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William T. Vollmann, der in einer Reihe mit Thomas Pynchon und David Foster Wallace steht, hat mit Europe Central ein Krieg und Frieden für das 21. Jahrhundert geschrieben – ein Epos in Übergröße, in 37 Kapiteln von fiktiven und realen Personen, Künstlern wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch oder Militärs wie General Wlassow und Friedrich Paulus, dem Verlierer von Stalingrad. Ihre Lebensgeschichten beschwören aufs Neue die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischer und deutscher Seite herauf. Aber im Zentrum des Romans steht eine Liebe: die bedingungslose Liebe von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja. Schieben wir zur Seite, was wir über Geschichte wissen, und lassen wir uns ein auf dieses wagemutige, gewaltige, faszinierende, tiefgreifende und umfassende Werk: Europe Central. »Ein ›Krieg und Frieden‹ des 20. Jahrhunderts, mit dem sich Vollmann endgültig seinen Rang in der Weltliteratur gesichert hat.« Welt am Sonntag
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Seitenzahl: 1729
William T. Vollmann, der in einer Reihe mit Thomas Pynchon und David Foster Wallace steht, hat mit Europe Central ein Krieg und Frieden für das 21. Jahrhundert geschrieben – ein Epos in Übergröße, in 37 Kapiteln von fiktiven und realen Personen, Künstlern wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch oder Militärs wie General Wlassow und Friedrich Paulus, dem Verlierer von Stalingrad. Ihre Lebensgeschichten beschwören aufs Neue die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischer und deutscher Seite herauf. Aber im Zentrum des Romans steht eine Liebe: die bedingungslose Liebe von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja.
Schieben wir zur Seite, was wir über Geschichte wissen, und lassen wir uns ein auf dieses wagemutige, gewaltige, faszinierende, tiefgreifende und umfassende Werk: Europe Central.
William T. Vollmann, geboren 1959 in Los Angeles, lebt in Sacramento, Kalifornien. Er ist Autor zahlreicher Romane, Erzählungsbände und Sachbücher, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Regelmäßige Veröffentlichungen in The New Yorker, Esquire, Harper's und anderen Zeitschriften.
Zuletzt erschienen: Huren für Gloria. Roman, 2006; Hobo Blues, 2008; Afghanistan Picture Show oder Wie ich die Welt rettete, 2008; Sperrzone Fukushima. Ein Bericht, 2011.
Robin Detje, Autor, Übersetzer, Regisseur, geboren 1964 in Lübeck, lebt in Berlin. Für die Übersetzung von Europe Central
William T. Vollmann
Europe Central
Roman
Titel der 2005 in den USA bei Viking Penguin erschienenen Originalausgabe: Europe Central
Die Arbeit an der Übersetzung dieses Romans wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe
des suhrkamp taschenbuchs 4516
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Copyright © William T. Vollmann, 2005
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Dieses Buch ist dem Andenken an Danilo Kiš gewidmet, dessen Meisterwerk Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch mir
Die meisten meiner Symphonien sind Grabdenkmäler.
– D. D. Schostakowitsch1
Wie bisweilen Kleinigkeiten im Wesen eines Menschen ihn uns liebenswert machen, so erheiterte mich an Oberst Blumentritt sein unschlagbarer Fanatismus im Telefonieren.
