Everybody's Darling, everybody's Depp - Irene Becker - E-Book

Everybody's Darling, everybody's Depp E-Book

Irene Becker

4,4

Beschreibung

Gerade Frauen neigen dazu, allzu schnell nachzugeben und stets den Ausgleich zu suchen, damit es nur ja keinen Streit gibt. Aber anstatt sich damit besonders beliebt zu machen oder harmonischere Beziehungen zu erleben, lässt man sich auf diese Weise oft unterbuttern und verleugnet die eigenen Wünsche und Bedürfnisse.

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Leseprobe

Irene Becker

Everybody's Darling, everybody's Depp

Tappen Sie nicht in die Harmoniefalle!

Leseprobe

Über das Buch

Übertriebenes Harmoniestreben und ständige Anpassung an die Erwartungen anderer machen extrem unzufrieden und führen auf Dauer zum Verlust der eigenen Persönlichkeit. Doch es geht auch anders: Mit Irene Beckers Programm lernt man, eine ausgewogene Balance zwischen Harmoniebedürfnis und konstruktiver Auseinandersetzung zu finden – nicht, um zur Egozentrikerin zu werden, sondern um sich selbst treu zu bleiben und ehrliche, offene Beziehungen zu pflegen. Denn wer Konfliktsituationen meistert, statt sie zu vermeiden, wird nicht nur selbstbewusster und zufriedener, sondern auch respektvoller behandelt.

Über den Autor

Irene Becker ist seit über einem Jahrzehnt selbstständig als Managementtrainerin für Großunternehmen tätig. Sie führt außerdem regelmäßig Seminare und Coachings zum Thema durch. Bei Campus erschien von ihr bisher Lieber schlampig glücklich als ordentlich gestresst (gemeinsam mit Jutta Meyer-Kles).

|7|Einleitung

Es war einmal vor langer Zeit, da waren die Machtverhältnisse in Paarbeziehungen noch klar definiert, und Emanzipation war nichts weiter als ein Fremdwort. Dazu sei ein Artikel aus der britischen Zeitschrift Housekeeping Monthly, Ausgabe vom 13. Mai 1955, zitiert:

»Anleitung für die gute Ehefrau

Hören Sie ihm zu. Sie mögen ein Dutzend wichtiger Dinge auf dem Herzen haben, aber wenn er heimkommt, ist nicht der geeignete Augenblick, darüber zu sprechen. Vergessen Sie nicht, dass seine Gesprächsthemen wichtiger sind als Ihre.

Der Abend gehört ihm. […] Versuchen Sie, seine Welt voll Druck und Belastungen zu verstehen.

Sorgen Sie dafür, dass Ihr Zuhause ein Ort voller Frieden, Ordnung und Behaglichkeit ist, wo Ihr Mann Körper und Geist erfrischen kann.

|8|Begrüßen Sie ihn nicht mit Beschwerden und Problemen.

Beklagen Sie sich nicht, wenn er spät heimkommt oder selbst wenn er die ganze Nacht ausbleibt. Nehmen Sie dies als kleineres Übel, verglichen mit dem, was er vermutlich tagsüber durchgemacht hat. […]

Denken Sie daran: Er ist der Hausherr, und als dieser wird er seinen Willen stets mit Fairness und Aufrichtigkeit durchsetzen. Sie haben kein Recht, ihn infrage zu stellen.

Eine gute Ehefrau weiß stets, wo ihr Platz ist.«

Mittlerweile ist gut ein halbes Jahrhundert vergangen, seit diese wohl gemeinten Ratschläge für die perfekte Ehefrau veröffentlicht wurden. Und doch scheint es so, als hätte die moderne, selbstbewusste und gleichberechtigte Frau des 21. Jahrhunderts etliche dieser Verhaltensregeln noch immer verinnerlicht. Geduldig lauscht sie den Ausführungen ihres Partners und stellt das eigene Redebedürfnis zurück. Lieber beißt sie sich auf die Zunge, als in einer Diskussion standhaft ihre Meinung zu vertreten und zu riskieren, dass das Gespräch in einen Streit ausartet. Innerlich tobend räumt sie stillschweigend zum tausendsten Mal die schmutzige Wäsche hinter dem Lebensgefährten her. Ihn zu stark zu beanspruchen, hieße, den Haussegen in eine unerwünschte Schieflage bringen.

In der U-Bahn toleriert sie, dass der Sitznachbar mit der Bierfahne seinen Schenkel unangemessen eng an sie drückt. Sie schluckt es herunter, dass der Chef die Gehaltserhöhung einem unerfahrenen männlichen Mitarbeiter zuspricht, obwohl längst sie an der Reihe wäre. Und sie beschwert sich nicht, wenn der Nachbar nachts wieder einmal lautstark Punkmusik hört. Auch ihren Geschlechtsgenossinnen gegenüber verhält sich die starke Frau dieser Tage häufig wie ein sanftes Schaf. Kritisiert Sie Ihre angeblich beste Freundin auch ständig? »Findest du diese Kombination nicht etwas zu figurbetont?« Oder andersherum: Das Outfit Ihrer Bekannten sitzt peinlich bis vulgär eng, Sie aber sagen nichts, um |9|keine Auseinandersetzung zu provozieren. Ihre Schwiegermutter lädt sich jedes Wochenende unaufgefordert zum Essen ein, ohne ein einziges Mal zu fragen, ob Sie eigene Pläne haben? Sie stellen sich an den Herd und zaubern ein Dreigängemenü – insgeheim in der blutrünstigen Vision schwelgend, wie der alte Drachen an den Hühnerbeinen erstickt. Die faule Kollegin bittet Sie zum wiederholten Mal, ein paar Unterlagen für den Chef zu kopieren, weil sie auf ein »mega-wichtiges« Meeting muss? Sie dackeln zum Kopierer und fragen sich, ob Sie für diese Handlangerarbeiten Ihren Doktortitel haben erwerben müssen – und ob hierzulande wirklich die meisten Morde unentdeckt bleiben. Die Nachbarin nervt Sie mit aufdringlichen Fragen zu Ihrem Herrenbesuch neulich Abend? Sie fühlen sich bemüßigt, ihr zu erklären, das sei nur ein Kollege gewesen, mit dem Sie eine Präsentation vorbereiten mussten. Warum wünschen Sie ihr eigentlich keinen guten Tag und zeigen ihr, dass sie das wahrlich nichts angeht? Ihre Eltern halten es für selbstverständlich, dass Sie immer noch alle Weihnachts- und Osterfeste bei ihnen verbringen, obwohl Sie längst eine eigene Familie haben. Jedes Jahr verwerfen Sie die eigenen Wünsche und traben mit Sack und Pack an, damit bloß die Familienharmonie gewahrt bleibt.

