschheit immer schneller zu, seit Anfang des 20 Jahrhunderts in atemberaubendem Tempo.

Ein Phänomen machte jedoch Hoffnung: In Ländern, in denen die Bevölkerung vermehrt zu Wohlstand und Bildung kam, brach die Fertilisationsrate regelrecht zusammen. Das geschah als erstes in den Ländern der industriellen Revolution, besonders England und Deutschland, dann in ganz Westeuropa und den USA. Hier standen sich zwei Entwicklungen gegenüber. Zum einen die Verdopplung der Lebenserwartung durch die Neuerungen der modernen Medizin, praktische Ausrottung der großen Seuchen wie Pest, Typhus, Cholera und Pocken. Dazu kam die Senkung der Säuglingssterblichkeit.

Zum anderen entfiel durch den aufkommenden Wohlstand die Notwendigkeit, durch viele Kinder die eigene Altersversorgung zu sichern. Die Einrichtung sozialer Netze verstärkte diese Entwicklung. Als Mitte des 20 Jahrhunderts noch die medizinischen Möglichkeiten der Schwangerschaftsverhütung bzw. der relativ risikolosen Abtreibung dazu kamen, sank die Geburtenrate unter das Erhaltungsniveau und liegt seit vielen Jahren bei 1,2 -1,4 Kindern pro Frau. Die Bevölkerung in den Industriestaaten begann zu schrumpfen, aber kein Problem, das ließ sich über gesteuerte Einwanderung alles ausgleichen.

In den Ländern der Dritten Welt dagegen explodierten die Bevölkerungszahlen regelrecht. China, Indien, Pakistan, Südamerika, Afrika hatten Zuwachsraten, die jeden Rahmen zu sprengen drohten. Hier begannen aber bestimmte Maßnahmen zu greifen. China führte um 1980 die Ein-Kind-Politik ein, in Indien waren es massenweise Sterilisationen. In manchen Ländern waren es Selbstläufer nach dem Motto: Gebt ihnen einen bescheidenen Wohlstand, Zugang zu Medizin und Bildung, erklärt ihnen das mit den Blumen und den Bienen und die Geburtenrate sinkt von allein. Das funktionierte Anfang des 3. Jahrtausends so gut, dass Forscher das Ende des Bevölkerungszuwachses für 2050 bei etwa 9,5-10 Milliarden Menschen errechneten. Das Problem schien sich weitestgehend von allein zu lösen.

Dann trat Anfang des 3. Jahrtausends mit der wachsenden Bevölkerung noch ein anderes Phänomen auf, die Wasserkriege. Zunächst ging es tatsächlich um den Zugang zu Wasser. In Gegenden, in denen Wasser knapp war, bauten die Länder am Oberlauf von Flüssen einfach Staudämme und schnitten die Staaten am Unterlauf damit vom lebensnotwendigen Nass ab. Das gab Geschrei, die UN griff ein und nach zähen Verhandlungen gab es irgendeinen Kompromiss.

Nach und nach setzte sich der Gedanke durch, dass es schneller geht, wenn man die Sache selbst in die Hand nimmt. Söldnertruppen gab es seit Ende des kalten Krieges wie Sand am Meer, Waffen konnte man überall kaufen und um das Problem zu lösen, war es einfacher, eine Bombe am Staudamm zu platzieren als die UN anzurufen. Daraus entwickelten sich zunächst in Afrika, später auch in Südamerika und Asien regelrechte Flächenbrände kleinerer und größerer Konflikte. Längst ging es nicht mehr nur um Wasser, sondern um Ressourcen aller Art – Bodenschätze, Regenwald, Acker- und Weideland.

Die politischen und militärischen Entwicklungen waren so unübersichtlich, dass es praktisch keine Möglichkeit gab, einzugreifen. Wann immer man meinte, einen Konflikt gelöst zu haben, flammte irgendwo ein neuer auf. Die Lage in den Entwicklungsländern nahm so dramatische Züge an, dass sich die internationale Staatengemeinschaft komplett aus den Krisengebieten zurückzog. Die großen und kleinen Hilfsorganisationen mussten flächendeckend abziehen. Die Bevölkerung verarmte in rasantem Tempo. Die bescheidenen Fortschritte, die man bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Ländern der 3. Welt verzeichnet hatte, wurden wieder zunichte gemacht. Man verfiel wieder in alte Muster.“

„Und das hast du alles im Kopf?“

„Darüber habe ich beim Politologie-Studium referiert, leider nutzt mir das hier nicht viel.“

„Gut, weiter!“ Da Sibo war ganz Ohr.