– Feldmarschall Erich von Manstein (1958)1
Ein plumpes schwarzes Telefon, ein Tintenfisch, wollte ich sagen, der Gott unserer Fernmeldetruppe, hat einen Schlupfwinkel in Berlin (wahrscheinlicher noch in Moskau, das von einem deutschen General das Herz Russlands, das Herz eines großen Volkes getauft worden ist).2 Irgendwo in Riffen aus Stahl erzittert ein mit Guttapercha umhüllter Draht: Hiermit erkläre ich … … die kritische Lage … ein vernichtender Schlag. Aber weil sich die Herkunft der Phrasen nicht verbürgen lässt (und weil auf Mithören der Tod steht), empfiehlt es sich nicht, das Ohr an den Draht zu drücken, der sowieso vor elektrisch geladenen Spottreden platzt; man sitzt besser da und hält still, man wird nicht lange warten müssen; die Verhandlungen sind gescheitert. Chamberlain ist auf der Flucht, er ruft dabei: Frieden für unsere Zeit. Frankreich sagt sich eifrig von der Prager Regierung los. Motorisierte Kolonnen rollen ins verschneite Pilsen ein und rollen weiter. Italien sieht sich schon den Lohn eines Abenteurertums einstreichen, vor dem es sich lieber retten würde, aber ganz im Banne des Telefons schlafwandelt es geradewegs auf den Balkon und erklärt: Wir können von unserem politischen Kurs nicht abweichen. Wir sind keine Dirnen.3 Der ewig wache Schlafwandler in Berlin und der bald schon übertölpelte Realist im Kreml schließen den Ehebund. Das wird wie eine Bombe einschlagen!, lacht der Schlafwandler.4 In ganz Europa beginnen die Telefone zu läuten.
Im runden Saal mit dem fächerförmigen Oberlicht und den griechischen Göttern hinter dem Podium sitzen die österreichischen Abgeordneten stocksteif an ihren hölzernen Schreibtischen mit den rechteckigen schwarzen Intarsien, die alles eleganter wirken lassen; sie waren die ersten, die sich mit unserer Zukunft abfinden mussten; ihr Telefon läutete schon 1938. Bulgarien, dem England die Kredite verweigert hatte, die es sowieso nicht gerettet hätten, nimmt die fünfundvierzig Millionen Reichsmark des Schlafwandlers an. Der Realist gewährt niemandem Kredit, nur dem Schlafwandler. Rumänien mischt Ikonen wie Spielkarten und hofft, dass man es übersieht. Jugoslawien schwatzt Deutschland Flugzeuge und Frankreich Geld ab. In Warschaus feuchten Schatten macht sich schon ein Hauch von Panik breit. Die Drähte erzittern: Fanatische Entschlossenheit … zu allem bereit.
Dem Telefon zufolge (denn vielleicht habe ich doch einmal mitgehört, ich Verräter!) ist die Schaltstelle Europa gar kein Nest aus Nationen, sondern offenes Gelände aus schwarzen Ikonen und Uhren mit Goldrand, dessen zufällige, ewig angefochtene Gebietsgrenzen (im Wesentlichen alte Schutzwälle aus der Römerzeit) ganz nach unseren Wünschen übermalt werden können; Gauleiter und Kommissare kochen sie zu grau gepunkteten Linien herunter, für Polizeikräfte angenehm durchlässig. Nun ist es an der Zeit, den Blick über all die rotgerillten Dachwellen schweifen zu lassen, über all die Turminseln mit ihrer grünen Patina, die sich über den weißen Fassaden mit den grinsenden Fenstern erheben und unter uns in noch nicht vollständig telefonverdrahtete Riffe abfallen; nun ist es an der Zeit, sich der anemonengleichen Sonnenschirme vor den Kaffeehäusern der Schaltstelle Europa zu erfreuen, der alten Dächer, schwarz wie Seetang vom Ruß, des klappernden Hufschlags und anschwellender Glockenklänge, der Schatten ihrer Einwohner unten ganz tief in den engen Gassen. Nun ist es an der Zeit, denn morgen schon wird alles, wie das Telefon verkündet, ohne Vorwarnung ausradiert, dem Erdboden gleichgemacht, eingedeutscht, sowjetisiert, völlig zerschmettert werden müssen. Das ist ein Befehl. Das ist eine Notwendigkeit. Wir werden nicht kämpfen wie diese verweichlichten Feiglinge, die sich von ihrem Gewissen im Zaum halten lassen; wir werden die Schaltstelle Europa beseitigen! Aber für Verhandlungen ist es noch nicht zu spät. Wenn Sie unsere sämtlichen Forderungen binnen vierundzwanzig Stunden erfüllen, werden wir Sie mit Ländereien in den grenzenlosen Weiten des Ostens entschädigen.
