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Der Sinologe Jean François Billeter wendet seinen Blick auf Europa. Wenn die Europäer eine Zukunft haben wollen, meint er, müssen sie sich dazu entscheiden, Bürger einer europäischen Republik zu werden. Nur so können sie ihr Schicksal in die Hand nehmen. Billeter bekennt sich zu den Ideen Ulrike Guérots, die er im ersten Teil seines Essays kurz zusammenfasst. Im zweiten Teil entwirft er eine umfassendere historische Perspektive. Die politische Neugründung Europas hält er für notwendig, aber sie kann ihm zufolge nur gelingen, wenn die Europäer auch in anderer Hinsicht ihr Schicksal in die Hand nehmen: wenn sie schrittweise dem Kapitalismus, der Unterwerfung des gesellschafltichen Lebens unter die grenzenlose Vermehrung des Kapitals, ein Ende bereiten. Und das wird nur möglich sein, wenn sie sich darüber verständigen, welche Form gesellschaftlichen Lebens sie anstreben wollen, grundsätzlicher: welche Form den wesentlichen Bedürfnissen und Begehren des Menschen entspricht. Diese historische Aufgabe stellt sie vor philosophische Fragen, zu denen Billeter seinen Beitrag liefert.
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Seitenzahl: 44
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Jean François Billeter
Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik
Fröhliche Wissenschaft 143
Die Republik
Die Vernunft
Anhang
Eine doppelte philosophische Revolution
Ich kenne zwei Teile der Welt, Europa und China. Als ich 1963 als junger Student in China ankam, war dies ein armes Land. Die Kommunistische Partei, die seit 1949 an der Macht war, hatte es unternommen, es aus einem Jahrhundert des Elends zu befreien. Sie hatte der Bevölkerung den Großen Sprung nach vorn aufgezwungen, der zu einer der größten Hungersnöte der Geschichte geführt hatte. Um diese Katastrophe geheim zu halten und die Chinesen daran zu hindern, sich ein Bild davon zu machen, was außerhalb Chinas vor sich ging, hatte sie das Land vom Rest der Welt abgeschnitten. Mittlerweile ist China unter der Herrschaft eben dieser Partei zu einer selbstsicheren Großmacht geworden. Seine Regierenden wissen, dass es einst eine dauerhafte Hegemonie über einen Teil der Welt ausgeübt hat, und beabsichtigen nicht nur, sie wiederherzustellen, sondern wollen ihr eine Ausdehnung verleihen, die sie in der Vergangenheit nie gehabt hat.
Europa hingegen weiß nicht mehr ein noch aus. Es ist unfähig geworden, aus seiner Vergangenheit eine Vorstellung seiner Zukunft abzuleiten. Die Europäer erkennen sich in der Europäischen Union nicht wieder, weil sie unfähig ist, die Probleme der Bürger zu lösen. In wachsender Zahl wenden diese sich wieder den Nationalstaaten zu, in denen sie sich geborgen fühlen und glauben, Schutz zu finden. Parteien und sogar Staatsoberhäupter reden es ihnen ein. Diese Politiker sind verantwortungslos, denn wie sollen sich die Europäer vor den Gefahren, die auf sie zukommen, schützen, wenn sie nicht gemeinsam handeln? Außerdem sind sie verlogen, denn sie hüten sich davor, den Weg des Austritts aus der Union wirklich anzutreten. Sie begnügen sich damit, Leidenschaften zu schüren, welche die zivilisiertesten Gesellschaften in Gewalt und Krieg stürzen können. Europa hat das im letzten Jahrhundert zweimal vorgeführt. Diejenigen, die diese Schrecknisse nicht selbst erfahren haben, vergessen, dass die Europäische Union gegründet wurde, um die Wiederkehr solcher Katastrophen zu verhindern.
Wenn diese Demagogen sich durchsetzen sollten, wird Europa auseinanderfallen, zum Opfer größerer und entschiedenerer Mächte werden und von ihnen zerlegt werden. Putin unterstützt, wo er nur kann, die Kräfte, die Europas Einheit zerstören wollen. Die Vereinigten Staaten, die seit Jahrzehnten ein zwar geeintes, aber auch wirtschaftlich und militärisch von ihnen abhängiges Europa gefördert haben, machen sich seit Trump daran, seine Einheit zu zerbrechen. Die chinesischen Machthaber ihrerseits stellen Europa vor eine Herausforderung, die weniger offenkundig, aber darum nicht weniger gefährlich ist. Sie haben Europa den Krieg erklärt – einen politischen Krieg, der sich auf der Ebene der Grundsätze abspielt. In China selbst wird er offen ausgefochten. Dort ist es fortan verboten, sich auf die »westlichen Werte« – Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechte, Menschenrechte – zu berufen. Wer sie nur erwähnt, bringt sich in Gefahr. Ein solches Verbot ist eine Drohung: Die Folgen hängen von der Willkür der Polizei und der Behörden ab, die in aller Härte vorgehen, wenn sie es für gut halten. Es bestehen weder Rechtsstaat, unabhängige Justiz noch freie Presse. In ihren Beziehungen zu Europa führen die chinesischen Machthaber hingegen einen verschleierten Krieg, der auf langfristige Wirkung angelegt ist. Beide Kriege sind Teil einer umfassenden Strategie, die zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollen, zunächst in China, dann weltweit, alle Ideen in Verruf gebracht werden, die dazu dienen können, die Diktatur der Partei in Frage zu stellen; zum anderen geht es darum, die Hand auf alle Rohstoffe zu legen, die China braucht, um zur ersten Großmacht zu werden und dies zu bleiben.
Ich hatte ursprünglich vor, sowohl über China als auch über Europa zu sprechen. Ich wollte einerseits zeigen, dass Europa, um wieder handlungsfähig zu werden, sich eine neue politische Form geben muss; andererseits, dass China eine eigene, einer langen Geschichte entstammende politische Tradition besitzt, die wir kennen sollten, zum einen weil die heutigen chinesischen Machthaber wieder an sie anknüpfen, zum anderen weil durch sie augenfällig wird, was die unsere auszeichnet. Schließlich wollte ich zeigen, dass Europa, wenn es eine Zukunft haben will, ein Projekt haben muss. Im Unterschied zu China, Russland und den Vereinigten Staaten, die sich heute als Nationen betrachten und wie nationalistische Mächte handeln, ist Europa keine Nation und wird nie eine sein. Europas Projekt muss daher etwas wesentlich Anderes sein.
Ich verzichte darauf, über China zu sprechen, weil mich das dazu führen würde, viel weiter auszuholen, als ich es hier tun möchte, und es mich von der Hauptsache abbringen würde. Bei einem Problem von solcher Wichtigkeit gilt es, sich prägnant auszudrücken.
Wenn die Europäer eine Zukunft haben wollen, müssen sie sich zu Bürgern einer europäischen Republik erklären. Nur so können sie ihr gemeinsames Schicksal in die Hand nehmen. Diese Revolution wäre so bedeutend wie die Französische Revolution von 1789, aber anders als jene wohlüberlegt und sorgsam vorbereitet. Die von 1789 hat vielversprechend begonnen, ist dann aber im Inneren der Gewalt anheimgefallen und wurde von außen angegriffen. Wenn sich die Europäer eines Tages dazu entscheiden sollten, Bürger einer europäischen Republik zu werden, wird sie keine Macht der Welt daran hindern können. Gewiss wird es solche geben, die versuchen werden, sie gegeneinander auszuspielen, aber andere werden sie unterstützen, denn diese Revolution wird für die ganze Welt von Bedeutung sein.