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Ein Buch wie ein aussetzender Herzschlag! Romantic Suspense meets dead best friend-Trope ... und zwei Twists, die du nicht kommen siehst! Ein Unfall hat alles verändert: Ella lebt, und ihre beste Freundin nicht. Die Schuld daran gibt sich Ella selbst. Alles erinnert sie an Hayley – besonders Sawyer, Hayleys Boyfriend. Keiner versteht Ella und ihren Schmerz so wie Sawyer, und bald wird ihr etwas Schreckliches klar: Sie ist in den Freund ihrer toten besten Freundin verliebt. Sawyer scheint es genauso zu gehen. Doch Ella spürt, dass da etwas Dunkles ist, das ihn umgibt. Ist es Liebeskummer – oder vielleicht seine Begierde nach Hayley, die nie wieder gestillt werden kann? Verzweifelt und voller Schuldgefühle sucht Ella ausgerechnet in Hayleys Tagebuch Halt – und entdeckt eine erschütternde Wahrheit: Sawyers Beziehung mit Hayley war alles andere als perfekt. Und Ella bekommt zunehmend Angst vor dem, wozu Sawyer im Namen der Liebe fähig ist … Liebe lässt uns böse Dinge tun ... Ein süffiger Roman über die Abgründe verbotener Liebe und voller Geheimnisse, der dir den Boden unter den Füßen wegziehen wird! Für alle Fans von Karen McManus und Ana Huang. »Ein düsterer und romantischer Thriller für alle, die sexy Suspense lieben.« Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 471
Sloan Harlow
Liebe lässt uns böse Dinge tun
Ein Buch wie ein aussetzender Herzschlag! Romantic Suspense meets dead best friend-Trope ... und zwei Twists, die du nicht kommen siehst!
Ein schrecklicher Unfall hat alles verändert: Ella lebt, und ihre beste Freundin nicht. Die Schuld daran gibt sich Ella selbst. Alles erinnert sie an Hayley – allem voran Sawyer, Hayleys Boyfriend. Keiner versteht Ella und ihren Schmerz so wie Sawyer, und bald wird ihr etwas Schreckliches klar: Sie ist in den Freund ihrer toten besten Freundin verliebt. Und Sawyer scheint es genauso zu gehen. Doch Ella spürt, dass da etwas Dunkles ist, das ihn umgibt. Etwas, dem sich Ella nicht entziehen kann. Ist es Liebeskummer – oder vielleicht seine Begierde nach Hayley, die nie wieder gestillt werden kann?
Verzweifelt und voller Schuldgefühle sucht Ella ausgerechnet in Hayleys Tagebuch Halt – und entdeckt eine erschütternde Wahrheit: Sawyers Beziehung mit Hayley war alles andere als perfekt. Und Ella bekommt zunehmend Angst vor dem, wozu Sawyer im Namen der Liebe fähig ist …
Dieses Buch kann sensible Themen und potenziell triggernde Elemente enthalten. Weitere Informationen dazu findest du hinten im Buch. (Achtung, diese Hinweise enthalten Spoiler!)
Liebe lässt uns böse Dinge tun ... Ein süffiger Roman über die Abgründe verbotener Liebe und voller Geheimnisse, der dir den Boden unter den Füßen wegziehen wird!
Für alle Fans von Karen McManus und Ana Huang.
»Ein düsterer und romantischer Thriller für alle, die sexy Suspense lieben.« Kirkus Reviews
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Sloan Harlow träumt bereits seit ihrer Kindheit davon, Schriftstellerin zu werden. Zusammen mit ihrer Katze Pabu lebt sie im US-Bundesstaat Georgia, wo sie versucht, so viel violette Yams-Eiscreme wie möglich zu essen. »Everything We Never Said« ist ihr YA-Debüt.