Sind wir also immer noch das schwächere Geschlecht – sanftmütig, hilfsbereit, verzeihend, aufopfernd, duldsam, harmoniebedürftig? Es gibt tatsächlich viele Beispiele, die einen das vermuten lassen. Zu oft geben Frauen nach, setzen sich nicht durch, machen keinen Gebrauch von ihrer Willenskraft.

Nach wie vor scheint es vielen Frauen schwer zu fallen, ihre innere Stärke im Umgang mit anderen einzusetzen. Woran liegt das? Haben Frauen Angst, eine bissige Zicke genannt zu werden, eine Furie mit Haaren auf den Zähnen, eine freudlose Kampfemanze? Sehr vielen scheint es schwer zu fallen, die |10|goldene Mitte zu finden und eine selbstbewusste Frau zu sein, die für sich einsteht und trotzdem harmonische Beziehungen pflegt. Eine Frau, die sich nicht unterbuttern lässt, aber auch nicht wie eine Dampfwalze über andere hinwegrollt. Eine Frau, die selbstsicher ihre Stärke zeigt und ihre schwachen Seiten dennoch nicht verleugnen muss. Eine Frau, die gerade wegen dieser Stärke beliebt ist. Das muss keine Utopie bleiben.

|9|

|10|Das Handwerkszeug dafür bringt jede Frau mit:

ein wenig Selbsterkenntnis und Klarheit über die eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Stärken und Schwächen;

das Recht und die Pflicht, die Verantwortung für ihr Leben selbst zu übernehmen;

ein wenig Mut und Disziplin, sich gegenüber den Erwartungen der lieben Mitmenschen zu behaupten;

genug Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen, um auch in kniffligeren Situationen nicht sofort das Handtuch zu werfen und einen Konflikt nicht nur auszuhalten, sondern konstruktiv zu bewältigen;

die innere Stärke, auch einmal Zivilcourage zu zeigen, sich gegen Übergriffe souverän zu wehren und Grenzen zu setzen.

Das haben Sie alles nicht, sagen Sie? Oh doch, haben Sie. Mit dieser Stärke ist jeder Mensch von Geburt an ausgestattet, auch wenn Erziehung, Anpassung, Erfahrung und mangelnde Übung einiges davon verschüttet haben. Ein hungriges Baby schreit sich so lange die Seele aus dem Leib, bis es endlich bekommt, was es braucht. Das tut es selbstsicher und ungeachtet der genervten Reaktionen seiner Umwelt. Und der Wortschatz von Kleinkindern in der Trotzphase scheint ausschließlich aus Nein! und Ich will aber! zu bestehen.

Raus aus der Harmoniefalle. Vielleicht fehlten Ihnen für die nötige Durchsetzungskraft einfach nur das Gewusst-wie und etwas Praxis. Das Know-how dazu finden Sie in den folgenden Kapiteln. |11|Bei der Umsetzung der Handlungsstrategien müssen Sie lediglich ein wenig üben. Im Folgenden wird das – übersteigerte – Harmoniebedürfnis unter die Lupe genommen. Ein Praxisteil mit Fragebogen hilft Ihnen dabei, Ihre schwachen und Ihre starken Seiten zu analysieren. Ein Trainingsprogramm unterstützt Sie dabei, sukzessive Ihre innere Stärke (wieder) zu entdecken, zu entfalten und im Umgang mit anderen positiv einzusetzen. Sie werden lernen, Ihre Fähigkeiten weiter zu entwickeln: einzustehen für das, was Sie wirklich wollen, Grenzen zu setzen, mit Kritik souverän umzugehen, Konflikte konstruktiv zu bewältigen, mit unangenehmen Gefühlen fertig zu werden. Sie werden Gegenstrategien zum Umgang mit schwierigen Zeitgenossen finden, die versuchen, Sie mit ausgebufften Manövern zu manipulieren. Weder sanftes Schaf noch bissige Zicke – leben Sie Ihr Leben als ausgeglichene, selbstsichere Frau.

Noch eine Anmerkung, bevor es losgeht: Harmoniesucht kann sich, wenn tiefgreifende Probleme hinzukommen, zu einer ernsthaften psychischen Störung auswachsen, die allein nicht mehr zu bewältigen ist. Wenn ein Mensch Panikattacken bekommt, weil eine Diskussion etwas heftiger wird; wenn auf sanfte Kritik ein depressiver Anfall folgt; wenn allein die Vorstellung, nein sagen zu müssen, zu Schweißausbrüchen führt; wenn aus Angst vor zwischenmenschlichen Störungen Kontakte zwanghaft vermieden werden – dann ist es sicherlich sinnvoller, die professionelle Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen.

|12|Harmoniesucht: Was ist das eigentlich?

Gegen ein harmonisches Miteinander im Privaten wie im Beruflichen ist ja generell nichts einzuwenden. Harmonie ist wichtig. Ohne das natürliche Bedürfnis danach hätte sich die Menschheit schon viel schneller ausgerottet, als sie es ohnehin versucht. Ungesund wird das Harmoniestreben erst, wenn es kein gleichberechtigtes Geben und Nehmen zwischen den Partnern mehr gibt. Doch welche Ausprägungen und Konsequenzen kann krampfhaftes Harmoniestreben haben? Und wann ist die Balance gestört?