„Schon um die Jahrtausendwende gab es immer wieder Berichte von großen Gruppen von Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen, besonders aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie den armen Ländern Südeuropas. Verallgemeinernd nannte man sie Boatpeople, weil sie meist mit abenteuerlichen, überladenen Booten übers Meer nach Europa kamen. Nordamerika hatte sowieso schon ein jahrzehntelanges Problem mit illegalen Einwanderern aus Lateinamerika.

Was dann aber ab etwa 2014 einsetzte, wurde die moderne Völkerwanderung genannt. Millionen von völlig verzweifelten Menschen drängten auf allen nur erdenkbaren Wegen, vor allem über den Landweg in die Industriestaaten. Dazu kamen weitere Millionen, die sich die Situation zunutze machten, um in den reichen Ländern kriminelle Strukturen aufzubauen oder einfach die Asylgesetze für ihre persönliche Bereicherung auszunutzen. Die meisten Länder versuchten sich natürlich mit Händen und Füßen zu wehren, besonders in Europa konnten sich viele Staaten lange und ziemlich erfolgreich abschotten. Durch die schiere Zahl der Flüchtlinge wurden die nicht oder ungenügend gesicherten Grenzen jetzt einfach überrannt.

Es kam, was kommen musste. Jetzt schossen Unmengen von Parteien und Organisationen aus dem Boden, die die Ängste der Bürger der reichen Länder nutzten, um ihr eigenen Ideologien zu verbreiten. Von der Verteidigung des Vaterlandes bis hin zum Kampf gegen Überfremdung und rassische Vermischung war alles zu hören - von biblischer Heimsuchung und Strafe Gottes bis hin zu Forderungen nach dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

Bis hierher war das Ganze nur skurril und makaber, aber 2019 gab es dann eine neue Qualität. Innerhalb von 2 Tagen wurden in Europa und Asien 5 Samenbanken gesprengt.“

„Das waren Menschen-Samenbanken, nicht wahr?“

„Ja, man hatte bewusst Banken ausgesucht, in denen nur menschliches Sperma, Ei- und Stammzellen gelagert wurden. Institute, in denen tierisches und pflanzliches Erbmaterial lag, wollte man nicht antasten. Die Intention sei es, die göttliche Schöpfung zu erhalten und dazu gehören nun einmal auch Flora und Fauna.

„Diese Banken zu sprengen war doch aber komplett sinnlos!“

„Sei nicht albern, Alva, praktisch jede terroristische Aktion ist für sich gesehen sinnlos, außer der Tatsache, aufhorchen zu lassen und Angst zu verbreiten. Und das war der ‚Liga‘ gelungen, denn die hat sich in einem Bekennerschreiben verantwortlich erklärt. Die 'Liga der Vernunft' war vorher schon weltweit bekannt, aber bis dato gewaltfrei. Und hier hat sich der gewaltbereite Flügel der ‚Liga‘ gemeldet, von dem heute Morgen die Rede war.“

„Welche Ziele verfolgen die?“

„Die ‚Liga‘ hat wie viele andere Gruppierungen als Hauptgrund für die Probleme der Menschheit die Überbevölkerung postuliert. Das ist nichts Neues, nur geht die ‚Liga‘ in vielerlei Hinsicht ein Schritt weiter. Ihre bekannteste Forderung ist die zwangsweise chemische Sterilisation in den Entwicklungsländern, indem man einfach das Trinkwasser flächendeckend mit den entsprechenden Chemikalien versetzt. Sie preisen es als die billigste, schnellste und humanste Form der Geburtenregelung in der dritten Welt an.“ „Die Nazis hätten ihre helle Freude daran gehabt.“ Da Sibo war baff.