[Widmung]
1 Ella
2 Ella
3 Ella
4 Sawyer
5 Ella
6 Ella
7 Ella
8 Sawyer
9 Ella
10 Hayleys Tagebuch
11 Ella
12 Ella
13 Sawyer
14 Ella
15 Ella
16 Sawyer
17 Ella
18 Ella
19 Hayleys Tagebuch
20 Ella
21 Sawyer
22 Ella
23 Hayleys Tagebuch
24 Ella
25 Ella
26 Ella
27 Hayleys Tagebuch
28 Ella
29 Hayleys Tagebuch
30 Ella
31 Sawyer
32 Ella
33 Ella
34 Hayley
35 Hayleys Brief
36 Ella
37 Sawyer
38 Ella
39 Ella
Danksagung
Hilfe für Betroffene
Für alle Hayleys und Ellas dieser Welt
und alle anderen, die irgendwann einmal einsam gewesen sind
Es regnet in Strömen. Draußen vor dem Fenster tobt eines dieser heftigen Gewitter, die wir hier in Georgia öfter haben, und der Montagmorgen beginnt mit Blitzen und Donner. Ich liege seit Stunden wach, höre dem Heulen des Winds zu und stelle mir vor, wie eine Sturmbö die Hauswand zerlegt und mich mit sich fortreißt.
Der Holzboden vor meinem Zimmer knarrt. Durch den Spalt unter der Tür sehe ich, wie sich der Schatten meiner Mutter bewegt. Die Dielen ächzen unter ihren Füßen. Sie zögert. Soll sie klopfen oder nicht?
Mom geht wieder. Ihre Schritte bewegen sich auf das Schlafzimmer meiner Eltern zu.
Anscheinend hat sie sich für nicht klopfen entschieden.
Vor einem Jahr wäre sie hereingeplatzt und hätte mir eine Standpauke gehalten, weil ich noch im Bett liege. Vor einem Jahr wäre ihr Schweigen undenkbar gewesen. Doch vor einem Jahr war alles anders. Ich habe dieses Schweigen verdient, das mir wie ein Stein am Hals hängt. Und mit dieser Buße schlage ich die Decke zurück und tue das Unmögliche:
Ich mache mich für den ersten Tag meines letzten Schuljahrs an der North Davis High fertig.
Es fühlt sich zwar an wie ein anderes Leben, aber ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie nervös ich am ersten Tag in der elften Klasse war. Meine schwarzen Haare hatten vor der hohen Luftfeuchtigkeit in Georgia kapituliert und ließen sich nicht mal mehr mit Arganöl bändigen. Und der Katzenaugen-Look, der am Abend vorher noch eine Femme fatale aus mir gemacht hatte, sah plötzlich so aus, als wäre ich der Joker und würde Gotham City mit Lachgas erpressen wollen.
Ich war in Panik geraten, hatte meiner absolut besten Freundin ein Selfie geschickt und Hilfe!!! dazugeschrieben.
Hayley hatte sofort geantwortet. Soll das ein Witz sein? Du siehst megacool aus. Komm schnell rüber, dann helfe ich dir mit den Haaren. Gegen mein Glätteisen kann selbst unser Sommer nichts ausrichten.
Aber heute?
Heute ziehe ich das an, was auf dem Boden vor meinem Bett liegt: die Jeans, die ich gestern schon anhatte (und vorgestern und vorvorgestern), und ein graues Sweatshirt, auf dem noch der Salsa-Fleck von letzter Woche prangt. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe.
Die Trauer hat eine tiefe Schlucht zwischen mir und dem dummen Mädchen von vor einem Jahr entstehen lassen, dessen größtes Problem ein misslungener Lidstrich und widerspenstige Haare waren. Ich hasse sie.
Ich wäre gern wieder so wie sie.
Als ich die Highschool betrete, habe ich das Gefühl, als würde ich nicht als Ella zurückkehren, sondern als ihr Schatten, als lebendes Geistermädchen. Der Gedanke daran tut so weh, als hätte sich mein Herz an Papier geschnitten. Ich wünschte, ich wäre ein Geist. Vielleicht könnte ich dann die Grenze zum Jenseits überwinden und immer noch mit Hayley reden. Ihr sagen, was wichtig ist.