In Mecklenburg haben wir eine Vorführung des ersten raketengetriebenen Flugzeugs der Welt abgehalten. Um die Verzückung des Schlafwandlers nicht zu stören, verspricht Göring, wie der Blitz fünfhundert weitere raketengetriebene Flugzeuge bereitzustellen. Dann springt er für ein Rendezvous mit der Schauspielerin Lida Baarovà von dannen. In Moskau erklärt Marschall Tuchatschewski, dass sich Feldzüge im Krieg der Zukunft als breit angelegte Manöverbewegungen von ungeheurem Ausmaß entfalten werden.5 Er wird auf der Stelle erschossen. Und die Minister der Schaltstelle Europa, die man ebenfalls erschießen wird, erscheinen auf von nackten Mägdelein aus Marmor gestützten Balkonen, wo sie verträumte Reden halten und dabei immer mit einem Ohr auf das Läuten des Telefons lauschen. Die Schaltstelle Europa, sagen sie, wird widerstehen, zumindest bis zum Beginn des Fall Weiß. Man wird an jeden Mann einen schweißfeuchten schwarzen Maschinenkarabiner ausgeben, vermutlich handgeschmiedet, dazu zehn runde Bleikugeln, drei schwarze Eierhandgranaten, kaum größer als ein Pistolengriff, und ein gegabeltes Pulverhorn aus gelblichem Elfenbein mit Sterngravur …
Das Telefon brüstet sich: Befreiender Vormarsch … Stoßtruppen … Anteil der motorisierten Verbände.
Auf der anderen Seite der Grenze, wo sich jede Reihe Zaunpfähle von der anderen fortneigt, zerstreuen die stolzen Militärdichter unseres gemeinsamen Opfers alle Befürchtungen und vergleichen das Warschau von 1939 mit dem Smolensk von 1634. Während sie ihre erbärmlichen Truppen in Stellung bringen, ziehen wir die Molotow-Ribbentrop-Linie und stempeln sie . Und warum dort Halt machen? Der Schlafwandler bekommt Litauen, der Realist Finnland. Unsere Überzeugungen sind eine Laterne, deren feines Leuchten sich in ihre Zone herabbeugt. Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein bringen …6 Gerade deshalb behauptet die Partei, daß der Trotzkismus eine sozialdemokratische Abweichung innerhalb unserer Partei ist.7 Das Telefon läutet; General Guderian wird angewiesen, den Fall Gelb einzuleiten. Wir werden die weinroten Ahornblätter und die blassen sechseckigen Kirchtürme der Schaltstelle Europa hinwegfegen.
Du wirst nichts davon zu sehen bekommen; Fenster sind in diesem Büro nicht vorgesehen, also ist dir manchmal ein wenig fad, aber wenigstens bist du nie allein, denn auf dem stählernen Schreibtisch, immer in Reichweite, hockt der Tintenfisch, dessen zehn runde Augen, jedes mit einer Ziffer darauf, durch dich hindurch starr die Welt blicken. Der stählerne Pakt … eine tadellose Entscheidung … mein unabänderlicher Wille … wir scharen uns um die Partei Lenins und Stalins. Rechts in der untersten Schublade liegt ein Codebuch, dessen Beschwörungsformeln Geschwindigkeit und Nutzlast des Stahls bestimmen, aber man scheint dem Blick des Tintenfisches nicht entkommen zu können. Wage es, wenn du dich traust; wie scharf können diese zehn Augen sehen? Der Schlafwandler in der Reichskanzlei könnte es dir sagen (nicht dass er es täte): Es sind seine Augen, lidlos, oval, was ihnen eine monoton blöde oder hysterische Anmutung verleiht; draußen im Graben werden einhundert andere Köpfe sehenden Auges wieder zu Lehm, nicht dass sie etwas mit dem Tintenfisch gemein hätten, dessen Starren stets lebendig bleibt.