Harmonie und Disharmonie: darum geht’s

Das Wort Harmonie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Ebenmaß, Einklang, Wohlklang; richtiges Verhältnis aller|13|Teile zum Ganzen. Es geht im zwischenmenschlichen Bereich also um ein ausgewogenes Miteinander, bei dem die Bedürfnisse und Wünsche aller Beteiligten angemessen berücksichtigt werden. Die Definition macht es sehr schön klar: aller Beteiligten. Ausgewogen! Angemessen! Echte Harmonie bedeutet nicht, dass einer zulasten des anderen bevorzugt wird. Warum sollte es zu Ihren Lasten gehen, wenn egoistische Menschen in Ihrem Umfeld sich wünschen, die eigenen Bedürfnisse stärker durchzusetzen? Wünschen darf man sich vieles, das ist zulässig – nur müssen Sie deshalb Ihre eigenen Bedürfnisse noch lange nicht zurückstellen. Sollen die anderen Beteiligten ruhig Feuer speien und schnauben; manche Lektionen müssen eben auch Ignoranten, Egoisten und Faulpelze lernen.

Mit Harmoniesucht ist das übermäßige Verlangen nach harmonischen Beziehungen und Anerkennung gemeint – im schlimmsten Fall die totale Abhängigkeit davon. Droht eine Störung der Harmonie, fühlen Sie sich unwohl und sind schnell bereit, diese einseitig und zu Ihren Lasten wiederherzustellen, da dies bei Ihnen oberste Priorität hat. Doch der Preis, den Sie zahlen, wenn Sie in die Harmoniefalle tappen, ist hoch: Sie tun das auf Kosten Ihrer Zeit, Nerven, Bedürfnisse, Energie und letztlich auch Ihrer Selbstachtung.

Wie bei allen »Drogen« ist die Grenze zwischen gesunder Dosis und schädlicher Überdosis fließend und kann sich von Situation zu Situation nach hierhin oder dorthin verschieben. Ab und an in Maßen ein schönes Glas Rotwein ist bekömmlich und soll sogar gesundheitsfördernd sein – ein Zuviel führt allerdings zur unschönen Leberzirrhose. Grundsätzlich sollte also auch das Verlangen nach Harmonie nicht übersteigert ausgelebt werden. Wozu eine Überdosis Harmonie führen kann (mal abgesehen von gähnender Langeweile, denn nichts ist weniger anregend, als wenn zwei Menschen immer gleicher Meinung sind), sehen Sie im Folgenden.

|14|Angriff und Flucht: das passiert

Teilweise sind Sie viel älter, als Sie glauben – nämlich ein paar Millionen Jahre alt. Natürlich nicht wirklich, aber Menschen tragen evolutionär bedingt immer noch Programme und Reaktionen in sich, die seit Jahrmillionen bewährt sind. Leider sind sie noch nicht an die modernen Zeiten angepasst worden. Ein besonders wirksames Programm ist das Stressprogramm.

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Neandertalerin und streifen auf der Suche nach Beeren in einem schicken Bärenfell durch den Wald. Plötzlich hören Sie ein fauchendes Geräusch und sehen sich einem Säbelzahntiger gegenüber. Nun ist nicht etwa guter Rat gefragt, sondern eine blitzschnelle Reaktion, damit Sie diese unfreiwillige Zufallsbegegnung möglichst unbeschadet überleben.

Ihr Organismus aktiviert nun in Rekordzeit Ihr Stress-Rettungsprogramm: Im Bruchteil einer Sekunde wird entschieden, ob Sie Jäger oder Beute sind; ob Sie mit Aussicht auf Erfolg die Keule schwingen – oder besser die Beine in die Hand nehmen und rennen. Zwei Programme: Angriff oder Flucht. (Es gibt noch ein drittes, das allerdings viel seltener aktiviert wird, da es geringe Überlebenschancen bietet: Paralyse. Das Kaninchen vor der Schlange oder das geblendete Reh im Scheinwerferlicht verharren in Panik und kommen deshalb um.)

In dieser Gefahrensituation wird Ihr Großhirn mit seiner wunderbaren Denkfähigkeit ausgeschaltet, da es fürs Überleben nicht förderlich wäre, wenn Sie erst einmal überlegten, ob der Säbelzahntiger auf der Liste der bedrohten Arten steht und Sie ihn deshalb nicht erschlagen sollten. Auch die Wahrnehmung anderer Reize, einschließlich der Libido, wird heruntergefahren. Momentan sollten Sie in der Tat weder die Schönheit der Landschaft noch den knackigen Po des jungen Mannes aus der Nachbarhöhle bewundern. Stattdessen wird Ihr Organismus durch einen ebenso komplexen wie wirksamen Hormoncocktail und weitere Stoffwechselveränderungen |15|gerüstet. Und zwar für heftige körperliche Aktivität: rennen oder kämpfen.

Zurück in die Gegenwart: Die Säbelzahntiger sind ausgestorben, aber auch heute gibt es noch wilde Tiere. Sie kommen daher in Gestalt des stirnrunzelnden Chefs, des aufdringlichen Nachbarn, des wütenden Partners, der keifenden Schwiegermutter, der beleidigten Freundin, der arroganten Verkäuferin oder der weinenden Schwester. Die Crux ist: Es wird immer noch das uralte Programm aktiviert, und wir reagieren blitzschnell mit automatischen körperlichen und geistigen Veränderungen. Was heutzutage fehlt, ist der Abbau der ausgeschütteten Stoffe, da die modernen Abwehrstrategien nicht mehr aus physischen Aktivitäten bestehen, sondern aus verbalen und kommunikativen Reaktionen. Flucht bedeutet nur noch in manchen Fällen, sich körperlich der Situation zu entziehen – Türenschlagen, Rausrennen. Flucht bedeutet heute: Nachgeben, Einlenken oder Herunterschlucken. Und ein Angriff unter zivilisierten Menschen äußert sich heute höchstens in wütendem Anschreien und wüstem Beschimpfen; tätliche Angriffe sind selten.

Harmoniebedürftige Personen haben überwiegend ihr Fluchtprogramm aktiviert. Nur manchmal reicht es selbst denen und |16|sie schalten um auf Angriff – dann aber oftmals völlig übertrieben und der Situation nicht angemessen, da sich zu viel aufgestaut hat.