Zum Beispiel, dass Albert Wonsky ihren Spind bekommen hat. Sie würde laut aufstöhnen und so etwas sagen wie: Bitte, bitte rette meine Fotos von Pedro Pascal, bevor mein Beinahe-Ehemann unter Alberts Porno-Animes verschwindet. Und ich würde lachen und antworten: Tut mir leid, zu spät.
Ich würde ihr sagen, dass die Delle immer noch da ist. Die Delle, die ich in einen der Spinde getreten habe, nachdem ich nur elf Punkte in Latein bekommen hatte. Und die Delle, die sie direkt daneben in das Metall getreten hat. »Wegen der glaubhaften Abstreitbarkeit«, hat sie damals gesagt. »Das bedeutet etwas anderes«, habe ich geantwortet.
Ich würde ihr sagen, dass in der Nische neben dem Musikraum immer noch das Wachs einer rosa Geburtstagskerze klebt. Die Nische, in der Sawyer Hawkins und ich uns versteckt haben, bevor wir breit grinsend mit Ballons und einem brennenden Cupcake in der Hand herausgesprungen sind und »Alles Gute zum Geburtstag!« gebrüllt haben.
Sawyer.
Sein Name fühlt sich an wie eine Faust, die mir jemand in den Magen schlägt. Ich kann heute nicht an ihn denken. Das ist zu viel für mich. Wenn ich es trotzdem tue, werde ich mir wieder die Rippen brechen.
Und genau deshalb läuft mir Sawyer auch ausgerechnet jetzt über den Weg. Da ist er, am Ende des Flurs. Er redet mit Mike Lim, den er um einen Kopf überragt, und verzieht sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen, als würde es um etwas Lustiges gehen.
Es macht mir so zu schaffen, dass ich stehen bleibe. Ich lehne mich gegen die Wand und drücke meine Bücher so fest an mein Brustbein, dass der Abdruck von Differenzial- und Integralrechnung I vermutlich erst in ein paar Tagen wieder von meiner Haut verschwinden wird.
Plötzlich starrt Sawyer mich an, als würde er meine Gegenwart spüren. Mir bleibt die Luft weg. Zum ersten Mal seit der Beerdigung sehe ich seine sanften braunen Augen.
Doch der Blick, den er mir zuwirft, ist alles andere als sanft.
Sawyer, der einzige Junge aus meinem Bekanntenkreis, der Monatstage einer Beziehung mit kleinen, perfekten Geschenken feiert, der uns während eines ganzen Twilight-Marathons mit Popcorn und Sprite versorgt hat, als Hayley mal krank war, der meine beste Freundin so sehr geliebt hat wie ich …
Dieser Sawyer funkelt mich jetzt derart wütend an, dass ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen.
Ich wusste es. Er gibt mir die Schuld daran.
Ich sollte ihm in die Augen sehen. Ich sollte mich von seinem vorwurfsvollen Blick verbrennen lassen. Schließlich habe ich es verdient, für das, was ich ihm genommen habe. Was ich ihr genommen habe.
Stattdessen drehe ich mich um, unterdrücke ein Schluchzen und will aus dem Flur und aus der Schule rennen, vielleicht für immer. Und dann stoße ich mit Mr Wilkens zusammen.
»Hoppla! Nicht so schnell!« Der Schulpsychologe taumelt nach hinten, streckt die Arme aus und packt mich an den Schultern, damit ich nicht hinfalle.
»Oh Gott, es tut mir so leid«, keuche ich verlegen.
»Nein, nein, Ella. Das ist schon okay. Nichts passiert.« Er versucht, mir in die Augen zu sehen. »Hallo. Hallo. Ich bin froh, dass wir zusammengestoßen sind. Wie geht es Ihnen?«
Ich zucke nur mit den Schultern, weil ich Angst habe, dass mir die Stimme versagt.
