Eulennacht - In den Bäumen von Redmoor - Ruth Rahlff - E-Book

Eulennacht - In den Bäumen von Redmoor E-Book

Ruth Rahlff

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ruby kann es nicht fassen: Ausgerechnet in Redmoor Garden wird sie die Sommerferien verbringen! Die Schönheit des geheimnisvollen Gartens zieht sie sofort in ihren Bann, besonders, da sie immer wieder fasziniert Eulen beobachtet, die in dem uralten Baumbestand leben. Doch Redmoor ist weit mehr als nur das romantische Paradies aus ihrer Vorstellung. Die jahrelang verwilderten Gartenteile werden ihr zunehmend unheimlich und wenig später kommt es zu unerklärlichen Angriffen der Eulen. Schnell werden Stimmen laut, die Maßnahmen gegen die Wildvögel verlangen. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Kann Ruby das Rätsel um die Eulen lösen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 363

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Von Eulen und Gärten

Danksagung

Prolog

Ich drückte mich in die Nische neben dem Fenster und starrte auf die schwarze Fläche vor mir. Der Boden bestand aus Holzdielen, doch jetzt im Mondschein sah er aus wie ein stiller See, aus dem die Vitrinen wie Baumstümpfe ragten. Ich musste hinüber auf die andere Seite, dann wäre ich gerettet. Nur ein paar Meter, mehr waren es ja nicht.

Leider war es wie fast immer: viel komplizierter.

Denn ich war nicht allein.

Mir wurde schlecht und ich biss mir auf die Unterlippe. Irgendwie musste ich mich beruhigen, aber mein Herz klopfte wie wild. Eine Schweißperle rann mir über die Schläfe, dann noch eine. Es kitzelte, trotzdem wischte ich die Tröpfchen nicht ab. Jede Bewegung konnte mich verraten.

Im Halbdunkel sah ich sie durch den Saal schlendern. Ihre leise Unterhaltung war kaum zu verstehen, denn bei jedem Schritt knarrten die Dielen. Noch hatten sie den Diebstahl nicht bemerkt, aber das würde sicher nicht mehr lange dauern.

Sie kamen in meine Richtung, doch bevor sie mich entdecken konnten, glitt ich hinter die bodenlange Gardine und lehnte mich gegen den Fensterrahmen.

Das Holz unter meinen Füßen zitterte, die beiden mussten jetztganz nah sein. Ich lauschte und presste dabei den Eierwärmer an mich, bis mir wieder einfiel, was drin war. Schnell lockerte ich den Griff. Nicht dass das alles hier am Ende noch völlig umsonst war!

Nun standen sie direkt vor mir, das spürte ich. Sie sagten kein Wort, ich hörte nur ihren Atem. Gänsehaut überzog meine Arme, ich konnte beinahe fühlen, wie sich die feinen Härchen aufstellten. Gleich war es aus, einer der beiden brauchte ja nur die Hand nach mir ausstrecken.

Hinter dem schweren Samtvorhang wurde es langsam stickig. Ich atmete tiefer, aber das war keine gute Idee. Die Vorhänge hingen wahrscheinlich seit dem Mittelalter hier. Inzwischen hatten sie jede Menge Staub angesammelt und ein Teil davon landete jetzt in meiner Lunge.

Wenn ich nur husten könnte oder mich wenigstens räuspern! Doch dann konnte ich ebenso gut »Hier!« brüllen.

Nun geht schon, betete ich stumm. Verschwindet!

Aus dem Kratzen im Hals wurde ein fieses Brennen, aber ich konnte noch nicht mal mehr schlucken, so trocken war mein Mund mittlerweile.

Lenk dich ab, denk an etwas Schönes!

Tränen stiegen mir in die Augen, während ich krampfhaft überlegte. Etwas Schönes, etwas Schönes … Verdammt, aber was denn nur?

Im nächsten Moment vibrierte der Boden erneut. Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt. Sie gingen tatsächlich weiter!

Ich zählte lautlos bis zehn, drehte mich dann um und drückte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Schlucken, einatmen, ausatmen. Und wieder – schlucken, einatmen, ausatmen. So lange, bis sich mein Hals nur noch ein bisschen wund anfühlte und ichendlich wieder an mein dringlichstes Problem denken konnte: Wie zum Teufel kam ich hier weg?

Ich schob den Vorhang ein winziges Stück beiseite und blickte mich um. Das Brett unter mir knarzte, als ich dabei das Gewicht verlagerte. Bei dem Krach würde ich nie bis zum Ausgang gegenüber kommen, mal ganz abgesehen davon, dass die beiden inzwischen ihren Rundgang beendet hatten und sich nun direkt vor der Flügeltür postierten. Sie schienen immer noch ins Gespräch vertieft, doch das konnte täuschen.

Ich blinzelte. Da vorn regte sich etwas. Zwischen dem ausgestopften Keiler und der Glasvitrine mit den Fossilien bewegte sich ein Schatten. Wieder knarrte der Boden und Sekunden später hörte ich ein schleifendes Geräusch. Es klang, als würde ein Riegel zurückgeschoben werden, und schlagartig fiel es mir wieder ein: Ein paar Meter weiter rechts gab es ja noch den Hinterausgang!

Etwas knackte laut und das Gemurmel verstummte abrupt.

Einen Augenblick lang war es totenstill. Ich hielt den Atem an.

Jetzt lauschten wir alle und dieses gemeinsame Schweigen war irgendwie schlimmer als alles andere zuvor.

Doch da schwang die Hintertür auf. Ein Schwall Nachtluft fegte mir entgegen, kühl und würzig. Eine Silhouette zeichnete sich vor dem Hinterausgang ab, sie verschwand sofort, und draußen schrie jemand: »Lauf!«

Und ich rannte, rannte, so schnell ich konnte, im Slalom zwischen den Eulen auf ihren Sockeln hindurch – nur raus hier, raus in den Garten.

Kapitel 1

Tja, nun saß ich hier: in einem Zugabteil voller Staubflusen, leerer Chipstüten und Erdnusskrümel.

Ich räumte einen Stapel zerlesener Zeitschriften beiseite und rückte näher ans Fenster. Draußen sah es auch nicht viel spektakulärer aus. Ein kräftiger Wind trieb allen möglichen Müll vor sich her und die Leute stemmten sich mit gesenkten Köpfen gegen die Böen. Wir zuckelten an stuckverzierten Altbauten, zubetonierten Hinterhöfen und ungefähr einer Million grauer Bürohäuser vorbei. Es war langweilig und miefig und trostlos – und ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Denn all das erinnerte mich daran, was ich überhaupt nicht vermissen würde.

Mit jeder Bahnstation, die wir passierten, fühlte ich mich ein wenig freier, so als kröche ich aus einer Haut, die mir viel zu eng geworden war.