„Leider haben diese Gruppierungen nicht ganz unrecht mit ihrer Forderung nach radikalen Maßnahmen gegen die ungebremste Vermehrung der Menschen. Bei den optimistischen Annahmen, dass die Geburtenraten dramatisch abnehmen, wenn man die weltweite Armut bekämpft, hat man einen wichtigen Faktor unterschätzt. Das funktioniert nämlich nur in Gesellschaften, in denen die Religionen nicht allmächtig sind. Keine der großen Kirchen erlaubt nämlich eine Geburtenregelung mit Mitteln der Empfängnisverhütung, auch wenn immer wieder betont wird, dass es in ‚Ausnahmefällen‘ erlaubt sei.“

„Ich weiß.“ knurrte Alva. „Das ist pure Dummheit. Keiner der Kirchenvertreter scheint erkennen zu können, was er damit diesem Planeten antut.“

„Und das ist auch der Grund, weshalb Gruppen wie die ‚Liga‘ zwangsweise Sterilisationen in diesen Ländern fordern. Du glaubst nicht, wie viele Politiker das heimlich oder offen unterstützen.“

„In absehbarer Zeit wird es für eine derartige Sauerei wohl kaum eine Mehrheit geben. Deshalb wohl dein Gedanke, dass es irgendeine Gruppierung geben könnte, die das über den Umweg von dem da draußen schaffen will.“ Alva machte eine unbestimmte Handbewegung.

„Ich habe noch mal nachgedacht. Ich denke, Ringstrøm hat recht.“ Sara blickte ihn an. „Das Ganze ist zu diffus, zu ungenau. Das trifft alle. Wenn ich so denken würde wie die und die Möglichkeiten hätte, ein solches Virus zu bauen, würde ich was erfinden, was mich nicht angreift.“

„Oder Möglichkeiten schaffen, mich zu schützen, Impfstoffe, ein Heilmittel oder spezielle Quarantäneeinrichtungen.“ Da Sibo setzte sich auf. „Ist mir alles zu spekulativ. Ich habe da noch eine andere Frage: Was meinte Ringstrøm mit ‚religiösem Fanatismus‘ im Zusammenhang mit der ‚Liga‘?“

„Tja, auch das ist eine komplizierte Geschichte. Hat was mit der Tea-Party-Bewegung zu tun, die Anfang des dritten Jahrtausends versucht hat, immer massiver Einfluss auf die US-Politik zu nehmen. Vordergründig handelte es sich um eine Organisation ‚aufrechter US-amerikanischer Bürger‘. In Wahrheit war es der Versuch, dem Machtverlust der religiösen Rechten in den USA entgegen zu wirken.“

„Aber wo ist der Zusammenhang mit dieser „Liga der Vernunft“?“

„Ein großer Teil der Anhänger der Tea-Party-Bewegung sind sogenannte Kreationisten. Das sind Leute, die den Darwinismus grundsätzlich verteufeln. Sie nehmen den göttlichen Schöpfungsakt wörtlich und lehnen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte des Weltalls, der Erde und der Entstehung und Evolution des Lebens darauf ab. Aus den Kreisen dieser Leute rekrutieren sich hauptsächlich die Mitglieder der ‚Liga‘. Diese Kreationisten sind leider keine Randerscheinung in den USA, sondern etwa 80 Millionen Amerikaner zählen sich zu den fundamentalen Christen, die die Bibel wörtlich auslegen. Also genau zu diesen verbohrten Kreationisten.“

„Es ist immer das Gleiche.“ Da Sibo war jetzt richtig wütend.

„Was meinst du, Alva?“ fragte Sara.

„Ich rede nicht so gern darüber, vor allem nicht mit gläubigen Menschen. Ich habe dann immer das Gefühl, dass man das als Arroganz interpretiert.“

„Aber mir kannst du das doch erzählen. Du weißt, dass ich auch eine Atheistin bin.“ lächelte Sara.

