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Der heftige Streit um die Zukunft Griechenlands wird über die nächsten Jahre die europäische Krisenpolitik bestimmen. Wie konnte es so weit kommen – und wer ist verantwortlich? Dieses Buch erzählt die Vorgeschichte und führt direkt hinein ins europäischer Strippenziehen. Die Brüssel-Korrespondenten Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung) und Raimund Löw (ORF) erzählen anhand geheimer Wortlaut-Protokolle, wie Merkel, Faymann und Co. um Staatsschulden pokern, Rettungsfonds mit Milliarden füllen und nationale Interessen gegeneinander ausspielen. Ein erhellender Insider-Report über Europas Machtzentrale und darüber, wer dort wirklich das Sagen hat. "Ein spannender Krisenbericht von zwei kompetenten Brüsseler Journalisten. Dieser Wirtschaftskrimi öffnet deutschen Lesern die Augen über die problematischen Seiten des Krisenmanagements ihrer Regierung." Jürgen Habermas "'Europas Strippenzieher' liest sich wie ein spannender Polit-Thriller mit Reportage-Einlagen: gut geschrieben, gut beschrieben, gut strukturiert. Eine lesenswerte Inside-Analyse des Brüsseler Mikrokosmos, die zu Recht vor Extremisten und Egoisten warnt." Jean-Claude Juncker "Nie zuvor ist so umfassend aus den vertraulichen Protokollen der EU-Gipfelkonferenzen zitiert worden. Merkel und Cameron, Holland und Faymann sind im ungeschützten Originalton zu lesen. Durch die exklusiven Quellen wird deutlich, wie die Staats- und Regierungschefs einer grundlegenden Reparatur der EU aus dem Wege gehen. Im Jahr der Europawahlen 2014 ein unverzichtbares Buch. Hugo Portisch, Journalist "Dieses Buch macht das Europäische Projekt als menschengemachten, daher fehlerhaften, gleichwohl historisch notwendigen Prozess einsichtig. Es wird bewirken, was Europa jetzt dringend braucht: eine profunde Diskussion statt einer Raserei von Meinungen." Robert Menasse, Schriftsteller und Essayist
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Über das Buch
Cerstin Gammelin und Raimund Löw sind seit Jahren Korrespondenten in Brüssel. Spannend und entlang vertraulicher Protokolle erzählen sie, wie 28 Staats- und Regierungschefs auf Gipfeltreffen um Staatsschulden pokern, Rettungsfonds mit Milliarden füllen und welche drastischen Mittel Angela Merkel gegen Defizitsünder durchsetzen will. Sie zeigen, wie die Europäische Kommission zum Einfallstor für Lobbyisten wird, sich die Tabak-Industrie das Wohlwollen der Mitgliedsstaaten erkauft oder Klimagesetze und Verbraucherschutz aufgrund nationaler Interessen ausgehebelt werden. Die Autoren skizzieren, wie eine gemeinsame Außen- und Sozialpolitik aussehen könnte und ob die Bankenunion ein Schritt hin zu den »Vereinigten Staaten von Europa« ist.
Durch die Wortlaute der Gipfel-Protokolle kommt man Merkel, Hollande und Faymann nahe wie nie zuvor und erhält ein bestechend scharfes Bild der Zeitgeschichte.
Über die Autoren
Cerstin Gammelin war Ingenieurin, bevor sie Journalistin wurde und für die Financial Times Deutschland und die ZEIT schrieb. Von deren Hauptstadtbüro in Berlin wechselte sie 2008 zur Süddeutschen Zeitung, für die sie seitdem aus Brüssel berichtet.
Dr. Raimund Löw ist Historiker und preisgekrönter Publizist. Er berichtete für den ORF aus Moskau, Washington, Lateinamerika und dem Nahen Osten. Seit 2007 ist er Büroleiter des ORF in Brüssel und moderiert die wöchentliche TV-Sendung „Inside Brüssel“.
Cerstin Gammelin/Raimund Löw
Europas
Strippenzieher
Wer in Brüssel wirklich regiert
Econ
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ISBN 978-3-8437-0683-4
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: Etwas Neues entsteht, Berlin
Umschlagfoto: © Martin Langer /VISUM
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eBook: LVD GmbH, Berlin
Prolog
Warum fühlt sich eine Regierungschefin mitten in der Nacht von Kollegen in Geiselhaft genommen? Warum wird ein distinguierter Volkswirtschaftsprofessor morgens um vier zum Fußballfan? Was lässt einen erfahrenen Unterhändler der Bundesregierung nervös in den Fahrstuhl flüchten? Was passiert wirklich, wenn sich Staatspräsidenten, Premierminister und Kanzler in Brüssel hinter verschlossenen Türen treffen?
Die in den Nachrichten verbreiteten Bilder von Europagipfeln kennt jeder: zwei gute Dutzend überwiegend dunkle Anzugträger plus wenige Damen, die sich zum Familienfoto auf die vom diplomatischen Protokoll sorgfältig mit Kärtchen markierten Plätze stellen. Vorne mittig die Staatspräsidenten, weil sie laut Protokoll den höchsten Rang haben, ringsherum die Premierminister. Ganz am Ende die Kanzler, das sind die protokollarisch am wenigsten wichtigen Chefs. Da stehen sie dann, 28 nationale Persönlichkeiten, zusammen mit den Präsidenten der Kommission, des Parlaments, des Rates. Sie lächeln oder nicken einander zu, wenden sich ab, schweigen – und entscheiden über die Zukunft von 506 Millionen Bürgern auf dem Kontinent.
Aber wie gehen die Mächtigen Europas abseits des Protokolls miteinander um? Wer bestimmt, wo es langgeht? Und wie wurden in den Krisenjahren von 2009 bis Mitte 2013 die Weichen gestellt? Beinahe monatlich kamen die Staats- und Regierungschefs in dieser Zeit zusammen, statt wie zuvor einmal im Quartal. Spannende und arbeitsreiche Zeiten für uns Brüssel-Korrespondenten. Nach der dramatischen Gipfelnacht des 29. Juni 2012 wächst unser Entschluss, dieses Buch zu schreiben.
Der 29. Juni 2012 ist die Nacht, in der Deutschland zuerst in der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien und anschließend Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutungshoheit über die Nachrichten aus Brüssel verliert. Die Nacht, in der sich der besonnene Mario Monti spontan zur Squadra Azzurra, der italienischen Nationalmannschaft, bekennt und die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sich in Geiselhaft genommen fühlt, weil die Südstaaten ultimativ Hilfe für ihre Banken einfordern. Die Zusammenkunft, die Angela Merkel veranlasst, nächtliche Pressekonferenzen einzuführen, um statt anderer selbst die Morgennachrichten zu Hause zu beherrschen, und damit ihren Stab in große Nervosität versetzt.
Unsere Geschichten stützen sich auf direkte Quellen. Auf Notizen, die dafür ausgewählte Diplomaten von Gipfelgesprächen anfertigen. Sie notieren, was gesprochen wird.
Es ist uns gelungen, streng vertraulich gehaltene Gipfelprotokolle zu lesen, die Einblick geben, wie es zugeht, wenn die Mächtigen zusammen am Tisch sitzen. Wer wem zur Seite springt. Ob es sie gibt, die Allianzen Nordeuropas gegen Südeuropa. Ob Merkel tatsächlich immer gewinnt und Frankreichs Staatspräsident François Hollande so schwach ist, wie es scheint. Und was Österreichs Kanzler Werner Faymann überhaupt bewegen kann.
Wir analysieren, wie 28 nationale Egoisten ihre heimischen Interessen auf europäischer Bühne verteidigen und wie sie dabei zu den größten Lobbyisten ihrer Heimatländer werden. Und wir gehen der Frage nach, ob Achim Greser und Heribert Lenz, deren Karikaturen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt werden, den Bürgern aus der Seele sprechen, wenn sie sagen: »Brüssel, das ist für uns so etwas wie eine Bad Bank, in der alles Schlechte und Giftige aus Europa gelagert wird und die dann niemand haben will.«
Für unser Buch haben wir mit einigen der Mächtigsten gesprochen, sowie mit hohen Beamten, Diplomaten, Sherpas und den Bürokraten im Maschinenraum der Europäischen Union. Nirgendwo sind Reporter so nahe bei Angela Merkel, dem britischen Premierminister David Cameron, François Hollande, Werner Faymann und ihren Kollegen wie in dem grauen Brüsseler Ratsgebäude. Oben sitzen 28 gewählte nationale Chefs, unten warten die Reporter. Zwischen den beiden Sphären wandeln EU-Diplomaten als Überbringer geheimer Botschaften. Sie erzählen nicht nur Brisantes, sondern auch Menschliches. Wie Spitzenpolitiker schon mal hadern, weil alles so kompliziert ist in Europa. Sie »sei an den Grenzen ihres fachlichen Verständnisses angelangt«, zitieren die Protokollanten Angela Merkel in einer schwierigen Verhandlungsphase über die neuen Bankenregeln beim EU-Gipfel am 26. Oktober 2011.1 Sie erzählen, dass der zyprische Präsident Dimitris Christofias gelobt werden will, weil er fast die Hälfte seines Kabinetts weiblich besetzt hat. Wie David Cameron die Einführung des Euro mit seiner Lebenszeit verknüpft. Wie froh einige Kollegen heimlich waren, dass Premier Silvio Berlusconi mit am Tisch saß, weil der Italiener »nicht so intellektuell daherkommt und die Anspannung gelegentlich durch einen Witz auflockert«.