Außer mir interessierte sich niemand groß für die Umgebung. Die anderen Fahrgäste fixierten ihre Smartphones, als wären sie das Eintrittstor ins Paradies. Na ja, bei manchen schien es eher die Hölle zu sein, so gestresst, wie sie guckten.

Auch ich schaute kurz auf mein Handy. Fünf neue Nachrichten, alle von Mum. Das war fast Rekord, schließlich hatten wir uns erst vorhin auf dem Bahnhof verabschiedet.

Liebes, hast du einen guten Platz gefunden?

Dad und ich fangen jetzt an zu packen.

Du kannst es dir jederzeit anders überlegen!

Denk bitte an das Magnesium. Wegen deiner Migräne!!

Ich vermisse dich jetzt schon. Melde dich, sobald du da bist.

Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Es war, als würde jemand mit beiden Händen meinen Brustkorb packen und kräftig zudrücken. Noch nie war ich so weit ohne Mum und Dad verreist.

Vermisse euch auch, tippte ich und löschte den Satz sofort wieder.

Zwei Meter vor mir war der Ausgang. Gleich kam der nächste Halt. Ich musste mir nur meine Sachen schnappen und zur Tür laufen. Danach ein Anruf und ein bisschen Wartezeit und schon könnte ich wieder zurück in mein altes Leben schlüpfen. Das könnte ich.

Aber ich wollte es nicht.

Ich atmete aus und sofort ließ der Druck in meiner Brust ein bisschen nach. Es stimmte ja, ich vermisste die beiden auch schon. Und wie! Zugleich war ich heilfroh, dass ich endlich zu Leo durfte. Also schrieb ich nur ein paar kurze Antworten und steckte das Telefon weg.

Draußen waren die letzten Reihenhäuser verschwunden und neben den Schienen breiteten sich Felder wie ein riesiger Flickenteppich aus. London und seine Vororte lagen endgültig hinter mir. Nur was erwartete mich?

Ich rutschte auf meinem Platz hin und her. Vom vielen Sitzen tat mir der Po weh, am liebsten wäre ich aufgesprungen und durch den Zug gelaufen, aber dafür war es zu voll, und außerdem wollte ich meine Sachen nicht allein lassen. Da fielen mir die Postkarten ein. Natürlich!

Ich holte den Stapel aus der Tasche und fächerte die Karten auf. Eigentlich war doch alles klar. Vor mir lagen sechs Wochen Sommerferien in Redmoor. Und noch mehr, wenn alles nach Plan lief.

Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, wie ich mein Vorhaben Mum und Dad beibringen sollte, und auch Leo wusste von nichts, aber das würde sich schon ergeben.

Ich war zwar noch nie da gewesen, aber Cornwall musste der tollste Ort überhaupt sein. Es gab den Ozean und steile Klippen, die schönsten Blumen und sogar Palmen! Und vor allem: Man konnte stundenlang umherstreifen, ohne dass einem jemand begegnete, das hatte jedenfalls Leo gesagt.

Und dann Redmoor! Seit Monaten schwärmte er mir von dem verwunschenen Garten vor und nun endlich würde ich ihn selbst sehen! Wir hatten zusammen schon alle möglichen Gärten besucht, aber dieser hier schien etwas ganz Besonderes zu sein.

Ich betrachtete die erste Postkarte. Weiße Rosen umrankten eine verwitterte Holztür. Es sah aus wie bei Dornröschen. Die nächste Karte zeigte einen Brunnen inmitten von Büschen. Sehr lauschig! Auf einem anderen Foto lehnte eine Frau an einer Backsteinmauer und strahlte in die Kamera. Ihr beigefarbener Hosenanzug war zerknittert, und die Sandalen passten überhaupt nicht dazu, doch das schien sie nicht zu kümmern. Ich musste grinsen. Mum wäre lieber nackt über den Piccadilly Circus getanzt, als sich in so einem Aufzug fotografieren zu lassen, erst recht für eine Postkarte.

Nun kam meine Lieblingskarte. Sie war schwarz-weiß, dadurch wirkte alles ein wenig düster. Aber das Mädchen im altmodischen Rüschenkleid machte das mit seinem Lächeln wieder wett. Es war vielleicht so alt wie ich und drückte ein schwarzes Notizbuch an sich. Was da wohl drinstand? Das Mädchen kniete vor einer Trauerweide. Deren Zweige reichten bis auf den Boden. Auf dem Foto klafften sie ein wenig auseinander, so wie bei einem Höhleneingang. Am liebsten wäre ich hineingekrochen!

Ich kuschelte mich in den Sitz und seufzte. Redmoor war wirklich das reinste Gartenparadies.

»Die nächste Station ist Sheddington Hall«, sagte eine Stimme.

Ich fuhr hoch. Anscheinend hatte ich geschlafen, und das ziemlich lange, denn draußen sah alles anders aus. Kühe und Schafe grasten auf hügeligen Weiden und dazwischen waren ein paar graue Steinhäuser verstreut. Ob das Cornwall war?

Ich wandte mich um. Zuerst sah ich nur einen Bauch in einer Uniform. Mein Blick wanderte nach oben, bis ich knapp unter der Decke das Gesicht des Schaffners ausmachte.

»Falls du da zufällig aussteigen willst, solltest du dich langsam fertig machen«, fuhr er fort. »Es ist der kürzeste Halt auf der Strecke.«

Er wollte schon weitergehen, doch dann stutzte er und zeigte auf den Sitz neben mir. »Ist das ein Kaktus?«

»Mhm.« Den hatte Leo mir geschenkt, als er ausgezogen war, und seitdem war der Kaktus überall dabei.

Der Schaffner zwinkerte mir zu und verschwand den Gang hinunter. Hastig verstaute ich die Postkarten und suchte meine Siebensachen zusammen. Die Reisetasche, die ich mit Mum vor der Abfahrt gekauft hatte, warf ich mir über die Schulter. Dazu kamen der Mantel, der Stoffbeutel mit der Wasserflasche und dem Proviant für unterwegs sowie der Rucksack mit Portemonnaie, Smartphone und anderem Kleinkram. Und natürlich der Kaktus. Beladen wie der Weihnachtsmann wankte ich Richtung Ausgang. Dort warteten bereits ein grauhaariger Mann in einem lila Anzug und eine Frau mit zwei Koffern, in die jeweils locker ein Shetlandpony gepasst hätte. Was da wohl drin war?

Größentechnisch konnte sie mit dem Schaffner fast mithalten, aber anstelle einer Glatze umgab eine graue Haarmähne ihr geschminktes Gesicht. Ihre Brille war wie die Flügel einer Fledermaus geformt und erinnerte mich an eine Superheldenmaske. Sie wandte sich zu mir und musterte mich. »Liebes, du bist ein bisschen blass um die Nase. Geht’s dir gut?«

Ich nickte. »Das ist ganz normal bei mir.« Leider.