Was ist mit der Sprechmuschel? Stimmt es, dass er durch die schwarzen Löcher jeden Mucks von dir hören kann? In seinem unterirdischen Hauptquartier mit den vielen Wachtposten sitzt der Realist müde hinter einem großen Schreibtisch und harrt der Forderungen des Telefons. Er hängt zwar Anrufern gerne einfach den Hörer auf, mit so viel Schwung wie der Soldat, der eine weitere Granate in unser Panzerabwehrgeschütz rammt, aber der Affront gilt dem Gesprächspartner, nicht dem Telefon selbst, ohne das er nicht leben kann. In ihm, dem allhörenden, subsumiert er sich; wenn Schostakowitsch hilflos über ihn lästert, weiß er Bescheid. Beim ersten Läuten ruft er seine Generäle zusammen, zur Sitzung rund um den Konferenztisch mit der grünen Decke.
Der Schlafwandler ist ganz Auge; der Realist ist ganz Ohr; indem sie sich sich paaren, erschaffen sie das Telefon.
Dieses Bewusstsein mag sich tatsächlich, wie die amerikanischen Sieger versichern werden, aus rein mechanischen Faktoren speisen: Im Bakelit-Schädel[1] des Dinges hängt, in ein Gitterwerk aus purpurnen Drähten gebettet oder von diesem erdrosselt, ein bösartig komplexes Hirn, nicht viel größer als eine Walnuss. Seine Rinde besteht aus zwei braungelben Lappen, mit feinem Kupfer verdrahtet. Es beherbergt Gedanken, so zahlreich und säuberlich aufgestellt wie die verblichenen Adlerstandarten Polens. Das Lager der Konterrevolution … deutsche Ehrlichkeit … die Verleumdungen der Opposition … die Gesundheit der völkischen Lehre. Es weiß, wie es jeden zu fassen bekommt, von der Achmatowa (die es, ganz Schwärmerin, mit einem gelblich rosa Herzen verwechselt) bis zu Schukow (der sich einredet, dass man mit ihm spielen kann), von Gerstein bis hin zu Guderian, diesen beiden Freidenkern, die einsam in ihren hochfliegenden Kugelgefängnissen tanzen und der Selbstinversion des Telefongehirns im Zentrum der Granate gehorchen.
Glauben Sie den Technikern nicht, die Ihnen versichern, das Hirn sei »gefühllos« – bald werden Sie hören, wie wütend der Hörer auf der Gabel zittert. Die Kollwitz, die Krupskaja – sie alle wird es aus dem Weg schaffen, wie durch Zauberhand. Es hat ihre Nummern. (Wie der Schlafwandler den Generalfeldmarschall Paulus mahnt: Man muss auf der Hut sein, wie eine Spinne im Netz …)8 Kurz, es wird das Prinzip der zentralisierten Befehlsstruktur durchsetzen.
Es stellt die Verbindung her. Es läutet.
Vom Hörer, der nun rattert wie das Krad eines Meldefahrers auf dem Kopfsteinpflaster Prags, zum kalten schwarzen Leib verläuft ein gewundenes Kabel, dessen Dehnbarkeit den Vorgang der Strangulation in die Länge zieht. (Dank Telefon wird der General Wlassow in einer Schlinge aus Klaviersaitendraht krepieren.) Aus dem Anus-Mund hinter der Wählscheibe erstreckt sich ein weiterer Eingeweidestrang, dünner und weniger dehnbar als das Kabel am Hörer, und es pulst ganz bis an die Steckdose. Seit heute Morgen sind unsere Truppen … Eine dahergelaufene kleine rumänische Blondine mit finsterem Blick ist uns im Weg; wir müssen sie erschießen. Nun hinein in die tiefen grünen Wälder der Schaltstelle Europa! Das Verhältnis der Truppen im Abschnitt Stalingrad … Verteidigungsanlagen aus Stahlbeton. Können Gummisehnen fühlen? Wie macht man, dass sie bluten? Rücksichtsloser Fanatismus … wir werden schon mit ihnen fertig werden. Jetzt, da das Telefon läutet, zucken sie.
Das Telefon läutet. Wie ein Götzenbild hockt es da. Wie hatte ich es nur für einen Tintenfisch halten können?