Wer die Protokolle der Gipfel liest, kann die Erschöpfung nachvollziehen, die die Chefs befällt nach endlosen Diskussionen. Oder muss still lächeln, wenn nach immer neuen Plädoyers für milliardenschwere Konjunkturpakete Angela Merkel freundlich anmerkt, »dass man gerade auf Mikroebene viel für Wachstum tun könne«. Man hört sie dabei denken: Jungs, stopp jetzt, macht zuerst mal zu Hause was.
Wir waren dabei, als die Finanzkrise begann und der später sieglose Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, noch Bundesfinanzminister war und selbst nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman beinahe selbstherrlich erklärte, diese Bankenkrise sei eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir kennen die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung, die europäische Rente und das europäische Kindergeld und erzählen, warum dies alles gut versteckt in den Schreibtischladen der Europäischen Kommission liegt. Wir haben recherchiert, warum die Tabakindustrie Milliarden Euro an Brüssel und die Mitgliedsstaaten zahlt und warum die Europäische Kommission ein breites Einfallstor für Interessenvertreter jeglicher Art ist. Und wir haben nachgerechnet: 35000 Mitarbeiter hat die Europäische Kommission, Tausende sind Übersetzer für eine der 24 Sprachen, die in der Europäischen Union gesprochen werden. Alle europäischen Behörden zusammen haben 60000 Beamte – für 506 Millionen Bürger. Im unmittelbaren Landesdienst des Landes Berlin stehen 116000 Beamte (für 3,5 Millionen Bürger). Die Stadt Wien beschäftigt knapp 50000 Beamte und Vertragsbedienstete (für 1,7 Millionen Bürger). Das amerikanische Heimatschutzministerium, eines von vielen Ministerien der USA, beschäftigt 240000 Menschen.
Europas überbordende Bürokratie ist ein hartnäckiger Mythos. Ebenso wie die Vorstellung, dass die da in Brüssel, diese überbezahlten Beamten, sich krude Dinge ausdenken, die sich wie eine Plage in den 28 europäischen Ländern ausbreiten.
Wir sagen: Das stimmt so nicht.
Alles, was in Brüssel an Gesetzen, Verordnungen und anderem entschieden wird, basiert grundsätzlich auf Vorschlägen, die aus den nationalen Hauptstädten kommen. Die Europäische Kommission ist so etwas wie die Gesetzeswerkstatt der nationalen Regierungen. In der Behörde entstehen Rechtstexte, die danach abgestimmt werden unter den 28 nationalen Hauptstädten und meistens auch im Europäischen Parlament. Wer durch die teilweise futuristischen Gebäude der europäischen Institutionen läuft, fühlt sich schnell an Fritz Langs Filmklassiker Metropolis erinnert. An die Arbeiter im Maschinenraum. Emsig eilende, hin und her laufende, hoch und runter fahrende Beamte. Fahrstühle, Türen, Flure. Jeder verrichtet die immer gleichen Vorgänge. Redet über die immer gleichen Themen. Unwirklich für jeden, der nicht im europäischen Metropolis lebt. Es gibt die Welt hier und die Welt dort – und genau das ist eine der großen Gefahren, denen die Europäische Union ausgesetzt ist. Die Bürger fühlen sich nicht gemeint, wenn von Europa die Rede ist.
Wir erzählen, wie die Chefs im Krisenjahr 2008 ihre heimischen Banken so beschützen, wie sie in den 50er Jahren ihre Stahlwerke und in den 70er Jahren die Autohersteller protegierten. Und warum dieser Fehler die Währungsunion 2012 beinahe in den Bankrott trieb. Wir wissen, wie der Euro-Rettungsfonds zufällig mit 440 Milliarden Euro gefüllt wurde, und wir beschreiben, warum die Europäischen Verträge der Kitt der Gemeinschaft sind. Europas Verträge sind nicht dafür da, Punkt für Punkt eingehalten zu werden. Sie sind die Seele einer Gemeinschaft aus 28 sehr unterschiedlichen Ländern, von den Sonnenstränden Griechenlands bis zum Industriehafen Rotterdam oder von Lettland bis Portugal, die sich gegenseitig versprochen haben, friedlich miteinander zu leben, Handel und Wandel miteinander zu betreiben. Verträge geben den 28 Ländern einen Rahmen, in dem sich alle wiederfinden können. Die Nationen Europas müssen großzügig miteinander umgehen, um zusammenleben zu können. Die Krise hat dazu geführt, dass sie sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst geworden sind.
Brüssel ist ein Spiegelbild der Europäischen Union. Im Europa-Viertel rund um den Place Schuman schiebt sich Betonplatte für Betonplatte ein neuer Palast aus dem Boden. Touristen versuchen aus den Bussen einen Blick auf die EU zu erhaschen. Doch ein identitätsstiftendes Symbol wie das Brandenburger Tor in Berlin oder das Weiße Haus in den Vereinigten Staaten gibt es nicht.
240 Millionen Euro soll der neue Sitz für den Präsidenten des Europäischen Rates und seine Mitarbeiter am Place Schuman kosten. Seit der Erweiterung der Union um die neuen Mitglieder in Ost- und Mitteleuropa platzt das alte Gebäude aus allen Nähten. Natürlich ist die Großbaustelle inzwischen verspätet, wann genau eröffnet wird, ist offen. Also bis auf weiteres meterhohe Zäune, Betonpoller, ohrenbetäubender Baulärm, Trucks und Dreck überall.
Brüssel ist auch ein Schmelztiegel der Kulturen. Hier sind die Vorurteile fühlbar, die die Völker des alten Kontinents über einander haben, meist ganz charmant und gelegentlich lustig. Autofahrer in Belgien, die rechts überholen, niemals blinken und an roten Ampeln eine Vollbremsung hinlegen. Italiener, die noch nachts um zwei Uhr am Gepäckband des Flughafens ununterbrochen telefonieren. Ein österreichischer Weinhändler, der mit Schmäh seine heimischen Weine gegen die etablierte spanische und französische Konkurrenz durchsetzt. Franzosen, die als Mittagsgäste bei Schweden auf den ersten Gang – Fisch mit Kartoffelbrei – verzichten, um danach festzustellen, dass es der einzige war, und hungrig bleiben. Britische Reporter, die ihre Ellbogen ausfahren, um als Erste zu den neuesten Informationen vorzudrängen – und dann doch nicht als Erste senden können, weil die ausgegebenen Texte auf Deutsch geschrieben sind. Deutsche, die superpünktlich zum Treffpunkt kommen und dann fünfzehn Minuten alleine sind. Niederländer, die eine Restaurantrechnung auf den Cent genau aufteilen.
Brüssel ist gelebte Geschichte. Karl Marx wird verehrt, die Autorin fand in ihrer Straße Rue Jean D’Ardenne eine Ehrentafel an einem schönen Bürgerhaus und am berühmten großbürgerlichen Grand-Place ein überlebensgroßes Marx-Porträt in einem Sterne-Restaurant mit einem geschmiedeten Hinweisschild, dass dieser Herr hier über drei Monate verköstigt wurde und in einer der oberen Etagen arbeitete. Der deutsche Philosoph hat das Kommunistische Manifest in Brüssel geschrieben – und die Brüsseler sind stolz darauf. Durch keine Stadt sind im Laufe der Geschichte so viele Heere durchgezogen wie durch Brüssel und Umgebung, zwischen dem mächtigen Deutschland und Großbritannien, Frankreich und Spanien. Ludwig XIV. hat den Grand-Place, wo Zünfte ihre prachtvollen Gebäude errichteten, einst niedergebrannt. Dass die europäischen Institutionen an einem Ort sind, wo man auf den Straßen Französisch und Flämisch, Englisch und Deutsch hört, ist kein Zufall. In Belgien wird das Zusammenleben der Nationen, der Flamen, Wallonen und Deutschen täglich erprobt. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges und Waterloo sind nur wenige Kilometer entfernt. Heute noch beherbergt jedes zweite Familienhaus an den ehemaligen Frontlinien einen kleinen Soldatenfriedhof.
Die europäische Kleinstaaterei ist mitnichten vorbei. Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir beobachten, wie sich eine diffuse Stimmung gegen die Europäische Union und Brüssel ausbreitet. Enttäuschte Bürger wenden sich ab von dem, was sie für eine Bad Bank halten. Die 28 nationalen Egoisten sind in der Pflicht, Europa nicht nur als Wirtschaftsunternehmung zu betrachten, sondern als Miteinander unterschiedlicher Nationen, es als Gemeinschaft fühlbar zu machen. 2014 werden die europäischen Karten neu gemischt. Europäische Wahlen. Neues Spitzenpersonal. Und eine neue Chance, einfach großzügiger miteinander umzugehen.
Cerstin Gammelin, Raimund Löw
Brüssel, im Januar 2014
PS: Dass unser Verlag das gleiche Buch unter den zwei Titeln »Europas Strippenzieher« (Deutschland) und »Europas Drahtzieher« (Österreich) veröffentlicht, zeigt die kulturelle Vielfalt selbst innerhalb der gleichen Sprache. Die Autoren haben beim Schreiben ein Gefühl dafür bekommen, wie schwierig es sein muss, unter 28 einen Kompromiss hinzubekommen. Unser Respekt vor der Ausdauer der europäischen Protagonisten ist gewachsen, als wir feststellten, wie kompliziert es ist, wenn eine Deutsche und ein Österreicher, also zwei, die noch dazu die gleiche Muttersprache sprechen, sich auf Bewertungen einigen müssen. Dass die Autoren aus verschiedenen Ländern kommen, mit ihren unterschiedlichen Zugängen, hat die Arbeit an diesem Buch spannend und das Produkt, so hoffen wir, besser gemacht. Sozusagen ein europäischer Kompromiss.