Sie trat einen Schritt näher und plötzlich roch alles nach ihrem Parfüm. »Ein bisschen Rouge, ein wenig Puder, und zack, ist das Problem gelöst.« Sie griff in ihre staubsaugergroße Handtasche und drückte mir eine schwarze Visitenkarte mit silberner Schrift in die Hand.

Charlene Bobbington: Bobbys Beauty Booster Termine nach Vereinbarung

»Du kannst gerne vorbeikommen. Ruf einfach an, die Nummer steht auf der Rückseite.«

»Ähm … danke.« Mir fehlten die Worte, und das kommt nun wirklich nicht häufig vor. Zum Glück machte der Zug im nächsten Moment eine Vollbremsung, und eine blecherne Lautsprecherstimme verkündete: »Sheddington Hall.«

Ich stolperte als Letzte die Metallstufen hinunter. Kaum hatten meine Zehenspitzen den Bahnsteig berührt, fuhr der Zug auch schon wieder an.

Bis auf den Kaktus ließ ich alles fallen und atmete aus. Nach der stundenlangen Bahnfahrt wären jetzt eine heiße Dusche, etwas Leckeres zu essen und ein gemütliches XXL-Sofa perfekt. Wobei ich bei der Reihenfolge flexibel wäre.

Ich schaute mich nach Leo um. Wo war er denn?

Eine ursprünglich grün lackierte Metallbrücke führte über das Gleis. Grellrote Geranien baumelten vom Geländer und leuchteten tapfer gegen den bedeckten Himmel an. Sie gaben sich alle Mühe, doch die schäbige Umgebung siegte. Kein Wunder, dass der Zug so eilig weitergefahren war.

Der Belag auf dem Bahnsteig brach überall auf und in den Lücken dazwischen wuchs Unkraut. Auf den zwei Gleisen stapelte sich der Müll, als wolle er den nächsten Zug mit Gewalt aufhalten. Ein paar Meter weiter huschte etwas Braunes über die Schienen. Puh. Das Bahnhofsgebäude hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Die Glasscheiben waren wahrscheinlich im vorigen Jahrhundert das letzte Mal geputzt worden und der Papierkorb neben dem Eingang quoll über. Den miefigen Geruch drinnen stellte ich mir lieber gar nicht erst vor.

Ich schleifte die Reisetasche und das übrige Zeug zu der Bank in der Mitte des Bahnsteigs. Cornwall hatte ich mir echt romantischer vorgestellt, allerdings traf das auf mindestens tausend andere Sachen auch zu. Na ja. Schluss mit den trüben Gedanken! Schließlich war das hier ein echter Neuanfang und den brauchte ich mir jetzt nicht selbst zu vermiesen.

Ein Windstoß fuhr mir durch die Haare. Ich erschauerte und wickelte mich schnell in den Mantel. Zu allem Überfluss wurde es auch noch feucht. Nieselregen, das hatte mir gefehlt! Wo steckte Leo? Wieso holte er mich nicht ab? Und verflixt, ich wusste gar nicht, wo er wohnte. Auf der Karte mit dem Brunnen stand nur, welchen Zug ich nehmen sollte und dass er mich hier abholen würde.

Typisch Leo.

Alle anderen Bewohner dieses Planeten hätten vorher angerufen, aber nein, nicht Leo. Der schrieb mir Postkarten und vergaß dabei das Wichtigste, die Adresse. Ich wählte seine Nummer, doch nach dem zehnten Klingeln gab ich auf und tippte eine Nachricht.

Wo bist du? Warte hier am Gleis!

Und gleich hinterher: Beeil dich!!

Wahrscheinlich steckte er in irgendeinem Funkloch.

Die Bahnhofstür knallte gegen die Wand. Vor Schreck wäre ich fast von der Bank gerutscht. Statt Leo bugsierte nur ein Junge umständlich ein Tandem durch die Öffnung und lehnte es gegen die Wand. Ganz schön mutig, so baufällig, wie die aussah.

Er war ungefähr so alt wie ich, aber seine blonden Haare waren viel länger und hübscher als meine. Sein verwaschenes Sweatshirt war mal froschgrün gewesen, dazu trug er eine Jeans mit Löchern an den Knien. Außerdem schien er vor schlechter Laune fast zu platzen. Im Prinzip sah er also genau so aus, wie ich mich fühlte.

Ich wandte mich ab. Noch ein Versuch bei Leo, noch eine Nachricht, doch beides blieb unbeantwortet. Allmählich wusste ich nicht mehr weiter.

»Ruby Stroud?«

Ich fuhr herum. Neben mir stand der Junge. Ich hatte ihn überhaupt nicht kommen hören!

»Warum schleichst du dich so an?«, fauchte ich statt einer Antwort. Das war nicht besonders höflich, ich weiß. Aber ich hasse es nun mal, wenn mich jemand erschreckt.

»Wieso anschleichen? Was kann ich dafür, wenn du hier herumsitzt und träumst?«

»Träumen? Ich warte hier. Das macht man so auf Bahnsteigen. Man wartet auf den nächsten Zug, man wartet darauf, dass man abgeholt wird, man …«

»Eben«, unterbrach er mich.

Unterbrechungen kann ich auch nicht leiden. Doch bevor ich etwas Passendes entgegnen konnte, sagte er: »Deshalb bin ich ja hier. Bist du jetzt Ruby oder nicht?«

»Wer will das wissen?«

Der Junge streckte mir eine nicht gerade saubere Hand entgegen. »Ich bin Paul Stratford.«

»Ruby.«

»Leo hat mich geschickt. Ich soll dich nach Redmoor bringen.«

Bei der Erwähnung von Redmoor machte mein Herz einen kleinen Sprung, doch das versuchte ich zu ignorieren. »Leo wollte mich aber hier abholen.« Ich nahm mein Telefon und hämmerte auf sein Foto, doch diesmal kam die Verbindung gar nicht erst zustande.

»Vergiss es, bei dem Wetter ist der Empfang grottenschlecht.«

»Und wieso ist er nicht selbst gekommen?«

»Er hat noch zu tun.«

Wie jetzt, er hatte noch zu tun? Da reiste ich quer durch England und nun hatte er es noch nicht mal zum Bahnsteig geschafft? Ich konnte es nicht fassen!