Hinter der Wand breiten sich gummiummantelte Tentakeln über Europa aus. Die Heereskarten zeigen sie als Fronten, Schützengräben, Landzungen und Zangenangriffe. Die Politiker kodieren sie als Grenzen (dem Erdboden gleichgemacht, ausradiert, völlig zerschmettert). In der Verwaltung denkt man sie sich als Straßen und Wasserläufe. Die Gesundheitsbehörden interpretieren sie als das schwarze Rinnsal der Menschen, die Tag um Tag auf den zugefrorenen Straßen Leningrads dahinsiechen. Die Dichter sehen in ihnen die Adern des gemarterten Körpers der Partisanin Soja. Sie sind alles. Sie können alles.
Gleich wird der Stahl sich in Bewegung setzen, langsam zunächst, wie Züge für den Truppentransport bei der Abfahrt aus ihren Bahnhöfen, dann rascher und allgegenwärtig, die rechtwinkligen Verbände von Männern unter Stahlhelmen beim Vormarsch, flankiert von Formationen glänzender Flugzeuge; dann werden Panzer, Flugzeuge und andere Geschosse unwiderruflich Fahrt aufnehmen. Polnische Soldaten tarnen ihre Helme schwach mit Netzen. Deutsche gehen ins Kino und verlieben sich in Filmstars; während das Unternehmen Zitadelle scheitert, werden sie für Lisca Malbran schwärmen. Russische Kavallerie reitet zum Angriff auf deutsche Panzer; deutsche Schulmädchen versuchen, russische Panzer auszuschalten, indem sie kochendes Wasser in die Geschütztürme gießen. Sperrballons hängen in der Luft, mit Flossen dick wie auf Kinderzeichnungen von Fischen. Keine Sorge, die Truppen der Schaltstelle Europa halten stand, zumindest bis zum Unternehmen Barbarossa! (Ihre Strategiepläne sind stockfleckig und verschmuddelt wie eine jahrhundertealte Bibel.) Der Stahl findet sie alle.
Der Stahl, beseelt vom magischen Auge des Schlafwandlers, leuchtet von innen, wenn er morden kommt. (In den Schneeverwehungen auf den Friedhöfen Leningrads liegen die mit und die ohne Sarg. Das hat der Stahl getan.) Die dicken Lichtstrahlen, als von einem Halbkettenfahrzeug ein Nebelwerfer abgefeuert wird, sie schärfen den Blick des Stahls, bezeichnen seine Reichweite.
Ein Soldat lässt seinen Blick durch das schwere, gehärtete Eisen des Visiers eines DschK-Maschinengewehrs schweifen, auf dass seine Kugel ihr Ziel finde. Der Stahl braucht ihn, um sie auf den Weg zu bringen, aber brauchen die Götter nicht immer ihre Anbeter? Aus dem Hirn des Telefons schießen Gedanken durch isolierte Kupferkabel. Es ist Zeit für den Fall Blau. Die Fernmeldetruppe bereitet sich auf Empfang und Weitergabe der Depesche vor: Verteidigung der Errungenschaften der Sowjetmacht … eine harte, aber gerechte Strafe … Und schon läutet das Telefon wieder! Wer wird den Hörer abheben? Vielleicht niemand außer der Fernmeldetruppe, deren aus Menschenarmen erwachsende Flaggen jeden Befehl in eine Reihe lesbarer Farben verwandeln können. Das Telefon läutet!