»Hm. So gut?« Mr Wilkens ist eigentlich immer glatt rasiert, aber heute sind an seinem Kinn ein paar Bartstoppel zu sehen. Und seine sonst immer strahlend blauen Augen wirken irgendwie verwaschen, als hätte sich ein Schleier darübergelegt. Vielleicht gehört er zu den Psychologen, denen tatsächlich etwas an ihren Schülern liegt. Vielleicht ist er heute Morgen auch traurig.
Ein schöner Gedanke.
»Ella«, meint er, »ich weiß, dass heute ein schwerer Tag für Sie ist. Und ich hoffe, Sie wissen, dass ich immer für Sie da bin.« Er sieht aus, als wollte er noch mehr sagen, doch es läutet, was seinen Gedankengang unterbricht. »Ah, jetzt rettet mich die Glocke.« Er lacht. »Sie sollten nicht zu spät zum Unterricht kommen. Wir reden später, okay?«
Er blickt mir mit gerunzelter Stirn nach, als ich gehe. Ich finde es sehr nett von ihm, dass er sich Sorgen macht. Dass er helfen will. Machen Sie sich keine Gedanken um mich, Mr Wilkens, sollte ich zu ihm sagen. Sparen Sie sich Ihre Mühe und Zeit für Schüler, die kein hoffnungsloser Fall sind. Schüler, die es verdient haben.
Schüler, die nicht ihre beste Freundin getötet haben.
Den ganzen Tag lang versuche ich, unsichtbar zu sein. Ich versuche, die anderen zu ignorieren, die mich anklagend anstarren oder mir mitleidige Blicke zuwerfen. Aber es ist unmöglich. Als ich an den Mädchen vorbeigehe, die am Trinkbrunnen herumstehen, verstummen schlagartig alle Gespräche. In der Englischstunde beugt sich Seema Patel zu mir und hält mir eine Tüte mit sauren Fruchtgummis hin. »Kannst du bestimmt gut gebrauchen.«
Und als ich vor der Mittagspause zu meinem Spind schleiche, tauchen plötzlich Leute auf, denen ich aus dem Weg gehen wollte: meine alte Clique. Besser gesagt, der Rest davon. Plötzlich stehen Nia Wiley, Beth Harris, Rachael Even und sogar Scott Logan um mich herum. Sawyer natürlich nicht. Aber es fehlt eben jemand, und dadurch entsteht ein Loch, das so groß ist wie ein Krater.
Eigentlich sind es Hayleys Freunde. Nia und Beth waren mit ihr zusammen im Laufteam, Beth und Rachael sind seit der neunten Klasse ein Paar, und Scott ist ein aufdringlicher Typ, den man einfach nicht loswird, egal wie oft man es versucht – fünfzig Prozent Pausenclown, fünfzig Prozent arroganter Teenager. Hayley hat mich in die Clique gebracht, aber ohne sie fehlt der Klebstoff. Ich werde ihre Anrufe noch eine Woche oder so ignorieren, dann werden sie mich in Ruhe lassen, und alle werden sich wohler fühlen.
Jetzt aber fällt mir Beth erst mal um den Hals.
»Ella, wo bist du gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du dich nicht gemeldet hast! Ich habe dich den Sommer über jeden Tag angerufen!«
Nia streckt den Arm aus und schiebt Beth von mir weg. »Und wie ich gesagt habe, hätte ich vermutlich auch nicht geantwortet, wenn du mich jeden Tag mit Anrufen genervt hättest.«
Beth zieht eine Schnute und lehnt sich an Rachael, während Nia den Kopf schüttelt und mir einen entschuldigenden Blick zuwirft. »Wir wollten einfach wissen, wie es dir geht, Ella. Ich meine, abgesehen von dem, was wir uns denken können.«
»Du fehlst uns.« Rachael lächelt mir etwas zaghaft zu, während Beth zustimmend nickt. Nia rammt Scott, der hinter ihnen steht und angestrengt auf sein Handy starrt, ihren Ellbogen in die Seite.