»Aber warum fahren wir nicht direkt in seine Wohnung?«

Paul stöhnte leise. »Weil ich seinen Schlüssel vergessen habe.«

»Und jetzt sollen wir mit dem Ding nach Redmoor?«

Paul folgte meinem Blick Richtung Tandem. »Klar, womit sonst?«

»Niemals! Darauf setze ich mich nicht.«

»Schön. Dann gehst du eben zu Fuß. Oder du bleibst hier und wartest, bis Leo dich nachher abholt.« Paul setzte sich in Bewegung. »Das kann aber dauern. Und abends ist es hier ziemlich einsam. Du bist nämlich mit dem letzten Zug gekommen.«

Ich hockte immer noch wie gelähmt auf der Bank. »Wie willst du denn meine Sachen transportieren?«

»Im Anhänger«, lautete die gleichgültige Antwort. »Der steht vorm Bahnhof. Er war zu breit für die Tür.«

»Und warum hast du das Tandem nicht auch dort stehen lassen?«

»Will ich, dass es geklaut wird?«, blaffte er mich an.

Wer würde denn so einen Schrotthaufen stehlen? Doch die Frage hob ich mir für später auf, denn Paul schob das Tandem bereits Richtung Ausgang, und er sah nicht so aus, als würde er noch lange auf mich warten.

Der Regen wurde immer stärker. Was sollte ich machen? Besonders sympathisch war mir Paul nicht, aber das galt für den Bahnhof genauso. Auf keinen Fall wollte ich hier noch ein paar Stunden warten. Außerdem war so viel Feuchtigkeit bestimmt Gift für meinen Kaktus. Ich seufzte. Es war mal wieder so weit: Mir blieb nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Also packte ich meinen Kram zusammen und schleppte mich hinter Paul her. So ein Mist! Ich kickte eine Dose ins Gleis, geriet dabei aber wegen des ganzen Gepäcks ins Straucheln. Und ausgerechnet in dem Moment musste Paul sich natürlich zu mir umdrehen. Na toll, ging es noch ein bisschen peinlicher?

Tagelang hatte ich alles genau ausgetüftelt und jetzt ließ Leo mich hier hängen! So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Aber na ja, andererseits hätte es mich auch echt überrascht, wenn tatsächlich mal alles nach Plan gelaufen wäre.

Kapitel 2

Der Bahnhof lag am Stadtrand, eingekeilt zwischen einem Tesco-Supermarkt, einem Möbelgeschäft voller braungrauer Sitzgarnituren und einer Tankstelle mit zwei Zapfsäulen. Misstrauisch beäugte ich das Tandem, während Paul mein Gepäck im Anhänger und in den Satteltaschen verstaute.

Die ersten Meter fühlten sich ganz schön wackelig an, aber bereits auf Höhe des Möbelladens hatte ich den Dreh raus. In der Schaufensterscheibe bewunderte ich kurz meine Haltung. Nicht schlecht. Es war zwar komisch, dass ich nicht lenken konnte, aber ansonsten musste ich einfach nur so das Gleichgewicht verlagern, wie Paul es vor mir auch machte.

Das hatte ich keine Minute zu früh herausbekommen. Im nächsten Moment düste er in den Kreisverkehr, direkt vor die Nase eines gewaltigen Lkws.

»Vorsicht!«, schrie ich, doch er radelte einfach weiter. Der Lastwagenfahrer drückte auf die Hupe und hörte damit erst wieder auf, als wir in eine schmale Seitenstraße einbogen.

Ich keuchte. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Vielleicht hätte ich doch besser der Ratte auf dem Bahnsteig Gesellschaft leisten sollen, aber dafür war es nun zu spät.

Also biss ich die Zähne zusammen und strampelte weiter.

Fünf Minuten später passierten wir die letzten Häuser. Hier war zum Glück kaum noch Verkehr, also entspannte ich mich ein wenig.

Das Schild mit dem durchgestrichenen »Sheddington Hall« kündigte an, dass wir diesen bezaubernden Ort nun verließen. Das bedauerte ich nicht gerade, auch wenn der Rest von Sheddington ja vielleicht schöner war als die Ecke rund um den Bahnhof.

Direkt hinter dem Ortsschild wurde es grün. Unglaublich! Dafür brauchte man von uns zu Hause aus einen halben Tag.

Steinmauern voller Moos grenzten die Straße von Wiesen und Feldern ab. Auf den Mauern wuchsen dichte Holunderbüsche. Nur ab und zu durchbrachen ein Gatter oder eine Ausfahrt die hohen Wände. Es roch salzig, irgendwo in der Nähe musste das Meer sein.

Mittlerweile klebte mir der Stoff unter den Achseln – hätte ich nur den Mantel vorher ausgezogen! Mit so vielen Hügeln hatte ich hier gar nicht gerechnet. Aber die Radtour selbst war ja auch schon eine Überraschung gewesen. Und dann erst die Nahtoderfahrung mit dem Lkw! Was hielt das Schicksal wohl als Nächstes für mich bereit?

»Fährst du die Strecke eigentlich öfter?«, keuchte ich. »Wie lange dauert es denn noch?«

»Fünf Minuten. Oder zehn, wenn du weiter so langsam bist wie jetzt.«

Wie bitte? So lahm war ich doch gar nicht! Trotzdem trat ich gleich noch ein bisschen kräftiger in die Pedale.

Von der nächsten Hügelkuppe aus entdeckte ich einen grauen Streifen am Horizont. War das schon das Meer oder immer noch ein Stück vom Himmel?

Ich war so in die Umgebung vertieft, dass ich Pauls Fragen fast überhört hätte.

»Bist du das erste Mal in Cornwall? Was willst du eigentlich hier?«

Ich fuhr zusammen, was er zum Glück nicht sah. Was sollte ich darauf antworten? Eigentlich war es ja nicht so schwer: die Ferien bei Leo verbringen. Redmoor erkunden. Meinen Eltern aus dem Weg gehen. Aber je länger ich darüber nachdachte, umso komplizierter fühlte sich alles an. Vielleicht hatte »Was willst du eigentlich hier?« sogar das Zeug zu einer waschechten speziellen Frage.

Manche Fragen kleben an einem wie Kaugummi an einem Turnschuh. Egal, wie oft man sie abstreift, ganz los wird man sie nie. Immer bleibt ein zäher Rest haften.

Ich nenne sie die speziellen Fragen. Sie stehen im krassen Gegensatz zu den harmlosen Fragen. Die sind einfach, niedrigste Schwierigkeitsstufe. Jeder hört sie ständig, deshalb kann man sie auch ziemlich lässig beiseitewischen.

Hast du heute Gemüse gegessen? Sind die Hausaufgaben fertig? Wie, dein Taschengeld ist schon wieder alle? Oh, Terrys Eltern lassen sich jetzt auch scheiden?

Die Antworten darauf sind Standard, jederzeit abrufbar, selbst im Halbschlaf.

Die speziellen Fragen dagegen sind passgenau auf dich zugeschnitten. Wenn du Pech hast, erwischen sie dich in einem wirklich ungünstigen Moment. Das kann höllisch wehtun, auch wenn du sie vorher vielleicht schon hundertmal gehört hast.