Allianzen – wie Europas Chefs miteinander umgehen
Am 28. Juni 2013 gegen zwei Uhr morgens steht der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann müde vor der Kamera. Es war eine lange Gipfelnacht, Europas Präsidenten, Premierminister und Kanzler wollen in die Hotels. Zuvor erledigen sie die letzte Pflicht: Sie stellen sich vor Kameras, bieten Bilder für die Frühnachrichten und verkünden ihren Bürgern daheim, was sie erkämpft haben in Brüssel. Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt eine Pressekonferenz. Faymann genügt ein Stopp am Ausgang des Ratsgebäudes. Während er konzentriert seine Botschaft formuliert, kommt Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker vorbei. Er will wohl auch in die Nachrichten – jedenfalls schlägt Juncker dem Österreicher unvermittelt von hinten mit einem Dokumentenstapel auf den Kopf, lächelt in die Kamera und geht weiter. Faymann zuckt, schaut überrascht – und macht weiter. Die Kamera ist ja an.
Tätliche Angriffe sind nicht üblich, wenn die Regierungschefs in Brüssel zum Europäischen Rat zusammenkommen – so heißen die Gipfeltreffen offiziell. Aber die Entscheidungen, die sie fällen, sind mitunter hart, der Ton gelegentlich rau.
Um die vierteljährlichen Gipfel der europäischen Präsidenten, Premierminister und Kanzler ranken sich viele Mythen. Niemand weiß genau, was die Herrschaften da oben in der fünften oder achten Etage des Brüsseler Ratsgebäudes in langen Nachtstunden wirklich besprechen. Offizielle Wortprotokolle oder Tonbandaufnahmen gibt es nicht.
Sicher ist, dass von den Arbeitssitzungen der Chefs vertrauliche Protokolle angefertigt werden, die anschließend unter hermetischen Verschluss kommen. In diesem Buch sind Auszüge aus diesen vertraulichen Mitschriften, den sogenannten Antici-Protokollen,* erstmals nachzulesen. Sie zeigen, wie stark nationale Interessen die Treffen dominieren, wie sich die Elite am Gipfeltisch wenig zimperlich gibt und wie langweilig es sein kann, wenn sich alle 28 melden, um ihre Meinung kundzutun. Die Protokolle zeigen, wie nahe die Währungsunion im Jahr 2012 am Abgrund stand und dass der Euro nur bestehen bleiben wird, wenn sich die Länder der Währungsunion zu einer politischen Union zusammenfinden. Sie belegen, wie Merkel um den Euro kämpft und wie empört die Kollegen sind, als die deutsche Regierungschefin Verletzungen der Haushaltsdisziplin mit Menschenrechtsverletzungen gleichstellen und ebenso streng ahnden will.
* Antici heißen im EU-Jargon die engsten Mitarbeiter der Botschafter. Der Name geht auf den italienischen Diplomaten Paolo Massimo Antici zurück, der in den 1970ern das System der Protokolle erfand. Während die Staats- und Regierungschefs beraten, warten in einem Nebenraum die »Antici«-Protokollanten der 28 Mitgliedsstaaten (also pro Land ein Antici-Mitarbeiter) auf den Bericht des Antici-Kollegen des Europäischen Rates, der mit den Chefs im Raum sitzt und alle fünfzehn Minuten einen mündlichen Bericht von den Gesprächen drinnen gibt. In dieser Zeit wird er durch einen weiteren Antici-Kollegen im Sitzungssaal vertreten. Die protokollierten Aussagen der Chefs werden von nationalen Antici-Mitarbeitern um Zusatzinformationen angereichert, die sie selbst berichtet bekommen haben, etwa von nationalen Diplomaten oder Regierungsberatern, die kurz im Gipfelsaal waren. Alles wird an die zuständigen Spitzendiplomaten des jeweiligen Landes weitergeleitet. Botschafter, Kabinettchefs und Experten warten ein paar Stockwerke entfernt in den Delegationsbüros, auf die Nachrichten aus dem Verhandlungssaal. Die Informationen werden nach einem System der stillen Post weitergegeben. Kein Antici-Protokollant hat selbst gehört, was er niederschreibt. Die vertraulichen Antici-Protokolle kommen trotzdem einem hautnahen Bericht der Diskussionen zwischen den Chefs am nächsten. Deshalb haben wir die oft in indirekter Rede protokollierten Wortmeldungen in wörtliche Rede gestellt. Dieses Buch stützt sich auf diese für Journalisten sonst nicht zugänglichen Quellen.
Sie zeigen, dass jeder Chef eine Stimme in der Runde hat, aber dass nicht alle gleich sind – und den Chefs der kleineren Länder meist nichts bleibt, als denen der großen zu folgen.
Besonders Vertreter der großen Länder rangeln um die Macht am Sitzungstisch. Als Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy die ständigen Belehrungen des britischen Premiers David Cameron zur Euro-Rettung – »Wir brauchen große und kühne Taten« – zu sehr nerven, blafft der Franzose den Briten vor allen Kollegen an, er habe »eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten. Wir haben es satt, dass Sie uns ständig kritisieren und sagen, was wir tun sollen. Sie sagen, Sie hassen den Euro, und jetzt mischen Sie sich in unsere Sitzungen ein.«1
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist nicht zimperlich, allerdings bringt sie Cameron auf ihre eigene, indirekte Art zum Schweigen. Sie stellt ihm kurzerhand ein Ultimatum: mitzahlen oder schweigen. Als Cameron ungeachtet des permanenten deutschen Widerstands vehement darauf drängt, den Euro-Rettungsfonds EFSF auf 2000 bis 3000 Milliarden Euro aufzufüllen, lässt Merkel Cameron keine Wahl: »Entweder wir belassen den Fonds, wie er ist, ohne auf 2000 bis 3000 Milliarden Euro zu gehen, oder wir einigen uns, dass auch die Nicht-Euro-Länder einzahlen.«2 Cameron versteht die Botschaft – und schweigt danach.
Es ist die Zeit, in der einige Chefs auch darüber grübeln, wie der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi loszuwerden ist, weil der sich nicht um die Krise schert und auch nicht um den Euro.
Berlusconi weiß das und wehrt sich auf seine Weise – er macht sich einen Spaß daraus, Sarkozy öffentlich zu demütigen. Anders als abgesprochen, sorgt er nicht dafür, dass der Italiener Lorenzo Bini Smaghi einem Franzosen Platz macht im mächtigen Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB). Sarkozy dagegen hält sich an die Absprache, den Italiener Mario Draghi als neuen Präsidenten der Notenbank zu unterstützen. Also gibt es plötzlich zwei Italiener und keinen Franzosen in der Chefetage der mächtigen Notenbank.
Sarkozy ist außerordentlich wütend und redet dem italienischen Premier ins Gewissen, einzuhalten, was er versprochen hat. Berlusconi brüstet sich darauf vor italienischen Journalisten, wie er den französischen Präsidenten ins Leere laufen lässt. »Sarkozy begann verärgert zu werden. Da habe ich irgendwann zu ihm gesagt: Was soll ich tun? Smaghi umbringen?«
Europäische Gesprächstherapien
Wenn die Chefs sich in Brüssel in der 5. Etage des Ratsgebäudes an den großen Tisch setzen, liegt meist eine lange Nacht vor ihnen. Die Gründe sind numerisch wie menschlich schlicht: Jeder der 28 Staats- und Regierungschefs will auch mal was sagen. Ebenso der Sitzungsleiter, EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy. Und dann sitzen da noch die Präsidenten der EZB und der EU-Kommission. Wenn einunddreißig Persönlichkeiten jeweils nur zehn Minuten reden, sind das fünf Stunden. Fünf Stunden ohne Pausen, wohlgemerkt. Das kann leicht ermüden.
Außerdem geht es am Versammlungstisch nicht immer um welt- oder europabewegende Dinge, wie aus den vertraulichen Protokollen der Arbeitssitzungen hervorgeht. Jeder der Chefs hat auch seine ganz persönlichen Bedürfnisse. Zyperns Präsident Dimitris Christofias etwa will im Oktober 2012 einfach mal gelobt werden. Er ist der erste EU-Ratspräsident in der Geschichte seines Landes und bemüht sich redlich, die Geschäfte der Gemeinschaft während des halbjährlich rotierenden Vorsitzes gut zu führen. Es klappt mehr schlecht als recht. Aber als die Chefs Frauenquoten diskutieren, da will der Präsident ganz vorn mitmischen. Frauenförderung sei selbstverständlich auf Zypern, die Insel führend in Europa, sagt er stolz. »Vierzig Prozent seines Kabinetts seien Frauen. Auch das Präsidentschaftsteam sei größtenteils weiblich.«3 Die Kollegen nicken freundlich.