»Ja, Ella, wir sind natürlich alle für dich da.« Scott hebt ungefähr eine halbe Sekunde lang den Blick von seinem Handy.
Nia starrt ihn wütend an, dann dreht sie sich zu mir, und ihr Blick wird weicher. »Schätzchen, wie geht es dir?«
Beth und Rachael scheinen nervös zu sein, Scott beachtet mich gar nicht. Das ist mir alles lieber als der mitleidige, allzu wissende Ausdruck in Nias Augen.
»Es ist schwer, aber mir geht’s gut. Ehrlich.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln, während ich meinen Spind abschließe. »Ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen. Ich weiß das zu schätzen, wirklich. Aber ich bin okay.«
Beth und Rachael sehen erleichtert aus. Nia runzelt die Stirn.
»Ella, du weißt, dass du –«
»Ihr habt doch gehört, was sie gesagt hat«, wirft Scott ein, als es läutet. »Ihr geht’s gut. Ihre Chakren sind offen, ihre Aura sieht gut aus, ihr Merkur ist rückläufig oder was auch immer. Ich habe jetzt Spanisch und will nicht zu spät kommen.«
Nia starrt ihm wütend hinterher, als er weggeht, sagt aber nichts weiter. Zur Abwechslung bin ich mal froh, dass Scott so ein Arsch ist.
Es hört nicht mit meinen alten Freunden auf. Auch jeder Lehrer und jede Lehrerin will wissen, ob alles in Ordnung ist.
Sie fassen mich am Ellbogen und fragen mit leiser Stimme, wie es mir geht, genau wie Mr Wilkens. Was erwarten sie denn? Was soll ich ihnen in den drei Minuten zwischen zwei Unterrichtsstunden erzählen? Alles, was ich in den vier Monaten seit Hayleys Tod nicht mal meinen Eltern oder den vielen Psychologen und Therapeuten habe sagen können? Ich gebe ihnen die einzige Antwort, die ich für sie habe, die einzige Antwort, die sie hören wollen: »Gut. Mir geht es gut.«
Wie durch ein Wunder verstreicht die Zeit, was mich dem Ende des Tages immer näher bringt. Trotzdem komme ich mir vor, als würde ich auf offener See in einem Ruderboot mit Löchern sitzen, durch das Wasser hereinströmt. Jedes Loch ist eine Erinnerung – der leere Platz in der dritten Stunde, der Tisch, an dem wir seit drei Jahren immer gesessen haben, in der Mittagspause. Das Meer ist aufgewühlt, und ich versuche verzweifelt, jede undichte Stelle zu stopfen, damit nicht noch mehr Wasser hereindringt. Die Wellen schlagen gegen das Boot, und beinahe wäre ich gekentert, doch ich schaffe es gerade so, mich über Wasser zu halten.
Um 15.15 Uhr ist der Unterricht zu Ende.
Endlich.
Ich renne auf den Ausgang zu, als ich von einer Stimme aufgehalten werde.
»Ms Graham! Ich habe nach Ihnen gesucht.« Ms Langley, die Keramiklehrerin, steht in der Tür des Kunstraums und winkt mir zu. Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick auf die Flügeltür am Ende des Korridors, über der das Schild mit der Aufschrift Ausgang leuchtet, dann gehe ich zu ihr.
»Hallo, Ms Langley«, sage ich, während ich den Schultergurt meiner Büchertasche zurechtrücke. Meine Südstaaten-Höflichkeit liegt im Clinch mit dem dringenden Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
»Ich wollte Ihnen nur schnell etwas geben.« Sie bedeutet mir zu warten, dann taucht sie einen Moment später wieder auf, mit einem kleinen Karton in der Hand. Auf die Seite hat sie mit einem Filzstift Ella und Hayley geschrieben. In dem Karton sind zwei handgemachte Keramiktassen.