Ein simples Beispiel. In meiner vorvorletzten Klasse gab es Clementine. Sie trug am liebsten knallgrüne oder leuchtend violette Kleider, in denen sie regelmäßig mit einem wandelnden Hauszelt für eine Großfamilie verwechselt wurde, wenn auch nur von Weitem.

Ich wette, ihre spezielle Frage lautete: »Warum isst du nicht einfach weniger? Dann erledigt sich dein Übergewicht von selbst.«

Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass einem diese Art von Fragen weiterhilft?

Um es gleich vorwegzunehmen, das hier war meine spezielle Frage: »Was, so oft bist du umgezogen! Ist es nicht schwer, immer wieder neu anzufangen?«

Als Erwiderung nuschelte ich meistens ein »Ach, man gewöhnt sich an alles«, nur um dann rasant das Thema zu wechseln.

Ehrlich gesagt, bisher hatte ich die wahre Antwort auf meine spezielle Frage noch nicht herausgefunden. Aber das war nicht weiter wichtig, ich hatte sie sowieso satt. Ich würde sie hochkant rausschmeißen – ab mit ihr auf den gigantischen Müllberg der Geschichte.

Schlagartig wurde mir klar, dass Pauls Frage jetzt schon eine ganze Weile her war.

»Ähm, entschuldige, was wolltest du noch mal wissen?«, stotterte ich, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.

»Ach, ist nicht so wichtig.« Er fuhr stur weiter.

Puh, gut dass er nicht noch einmal nachhakte!

Kurz darauf hielten wir vor einem Torbogen. Er war riesig – als wir das Tandem abstellten, kam ich mir vor wie ein Zwerg. »Redmoor Garden« war in die Vorderseite des Bogens eingemeißelt. Im Inneren entdeckte ich noch eine Inschrift. Sie war um einiges verwitterter und kleiner als der Namenszug vorn. Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die vier Zeilen an der Decke zu entziffern. Es dauerte, bis mir aufging, dass es lateinisch war. Schade, das konnte ich nicht so leicht entschlüsseln.

»Siehst du die beiden Holzhäuser da?«, fragte Paul.

Ich nickte.

»In dem dunkelblauen ist das Büro«, brummte er. »Du musst nur sagen, dass du Leos Nichte bist, dann zeigen sie dir, wo du ihn findest. Falls da niemand ist, gehst du ins Café rüber. Das ist das hellblaue Haus.«

»Alles klar. Was machst du denn jetzt? Und was ist mit meinen Sachen?«

»Die bringe ich zu Leos Auto.« Er streckte den Arm aus. »Da vorn ist der Parkplatz.«

Aha. Sie mussten sich ja ziemlich gut verstehen, wenn Leo ihm die Schlüssel für seinen alten Sportwagen anvertraute.

Nur seltsam, dass er Paul nie erwähnt hatte.

Ich holte die Tüte mit dem Kaktus aus der Fahrradtasche, denn den behielt ich lieber bei mir. »Danke fürs Abholen.«

Er antwortete nicht, sondern rangierte mit Tandem und Anhänger herum. Entweder war er taub oder er überhörte mich absichtlich. Ich zuckte mit den Schultern und stapfte auf die beiden Holzhäuser zu.

Kapitel 3

Leo stand mitten in der Jauche. Nein, wirklich, es lässt sich nicht beschönigen. Er stocherte mit einer Art Angel in einer grünlich braunen Flüssigkeit herum, die vielleicht einmal Wasser gewesen war.

Neben ihm fischte eine stämmige Frau in quietschgrünen Gummistiefeln eklige Brocken aus dem Steinbecken. Hoffentlich waren die pflanzlich! Für alle Fälle schaute ich lieber nicht genauer hin.

Woher kam sie mir bloß so bekannt vor?

Im selben Moment fiel es mir wieder ein. Sie war die Frau auf dem Foto! Das graubraune Haar war zu einem Zopf gebunden, der ihr lose über die Schulter hing. Heute trug sie anstatt des Hosenanzugs einen labbrigen Rock und ein T-Shirt, auf dem stand: »Ärgere niemals eine Gärtnerin. Sie kennt Orte, an denen dich niemand findet.«

Die beiden wühlten so eifrig in dem Matschbecken herum, dass sie nichts um sich herum bemerkten. Ein etwas schmuddeliger Eisbär beschnüffelte den Beckenrand. Erst auf den zweiten Blick identifizierte ich ihn als Hund.

Das Becken befand sich genau in der Mitte eines Labyrinths aus Buchsbäumen. Genauer gesagt, war es vermutlich die exakt geschnittenste Buchsbaumhecke der Welt.

Der Boden war mit winzigen gelben und grünen Mosaiksteinen bedeckt und überall waren Steinkübel mit Blumen aufgestellt. Vielleicht war es hier sogar mal richtig schick gewesen, jetzt jedoch sah es nach einer Schlammschlacht aus. Viel schlimmer aber war der faulige Geruch. Am liebsten wäre ich eine Weile ohne Sauerstoff ausgekommen.

So viel zum Thema verwunschen und lauschig.

Meine Nase fing an zu kribbeln, ich stellte schnell den Kaktus ab und im nächsten Augenblick nieste ich auch schon los.

»Ruby!« Mit zwei Sätzen sprang Leo aus der Brühe, schloss mich in die Arme und wirbelte mich herum, dass die Schlammtropfen nur so spritzten.

War das schön, ihn wiederzusehen! Augenblicklich löste sich mein Groll wegen der verpatzten Ankunft und dem Tandem in ein Häufchen Nichts auf. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Pulli und sog den vertrauten Geruch ein. Na ja, fast vertraut, denn normalerweise roch Leo nicht nach Gulli.

»Darf ich vorstellen, Nic? Das ist meine Nichte Ruby, von der ich dir erzählt habe.« Er wandte sich wieder mir zu. »Und das ist Nicola Treddington, die Besitzerin von Redmoor.« Er schob mich nach vorn zum Beckenrand, als wäre ich drei und nicht dreizehn. Oh Mann!

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Treddington«, sagte ich wohlerzogen.

»Ach was, nenn mich Nicola. Sonst komme ich mir vor wie hundert.« Ihre Stimme war überraschend tief. Sie kam direkt zur Sache. »Der Abfluss im Bassin ist verstopft, und jetzt stinkt es zum Himmel, na ja, das hast du ja sicher schon bemerkt. Vielleicht sind es einfach nur Pflanzenreste, aber es könnte auch ein Tier darin verendet sein oder so.«

Leo zeigte auf das zottelige Ungetüm. »Das ist übrigens Mrs Big.«

Der Koloss wedelte freundlich mit dem Schwanz und fegte dabei einen Blumentopf ins Becken. Leo lächelte bedauernd, aber wie ich ihn kannte, meinte er damit nicht die kaputte Vase. Oje, ich hatte es geahnt. Dusche, Essen, Sofa entfernten sich in Lichtgeschwindigkeit aus meiner Galaxie.