Ungarns Premier Viktor Orbán nutzt die Runde gelegentlich, um sich gegen angebliche Einmischungsversuche in innere Angelegenheiten zu verwahren. Seit Orbán mit absoluter Mehrheit regiert, machen sich die europäischen Kollegen Sorgen um dessen Umgang mit demokratischen Grundrechten. »Ungarn fühlt sich europäischen Werten und Gesetzen verpflichtet und für eine Zusammenarbeit offen«, belehrt Orbán auf dem Gipfel März 2013 die Runde. Es sei falsch, wenn EU-Parlamentspräsident Martin Schulz das Gegenteil behaupte, und erst recht ohne Grundlage, wenn vier Mitgliedsstaaten neue Sanktionen gegen Ungarn anregten. Und dann notieren die Protokollanten seinen Gegenangriff: »Ungarn hat niemals in das Verfassungssystem anderer Staaten eingegriffen. Ungarn kann daher nicht akzeptieren, dass andere Mitgliedsstaaten uns diktieren, was in die Verfassung zu schreiben ist.«4
Es sind so unterschiedliche Wortmeldungen wie diese aus Zypern und Ungarn, die für den Seelenfrieden einzelner Staats- und Regierungschefs wichtig sind. Von »europäischen Gesprächstherapien« sprechen langjährige Diplomaten in Brüssel. Sie seien »ein riesiger Fortschritt gegenüber früheren Zeiten, als sich die europäischen Nachbarn gegenseitig bekriegten und über den Zaun schossen.«5 Heute sind die alten Rivalen bereit, beinahe monatlich zusammen an einem Tisch zu sitzen. Nationale Interessen werden mit anderen Mitteln durchgesetzt.
Die Gipfel der Chefs in Brüssel sind wichtig, weil 28 nationale Egoisten sich Zeit nehmen, einander zuzuhören, ohne dass alles in Beschlüsse mündet. »Den größten Teil der vielen, vielen Stunden sitzt man bei Mittagessen oder Abendessen, bei denen das Essen nicht das Entscheidende ist. Es ist nicht einmal besonders gut. Die nächtelangen Sitzungen werden immer wieder unterbrochen, weil jemand mit jemandem reden will, weil etwas neu formuliert werden muss. Dann wird im informellen Rahmen diskutiert. Bei der formellen Sitzung ist eigentlich alles vorbesprochen, jeder weiß ungefähr, was passiert. Es ist ganz selten, dass da noch ein Konflikt ausbricht«, sagt Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ).6
So lernt man sich kennen und mögen. Oder eben nicht mögen. Sitzungsleiter Van Rompuy legt Wert darauf, nach Regierungswechseln die Neuen am Tisch ausführlich zu begrüßen. Für den neugewählten französischen Präsidenten François Hollande organisiert er Ende Mai 2012 sogar einen kleinen EU-Gipfel. Ansonsten begrüßt er Neulinge auf regulären Treffen. Allein zum Gipfel Mitte März 2013 sind es drei, sie kommen aus Malta, Zypern und Bulgarien.
Es ist nicht leicht, 28 starke Persönlichkeiten mit jeweils eigenen nationalen Interessen an einem Tisch zu haben. Um die Herrschaften überhaupt zu einem gemeinsamen Ergebnis zu bringen, muss der oberste Gipfelorganisator, der EU-Ratspräsident, viel Fingerspitzengefühl zeigen. Der Chef-Dompteur ist idealerweise selbst Regierungschef gewesen, er muss klug sein, empathisch, verhandlungsstark und zugleich willens, sich zurücknehmen zu können und die nationalen Egoisten im europäischen Glanz stehenzulassen.
Der frühere belgische Premierminister Herman Van Rompuy ist der erste Ratspräsident seit Gründung der Europäischen Union. Er hat viele Jahre in der subtil intriganten belgischen Politik in Spitzenpositionen überlebt und dabei eine stabile Regierung geführt, was ihn in besonderer Weise auch für das europäische Amt qualifiziert.
Merkel bescheinigt dem Belgier diplomatisches Gespür. Sie schätze Van Rompuy als »einen sehr geschickten Verhandler«, lässt sie auf Nachfrage mitteilen. In seinen Dokumenten »spiegelt sich immer auch seine tiefe Kenntnis der einzelnen Mitgliedsstaaten und ihrer ganz eigenen Emotionen wider«. Er gebe »jedem, ob Vertreter eines großen oder eines kleinen Landes, das Gefühl, in diesem Kreis, in diesem Europa wichtig zu sein«.7
Van Rompuy zeigt sich großzügig, wenn sich gelegentlich einer der Chefs ausklinkt und sich im Delegationsbüro aufs Ohr legt. Und es ist fast schon eine Tradition, dass ab 2 Uhr morgens Gesandte durch die Flure huschen und bei den Delegationsbüros der europäischen Nachbarn auf der Suche nach Kaffeepads oder Gummibärchen anklopfen.
Nicht immer hat Van Rompuy in den Sitzungen das Sagen. Vor allem, wenn es Merkel zu lang dauert oder zu weit geht, beendet sie schon mal selbst die Debatte, ebenso wie früher Sarkozy.
Wie am 10. Juni 2009, es ist der zweite und damit letzte Tag eines Gipfeltreffens, am frühen Nachmittag soll Schluss sein. Die Chefs stimmen die Abschlusserklärung ab, sie feilschen um jedes Wort für die Botschaft an die Bürger. Bei Paragraph 20, es geht um das neugeschaffene Frühwarnsystem gegen weitere Finanzkrisen, zögert Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, dienstältester Premierminister in der Runde und Mitbegründer des Euro:8 »Was bedeutet proportionale Entscheidungsfindung?« Der britische Premier Gordon Brown fängt an, umständlich zu erklären: »Proportional bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den nationalen Aufsichtsbehörden und die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, die diese haben.« Das Gipfelprotokoll vermerkt an dieser Stelle nicht den Gesichtsausdruck Junckers, aber offenbar muss er wenig überzeugt geschaut haben. Der Macher Sarkozy fühlt sich bemüßigt einzugreifen. »Das ist ein Kompromisstext«, stoppt er ungeduldig die Diskussion. »Es ist wahr, dass der Text vielleicht nicht sehr klar ist, auch juristisch ist er vielleicht nicht ganz klar. Aber es ist eine gute Basis, die Europa erlaubt, einen qualitativen Sprung zu machen.«
Danach ist Stille. Das Protokoll vermerkt: »Annahme ohne Änderung«. Sarkozy hat sich durchgesetzt.
Ähnlich macht es Merkel auf dem Gipfel am 26. Oktober 2011. Es geht darum, wer das Geld für die Rettung geschäftsunfähiger Banken bereitstellen soll. Es ist eine Diskussion, die Merkel nicht mag, weil sie dabei stets in eine Verteidigungsposition rutscht und das deutsche Credo wiederholen muss, dass jedes Land für seine Banken zuallererst selbst verantwortlich ist. Als der Spanier José Luis Rodríguez Zapatero unermüdlich darauf dringt, den ausgehandelten Text erneut zu ändern, wird sie energisch. »Ich bin an die Grenzen meines fachlichen Verstandes gelangt.« Alle hätten Zeit genug gehabt, die Vorschläge zu prüfen. »Wir können die Effekte einer Textänderung nicht abschätzen, daher sollte der Text so bleiben, wie er ist.«9 Ende der Diskussion.
Ein paar Tage später geht sie sehr diskret auf Zapatero zu. Merkel kennt die Lage in Spanien ganz genau. Sie weiß, dass der Sozialist Zapatero sein Amt bei den vorgezogenen Wahlen im November wahrscheinlich an den konservativen Kandidaten Mariano Rajoy verlieren wird – und dass die Zinsen und Risikoaufschläge für spanische Staatsanleihen tief in die Gefahrenzone gerutscht sind. Auf dem G20-Treffen am 3. November 2011 in Cannes bietet sie dem Sozialisten offen einen Milliardenkredit an. Zapatero beschreibt die Szene in seinen Ende 2013 veröffentlichten Erinnerungen so: »Sie begrüßte mich freundlich und machte mir fast ohne Umschweife ein Angebot, auf das wir zuvor keinerlei Hinweis bekommen hatten. Sie fragte mich, ob ich bereit wäre, beim IWF [Internationalen Währungsfonds] einen Präventivkredit von 50 Milliarden Euro zu beantragen. Weitere 85 Milliarden würden dann an Italien gehen.«10 Der Sozialist lehnt Merkels Angebot ab wie zuvor schon die Angebote von Dominique Strauss-Kahn (damals Chef des IWF) und von Jean-Claude Trichet (damals Chef der EZB). Er will seinen Bürgern keine finanzielle Zwangsjacke verpassen. Auch sein Nachfolger Rajoy widersetzt sich vehement einer »Rettung« durch Notkredite, mit den gleichen Argumenten wie Zapatero: Souveränität, Selbstachtung, kein Diktat der Haushaltsführung durch die Troika, also die Experten des IWF, der Europäischen Kommission und der EZB. Die Kontrolleure werden in jedes kriselnde Land geschickt, um die Bedingungen für die Zahlung der Notkredite auszuhandeln.
Allianzen für und gegen die Atomkraft
Oft geht es bei den Gipfeln hart zur Sache. So hart, dass sich die Chefs an einem einzigen Satz festdiskutieren, etwa um die nationale Wirtschaft zu schützen. Wie auf dem Gipfel Ende Juni 2012. Die Euro-Krise dominiert das Treffen, Italien und Spanien stehen kurz vor der Pleite, aber unter dem Tagesordnungspunkt »Sonstiges« geht es auch um Europas Atomkraftwerke und darum, ob diese sicher sind. Ein heikles Thema. Der Streit dreht sich darum, ob die Stresstests, die nach der Katastrophe von Fukushima in den europäischen Kernkraftwerken durchgeführt wurden, jetzt für abgeschlossen erklärt werden können. Dazu muss man wissen: Für den Stresstest mussten die Betreiber vor allem Fragebögen ausfüllen, bei wenigen AKWs gab es Inspektionen vor Ort. Um es noch einmal ganz präzise zu sagen: Die Chefs streiten nicht um die konkreten Ergebnisse oder die tatsächliche Sicherheit, sondern allein um den politischen Beschluss: Sind die Stresstests abgeschlossen?