Für Sie persönlich bedeutet das: Sie sind durch Ihre Fluchtstrategie eventuell schnell der unangenehmen Situation entkommen oder haben sie sogar ganz vermeiden können, aber die Aufregung wirkt womöglich noch Stunden nach, weil sich Ihr Adrenalinspiegel erst langsam wieder auf Normalmaß einpendeln muss. Zudem bauen Sie auch noch Groll und Wut sich selbst gegenüber auf: Sie haben es wieder einmal nicht geschafft, Nein zu sagen, einen Streit durchzustehen oder für Ihre Bedürfnisse einzutreten.

Vielleicht fragen Sie sich: Wie soll ich es ausschalten, wenn es denn ein automatisches Programm ist? Für mich bedeutet es nun einmal Stress, wenn ich befürchte, dass jemand böse auf mich werden könnte, mich kritisiert oder es zu einem Streit kommt. Tatsächlich können Sie das Programm nicht abschalten, wenn es einmal gestartet wurde. Wenn Sie in stressige Situationen geraten, läuft es ab, ob Sie wollen oder nicht.

Aber: Was eine stressige Situation ist, liegt ausschließlich im Auge des Betrachters. Einer findet Fallschirmspringen euphorisierend, ein anderer bekommt schon beim Gedanken daran Herzrasen und Schweißausbrüche. Einer zuckt beim Stirnrunzeln seines Chefs nur lässig mit den Schultern, ein anderer überlegt panisch, wie er ihn beschwichtigen kann. An diesen Auslösern von Stress sowie an der Betrachtungsweise von Situationen und Verhaltensweisen können Sie glücklicherweise eine Menge ändern. Und somit auch Ihre Reaktionen neu gestalten. Sie können die Ereignisse nämlich mit mehr Gelassenheit und innerer Stärke betrachten und viel seltener in Aufregung geraten. Zudem können Sie auch in akuten Stresssituationen Ihr Verhaltensrepertoire erweitern und nicht mehr nur stereotyp mit einer Fluchtstrategie reagieren – eine reine Lern- und Übungssache, wie Sie noch sehen werden (dem 15. Säbelzahntiger standen unsere Vorfahren aufgrund |17|ihrer Erfahrungen auch schon viel gelassener gegenüber als dem ersten).

Erziehung und Prägung: daher kommt’s

Sie haben also ein dominantes Harmonie-Gen erwischt, dem Sie nun bis an Ihr Lebensende hilflos ausgeliefert sind? Kein Ausweg aus der Falle? Trösten Sie sich: Ihr (übersteigertes) Harmoniebedürfnis ist, wenn überhaupt, dann nur zu einem geringen Teil angeboren. Der weitaus größere Teil ist erlernt und anerzogen. Denken Sie wieder daran: Als hungriges oder nasses Baby war auch Ihnen die Harmonie in Ihrer Umgebung völlig egal. Sie wollten etwas zu essen oder einen trockenen Popo und haben so lange lautstark aufbegehrt, bis Sie hatten, was sie wollten. Unbekümmert, selbstsicher und selbstverständlich haben Sie Ihr gutes Recht eingefordert. Ob es den geplagten, unter Schlafentzug leidenden Eltern passte oder nicht. Auch im Krabbelalter war von Harmoniebedürfnis noch nichts zu spüren. Sie wollten Ihre Umgebung erkunden. Ob dabei die wertvolle Porzellanvase von Tante Inga draufging, hat Sie wenig bekümmert. Ihre Eltern konnten Sie nur physisch kontrollieren, indem sie Ihren Aktionsradius auf ein ungefährliches und nicht so kostenintensives Maß beschnitten haben.

Aber dann begannen Sie zu sprechen und damit auch zu verstehen. In diesem Moment beginnt die eigentliche psychologische Erziehung. Und die hat leider viele manipulative Elemente und benutzt sehr häufig verschiedene Formen der emotionalen Erpressung. Negative Emotionen wie Schuldgefühle, Bestürzung, Scham, Angst, Unwissenheit und Unsicherheit sind zum großen Teil anerzogen. Mit negativen Emotionen kontrollieren Eltern ihre Kinder und manipulieren deren Verhalten.

|18|(Ehe Sie Ihre geliebten Eltern nun anklagen und verurteilen: Bedenken Sie bitte, dass diese Art der Manipulation normalerweise nicht bewusst und absichtlich ausgeführt wird. Ihre Eltern sind ebenso unbewusst manipuliert worden und geben das erlernte Verhalten nun an ihre Kinder weiter. Sie brauchen deshalb keinen Groll zu hegen – es hilft aber, die Mechanismen zu durchschauen, dann brauchen Sie in Zukunft nicht mehr auf die emotionalen Tricks hereinzufallen!)

Vielleicht haben Sie als Kind auch eine ähnliche Situation erlebt: Sie waren mal wieder mit Ihren Freundinnen ausgebüchst, anstatt Ihr Zimmer aufzuräumen. Mit bekümmerter Miene und einem weinerlichen Ton in der Stimme stand Ihre Mutter nun vor Ihnen:

»Ich bin enttäuscht von dir!« – (ein leichtes, kaum wahrnehmbares Schluchzen, die Stimme setzt kurz aus). »Wie soll jemals etwas Vernünftiges aus dir werden.« – (hoffnungslos-verzweifelter Blick).

»Die Mama ist ganz traurig, wenn du ihr nicht gehorchst« – (Steigerung: tränenschwangerer Blick und tiefer Stoßseufzer). »Ich weiß nicht, was Papa dazu sagen wird.« – (kleine Drohung am Schluss kann nicht schaden).

Mit diesen Worten erhielt die Mama das erwünschte Resultat: Sie bekamen ein schlechtes Gewissen und räumten Ihr Zimmer auf, weil Sie ihr so viel Kummer bereitet haben. Obendrauf hatten Sie Angst, dass sie Sie nun nicht mehr lieb haben würde. Und wie der Papa erst reagieren würde ...