Das Telefon läutet. Der Hörer klemmt sich an einen Mund und ein Ohr. (Wo kommen die plötzlich her? Ich dachte, es wären meine.) Ein weiterer Befehl fliegt das schwarze Kabel hinauf, die schwarzen Windungen hinab und ins Ohr: Unter keinen Umständen werden wir einer Artillerievorbereitung zustimmen, das ist Zeitverschwendung und nimmt uns den Überraschungsvorteil.9
Das V-Telefon läutet; das S-Telefon läutet. Auf den holperigen Bürgersteigen Warschaus hallen die Knobelbecher wider. Die Tyrwaker haben ihre Brücken mit türkischem Dynamit vermint. Im Gegenteil, wir sind der Auffassung, dass die Verbindung von innenliegendem Verbrennungsmotor und Panzerung uns erlaubt, unsere Angriffskräfte ohne Artillerievorbereitung zum Feind zu bringen …
In ganz Europa läuten die Telefone, beginnen die Fernschreiber gierig mit den Zähnen zu klappern; ein Angehöriger der Fernmeldetruppen winkt die ersten Flugzeuge durch, und die stahlgepanzerten Ungeheuer, deren Nieten und Schuppen gleißender schimmern als die Gedichte der Achmatowa, werden von der Geschwindigkeit ergriffen. In jedem Ungeheuer sitzen auf Klappsitzen Männer, bereit, zu töten und zu sterben.
Sollten wir jetzt zur Sicherheit nicht lieber unsere Gevierte aus knubbeligem Reptilienfleisch einberufen, jeder Knubbel ein behelmter Rotarmist, und durch den Schnee marschieren die Gevierte dann auf die Kuppeln des Kremls zu, während eisige blaurote Himmelsstreifen in die gleiche Richtung eilen, mit weißen Wolkenstreifen dazwischen? Dunkle Götzenbilder sind sie, fast schwarz. Das Telefon läutet: Operation Kleiner Saturn einleiten. Alles wird zu einer beweglichen Einheit aus klar gegliederten Abteilungen. Keine Sorge. In den Filmpalästen wird Lisca Malbran uns helfen, so zu tun, als sei das alles nicht wahr.
Hier kommen die Geschütze wie Nadeln auf runden Sockeln und die Geschütze, die zwischen zwei grauen Schilden hervorragen, und die Geschütze, die aus stählernen Pilzen wachsen, und die Geschütze, lang wie Häuser, am Boden gehalten von Lafetten, die zwanzig Mann Besatzung Platz bieten, die Geschütze, deren Rohre so lang wie Torpedos sind, und die Geschütze auf Rädern mit dicken Schnauzen und langen Mündungsfeuerdämpfern. Alles ist nur eine Frage der Zeit und Kampfkraft. Und so ziehen die motorisierten Horden durch Europa, nach Ost und West.
Um sich vor den Schuldzuweisungen der Nachwelt zu schützen, hat sich das Telefon den herrschenden Bedingungen angepasst: Es gelten die drei Kardinalforderungen für das Gelingen eines Panzerangriffs: geeignetes Gelände, Überraschung und Zusammenfassen aller verfügbaren Kräfte an der entscheidenden Stelle, also Masseneinsatz. Und mehr noch, warnt es, alle Komponenten müssen metallisch, austauschbar, verlässlich, schnell und tödlich sein. Trotz Masseneinsatz mangelte es an Komponenten. Die Operation wird scheitern.
Eines Tages, aller Treibmittel ledig, muss der Stahl seine Ruhe finden und rosten. (Das Telefon bettelt: Motorisierte Verstärkung.) Lächelnde Träger des Helms mit dem Stern werden hoch die rote Fahne hissen und dabei von R. L. Karmen gefilmt werden. Haltet aus bis zur letzten Patrone. Dann werden, in der zitternden Ruhe nach dem Sturm in einem Europa, das Zeit verschwendet und seinen Überraschungsvorteil einbüßt, im Schnee die Leichenhallen und andere Einrichtungen erblühen. In einer von ihnen, einem fensterlosen Schlupfwinkel mit Telefon, sitze ich an einem Schreibtisch und spiele mit einer 7,65-Millimeter Geco-Patrone.