Der Streit liefert ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie in Europa Allianzen aus nationalen Interessenlagen heraus gebildet werden. Das ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, ja sogar nötig, etwa wenn um Kompromisse für Wachstumsprogramme, Staatsbeihilfen, Agrargelder oder Ähnliches gestritten wird. Aber bei der Sicherheit von Atomkraftwerken liegt die Sache anders. Ein Unfall kann in ganz Europa dramatische Folgen haben. Die Strahlung macht nicht halt an der Grenze. Hier muss das Interesse der Gemeinschaft vorrangig sein, müssen die Bürger in ganz Europa sich auf höchste Standards verlassen können. Und dennoch teilen sich die Staats- und Regierungschefs in ihrer Debatte um die Stresstests auf jenem Gipfel in zwei von nationalen Interessen geleitete Lager: Länder mit Atomkraftwerken halten die freiwilligen Tests für ausreichend und abgeschlossen. Weil sie fürchten, dass millionenschwere Nachbesserungen auf sie zukommen könnten. Oder weil Risiken bestehender Kraftwerke den Bau geplanter Kraftwerke noch teurer machen könnten. Im anderen Lager sammeln sich die Länder, die keine Atomkraft haben oder aussteigen wollen: Sie behaupten das Gegenteil.
Strittig ist den geheimen Gipfelprotokollen zufolge zunächst der Satz: »Die Europäische Kommission und Ensreg [Gruppe der europäischen Aufsichtsbehörden für nukleare Sicherheit] sind übereingekommen, dass weitere Arbeit nötig ist.«11 Dies impliziert, dass die Atomkraftwerke noch nicht komplett getestet wurden – oder aber dass Fehler, Unklarheiten oder Gefahren festgestellt wurden. Daraus ergibt sich die Frage: Darf man den Bürgern schon den erfolgreichen Abschluss der Stresstests vermelden – oder nicht?
Großbritanniens Premier David Cameron sitzt verärgert in der Runde. Nicht nur dieser Satz, die gesamte Passage in den Schlussfolgerungen zur Kernenergie gefällt ihm nicht. Was nicht verwunderlich ist. Cameron plant neue Kernkraftwerke für Großbritannien, konkret in Hinkley Point an der britischen Südwestküste. Das ist schwierig genug, weil die Investoren zögern – neue Meiler lohnen sich ohne staatliche Finanzspritzen nicht. Cameron will in der Gipfelrunde verhindern, dass ihm jetzt noch bürokratische Atomkraftwerk-Stresstester aus europäischen Institutionen in die Quere kommen, und fordert, jedes Land solle selbst für sichere Kraftwerke sorgen. Er diktiert: »Sicherheit ist nationale Kompetenz.«12
Faymann durchschaut den Ablenkungsversuch. Für ihn sind die Stresstests nicht beendet. Der Österreicher fordert, das Wort »Abschluss« komplett aus dem Absatz rauszunehmen, in dem über die Stresstests befunden wird. Faymann holt sich Barroso als Verbündeten: »Kommissionspräsident Barroso hat schließlich persönlich einen Brief geschrieben, dass die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist.«
Barroso unterstützt Faymann: »Es ist eine sensible Materie, die Tests sind nicht abgeschlossen. Das ist auch die Meinung der nationalen Aufseher. Die Aufseher und die Kommission sind übereingekommen, verschiedene Reaktortypen mit grenzüberschreitenden Auswirkungen zu untersuchen. Es wird zusätzliche Vor-Ort-Besuche geben, einen Aktionsplan und Empfehlungen, wo weitere Arbeiten notwendig sind.«
Der slowakische Premier Robert Fico will davon nichts hören. »Die Stresstests sind für die Slowakei und Tschechien mit exzellenten Resultaten abgeschlossen worden. Man will nicht den Eindruck erwecken, dass etwas nicht funktioniert. Nuklearsicherheit soll nicht politisiert werden.« Auch der Tscheche Petr Nečas will keine Änderung akzeptieren. Was nicht überrascht. In beiden Ländern stehen Atomreaktoren.
Der französische Präsident François Hollande merkt knapp an, »die Tests sind abgeschlossen. Im Fall Frankreich ist alles in Ordnung.« Frankreich ist Europas Nuklearnation Nummer eins, 70 Prozent der Elektrizität kommen aus Atomkraftwerken. Der Sozialist bekommt Unterstützung aus dem Nachbarland Belgien, das ebenfalls Atomkraftwerke betreibt: Premier Elio Di Rupo befindet die Tests ebenfalls für abgeschlossen. Cameron schaltet sich ein weiteres Mal ein. Er will die Diskussion endlich beenden und verweist auf den im Juni von den Aufsehern vorgelegten Bericht, wonach die Tests abgeschlossen seien.
Die Diskussion scheint festgefahren, da schlägt der Slowake Fico einen verbalen Ausweg vor: »Stresstests sind nicht gleichzusetzen mit Kontrollvisiten, die ja weitergeführt werden können.« Also: Stresstests sind beendet. Aber weitere Arbeiten erforderlich. Hollande findet die Idee gut, auch er will jetzt »zwischen Tests und weiteren Empfehlungen unterscheiden«. Der Ungar Viktor Orbán aber will keine diplomatisch verklausulierte Formulierung: »Die Tests sind in Ungarn abgeschlossen, dem soll man nicht widersprechen.«
Bulgariens Premier Bojko Borissow schließlich fordert, seine Vorredner zusammenfassend, man solle klarstellen, »dass die Tests durchgeführt worden seien und dass man keine Atomkraftwerke mit Problemen gefunden habe«. Aber man könne ja darauf hinweisen, dass weitere Vor-Ort-Besuche und Arbeiten durchgeführt werden.
Es gibt einiges Hin und Her, dann legt Van Rompuy eine höchst komplizierte Formulierung vor, in der sich alle wiederfinden. Der Absatz in der Gipfel-Abschlusserklärung über die Sicherheitstests in den Kernkraftwerken liest sich so vage wie kompliziert – aus ihm geht jedenfalls nicht hervor, ob die Kernkraftwerke Europas nun sicher sind oder nicht. Im Original heißt es: »Der Europäische Rat fordert die Mitgliedsstaaten auf, die vollständige und fristgerechte Umsetzung der Empfehlungen sicherzustellen, die in dem Bericht enthalten sind, den die Gruppe der europäischen Aufsichtsbehörden für nukleare Sicherheit im Anschluss an die Stresstests im Bereich der nuklearen Sicherheit vorgelegt hat. Die Kommission und die Ensreg haben vereinbart, dass weitere Arbeiten unternommen werden müssen. Der Europäische Rat nimmt die Absicht der Kommission zur Kenntnis, im weiteren Verlauf dieses Jahres eine umfassende Mitteilung vorzulegen.«13
Der Text suggeriert genau den Kompromiss, den die Chefs vorher beschlossen haben. Dass nämlich die Tests vorbei seien, weil es »im Anschluss« daran »weitere Arbeiten« gibt. Die Stresstests in den europäischen Kernkraftwerken haben keine direkten Auswirkungen auf die bestehenden Meiler. Die Betreiber sollen die – unverbindlichen – Empfehlungen abarbeiten. Kein einziges Kraftwerk wird in der Folge geschlossen.
Im Sommer 2013 wird bekannt, dass einige Länder, allen voran Großbritannien, in der Europäischen Kommission vehement auf neue Beihilferichtlinien für Energie drängen: Sie wollen Atomkraft in die Regeln aufnehmen und als kohlenstoffarme Energie mit Energie aus Sonne, Biomasse und Wind gleichsetzen. Sie verlangen für den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken klare Regeln, unter denen nationale Regierungen neue Meiler mit Staatsgeld bezuschussen können, ähnlich wie sie für erneuerbare Energien gelten. Die EU-Kommission muss generell staatliche Finanzspritzen genehmigen, auch im Energiebereich. Bisher ist es so, dass sie darüber erst entscheidet, wenn die Investoren ihre Planungen schon gemacht haben. Das bedeutet Unsicherheit für die Investoren und den Staat. Künftig sollen Staat und Investoren mit Hilfe der geänderten Beihilferegeln schon vorab wissen, ob die Meiler mit Steuergeld gefördert werden dürfen – so wollen es die Briten, die Tschechen und einige andere. Aber der politische Gegenwind – auch aus Berlin und Wien – wird zu groß. Am 8. Oktober 2013 entscheidet die Europäische Kommission, Atomkraft nicht in die neuen Beihilferegeln aufzunehmen.
Ein Blick hinter die Gipfel-Türen
Der Krisenmodus spiegelt sich seit jeher in Nachtsitzungen wider. Mal sind in Brüssel alle 28 Staats- und Regierungschefs beisammen, mal nur die 17 (und ab 2014 18) der Euro-Länder. In den Arbeitssitzungen hocken die Chefs alleine am Tisch, ohne Berater oder Kabinettschef. Die Sitzordnung ist fix: Angela Merkel sitzt 2013 zwischen dem finnischen Ministerpräsidenten Jyrki Katainen und Portugals Pedro Passos Coelho. Österreichs Werner Faymann hat Rumänien und Bulgarien als Nachbarn. Dass die Chefs so sitzen, liegt an der Reihenfolge der alle sechs Monate rotierenden Präsidentschaft.** Bis 2020 ist die Reihenfolge festgelegt, jedes Land weiß genau, wann es an der Reihe ist.