Ihre Mutter hätte auch selbstbewusst und ehrlich sagen können: »Ich möchte, dass du dein Zimmer aufräumst, weil ich Unordnung nicht leiden kann. Ich kann gut verstehen, dass dir das keinen Spaß macht, räum’s aber trotzdem auf.«

Doch vielen Eltern fällt es leichter, ihr Kind mit allgemeinen, nicht hinterfragten moralischen Werturteilen zu erziehen, auch weil sie es von ihrer eigenen Erziehung so gewohnt sind. Das gleiche gilt natürlich für Väter und für die Erziehung von Jungs:

|19|»Ein Junge weint nicht, ein Junge ist tapfer. Lass dir nicht immer so viel gefallen, sonst muss sich der Papa ja für dich schämen. Zieh dir sofort etwas Anständiges an. Was sollen die Leute sagen, wenn sie dich so sehen.«

Und später, wenn man schon lange aus dem Haus ist:

»Wir haben uns für dich aufgeopfert, und das ist der Dank. Anrufen tust du auch nie. Dir ist es völlig egal, wie es deinen armen alten Eltern geht.«

Manipulative Erziehung beeinflusst unser Verhalten

Klar, wie die Botschaft lautet? Es gibt ein allgemeines Gut und Böse. Du bist böse, wenn du nicht tust, was wir dir sagen. Erwachsene fällen oft Werturteile und untergraben auf diese Weise das Selbstvertrauen von Kindern oder Jugendlichen. Außerdem drohen sie vielfach mit Liebesentzug und erzeugen somit Angst. Und da wir alle negative Gefühle vermeiden wollen, lernen wir als Kinder normalerweise sehr schnell, die gewünschten Verhaltensweisen zu zeigen und unsere Wünsche und Meinungen zu unterdrücken.

Zudem entziehen sich Eltern (Lehrer, Verwandte, Nachbarn, Gemeindepfarrer und später Freunde, Kollegen oder Chefs) durch diese Art der Manipulation der Verantwortung und damit zermürbenden Diskussionen: Eine andere Instanz hat entschieden und fordert das Verhalten, nicht man selbst. Nicht ich bin es, sondern Gott, die Moral, die Gesellschaft, die Schule, der Anstand, die Gesundheit, die Höflichkeit, die Mode, die guten Sitten. Diese Instanzen werden als Richter herangezogen, die die Handlungen des Kindes bewerten, beurteilen, verurteilen. Somit wird dem Kind klar gemacht, dass es nicht von seinem eigenen Urteil ausgehen darf. Andere haben das Recht, sein Verhalten und auch seinen Wert zu beurteilen.

|20|Richtig, Kinder können nicht tun oder lassen, was sie wollen. Irgendjemand muss sie erziehen und ihnen soziale Regeln und moralisches Verhalten beibringen, denn das antiautoritäre Erziehungskonzept ist inzwischen auch sehr umstritten. Vielleicht kann man sich aber auch anderer Methoden bedienen als der emotionalen Manipulation? Die will nämlich ein gewünschtes Verhalten über das Erzeugen negativer Gefühle und über das Untergraben des Selbstwertgefühls erzwingen. Damit kann ich deine Verhaltensweisen kontrollieren und meine Ängste davor in Schach halten. Ein selbstsicherer, souveräner Umgang miteinander hingegen sagt: Das, was du willst oder tust, ist nicht gut oder böse, sondern es beeinträchtigt mich, dich oder unser Zusammenleben. Also ändere bitte etwas, auch wenn es dir nicht gefällt. Dann können wir wieder harmonisch miteinander leben.

Abgesehen davon, dass Manipulation keine elegante Erziehungsmethode ist: Ein Gut oder Böse gibt es ohnehin nicht. Es gibt nur individuelles Einschätzen und persönliches Moralempfinden. Der oberste Richter – zumindest hier auf Erden – über Ihre Taten sind Sie selbst und Ihr Gewissen. Das allein übernimmt die Verantwortung und trägt die Konsequenzen. Sogar das in unserer Gesellschaft oberste Gebot des menschlichen Miteinanders, Du sollst nicht töten, wird nicht von allen Kulturen als absolut gültig anerkannt. Und selbst in so genannten zivilisierten Staaten wird es laufend legal außer Kraft gesetzt: im Krieg, bei der gesetzlichen Regelung der Notwehr, beim finalen Todesschuss in Geiselnahmen oder bei der Todesstrafe. Offensichtlich ist Töten nur in bestimmten Situationen böse.

Als Elternteil ist man nun einmal die Überwachungs- und Kontrollinstanz für sein kleines Kind. Man selbst bestimmt die Regeln und trägt die Verantwortung, nicht irgendwelche namenlosen Autoritäten. Viele Eltern vergessen allerdings, dass sich das mit zunehmendem Alter des Kindes ändert. Spätestens in der Pubertät dürfen sie die neue Verteilung der Verantwortung zugunsten ihrer |21|– hoffentlich selbstbewussten – Kinder daher auf oftmals unangenehme Art und Weise schmerzlich lernen.

Kinder sind von den Urteilen der Erwachsenen, von denen sie physisch und emotional abhängig sind, stark geprägt. So lernen Sie früh, dass Sie angeblich gute und schlechte Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben, über die andere urteilen wollen und dürfen. Ihr eigenes Urteil wird immer mehr zurückgedrängt. Auf diese Weise wird eine emotionale Abhängigkeit von der Anerkennung anderer Menschen geschaffen, die sich sehr gut zur Verhaltenskontrolle nutzen lässt. Je ausgeprägter diese – bewusste oder unbewusste – Manipulation in Ihrem Elternhaus war und je mehr Sie sie verinnerlicht haben, desto mehr haben Sie Ihr ursprüngliches Selbstvertrauen und Ihre innere Stärke zurückgenommen und beugen sich nun, zumindest äußerlich, diesen Erwartungen.

Doch Erwachsene sind selbst verantwortlich für ihre Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen – nicht es oder man, nicht die Gesellschaft, der Papst, die Amerikaner, das Wetter oder die Mode und so weiter.