»Tut mir leid, Kleines. Macht es dir etwas aus, wenn du noch wartest? Wir müssen unbedingt das Abflussgitter freilegen.«

»Nein, das ist kein Problem.« Ich setzte mein schönstes Lächeln auf, nur gerieten meine Mundwinkel dabei ein klein wenig außer Kontrolle. Doch das bemerkte zum Glück niemand, denn Leo knuddelte mich erneut. »Danke, Ruby. Guck dich inzwischen um. Es ist ja noch nicht dunkel.«

Ehe ich auch nur nicken konnte, stürzte er sich mit Nicola auf den nächsten Haufen Verwesung.

Och, schade. Aber immerhin konnte ich mir Redmoor jetzt gleich ansehen, darauf hatte ich mich schon die ganze Zeit gefreut. Auch wenn ich das hundertmal lieber mit Leo gemacht hätte.

Ich steckte gerade mitten im Buchsbaumlabyrinth, als das Telefon vibrierte.

Es war Mum. Ich musste ihr Bescheid geben, bevor sie vor Sorge durchdrehte.

Gut angekommen, es hat alles bestens geklappt.

Leo freut sich total.

Bis bald.

Mein Finger verharrte über dem üblichen Kuss-Smiley, doch ich brachte es nicht über mich. Nicht nach all dem Ärger in der letzten Zeit. Stattdessen suchte ich eine Blume aus und drückte auf Senden. Dann steckte ich das Telefon schnell weg, bevor ich doch noch bei ihr anrief. Jetzt war ich hier, bei Leo, das war das Wichtigste. Alles andere würde sich bestimmt noch ergeben.

Ich straffte die Schultern. Redmoor erwartete mich.

Vom Ausgang des Labyrinths führten gleich mehrere Wege weiter. Inzwischen hatten die Wolken der Abendsonne Platz gemacht und nun glitzerten unzählige Wassertropfen an Blüten und Blättern. Wohin sollte ich zuerst gehen? Überall sah es so schön aus, ich konnte mich beim besten Willen nicht entscheiden, also schloss ich die Augen und drehte mich mit ausgestrecktem Arm im Kreis. »Rosengarten« stand auf dem verwitterten Wegweiser, auf den meine Hand zeigte. Hinter einer Hecke hörte ich Stimmen. Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber anscheinend war es ziemlich unappetitlich, was Leo und Nicola in dem Abfluss des Beckens vorfanden. Der faulige Geruch wehte herüber, doch zum Glück verflog der Gestank, sobald sich der Rosengarten vor mir auftat. Er war kleiner, als ich erwartet hatte, dafür blühten die Rosen umso üppiger, und ich verbrachte eine Weile damit, an so vielen Blüten wie möglich zu riechen.

Ich schlenderte weiter zu einem Herrenhaus. Es bestand aus einem wuchtigen Hauptgebäude, an das sich ein niedrigerer Seitenflügel mit bodentiefen Fenstern anschloss. Das Haus wirkte ein wenig abweisend. Vielleicht lag es nur daran, dass nirgends Licht brannte, trotzdem ging ich schnell weiter.

Auf einem kleinen Platz stand ein Backsteinhäuschen, nein, es war mehr eine Art Pavillon, denn vorne stützten mehrere Säulen die hohe Decke. Um die Säulen rankte sich eine Kletterpflanze mit lilafarbenen Blüten. Drinnen war es ziemlich dunkel. Hoch oben an der Rückwand waren drei Fensteröffnungen eingelassen, durch die sich bereits die Blüten der Kletterpflanze schoben. Ich setzte mich auf eine steinerne Bank, stellte den Kaktus neben mich und zog die Beine an. Es roch feucht, doch das störte mich nicht weiter. Ich legte den Kopf auf die Knie und sah nach draußen. Allmählich veränderte sich der Himmel. Seine Farbe wechselte von Blaugrau über Dunkelviolett zu einem satten Tiefblau und mit jedem neuen Farbton wurde ich ein wenig ruhiger. Es war so schön, hier zu sein. Und noch besser war, dass ich diesmal auch bleiben würde. Denn eins war klar: Ich würde nicht so weitermachen wie bisher. Jedes Jahr umziehen, die Schule wechseln, immer neue Leute kennenlernen … Ganz gleich, wie viel Mühe ich mir gab, egal wie sehr ich mich anpasste, nie gehörte ich richtig dazu. Immer war ich die Neue. Und wenn es gerade anfing, anders zu werden, zogen wir wieder um. Ich hatte das alles so satt!

Draußen raschelte es, vielleicht wühlte sich eine Maus durchs Laub. Es war sowieso höchste Zeit zurückzugehen, ich musste ja noch den Weg zum Büro finden. Leo wartete bestimmt schon auf mich. Außerdem hasste ich es, im Dunkeln unterwegs zu sein, vor allem allein. Aber es war einfach zu schön hier, auch wenn ich langsam einen kalten Po bekam. Nur noch einen klitzekleinen Moment, dann würde ich losgehen.

Etwas flog am Eingang vorbei, verschwand aus meinem Blickfeld und kehrte kurz danach wieder zurück. Für eine Fledermaus war es zu groß, aber was war es dann? Wieder bemerkte ich die Bewegung, es war eindeutig etwas Großes, was da über den Platz schwirrte. Meine Hände zitterten leicht, trotzdem zwang ich mich, die paar Schritte nach draußen zu gehen. Doch das, was ich als Nächstes sah, ließ mich alles andere vergessen. Eine Eule! Sie segelte nur wenige Meter von mir entfernt durch die Luft. Es war eine richtige Eule! Trotz ihrer Größe war sie wendig und schnell, sie sauste hin und her und schlug Haken, nur um im nächsten Augenblick urplötzlich nach unten zu schießen.

Ob sie bemerkte, dass ich ihr zusah?

Hoffentlich kam sie mir mit ihren Krallen nicht zu nah! Die waren bestimmt lang und spitz. Gruselig! Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie sie sich in meinen Haaren verfingen.

Doch die Eule war nicht das kleinste bisschen an mir interessiert. Bestimmt war sie auf der Jagd und besorgte sich ihr Abendbrot. Wie still sie war! Ich hörte kein Geräusch, noch nicht mal ein Flügelrauschen.

Noch nie hatte ich so einen Wildvogel aus der Nähe beobachtet. Oder doch, einmal schon. Leo und ich hatten vor einem Käfig gestanden, in dem mehrere Eulen bewegungslos auf Baumstämmen saßen. Ich muss noch ganz klein gewesen sein, denn Leo trug mich auf den Schultern, während ich mich nach vorn beugte und mit den Fingern am Käfigdraht festkrallte.