„Es geht darum, wie ich über Religion denke. Ich meine nicht den Glauben an irgendwelche übersinnlichen Wesen, Gottheiten eben. Es soll ja wohl rund 3300 Götter in den Köpfen der Menschen innerhalb von etwa 4000 Religionen geben. Von mir aus kann jeder glauben, was er will, ob an irgendwelche Waldgötter, an Allah, Jesus Christus, Shiva, Buddha oder jeden x-beliebigen Gott, der in der Menschheitsgeschichte je erfunden wurde. Was mich so wütend macht, sind diese Institutionen des Glaubens, die Religionen. Oder nenne es meinetwegen Kirche. Diese Institutionen sind von Anfang an ausschließlich Werkzeuge für Machtgewinnung und Machterhalt gewesen. Wobei es egal ist, ob der Schamane irgendwelcher Naturvölker den besten Teil der Jagdbeute oder das schönste Mädchen des Stammes als Entlohnung für seinen Regen-, Fruchtbarkeits- oder Jagdzauber verlangt. Oder ob die großen Religionen den Kirchenzehnt auch noch vom ärmsten mittelalterlichen Bauern abpressten oder die neuzeitliche Kirchensteuer das Auskommen der Kirchenfunktionäre sichert. Und wenn diese Gelder nicht mehr ausreichen, werden völlig selbstverständlich kirchliche Einrichtungen mit den staatlichen Geldern aller Steuerzahler unterhalten. Dasselbe gilt für die Finanzierung irgendwelcher Kirchenfeste. Und in den Verfassungen dieser Staaten steht dann sowas wie ‚Trennung von Kirche und Staat‘!

Insgesamt ist der Glaube an Gottheiten die größte Lüge der Menschheitsgeschichte. Die gewaltige Blutspur, die die Religionen aller Couleur seit Anfang des Bestehens der Menschheit hinterlassen hat, kostete Hunderte Millionen das Leben. Denke nur mal an die vielen, die im Namen irgendeines Gottes in den Religionskriegen und den Pogromen des Mittelalters und der Neuzeit gefoltert, erschlagen, geschändet und verbrannt wurden. Das passiert noch heute, siehe Afrika, Südamerika und Asien.“

„Deine Ansichten erinnern mich an meinen Vater. Der nannte Religiosität manchmal ‚das größte Placebo der Menschheit‘ oder einfach eine ‚kollektive pathologische Verhaltensstörung‘.

Aber bringst du schon immer diese Einstellung den Religionen entgegen oder hast du die erst als Wissenschaftler entwickelt?“ Sara war jetzt richtig neugierig.

„Meine Eltern haben mich dazu erzogen, die Welt kritisch zu betrachten, alles zu hinterfragen, was mir über den Weg läuft. Als ich auch nur oberflächlich über die Rolle der Religionen in der Menschheitsgeschichte recherchierte, kam dieser Widerwille auf. Inzwischen bin ich wohl so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet. Und glaube mir, es macht nicht wirklich Spaß, immer wieder zu sehen, wie sich durchaus intelligente und gebildete Menschen die verdrehtesten Erklärungen einfallen lassen, um unwiderlegbare wissenschaftliche Erkenntnisse zu umgehen. Und das geht seit Jahrhunderten so.

Als Strafe für die Verkündung des heliozentrischen Weltbildes wurde noch gefoltert und gemordet. Als die ersten Flugzeuge keinen alten Mann mit Bart über den Wolken fanden, musste man nach und nach Abstand von der Personifizierung des Gottesbegriffes nehmen. Andere wissenschaftliche Erkenntnisse, wie zum Beispiel der Fund von Millionen Jahre alten Fossilien wurden totgeschwiegen und ignoriert, weil es nicht in die geschriebene und überlieferte Geschichte einer Religion passte, nach der das Universum erst vor ein paar Tausend Jahren erschaffen wurde.

Insgesamt werden seit Jahrhunderten in allen Religionen von den intelligenteren und gebildeten Gläubigen ständig Rückzugsgefechte geliefert. Heutzutage wird der Gottesglaube in den sogenannten zivilisierten Gesellschaften so verklausuliert, dass kaum mehr als eine verschwommene, allgegenwärtige, höhere Instanz übrig geblieben ist.