Was einst Millionen bemannter und unbemannter Geschosse in Bewegung gesetzt hat? Deutschland, sagen Sie. Russland, sagen die anderen. Europa kann es gewiss nicht gewesen sein, schon gar nicht die Schaltstelle Europa, die immer ein ganz braves Mädchen war. Ich wiederhole: Europa ist eine sanfte Färse, eine mollige Jungfrau, eine Russenmaid oder ein Polenmädchen, bereit für die Liebe, ein Engel, eine unterwürfige Beute. Europa ist Lisca Malbran. Nie hat Europa eine Hexe verbrannt oder Hand an einen Juden gelegt! Wie kann man Europas Schätze fassen? In Prag zum Beispiel sieht man durch die Bogenfenster der Glockentürme den Morgen dämmern, und er schimmert noch verführerischer in diesem mit Grünspan belegten Rahmen, dessen Tragwerk, der Finger des Turmes selbst, sich aus dem Fleisch der Stadt erhebt, über ihre mit Blumenreliefs, Friesen und Löwenköpfen geschmückten Fassaden, und ihre von Mauern umfriedeten und verwinkelten Gassen haben ach so viele Augen; Europa wurde oft geschändet, es bleibt wachsam, weshalb manche ihrer Augen selbst jetzt noch im Lampenschein schimmern, aber was nützt das schon, wenn man sie kommen sieht? Schon huschen ihr die ersten Eisenläuse über die vom hell- und dunkelgrauen Kopfsteinpflaster warzige Haut. Europa spürt alles, erduldet alles, reckt ihre wolkenberingten Kirchenfinger himmelwärts, um sich trauen zu lassen.
Was hat den Stahl in Bewegung gesetzt? Der -Obersturmführer Kurt Gerstein selig hat mir geraten, in der Heiligen Schrift nach Antworten zu suchen, in den alten griechischen Bibeln der Schaltstelle Europa mit ihren roten Majuskeln und den schwarzen Holzschnitten schauriger Mumien, die aus engen Sarkophagen brechen; ein paar Dutzend dieser Bände haben den Krieg überlebt. Für Gerstein wurde Erhellung zu einem noch märchenhafteren Lösungsmittel als das Xylol, in das unsere Forensiker die Ausweispapiere einlegen, die sie im Wald von Katyn ausgegraben haben. (In diesem Bad erwacht die von der Leichenflüssigkeit weggeätzte Tinte wieder zum Leben.) Haben Sie je einen Tankwaggon durch Beschuss mit Brandmunition in die Luft fliegen sehen? Erhellung muss noch heller strahlen! Er fragte sich, was er seinen strengen Vater nie zu fragen gewagt hatte: Warum so viel Tod? Seine blutroten Bibeln erklärten es ihm.
Das Telefon läutet. Es setzt mich davon in Kenntnis, dass Gersteins Antwort zurückgewiesen wurde, dass Gerstein gehängt wurde, ausradiert, völlig zerschmettert. Es verbindet mich mit dem ehemaligen Feldmarschall Paulus.
Paulus teilt mir mit, die Lösung jedes Problems sei allein eine Frage der Zeit und Kampfkraft.
Die Geschichte der Fanny Kaplan, dieser dunkelhaarigen blassen, schlanken Idealistin, erzählt sich, ganz im Geiste ihrer Zeit, in bitterer Kürze. Denn so wie der Tyrannenmord die Mühlen der Justiz schneller mahlen lässt, tun es auch die Tyrannen. Nur vier Tage verstrichen zwischen der großen Tat und der Vergeltung, und in den meisten Geschichtsbüchern würde so eine Zeitspanne nicht mehr als ein paar Auslassungszeichen zwischen zwei Worten ausmachen, ein Vierergespann aus Punkten, also: … . – aber wenn wir sie zu Sphären vergrößern, zeigt sich, dass ein jeder Punkt einen Haufen aus vierundzwanzig Stunden enthält, grau und verhuscht wie verwaiste Mäuse; und im Fleisch einer jeden Stunde sehen wir einen Schwarm nutzloser Momente wie Ameisen, deren Königin dahingeschieden ist; und in jedem Moment eine unendliche Menge von Momenten wie scharfzackige, aus den Worten geschüttelte Silben – und am Ende dieser Zeitspanne wurde Fanny Kaplan über das Tau hinausgetragen, den letzten Buchstaben des magischen Alphabets. Ihr Anschlag ereignete sich am 30. August 1918. Es steht geschrieben, als Lenin am Boden lag, sei die junge Attentäterin in Panik geflohen, dann aber, als ihr wieder einfiel, dass der Moralkodex der Sozialrevolutionäre von ihr verlangte, ihr eigenes Leben für das des Opfers hinzugeben, sei sie im Lauf stehengeblieben, habe sich umgedreht und sich zitternd und schweigend unseren Sicherheitskräften ergeben. Am 3. September führte man Fanny Kaplan, die zufällig durch ihre »jüdischen Gesichtszüge« auffiel, in der Lubjanka in einen engen Hof, wo sie vom Kommandanten des Kremls, P. D. Malkow, höchstselbst von hinten erschossen wurde. (Von der Eminenz I. M. Swerdlow, die sich schon bei der Liquidierung der Familie Romanow so unentbehrlich gemacht hatte, war Malkow angewiesen worden: Ihre Überreste sind vollständig zu vernichten.) So viel zu Leben und Werk der schwarzhaarigen Frau.