** Die Sitzordnung entspricht der Folge der Präsidentschaften: Deutschland, Portugal, Slowenien, Frankreich, Tschechien, Schweden, Spanien, Belgien, Ungarn, Polen, Dänemark, Zypern, Irland, Litauen, Griechenland, Italien, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Slowakei, Malta, Großbritannien, Estland, Bulgarien, Österreich, Rumänien, Finnland.
Das Ratsgebäude steht am Rond-Point Schuman. Das Rondell ist das Zentrum des Brüsseler Europaviertels. Von dem Kreisverkehr gehen sechs große Straßen ab, an denen alle wichtigen europäischen Institutionen ihre Gebäude haben. Direkt am Kreisel steht ein großer schmuckloser Bau, es ist der Sitz des Rates der Europäischen Union und des Europäischen Rates, benannt nach dem niederländischen Rechtsphilosophen Justus Lipsius.*** Der Rat vertritt die Interessen der 28 Mitgliedsstaaten Europas und wird auf Gipfeltreffen durch die jeweiligen Präsidenten, Premierminister und Kanzler repräsentiert. Die nationalen Regierungen beschäftigen in Brüssel zusammen 3500 Beamte, darunter 630 Übersetzer und einen Ratspräsidenten**** nebst dazugehörigem Stab sowie Verwaltung. Von hier aus beäugen die Beamten der Nationalstaaten misstrauisch, was auf der anderen Straßenseite passiert. Denn dort sitzen die Beamten, die für europäisch austarierte Gesetze zuständig sind, in einem modernen gläsernen Bau. Das Berlaymont ist das Hauptquartier der Europäischen Kommission, es beherbergt deren Chefetage und den juristischen Dienst. Aufgabe der Kommission ist es, durch Gesetze und Verordnungen dafür zu sorgen, dass alle 28 Mitgliedsstaaten die Regeln des europäischen Binnenmarktes einhalten. Die Behörde ist die einzige europäische Institution mit Legislativrecht. Sie beschäftigt europaweit 35000 Beamte. Wo heute die Hüter der Europäischen Verträge sitzen, stand früher in einem zwei Hektar großen Park das Augustinerkloster der »Damen von Berlaymont«.
*** Lipsius (1547–1606) gilt neben Erasmus von Rotterdam als der bedeutendste Epistolograph des Humanismus.
**** Erster Präsident ist der ehemalige belgische Premier Herman Van Rompuy, seine Amtszeit geht über zwei mal 2,5 Jahre von 2009 bis 2014.
Nicht weit weg von Justus Lipsius und Berlaymont ragt ein noch futuristischer anmutender Bau von einem kleinen Hügel auf: das riesige Gebäude des Europäischen Parlaments. Es gibt 766 europäische Abgeordnete***** und sieben Fraktionen im Parlament, dreißig Abgeordnete sind fraktionslos. Mit 274 Volksvertretern stellen die konservativen Volksparteien, zu denen CDU/CSU und ÖVP gehören, die stärkste Fraktion, gefolgt von den Sozialisten und Sozialdemokraten mit 195 Abgeordneten. Eine Legislaturperiode dauert fünf Jahre, die nächsten Wahlen finden zwischen dem 22. und 25. Mai 2014 statt, österreichische und deutsche Wähler stimmen am 25. Mai ab.
***** Ab der Europawahl 2014 reduziert sich die Zahl der Abgeordneten auf 751.
Im Rat versuchen die 28 Mitgliedsstaaten, ihre nationalen Interessen so abzustimmen, dass jedes Land irgendwie profitieren kann. Hier beschließen sie, welche Aufgaben die Europäische Kommission bekommt und welche Gesetzesvorschläge die Behörde vorlegen soll. In der EU-Kommission sitzen 27 Kommissare und ein Präsident. Jedes der 28 EU-Länder hat einen Vertreter in der Behörde. Grundsätzlich ist alles darauf eingerichtet, die Regeln des gemeinsamen Binnenmarkts zu optimieren, der alle 28 Länder verbindet. Das Parlament kontrolliert Rat und Kommission, hat jedoch nur beschränkte Mitentscheidungsrechte und ist von einigen Gesetzgebungen, die die Mitgliedsstaaten wegen nationaler Interessen als besonders sensibel betrachten, vollkommen ausgeschlossen, beispielsweise von der Steuergesetzgebung. Bei Entscheidungen, die ausschließlich die Euro-Zone betreffen, ist das EU-Parlament komplett außen vor. Und weil in den Jahren 2008 bis 2013 die wichtigsten Entscheidungen immer nur die Rettung des Euro betreffen, geraten die europäischen Volksvertreter beinahe in Vergessenheit.
Die Euro-Krise hat die Nationalstaaten noch stärker ins Zentrum der Gemeinschaft gestellt, sie sind wichtiger geworden zulasten des Europaparlaments und der Kommission. Nationale Staats- und Regierungschefs haben mehr denn je das Sagen. Das hat mit den Milliarden Euro zur Rettung der Währungsunion zu tun. Nur die Kassen der Mitgliedsstaaten sind groß genug, um die erforderlichen Beträge zur Verfügung zu stellen. Das EU-Budget, das von Brüssel verwaltet wird, ist mit einem Prozent der gemeinsamen Wirtschaftsleistung aller 28 Länder viel zu bescheiden, um die Finanzmärkte zu beeindrucken – und es ist ausdrücklich auch nicht dafür gedacht. Die Staats- und Regierungschefs beharren strikt darauf, allein über alle Ausgaben zu entscheiden. Wer das Geld hat, bestimmt den Weg. Die nationalen Chefs sagen, wo es langgeht in Europa.
Ein zweitägiger Gipfel kostet bis Ende 2012 rund eine Million Euro, dann schlägt die Krise auch im Europäischen Rat zu. Die Behörde muss zumindest symbolisch sparen. Die Bürokraten im Rat einigen sich darauf, das bis dahin für Chefs, Personal, Beamte und Reporter kostenlose Catering zu Restaurantpreisen anzubieten, allerdings nur für das Personal in den unteren Etagen und für die Reporter. Es ist ein Symbol. Die Gipfel-Kosten reduzieren sich dadurch auf 790000 Euro.****
**** Am teuersten sind Übersetzungen, Sicherheitspersonal, technische Ausrüstungen und audiovisuelle Dienste. Pro Gipfel werden 4500 Zugangsberechtigungen ausgestellt, davon 2000 für Ratspersonal, 1000 für Delegationen und 1500 für Journalisten; Presseabteilung Rat vom 12. August 2013.
Die 28 Staats- und Regierungschefs werden von Dolmetschern, Beratern, Sicherheitsleuten und Diplomaten betreut. Dazu kommen Köche und Kellner für Dinner und Nachtsitzungen. Nicolas Sarkozy brachte gelegentlich einen eigenen Koch mit, weil ihm das belgische Essen nicht schmeckte. Auf jeden Chef kommen im Schnitt mehr als 100 weitere Personen, insgesamt sind es etwa 3000. Aus dem riesigen Pressesaal berichten 1500 Journalisten aus aller Welt. Europas Gipfeltreffen sind gigantische Veranstaltungen.
Wer in Washington D. C. die weiträumigen Absperrungen erlebt hat, wenn sich der amerikanische Präsident bewegt, sieht über die Sicherheitsvorkehrungen für die 28 europäischen Regierungschefs in Brüssel gnädig hinweg. Die belgische Polizei sperrt die U-Bahn-Stationen rund um den Tagungsort ab. Das gesamte Areal ist während der Gipfel durch spanische Reiter gesperrt.
1972 trieben wütende Bauern eine Kuh in den Sitzungssaal der Staats- und Regierungschefs. Der Schreck saß tief. Seither gibt es einen eigenen Sicherheitsdienst des Rates. Der wurde noch aufgestockt, als 1975 ein Terrorkommando in der OPEC-Zentrale in Wien ein Dutzend Minister als Geiseln nahm. Während eines Gipfels sind die EU-Security-Leute nicht alleine. Jeder Staatschef bringt sich seine eigenen Bodyguards mit. Rund um das Gebäude sind zusätzlich belgische Spezialeinheiten postiert. Eine Sicherheitspanne gab es zuletzt 2009, als Greenpeace-Aktivisten als Delegierte verkleidet in schwarzen Limousinen bis zu dem am Eingang ausgerollten roten Teppich vordrangen.