Die Erwartungen an rollenkonformes Verhalten sowie die Kriterien sozialer Akzeptanz und Beliebtheit sind bei Männern und Frauen immer noch deutlich unterschiedlich ausgeprägt. Emanzipation hin oder her: Harmoniestreben tritt bei Frauen deutlicher zutage, obwohl es auch viele harmoniesüchtige Männer gibt. Die setzen mehr oder weniger die gleichen Vermeidungsstrategien ein – vielleicht ein wenig markiger verpackt und dem Rollenverhalten entsprechend abgewandelt. Männer haben zum Beispiel ihren Tränenfluss meist stärker unter Kontrolle als die Damen. Fluchttendenzen haben harmoniesüchtige Männer allerdings ebenso. Doch selbst wenn sie noch so virtuos vor Konflikten fliehen, sie elegant ignorieren oder mit trotzig gerecktem Kinn aussitzen: Sie werden dadurch nicht gelöst, sondern nur immer schlimmer.

|22|Gefühle und Beziehungen sind immer noch Frauensache

Sie als Frau sind nach wie vor überwiegend für harmonisches Miteinander zuständig. Sie sollten hilfsbereit, aufopfernd, kompromissbereit, nachgiebig, einfühlsam und verständnisvoll sein. Und sexy natürlich obendrein. Sie können zwar top-ausgebildet die Führungsebenen erobern und Unternehmen managen, Sie sollten aber dennoch nicht klüger und erfolgreicher sein als ein Mann – und auch nicht deutlich größer oder älter als der Herr an Ihrer Seite. Sie sollten keine Haare auf den Zähnen haben und als Regierungschefin ein eisernes Regiment führen. Tun Sie es doch, geraten Sie in den Verdacht, nicht wirklich weiblich zu sein. Vielmehr sollten Sie sich hauptsächlich um die Familie, die emotionalen Bedürfnisse Ihrer Mitmenschen und die sozialen Kontakte kümmern. Ihr eigenes Geld dürfen Sie zur Entlastung des Haupternährers natürlich trotzdem verdienen – wenn Sie dabei nur nicht Ihre Pflichten in Haus und Hof vernachlässigen.

Ja, das ist alles überspitzt formuliert, aber das tägliche Leben zeigt uns, dass solche oder ähnliche Erwartungen an Frauen immer noch existieren – teils implizit, teils explizit. Wir lernen am Modell und durch die Prägung und Erwartungen unserer Umwelt. Das klassische Familienmodell in unseren Breitengraden sieht weiterhin so aus: Der Vater ist der Ernährer und die Mutter die Hüterin der Familie. Und unsere Kinder werden nach wie vor danach erzogen. (Interessant: In Paarbeziehungen werden Verabredungen mit Freunden und Familientermine übrigens fast ausschließlich von den Frauen arrangiert.) Das Gegenmodell, in dem die Frau selbstbewusst, stark und autark ist, ruft anscheinend das völlig überzogene Bild der Feuer speienden, streitsüchtigen Emanze hervor. Und das nicht nur bei Männern. Für manche Frauen scheint dieses Horrorbild mangels positiver Vorbilder die einzige Alternative zur demütigen Sanftmut zu sein. Es ist so abschreckend für sie, dass sie lieber die Nachteile der |23|Harmoniesucht in Kauf nehmen, als zu solch einem Ungeheuer zu mutieren.

Diese (frühkindlichen) Prägungen haben wir in unterschiedlichem Ausmaß verinnerlicht und oft nicht bewusst hinterfragt. Wir agieren nach diesen Mustern, auch wenn wir heute erwachsen sind, für uns selber sprechen und einstehen können. Solche und ähnliche inneren Antreiber lassen uns immer wieder in die Harmoniefalle tappen:

Gefalle den anderen!

Sei nett!

Nimm Rücksicht!

Sei kein Egoist!

Wer Nein sagt, macht sich unbeliebt!

Gib keinen Anlass zur Kritik!

Helfersyndrom, Beißhemmung und das Fähnchen im Winde

Neben den früh gelernten Faktoren Erziehung, Prägung und Erwartungen der Umwelt gibt es natürlich noch ein paar weitere, eher »selbst gemachte« Ursachen der Harmoniesucht. Eine mangelnde Lebens- oder Zielorientierung kann ebenso dazu führen, dass wir gemäß den Wünschen anderer agieren, weil uns unsere eigenen nicht klar genug sind. Gefragt, was man will, zuckt man mit den Schultern und lässt den anderen bestimmen. Fatal ist es allerdings, wenn einem das Ergebnis hinterher nicht gefällt.

Oder der jedem Lebewesen angeborene Aggressionstrieb ist nur schwach ausgeprägt. Doch der ist absolut notwendig, um für unsere Interessen und Bedürfnisse einzustehen und unsere Unversehrtheit sowie unser Überleben zu garantieren. Wohlgemerkt, es geht hier nur um den gesunden Aggressionstrieb, der uns vor unrechtmäßigen Übergriffen anderer schützt und uns hilft, unsere |24|Grenzen deutlich zu machen. Sollte Ihnen Ihr Liebster einmal im Überschwang der Emotionen ein Veilchen verpassen wollen, wäre es angemessen, wenn Sie sich das mit genug Wehrhaftigkeit verbitten würden. Das gilt auch für andere Situationen: Nicht umsonst gibt es Selbstverteidigungskurse speziell für Frauen, in denen diese lernen, die selbst in Notsituationen stark ausgeprägte weibliche »Beißhemmung« zu überwinden.

Auch das »Helfersyndrom« lässt Frauen in die Harmoniefalle treten. Durch die Hilfe für andere bekommt man das angenehme und beruhigende Gefühl, gebraucht zu werden: Stolz kann man sich sagen, dass das Kindergartenfest ohne das eigene Zutun ein einziges Chaos geworden wäre. Dadurch, dass man anderen beistehen kann, wird ganz nebenbei das eigene Selbstwertgefühl aufgepäppelt. Man fühlt sich dem Bedürftigen überlegen: Die hilflose Brigitte hätte ihre Scheidung nie verwunden, hätte man sie nicht permanent aufgerichtet.

Passionierte Helfer und Helferinnen können übrigens ziemlich lästig werden, weil sie ihre Hilfe auch völlig unaufgefordert einbringen und sich dadurch in alles einmischen. Jeder kennt solche Situationen. Wehrt man sich dagegen, bekommt man häufig ein weinerliches »Aber ich habe es doch nur gut gemeint!« zu hören – einer der destruktivsten Sätze, die es gibt.