Die Geschichte von Lenins Braut, der N. K. Krupskaja, bietet Stoff für eine heiterere Parabel. Und verfügt die Parabel nicht über mehr Integrität, mehr Rechtschaffenheit, wie man fast sagen könnte, als jede andere literarische Form? Ihre vielen Konventionen knüpfen einen heiligen Bund zwischen dem Leser, dem die ersehnte Mystifikation in bonbonkleiner Dosis verabreicht wird, und dem Autor, den seine Abwesenheit ins Göttergleiche erhebt. Gewiss, manchmal verdichtet gerade die Strenge dieser Form Ereignisse ins Absurde, wie wir es aus Träumen kennen. Im Fall der Krupskaja – wäre da nicht ihre beinahe zufällige Ehe, sie wäre der Weltgeschichte so verborgen geblieben wie der stumme Buchstabe Aleph. Was war sie in ihren Mädchenjahren denn schon? Eine Chiffre wollen wir sie nicht nennen; dass ihre Parabel, wie die unsere, mit der Geburt begann, können wir ihr nicht absprechen. Aber in diesem Genre (so wie in der Lyrik) muss alles eine Bedeutung haben. Jeder Tod braucht einen guten Grund. Jedes Wort, bis hin zu seinen klaffenden Lettern o und grinsenden Lettern e, muss in den Sätzen davor und danach widerklingen – und das nicht um der Vorhersehbarkeit willen, denn das wäre öd; vielmehr muss der Leser nach jedem Komma im Rückblick sagen können: Warum habe ich das nicht kommen sehen? Fanny Kaplan zum Beispiel wurde ihr Todesurteil nie verkündet. Und doch fand sie es stimmig, als ihr die erste Kugel zwischen den Schulterblättern explodierte, und sie schrie nicht vor Überraschung auf, sondern in verzweifelter Furcht, vor Zorn auf das Unausweichliche. – Was die Krupskaja angeht, wir dürfen sie den Liebling der Parabelhöker nennen, sie als vollendete Personifikation der Konvention einführen. (Deshalb sind ihre gesammelten Werke so todlangweilig.) Trotzki behandelte sie verächtlich, Stalin kommandierte sie am Ende herum; Lenin selbst benutzte sie einfach. Historiker sehen in ihr treu ergebenes Mittelmaß. Ich meinerseits habe immer ein Streben nach Güte aus ihr herausgelesen, wofür ich sie loben will. Unsagbar typisch für ihre Epoche – und darin Fanny Kaplan vielleicht seltsam gleich – war sie ein Leben lang von Inbrunst getrieben. So wie der gleiche Buchstabe in zwei Wörtern gegensätzlicher Bedeutung auftauchen mag, schreiben sich die Leben dieser beiden Frauen in nahezu identischen Zeichen. Wer wäre ich, in den Schwärmereien der Krupskaja irgendetwas zu entdecken, das Fanny Kaplan fremd gewesen wäre? Die eine liebte die Revolution, die andere hasste sie. Welche Macht hat sie in Gegensätze verwandelt, wenn sie denn Gegensätze waren?
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