Es war unheimlich, wie die Eule lautlos vor dem dunkler werdenden Himmel auf und ab glitt, dennoch musste ich sie immerzu anschauen.

Doch im nächsten Moment war das Schauspiel vorbei. Die Eule war verschwunden. Wo war sie jetzt? Saß sie oben auf dem Dach und guckte auf mich hinunter? Keine angenehme Vorstellung! Vielleicht war sie aber auch einfach nur weitergeflogen.

Ich wartete noch einige Minuten, doch sie kam nicht zurück.

Kapitel 4

Etwas fehlte. Nein, es fehlte nicht, es war nur anders als sonst. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und richtete mich auf.

Es war der Kaktus. Wenn ich aufwachte, war er sonst immer auf meinem Nachttisch. Jetzt stand die Kugel mit den zwei stacheligen Ohren vor dem Dachfenster, denn gestern Abend hatte ich beim besten Willen keinen anderen Platz mehr für sie gefunden.

Bücherberge umlagerten das Bett, das einfach aus mehreren Holzpaletten mit einer Matratze darauf bestand. Direkt am Fußende gab es eine weinrote Kommode und damit war die winzige Kammer auch schon ausgefüllt. Trotzdem hatte Leo es geschafft, noch jede Menge Klamotten und anderen Krimskrams darin zu verteilen.

Ich grinste. Wenn das Mum sehen würde. Die erzählte ja immer noch, wie sehr sie unter ihrem unordentlichen jüngeren Bruder gelitten hatte. Mum …

Mein Magen verkrampfte sich. Sofort war alles wieder da, all die Streitereien der letzten Wochen. Ob ich zu Hause anrufen sollte? Nein, lieber nicht, sonst überredeten sie mich vielleicht, dass ich doch noch zurrückkehrte. Jetzt bloß nicht darüber nachdenken, dann war der Tag gleich im Eimer.

Ich kroch aus dem Bett, schlurfte zum Fenster und steckte den Zeigefinger in den Blumentopf. Der Kaktus war feucht genug, Wasser brauchte er erst einmal nicht.

Verwunschene Gärten fand ich ja toll, aber leider hieß das noch lange nicht, dass ich mich mit Pflanzen auskannte, im Gegenteil. Bei jedem Umzug waren mir Zimmerpflanzen eingegangen und nun war fast keine mehr übrig. Dabei zogen andere Leute doch auch um. Schafften die sich jedes Mal neues Grünzeug an? Jedenfalls waren der Kaktus und ich übrig geblieben, und das war immerhin besser als gar nichts.

Unten klapperte Geschirr und ein Moderator von BBC 6 kündigte den nächsten Song an. Wie auf ein Stichwort knurrte mein Magen und erinnerte mich daran, dass es höchste Zeit fürs Frühstück war.

Auf dem Treppenabsatz versperrte mir ein riesiger Drachenbaum den Weg. Vorsichtig wand ich mich an ihm vorbei. Leos Pflanzensammlung war hier nicht kleiner geworden, im Gegenteil! In jeder verfügbaren Ecke stand ein Topf mit etwas Grünem drin.

Leo grinste breit, als ich in die Küche kam. »Seit wann schläfst du länger als ich?«

»Das war nur eine Ausnahmesituation. Seit wann stehst du vor Sonnenuntergang auf?«

»Na ja, ich bin jetzt seriös geworden. Seltsamerweise erwarten Arbeitgeber von einem, dass man pünktlich zum Job erscheint. Jedenfalls muss ich heute rechtzeitig da sein, ich habe gleich noch einen Termin.«

Unter dem Tisch miaute es. »Ah, wo wir gerade beim Thema Arbeitgeber sind: Carrot will sein Frühstück.«

Carrot? Im nächsten Moment entdeckte ich den orangefarbenen Kater zu meinen Füßen. Es war sofort klar, woher er seinen Namen hatte, abgesehen davon ähnelte der Farbton Leos lockigem Rotschopf. Mum und er haben die gleiche Haarfarbe, die übrigens auch ich hätte haben sollen. Wozu hieß ich Ruby? Okay, statt irgendeines Rottons wäre ich auch mit Dads Dunkelbraun zufrieden gewesen. Alles wäre besser als das schmutzige Blond, das ich stattdessen abbekommen hatte.

»Seit wann hast du ihn?«

Leo kratzte mit einem Esslöffel einen Rest Katzenfutter aus der Dose und füllte ihn in eine angeschlagene Porzellanschale.

»Carrot? Erst seit ein paar Wochen. Solange ich sein Dosenöffner bin, lässt er mich gnädigerweise hier wohnen. Mit meinem Grünzeug versteht er sich auch, nur um die fleischfressenden Pflanzen macht er einen Bogen, seitdem er mal seine Pfote in eine gesteckt hat.« Er lachte sein typisches, unbeschwertes Leo-Lachen und drückte mir einen Becher Tee in die Hand. Ich kraulte Carrot hinter den Ohren, während er sein Frühstück verdrückte. Der Kater ließ sich das gefallen, bis er sich urplötzlich umdrehte, mit der Pfote auf meinen Handrücken tippte und durch die Katzenklappe stolzierte, über die jemand mit Filzstift »Carrot only« gekritzelt hatte.

»Willst du deine Mum heute anrufen?«, fragte Leo und stellte mir eine Schale Haferbrei hin. Mit Milch, Apfelstücken, Honig und einer Prise Zimt – haargenau, wie ich ihn mochte. Mum hatte sich das bis heute nicht gemerkt.

Früher hatte Leo bei uns gewohnt und immer auf mich aufgepasst, denn Mum und Dad hatten wie verrückt gearbeitet und waren ständig herumgereist. Leo hatte neben seinem Studium noch jede Menge Zeit, deshalb war es für alle praktisch.

Er kochte immer tolle Sachen für uns beide, Spaghetti mit Tomatensoße zum Beispiel. Und er machte das weltbeste Frühstück. Obwohl mir nun der Duft betörend in die Nase stieg, stocherte ich lustlos in dem Brei herum.

»Nö. Oder mal sehen«, murmelte ich. »Ich habe ihnen gestern geschrieben, dass ich gut angekommen bin. Das reicht doch erst mal.«

»Wie ich Melissa kenne, wird sie schon ein bisschen mehr erwarten.«

»Mir doch egal. Wollte ich plötzlich nach New York ziehen oder sie?«

»Den beiden ist ihre Arbeit eben sehr wichtig.«

»Wichtiger als ihre einzige Tochter«, sagte ich giftig.