Weitere Kandidaten für die unfreiwillige »Überharmonie« sind stark emotional geprägte Menschen. Ihnen fällt es schwer, Situationen auch einmal leidenschaftsloser, distanzierter, logischer zu betrachten. Wenn auch Sie zu den empathischen Zeitgenossen gehören, sind Sie übermäßig schnell bereit, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Bei beleidigten oder enttäuschten Reaktionen suchen Sie die Schuld dann schnell bei sich selbst.

Bei allem Verständnis für Ihr Verständnis: So verlieren Sie die Angemessenheit und Legitimität der Handlungen, Wünsche und Forderungen des anderen völlig aus den Augen. Kaum rollen bei Ihrem Gegenüber ein paar Krokodilstränen, akzeptieren Sie auch |25|schon unangemessene bis unverschämte Ansinnen. Hinterher fragen Sie sich entsetzt, warum Sie diesen oder jenen Wunsch nicht einfach abgeschlagen haben. Und so verbringen Sie einen grauenvollen Urlaub am Gardasee mit der neuen, nervigen Kollegin, weil die angeblich so einsam ist. Dabei hatten Sie sich so sehr auf den beschaulichen Strandurlaub in Griechenland gefreut.

Ein weiterer fataler Mechanismus hält Frauen in der Harmoniefalle gefangen: Unglücklicherweise verknüpfen sie ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstbewusstsein mit dem Grad ihrer Beliebtheit. Je mehr zwischenmenschliche Anerkennung sie erreichen, desto mehr sind sie »wert«. Wenn sie mit jemandem nicht gut auskommen oder das Verhältnis getrübt ist, geben sie automatisch sich die Schuld und stecken zurück – ein massiver Dämpfer fürs Selbstwertgefühl. Furchtbar, wenn das Selbstvertrauen abhängig ist von den Launen und dem guten Willen anderer Menschen. Man kann nicht immer mit jedem gut klarkommen – muss man auch nicht.

Und zu guter Letzt kann das zu häufige Nachgeben und Zurückstecken um der Harmonie willen auch daran liegen, dass Sie nie geübt haben, sich durchzusetzen. Ihnen fehlen womöglich zielführende Strategien und Verhaltensweisen. Wenn Sie selbst in einer übertrieben harmoniebedürftigen Familie aufgewachsen sind, wurden Auseinandersetzungen vermieden und Konflikte unter den Teppich gekehrt. Sie hatten einfach nie Gelegenheit zu lernen, wie man sich gegen überzogene Forderungen und Übergriffe wehrt. Selbstverständlich tun Sie sich heute damit schwer.

Ursache erkannt – Gefahr gebannt? Fast, aber noch nicht ganz. Machen Sie sich im Folgenden die Stärken und Schwächen Ihres Harmoniebedürfnisses bewusst. Und vor allem den Preis, den Sie dafür zahlen müssen. Werfen Sie einen Blick auf Ihr Ziel: Sie wünschen sich harmonische Beziehungen in einer ausgewogenen Balance von Geben und Nehmen? Diese Beziehungen sollen erfüllend sein, bereichernd und geprägt von echtem gegenseitigem Respekt? Dafür lohnt es, sich auf eine ehrliche Selbstanalyse einzulassen.

|26|Monika und Maja: ein Fall(en)beispiel

Fassungslos sitzt Monika Schulte in ihrem Büro und weiß nicht, ob sie weinen oder toben soll. Wieder und wieder geht ihr das Gespräch durch den Kopf, das sie gerade zufällig im Kopierraum mitangehört hat. Monika ist Ende 20 und arbeitet in einer kleinen Werbeagentur. Der Job macht ihr Spaß. Er ist abwechslungsreich, und sie ist fachlich sehr erfolgreich. Mit ihrer Chefin Petra und den Kollegen kommt sie gut aus, sie ist allseits beliebt und respektiert. Dachte sie zumindest bis eben. Erschüttert zieht sie Bilanz über ihren Arbeitseinsatz in den vergangenen Monaten:

Wenn Not am Mann war, war sie immer die Erste – und oft auch die einzige –, die klaglos Überstunden machte und einem Kollegen unter die Arme griff. Sie weiß gar nicht mehr, wie viele Wochenenden sie in der Agentur verbrachte, weil sie ihren Kollegen Tina und Rolf während der Woche bei der Ausarbeitung ihrer Präsentationen geholfen hatte und ihre eigene Arbeit darüber vernachlässigte. Für Petra organisierte sie nebenher Meetings, weil deren Sekretärin überlastet war. Monika fühlte sich immer anerkannt und war stolz, dass die anderen gerade sie um Hilfe baten. Gegenseitige Hilfe unter Kollegen ist ja wohl selbstverständlich, und ohne Teamgeist läuft schließlich gar nichts.

Erst gestern jammerte Tina wieder, dass sie mit dem Präsentationsprogramm einfach nicht zurechtkäme und ohne ihre Hilfe aufgeschmissen sei. Monika, mit ihrer eigenen Arbeit unter Zeitdruck, erwiderte zaghaft, es passe im Moment nicht so recht. Tina sah sie aber derart verzweifelt an, dass sie ihre Hilfe nicht ausschlagen konnte. Aus diesem Grund fiel ihr abendliches Fitnesstraining aus, auf das sie sich gefreut hatte und das wegen ihrer Rückenprobleme notwendig war. Tina verschwand auffallend früh und fröhlich winkend zu einer privaten Verabredung. Was hat Monika hier alles an Zeit investiert – Betriebsfeiern organisiert zum Beispiel. Einer musste es ja schließlich machen. Und sie hat |27|nun mal »ein Händchen fürs Organisatorische«, wie Rolf immer so schön sagt.

Vor zwei Wochen bekam die Agentur den Zuschlag für einen neuen großen Werbeetat. Monika war sich sicher, dass Petra ihr die Verantwortung dafür übertragen würde. Sie ist am längsten dabei, hat die größte Erfahrung und ist fachlich qualifiziert für den Job. Und jetzt dies:

Sie war eben im Kopier- und Druckerraum, weil der Farbdrucker mal wieder nicht reagierte. Die Putzfrau hatte schon wieder das Verbindungskabel beim Staubsaugen herausgerissen, und so krabbelte Monika unter den Tisch in der Ecke, um es wieder einzustecken. In dem Moment betraten Tina und Rolf den Raum – offensichtlich in ein Gespräch vertieft.