Das EU-Ratsgebäude ist ein Labyrinth. Vergleichbar mit einem weitläufigen Spital, aber ohne farbige Leitlinien am Boden. Dafür dienen große Videoscreens als Wegweiser zu den jeweiligen Sitzungen. Aber schon im Fahrstuhl beginnt die Verwirrung. Die Besucher dürfen auswählen zwischen Stockwerk 20, 30, 40, bis hinauf zu 80. Spätestens hier fragt sich jeder, ob er übersehen hat, dass das Gebäude ein Hochhaus ist. Tatsächlich hat irgendwann ein Bürokrat aus unerfindlichen Gründen die zweite Etage als Level 20 bezeichnet. Daraus sind die verwirrenden Etagenangaben entstanden. Auf Level 80, also in der achten Etage des Ratsgebäudes, wo die Abendessen stattfinden, gehen die Staats- und Regierungschefs durch Gänge mit historischen Fotos. Ein Händedruck zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle am Kölner Flughafen am 18. Juli 1961. Willy Brandt und Helmut Schmidt 1972. Eine Aufnahme vor dem Brandenburger Tor zeigt Angela Merkel, umringt von männlichen Kollegen, darunter der Brite Tony Blair und Österreichs Alfred Gusenbauer. Auch der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der durch seine Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ ganz Europa gegen sich aufbrachte, ist auf einer Aufnahme vom März 2006 verewigt. Wenn die Staats- und Regierungschefs sich während der regulären Sitzungen auf Ebene 50, also Etage 5, die Füße vertreten, laufen sie über eine im Boden eingelassene Replik einer altrömischen Straßenkarte namens Tabula Peutingeriana, die für Heeresführer, Kuriere und reisende Händler gedacht war. Das Original der aus dem 16. Jahrhundert stammenden Nachzeichnung befindet sich in der Wiener Nationalbibliothek. Die Türkei, Griechenland und Zypern füllen einen großen Teil der Karte aus. Brüssel liegt weit abgedrängt am nordwestlichen Rand.
Was wirklich besprochen wird auf den EU-Gipfeln, ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse. Es gibt offiziell keine Mitschriften und Protokolle, und Tonbandaufnahmen schon gar nicht. Angeblich! Allerdings: Jeder Absatz der späteren Gipfelerklärung wird im Apparat akribisch vorbereitet und vorab tagelang diskutiert. Nicht nur von den Botschaftern der 28 Länder, sondern auch in den Kabinetten der nationalen Hauptstädte. Auf EU-Gipfeln soll Einigkeit demonstriert werden und möglichst nichts Überraschendes passieren, das negative Schlagzeilen nach sich ziehen könnte. Ratspräsident Van Rompuy beschäftigt zur Vorbereitung der Gipfel ein ganzes Kabinett, mit Aufgaben ähnlich dem Bundeskanzleramt. Das Kabinett und Van Rompuy selbst fragen bei den Europabeauftragten der Regierungen in Paris, Berlin, Wien und allen anderen Ländern vor jedem Gipfel ab, wie ihr Chef auf diese oder jene Änderung in der Gipfelerklärung reagieren würde. Wer etwas vorschlägt, was nicht schon in allen Gängen von Brüssel, Paris und Berlin beredet wurde, habe normalerweise keine Chance, spottet Österreichs Exkanzler Alfred Gusenbauer. Nur in den Augenblicken der ganz akuten Krise, wie unmittelbar nach der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, herrscht ein Gefühl so großer Dringlichkeit, dass ein Staatschef auch ohne Vorbereitung durch die Beamten aktiv werden kann.
Echte Geheimhaltung ist schwer möglich. Arbeitsversionen der Papiere landen regelmäßig in der Presse. Die Personen, die Papiere unter der Hand weitergeben, sitzen häufig ganz oben in der politischen Hierarchie. Manchmal will die Führungsetage vorab testen, wie die Öffentlichkeit auf bestimmte Vorschläge reagiert. Außerdem gibt es die aus den nationalen Hauptstädten nach Brüssel entsandten Botschafter, also die Chefs der Vertretungen der 28 Länder in Brüssel, die ihre nationalen Journalisten vorab versorgen. Für die Staats- und Regierungschefs sind solche vertraulich weitergegebenen Papiere oft ärgerlich, in der Euro-Krise werden sie sogar gefährlich. Als die Krise im Frühjahr 2011 einem neuen Höhepunkt zustrebt, verteilt Frans Van Daele, der Kabinettschef des Ratspräsidenten, nummerierte Kopien der Schlussfolgerungen an die Delegationen, um Indiskretionen zu verhindern.14 Wäre eine Fotokopie an die Öffentlichkeit gekommen, hätte man den Schuldigen rasch identifiziert. Das ungewöhnliche Vorgehen zeigt die extreme Nervosität in einer sensiblen Verhandlungsphase über die Finanzhilfen für Portugal und Irland.
Auf dem eigentlichen Gipfel arbeiten die Chefs die vorbereiteten Schlussfolgerungen Punkt für Punkt durch. Das passiert meist am ersten Abend oder in der Nacht des meist zweitägigen Treffens. Wenn die Chefs fertig sind, gehen sie schlafen, und das Personal arbeitet alle Änderungen in den Text ein. Am zweiten Tag um 10 Uhr gehen die Chefs über den Text der vergangenen Nacht. Sind sich alle einig, treten sie danach vor ihre jeweiligen nationalen Reporter, um die Ergebnisse zu verkünden und zu interpretieren. Wer sich die Videos aller 28 Pressekonferenzen anschaut, bekommt das Gefühl, es hätten 28 Gipfel stattgefunden und nicht ein einziger.
Jeder Chef hat eine eigene Botschaft, die vor allem in seinem Heimatland die Bürger erfreuen soll. Es kann passieren, dass Angela Merkel den Gipfel zu einem großen Erfolg erklärt, weil sich die Europäer auf strikte Regeln über einen automatischen Datenaustausch zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung geeinigt hätten – und nur ein paar Meter weiter Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker sich freut, weil er ebenjenen Beschluss praktisch blockiert habe. Oder der polnische Premier freut sich darüber, dass er weiterhin entgegen jeder Umweltverpflichtung Kohlekraftwerke betreiben kann – und die Kanzlerin ihrerseits darüber, dass Europa so strenge Klimaziele hat.
Die heikelsten Fragen diskutieren die Chefs beim Abendessen, nicht in der regulären Sitzung. Über den Ablauf der Arbeitsdinner, die ab 20 Uhr bis in die frühen Morgenstunden und damit locker sieben Stunden dauern können, werden nicht einmal Antici-Mitarbeiter informiert. Es gibt keine Protokolle. Immerhin sitzen bei den Abendessen drei Spitzenbeamte aus der Kommission und dem Rat am Katzentisch.**** Was sie für Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman Van Rompuy protokollieren, ist bisher noch nie an die Öffentlichkeit gelangt.
**** Beim EU-Gipfeldinner anwesende Spitzenbeamte sind der stellvertretende Generaldirektor für politische und institutionelle Fragen (Jim Close), der Kabinettschef des Ratspräsidenten (Didier Seeuws) sowie die Generalsekretärin der Europäischen Kommission (Catherine Day). In einer Übersetzerkabine hält sich der stellvertretende Kabinettschef Van Rompuys auf, um allfällige Änderungen in den Schlussfolgerungen sofort niederzuschreiben.
Die Kommunikation der Chefs mit ihren Mitarbeitern läuft während der Sitzung inzwischen über SMS. Während der langen Dinners, oft unterbrochen durch Gruppengespräche und Einzelverhandlungen, kommen die Chefs immer wieder in den Vorraum, um sich mit ihren Mitarbeitern zu besprechen. Dem zyprischen Präsidenten Dimitris Christofias werden während seiner Amtszeit als Ratspräsident die Nächte oft zu lang. Er hat eh nicht viel zu melden und lässt sich im Delegationsbüro ein Bett aufstellen. Wird Christofias gebraucht, muss ihn Van Rompuy wecken lassen. Es ist überliefert, dass Silvio Berlusconi bei nächtlichen Sitzungen wiederholt am Tisch einnickt oder die Kollegen mit dem Trällern eines Liedes wach hält.
Ebenso sind die Eigenheiten anderer Chefs unvergessen. Der Franzose Jacques Chirac verschmähte Mineralwasser genauso wie Wein und verlangte amerikanisches Budweiser, eine Reminiszenz an einen Aufenthalt als Jugendlicher in den USA. Nicolas Sarkozy bestand auf Nespresso-Kaffee. Eine eigene Nespresso-Maschine in das Delegationsbüro zu bringen, war eine der wichtigsten Aufgaben der französischen EU-Diplomaten.
Aber was passiert, wenn die Chefs am Ende einer nächtlichen Sitzung nicht mehr genau wissen, was sie beschlossen haben? Läuft nicht irgendwo ein Tonband mit, wenn Präsidenten, Premierminister und Kanzler über das Schicksal ihrer Völker befinden? Von Tonbandmitschnitten im Oval Office des Weißen Hauses in Washington weiß man, wie nahe die Welt während der Kubakrise an einem Atomkrieg stand. Hinterlassen die Staatenlenker Europas keine vergleichbaren Dokumente, auch wenn alle Verantwortlichen in Brüssel das bestreiten?
Zweifel an den hartnäckigen Dementis sind angebracht: Als Ende 2001 bei einem historischen EU-Gipfel der Vertrag von Nizza beschlossen wird, erstreitet sich Belgien die Regel, dass künftig alle Europäischen Räte in Brüssel stattfinden. Zuvor reisten die Beteiligten abwechselnd in die Länder der rotierenden Präsidentschaft. Als der Beschluss darüber in Nizza fällt, ist es wieder einmal halb vier in der Früh. Der damalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Finnlands Premier Paavo Lipponen bekommen die Entscheidung nicht mit und lassen später protestieren. Jacques Chiracs rechte Hand für die EU, Botschafter Pierre Vimont, heute Generalsekretär im Auswärtigen Dienst der EU, hört sich die Einwände höflich an und lässt erklären: Er, Vimont, habe die Bänder nachgehört, der entsprechende Beschluss sei ganz eindeutig zu hören gewesen. Die Herren Schüssel und Lipponen seien in diesem Augenblick wohl etwas unaufmerksam gewesen, verständlich bei der fortgeschrittenen Stunde. Zumindest 2001, auf französischem Territorium in Nizza, wurden demnach die Verhandlungen mitgeschnitten. Für ein Tonbandsystem bei den EU-Gipfeln im Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel gibt es keinen Beweis.