»Ach, Kleines, das renkt sich bestimmt wieder ein.« Leo wuschelte mir durchs Haar. »Jetzt machst du dir erst einmal richtig schöne Ferien. Redmoor ist einfach fantastisch. Das Gelände ist riesengroß und es gibt die verrücktesten Pflanzen. Gigantische Mammutblätter zum Beispiel.« Er riss die Arme auseinander, um mir die Größe zu zeigen.

Jetzt stürzte ich mich doch auf mein Frühstück, während er einen Flyer aus einem Stapel Unterlagen kramte und neben meine Schale legte.

Die Broschüre zeigte Kindergesichter vor einem Kletterbaum. Es sah ein bisschen kitschig aus, außerdem waren die Bilder leicht verwackelt. Keine Sternstunde der Fotografie. Im nächsten Moment war ich froh, dass ich das nicht gleich rausgehauen hatte.

»Die Fotos habe ich gemacht«, sagte er. »Es ist eine Info über eine Kinderrallye durch Redmoor. Dabei lernen die Kids den Garten richtig gut kennen. Besonders die spannenden Teile, wie den Dschungel, die Grotte, das Labyrinth und so. Redmoor ist ja größer als die meisten Parks, da bietet sich eine Rallye super an. Sieht doch cool aus, oder?«

Oje! Dabei konnte ich so schlecht lügen. Doch es half ja nichts. Offensichtlich war er richtig stolz auf seine selbst gebastelte Broschüre, da wollte ich ihn nicht enttäuschen.

»Echt toll.« Hm, da ging noch was. »Wirklich gelungen«, schob ich schnell nach. »Das haut mich richtig um.«

Er kicherte, also hatte ich es vielleicht ein wenig übertrieben.

»Hör mal, die Rallye findet heute statt und ich habe viel mehr Anmeldungen als erwartet. Eigentlich sollte ja nur Paul die Kinder durch den Garten lotsen. Aber jetzt dachte ich, wir machen einfach zwei Teams. Das ist sowieso spannender. Dann könnt ihr in zwei Gruppen gegeneinander antreten.«

Bis hierhin hatte ich mich zurückgelehnt, entspannt zugehört und mir dabei ausgemalt, wie ich den ersten vollen Tag in Redmoor verbringen würde. Jetzt fuhr ich auf.

»Wie? Was? Wieso gegeneinander antreten?«

»Ich dachte, du übernimmst die eine Mannschaft. Das ist doch eine tolle Gelegenheit, noch ein paar Leute kennenzulernen. Dann lebst du dich gleich schneller ein.«

Das eine hat mit dem anderen absolut nichts zu tun, das konnte ich leider aus bitterer Erfahrung sagen. Im Gegenteil. Manchmal macht das Kennenlernen alles andere nur noch schwieriger. Aber Leo sah nicht so aus, als wäre er für diese Erkenntnis gerade empfänglich.

»So etwas habe ich noch nie gemacht.« Noch gab ich mich nicht geschlagen. Noch nicht! Was wahrscheinlich auch der Joker bei seinem finalen Kampf gegen Batman gedacht hatte.

»Ach was«, widersprach er. »Paul gibt dir bestimmt ein paar Tipps.«

»Der? Das glaube ich im Leben nicht!«

»Komm schon, Ruby, das wird super. Es dauert doch auch nur ein paar Stunden.«

Ein paar Stunden? Das war ja ein halber Tag! Dabei hatte ich heute noch jede Menge anderer Sachen vor.

»Und außerdem …« Er zögerte.

»Was außerdem?«, hakte ich nach.

»Na ja, es wäre ganz schön, wenn das mit den Kinderrallyes gut anlaufen würde. Wir könnten noch ein paar zusätzliche Einnahmen gebrauchen. Manchmal müssen halt Fachleute her, auch wenn Nicola und ich schon eine Menge selbst machen.«

Das mit dem Selbermachen stimmte auf jeden Fall. Der Beweis dafür zog soeben als furchtbarer Gülle-Gestank durchs Haus, denn Leo hatte die Klamotten von gestern einfach nur vor die Waschmaschine geschmissen.

»So eine Gartenrestaurierung ist ganz schön teuer«, erklärte er und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein. »Aber es lohnt sich. Du hast ja gestern mitbekommen, was schon draus geworden ist.«

Stimmt, auch wenn ich liebend gern noch mehr gesehen hätte, doch das konnte ich heute nachholen. Gleich nach der Rallye, die würde ja hoffentlich nicht ewig dauern.

»Na gut, ich mach’s«, lenkte ich ein.

»Toll, dann können wir gleich los.« Er sprang auf und ging nach nebenan.

Ich stellte die leeren Schalen und den Topf mit den Haferbreiresten auf die Spüle. »Äh, und der Abwasch?«

»Ach, den machen wir heute Abend oder morgen, der läuft ja nicht weg. Ich muss nur noch mal eben mit May telefonieren.«

Huch, wer war das denn? Hatte er etwa eine Freundin?

»Wer ist denn May?«

»Pauls Großmutter. Sie war früher mal Gärtnerin in Redmoor«, kam es aus dem Wohnzimmer.

»Und warum willst du mit ihr sprechen?«

»May ist unser wandelndes Gartenlexikon. Zum Glück hilft sie in Redmoor noch oft aus. Momentan habe ich quasi eine Standleitung zu ihr, weil ich ständig irgendwelche Fragen habe. So lange mache ich den Job ja noch nicht. Und übrigens – ich wähle jetzt …«

Ach, so war das. Na dann war ja alles in Butter.

Während er am Telefon hing, rannte ich nach oben und holte den kleinen Notizblock aus der Tasche. Ich überflog das oberste

Blatt:

Nicht so viel Zeug mitschleppen

Im Zug: nicht mehr als drei Schokoriegel essen

Vor der Abfahrt kein Streit mit Mum und Dad!

Nichts davon war auch nur annähernd eingetroffen, aber darüber dachte ich lieber nicht weiter nach. Ich riss das Blatt ab, zerknüllte es zu einer winzigen, festen Kugel und zielte auf den übervollen Papierkorb neben der Tür. Daneben, aber egal.

Neuer Tag, neues Glück.

Ich notierte die Ziele des Tages:

Kinderrallye überstehen

Redmoor erkunden

Café ausprobieren

Da sollte eigentlich nichts schiefgehen.

Kapitel 5

Unter meinen Füßen schmatzte es, als freute sich die lehmige braune Erde gerade über einen besonderen Leckerbissen. So ein Mist, meinen weißen Sneaker würde ich mit Sicherheit nie wieder sauber bekommen, und das nur, weil ich auf den blöden Plan geguckt und nicht auf den Untergrund geachtet hatte.

Wir waren im Dschungel gelandet. Das war so nicht vorgesehen. Jedenfalls jetzt noch nicht.