Es gibt noch einen Punkt, über den sich offensichtlich kaum jemand Gedanken macht. Sämtliche dieser widerlichen Religionen haben die Entwicklung der Menschheit während vieler Jahrhunderte verhindert oder verzögert, indem man neue Erkenntnisse, die nicht in ihre Ideologie passten, verleugnete und ihre Vertreter verfolgte. Das Schlimmste ist aber, dass vom Anfang der Entwicklung praktisch aller religiös geprägter Zivilisationen ein Grundsatz verfolgt wurde: das absolute Patriarchat in der Gesellschaft. Die Rolle der Frau wurde auf die der Mutter und der Hüterin des Herdes reduziert. Man hat eifersüchtig darauf geachtet, dass nur Männer an wissenschaftlicher Bildung partizipieren und als Einzige an allen größeren Entscheidungen beteiligt sind. Man hat also viele Jahrtausende die Hälfte der Menschheit von deren Weiterentwicklung ausgeschlossen. Das ist in vielen zurückgebliebenen Gesellschaften noch heute so. Beispiele sind viele muslimisch geprägte Kulturen, in denen die Ablehnung der Bildung von Frauen soweit geht, dass Mädchenschulen von religiösen Fundamentalisten beschossen und gesprengt werden. Das ist die typische Mischung aus Dummheit und Arroganz – Religion eben.“

„Aber gerade in den fortschrittlichen Gesellschaften der alten und neuen Welt laufen die Menschen den Religionen in Scharen davon, und das geht seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so. Ich habe letztens mal gelesen, dass es in Europa Gegenden gibt, in denen sich nur noch etwa 10 bis 15 Prozent der Menschen als gläubig bezeichnen. Weit voraus in dieser Entwicklung ist da wohl Ostdeutschland, nicht weit dahinter Tschechien.“

„Ja, das ist ein Hoffnungsschimmer.“ Alva lächelte müde. „Aber in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens treibt die neue Armut die Leute wieder reihenweise in die Arme der Priester, Priore, Muftis und Imame, Lamas und Schamanen oder wie diese Rattenfänger alle heißen mögen. Jeder kennt diese Bilder von sich kasteienden Mönchen oder von Millionen Muslimen, die ihr halbes Leben sparen, um zur Hadsch nach Mekka zu reisen und sieben Mal um die Kaaba zu laufen. Oder von den alten Frauen, die mit blutigen Knien zu irgendeinem Heiligtum kriechen, um den Segen eines beliebigen und auswechselbaren Heiligen zu erflehen. Und das durchaus in Ländern, wo die Leute jederzeit die Möglichkeit und Zugriff auf Bildung haben.

Wie schon gesagt, ich behaupte nicht, dass es diesen Leuten völlig an Intelligenz fehlt. Ich bin nur überzeugt, dass ihnen eine wichtige Eigenschaft abgeht: die Fähigkeit, scheinbar Unumstößliches, in Fels Gemeißeltes kritisch zu hinterfragen.

Denn dann sollten die meisten erkennen, dass das, was ihnen von frühester Kindheit durch Scharen Ewig Gestriger eingebläut wurde, einfach nur horrender Unsinn ist.“

Alva vergrub das Gesicht in den Händen. Dann stand er auf.

„Aber das sollte uns nicht den Abend verderben. Wollen wir essen gehen?“

„Nee, jetzt renn nicht weg. Wie erklärst du dir das denn? Es muss doch einen Grund geben, warum einzelne Menschen und ganze Kulturen so etwas wie ein Verlangen nach Unterwürfigkeit unter eine höhere Instanz entwickelt haben?“

„Ich vergleiche das gern mit der Entwicklung eines Kindes. In den ersten Jahren nach dem Säuglingsalter sind Kinder empfänglich für den Glauben an Figuren wie den Weihnachtsmann, den Osterhasen oder viele andere imaginäre Figuren anderer Kulturen. Mit fortschreitendem Wissen wird die Existenz dieser Kindheitsfiguren immer unwahrscheinlicher – das Kind folgert aus fortschreitendem Erkenntnisgewinn die Unwahrscheinlichkeit dieser Märchenfiguren.“

„Und in welcher Phase der Kindesentwicklung befindet sich die Menschheit deiner Meinung nach jetzt?“ Sara war gleichzeitig fasziniert wie belustigt über die Art, wie Alva das Problem darstellte.

Er lächelte zurück: „Natürlich ist der Entwicklungsstand sehr unterschiedlich auf unserer Welt, aber ich denke, dass selbst die gebildetsten Völker noch nicht weiter als Vorschulkinder sind.“

„Das klingt nicht sehr schmeichelhaft, Alva.“

„Wieso, es heißt doch nur, dass wir noch jede Menge Potenzial haben.“

„Ja, für eine Entwicklung in diese oder jene Richtung. Ich weiß nur nicht, ob das Anlass zur Hoffnung oder Verzweiflung gibt.“