Regierungschefs treten nach Gipfeln zurück
Würden Tonbandaufnahmen bekannt, müssten wohl viele Episoden neu geschrieben werden. Auch einige um Merkel und den griechischen Premier Giorgos Papandreou, in denen es um das hässliche Wort Erpressung geht. Eine geht so: Auf einem der ersten Krisengipfel in Brüssel gab der in die Ecke gedrängte Grieche der ihm widerborstig erscheinenden Deutschen klar zu verstehen, dass das griechische Schuldenproblem sehr wohl ein sehr europäisches sei – dass auch andere Länder wie Spanien, Italien und womöglich die gesamte Euro-Zone straucheln könnten, wenn es keine europäische Solidarität mit Griechenland gebe. Wenn Athen sich also bemühe, den Haushalt in Ordnung zu bringen, müssten die Partner dies goutieren. Merkel habe dies als Erpressungsversuch wahrgenommen, berichtet einer, der dabei war. Ein Wort habe das andere gegeben – und schließlich soll Merkel wütend gesagt haben: »Dann geh doch raus aus dem Euro!«15 Auf den Gängen im Brüsseler Rat werden einige dieser Gesprächsfetzen erzählt.
Eine andere Variante der Geschehnisse besagt, dass Merkel Papandreou später zum Rücktritt gedrängt habe, und zwar Anfang November 2011 auf dem G20-Gipfel in Cannes, weil der Grieche sein Volk abstimmen lassen wollte über die Sparmaßnahmen und den Verbleib im Euro.
Diese Geschichte wird von EU-Diplomaten ernsthaft bestritten. Richtig ist: Papandreou stürzt nicht wegen Merkel, sondern über innerparteiliche Intrigen. Einer der Hauptbeteiligten ist Papandreous damaliger Finanzminister Evangelos Venizelos. »Papandreou was knifed by his minister of finance from Athens«, sagt ein hoher EU-Diplomat. Papandreou wurde von hinten von seinem Finanzminister erstochen.16
Griechische Politiker erzählen die Geschichte vom Sturz Papandreous so: Ende Oktober, wenige Tage vor dem G20-Gipfel in Cannes, einigen sich die Euro-Länder nach einer nervenaufreibenden Nachtsitzung auf das zweite Hilfspaket für Griechenland. Alle sind bis zum Äußersten gegangen und nun völlig erschöpft. Aber es scheint Ruhe einzukehren. Bis 48 Stunden später Papandreou ein Referendum über die Beschlüsse ankündigt. Merkel und Sarkozy erfahren davon aus den Medien. »Papandreou hat nichts davon auf dem EU-Gipfel gesagt«, heißt es in beiden Hauptstädten. Andere Gipfelteilnehmer sagen, Papandreou habe in den heißen Verhandlungsstunden in Brüssel, als er drastische Auflagen akzeptieren musste, »mehrmals angedeutet, sein Volk darüber abstimmen zu lassen«****. Daran erinnert sich auch einer der Organisatoren aus dem Büro von Sitzungsleiter Van Rompuy. »Vielleicht sind diese Andeutungen in der Hitze des Gefechts untergegangen«, sagt er.
**** Worüber Papandreou abstimmen lassen wollte: Schwelle für Einkommenssteuer fällt von 12000 Euro auf 5000 Euro; Rentenalter steigt von 61 auf 65 Jahre; Mehrwertsteuer steigt von 19 auf 23 Prozent; höhere Steuer auf Immobilien, Treibstoff, Zigaretten, Alkohol; Renten über 1000 Euro werden um ein Fünftel gekürzt, wer jünger als 55 Jahre und in Frührente ist, verliert 40 Prozent; Gehälter im öffentlichen Sektor werden um ein Fünftel gekürzt; volle Pension erst nach 40 Arbeitsjahren; 30 Prozent Lohnkürzung für Staatsbedienstete; 30000 Beamte auf Teilzeit; zeitlich befristete Arbeitsverträge laufen automatisch aus – nur einer von zehn ausscheidenden Staatsangestellten wird ersetzt.
Zwei Tage vor dem G20-Gipfel steht das Referendum jedenfalls im Raum. Sarkozy tobt im Élysée und bestellt Papandreou nach Cannes ein. Frankreichs Präsident ist sauer, als Gastgeber des Treffens der Mächtigsten der Welt muss er wegen des griechischen Dramas seine persönlichen Pläne völlig umschmeißen. Cannes sollte Sarkozys außenpolitisches Meisterstück werden, Frankreichs ramponiertes Ansehen stärken, dem temperamentvollen Präsidenten Rückenwind für die anstehenden Präsidentschaftswahlen geben. Doch statt eines glanzvollen G20-Gipfels im französischen Luxusbadeort Cannes an der Côte d’Azur findet im Hinterzimmer wieder Euro-Rettung statt.
Papandreou kommt in einem kleinen Flugzeug. Er bringt besagten Finanzminister Venizelos mit. In dem schönen alten Hotel direkt an der Seepromenade in Cannes spielt sich in den folgenden Stunden Dramatisches ab. Zunächst müssen die mächtigen Präsidenten der G20 aus den USA, China, Brasilien, Russland und anderen Staaten warten, während die Euro-Länder um ihr Schicksal ringen. Vor Merkel, Barroso, Van Rompuy, Draghi und Sarkozy (ob Berlusconi dabei war, schließlich gehört Italien zur Runde der G20, daran kann sich später keiner mehr erinnern) verteidigt Papandreou sein Referendum.
Die Diskussion ist nicht lang, aber es geht hochemotional zu, es wird gestikuliert, geschrien, argumentiert. Es geht um Griechenlands Referendum, aber auch darum, dass Berlusconi die italienische Haushaltslage ignoriert und die Sorge, dass Frankreich in den Fokus gerät. Der Chef des Euro-Rettungsfonds hat intern signalisiert, dass er Mühe hat, Notkredite aufzutreiben. Die Investoren trauen dem Euro nicht mehr.
Papandreou erklärt seine Idee. Merkel scheint froh über Sarkozys Aktionismus, Papandreou einzufliegen. Sie hat mittlerweile auch einen Plan im Kopf. »Okay, wenn du dein Volk befragen willst, bitte schön«, erklärt sie dem griechischen Premier. »Aber wir sitzen in einem Boot. Wenn du ein Referendum ausrufst, stellen wir die Frage. Die wird lauten: Wollt ihr unter den verhandelten Bedingungen des Anpassungsprogramms im Euro bleiben?«17 Das ist die einzige Frage, die akzeptabel erscheint und von der die Akteure glauben, dass sie vom griechischen Volk mehrheitlich mit Ja beantwortet werden kann. Zugleich wissen alle, dass sie mit dieser Frage auch eine Zeitbombe unter die Unumkehrbarkeit des Euro montieren. Was passiert, wenn die Griechen nein sagen und austreten? Der Euro-Klub wäre schwer in Misskredit geraten, und was folgte dann? Alle in der Runde sind erschöpft, aber schließlich mit dem Referendum einverstanden. Die Volksabstimmung erscheint machbar, weil drei von vier Griechen für den Euro sind. Auch der damalige Oppositionsführer der konservativen Nea Dimocratia, Andonis Samaras, ein beharrlicher Gegner jeglicher Reformen und Sparauflagen, müsste sich dafür aussprechen. Ebenso wie die innerparteilichen Gegner von Papandreou.
Doch dann zeigt die Krise, wie unberechenbar sie alle Akteure macht. Merkel und Sarkozy eilen plötzlich im Alleingang zu einer Pressekonferenz. Unter dem Eindruck der gerade beendeten hochemotionalen Referendumsdebatte und der Sorge um den Euro begehen sie einen folgenschweren Fehler. Sie berichten von dem Treffen, den andauernden Zweifeln und eröffnen so die Debatte um den Austritt Griechenlands, die sich quälend lang hinziehen und nie mehr ganz beendet werden wird.
Premier Papandreou und Finanzminister Venizelos machen sich im Regierungsflieger noch nachts auf den Rückweg nach Athen. Da dürfte der gewichtige Finanzminister schon beschlossen haben, Papandreou zu stürzen und sich selbst an die Spitze der Regierung zu katapultieren. Bei der Ankunft verkündet Venizelos ohne Absprache mit Papandreou vor den Medien, das Referendum sei abgesagt. Verwirrung bricht aus. Papandreou kann nicht anders, als zurückzutreten. Allerdings gelingt Venizelos’ Putschversuch nur zur Hälfte. Der scheidende Papandreou setzt mit Unterstützung des Konkurrenten Samaras eine Bürokratenregierung unter Führung von Lucas Papademos durch. Venizelos wird später Außenminister unter Samaras.
Es waren also nicht, wie von vielen Beobachtern angenommen, Sarkozy oder Merkel, die das Referendum verhindert und Papandreou gestürzt haben. Ein paar Monate später, im Mai 2012, hilft die Dynamik des abgesagten, aber noch immer im Raum schwebenden Euro-Referendums sogar Oppositionsführer Samaras, im zweiten Versuch die Parlamentswahlen zu gewinnen. Der permanente Reformverweigerer Samaras wandelt sich plötzlich in einen Reformen versprechenden Regierungschef. Später zeigt sich: Die Verwandlung hält genau ein Jahr an.