»Gut, dass sie dir den Etat gegeben haben«, hörte Monika Rolf sagen. »Jemand anderes kam auch nicht in Frage.«

»Naja, mir tut es schon leid für unser Moni-Schäfchen. Sie ist deutlich länger da als ich«, sagte Tina. »Aber mal ehrlich: Kannst du dir vorstellen, wie sie ein Team leitet und dem Kunden Paroli bietet, wenn er was Unsinniges verlangt? Jeder macht doch mit ihr, was er will. Mir kommt sie vor wie ein Wackelpudding.«

Rolf lachte. »Schöner Vergleich. Irgendwie mag ich sie ja – sie ist halt so eine Liebe. Sicher, bisschen langweilig vielleicht. Aber es ist für uns alle von Vorteil, dass sie die lästigen Arbeiten immer so schnell an sich reißt. Nur ernst nehmen kann man sie halt nicht. Die fällt doch sofort um, wenn sie einer schief anguckt. Ich erwarte schon, dass man auch mal Rückgrat zeigt, egal, ob Mann oder Frau.«

»Meine Rede. Ich lass’ mich nicht so leicht unterkriegen. Sicher, das bedeutet jetzt mehr Arbeit, aber wenn ich Unterstützung brauche, habe ich ja immer noch Moni ...« Tina und Rolf sammelten ihre Kopien ein und schlenderten lachend hinaus.

So ist das also! Monika schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch und beißt sich auf die Lippe. Da opfert man sich auf, schlägt |28|sich die Wochenenden um die Ohren, ist hilfsbereit, kollegial und nett zu allen, will es immer allen recht machen – und was ist der Dank? Wackelpudding! Anscheinend ist sie in der Agentur weder beliebt, noch wird sie respektiert. Jetzt geht ihr auch auf, dass sie die Kollegen immer zu ihrem Geburtstag einlädt, selbst aber nie dazu gebeten wird. Und was besonders schmerzt: Die Agenturchefin Petra hat ihr diese Entscheidung noch nicht einmal persönlich mitgeteilt.

Everybody’s Darling, everybody’s Depp. Monika ist auf allen Ebenen voll in die Harmoniefalle getappt. Sie wollte harmonische Beziehungen zu ihren Kollegen und ihrer Chefin, keine Streitereien und Konflikte im Team. Sie wollte ein ungestörtes Verhältnis zu ihren Mitmenschen, nirgendwo anecken, anerkannt und gemocht werden, bei allen beliebt sein. Und dafür hat sie ihre Stärken voll eingesetzt: Einfühlungsvermögen in die Situation des Gegenübers, Sensibilität für die Emotionen und Bedürfnisse anderer, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Toleranz und Verständnis, Schlichtungs- und Vermittlungskompetenz bei Meinungsverschiedenheiten.

Dabei hat sie leider völlig vergessen sich abzugrenzen, für ihre eigenen Bedürfnisse und Rechte einzustehen, ihre innere Stärke einzusetzen, in unangenehmen Situationen ihren Standpunkt zu verteidigen und auch einmal Nein zu sagen. Sie hat keinerlei persönliches Profil und Durchsetzungskraft gezeigt – und keinen Mut, aufzubegehren und auch mal etwas Neues zu wagen, selbst wenn es den anderen vielleicht nicht gefallen wird.

Wie soll sie es bloß allen recht machen?

Ohne diese Balance schnappt die Harmoniefalle zu: Die potenziellen Stärken kehren sich um in Schwächen. Verständnis und Toleranz werden zu Naivität und führen zu Entscheidungs- und |29|Handlungsunfähigkeit: Entscheidet sie sich für A, gefällt es dem einen nicht, entscheidet sie sich für B, ist ein anderer unzufrieden. Übertrieben diplomatische Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse und Meinungen aller lässt Monika zum Fähnchen im Winde werden. Ohne Courage stimmt sie demjenigen zu, mit dem sie gerade spricht, auch wenn sie das Thema insgeheim für Schwachsinn hält. Nur niemanden durch Widerspruch verärgern und die Harmonie gefährden, nicht wahr? So kommt es, das Monika kein wahrnehmbares individuelles Profil hat und von niemandem ernst genommen wird. Ein Wackelpudding eben, irgendwie fad und langweilig.

Alles stets unkommentiert zu schlucken und Konflikten permanent aus dem Weg zu gehen, geht natürlich nicht spurlos an Monika vorüber. Irgendwo muss die negative Energie ja bleiben. Und weil sie sie nicht im Gespräch verarbeiten und konstruktiv einbringen kann, wirkt sie sich eben woanders aus: Sie hat nicht umsonst Nackenverspannungen und Rückenprobleme.

Außerdem fehlen Monika durch das vorschnelle Zustimmen konkrete Lernerfahrungen: Wie reagieren Menschen wirklich, wenn man ihnen widerspricht oder etwas abschlägt? Da hat sie nur Vermutungen, die sich im Rahmen eines Horrorszenarios bewegen. Aufgrund ihres übertriebenen Verständnisses von Harmonie ist sie extrem empfindlich für Kritik. Die schmettert sie völlig nieder – sei sie auch noch so vorsichtig geäußert. Kritik an einem Tippfehler versteht Monika gleich als Hinterfragung ihrer ganzen Person. Wegen einer Lappalie befürchtet sie, nicht mehr gemocht zu werden. Auf diese Weise verbaut sie sich Lernchancen und geht Möglichkeiten zur Weiterentwicklung aus dem Weg. Jeder macht Fehler, die Kritik hervorrufen können – doch für Menschen ist diese Rückmeldung wichtig. Aber Monika würde es nie wagen, Kritik zu äußern. Sie findet lieber immer alles toll. Kein Wunder, dass sie immer seltener nach ihrer Meinung gefragt wird. Denn die ist nichtssagend.

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ISBN der Printausgabe: 978-3-593-37772-1

E-Book ISBN: 978-3-593-40155-3

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