Und jetzt ist es so weit – das winzige Ruderboot, das ich den ganzen Tag nur mit Mühe über Wasser gehalten habe, fängt einfach so zu sinken an.
»Ich dachte, Sie möchten die Becher haben«, flüstert Ms Langley. »Sie sind erst in den Brennofen gekommen, nachdem … jedenfalls habe ich sie für Sie aufbewahrt.«
»Ähm«, stottere ich, während ich heftig blinzelnd in den Karton starre.
Es war Hayleys Idee gewesen, Tassen füreinander zu machen. Kaffeebecher für später, wenn wir uns an der University of Georgia ein Zimmer teilen. Hayley war so stolz gewesen, als sie mir ihren Entwurf gezeigt hatte, eine Tasse mit einem großen G an der Seite. G wie … Gebiss. Als ich protestierte und sagte, dass ich auf keinen Fall aus einem Gebissbecher trinken werde, hob sie abwehrend die Hand.
»Jetzt warte doch mal. Das hier ist eine Tasse, die du dein ganzes Leben lang benutzen wirst. Sie ist für die beste Phase unserer Freundschaft gedacht: Wenn wir alt und senil sind. Das wird bestimmt lustig.« Hayleys grüne Augen funkelten schelmisch. »Jedes Mal, wenn wir uns sehen, werden wir sofort wieder beste Freundinnen werden.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Außerdem hast du dann gleich etwas, in dem du dein Gebiss aufbewahren kannst.«
Die Tassen sind toll geworden.
Ich bekomme kaum mit, dass ich mich von Ms Langley verabschiede. Dann verlasse ich wie im Nebel die Schule und starre die ganze Zeit auf die Tassen im Karton, die aneinanderstoßen und leise klirren. Ich würde gern wegsehen. Ich will, wirklich. Am liebsten würde ich die Kaffeebecher in eine tiefe Schlucht werfen, aber ich weiß, dass es sich so anfühlen würde, als würde ich mir eines meiner Organe herausreißen und darauf herumtrampeln. Aus irgendeinem Grund muss ich diese Tassen behalten.
Ich streiche mit dem Finger über die Tasse, die Hayley gemacht hat. Am unteren Rand, wo sie vergessen hat, den Ton zu glätten, ist eine kleine Einbuchtung. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich dünne, gebogene Linien, die ein Muster ergeben.
Hayleys Fingerabdruck.
Mir ist nur noch vage bewusst, dass sich um mich herum eine Welt befindet. Vielleicht Gras, ein Himmel. Laute Stimmen, die aus weiter Ferne zu mir dringen.
Im Moment kann ich mich nur darauf konzentrieren, meinen Finger in diese kleine Vertiefung zu drücken.
Es geht alles so schnell.
Scheinwerferlicht vor mir, ein Bus kommt auf mich zu. Schreie, dann eine laute Hupe, die sich anhört wie das Brüllen eines großen Drachen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, mein letzter Gedanke ist Pass auf die Tassen auf!, und dann kippe ich nach hinten.
Ich sterbe nicht.
Ich pralle gegen etwas Festes. Mein Gehirn hält es aus irgendeinem Grund für eine Wand, aber die Wand ist warm und hat einen Herzschlag. Jemand hat mich zur Seite gezogen. Jemand hat mich gerettet.
Als ich den Kopf hebe, sehe ich die weit aufgerissenen Augen von Sawyer Hawkins vor mir.
»Sawyer!« Ich ringe nach Luft, reiße mich von ihm los und starre ihn an. Meine Büchertasche liegt auf dem Rasen vor der Schule, doch den Karton halte ich noch in der Hand, und die Tassen sind wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben.
»Ella.« Sawyer keucht heftig, sein Gesicht ist starr vor Schreck. Eine Hand hat er auf seinen Oberkörper gelegt, mit der anderen rauft er sich die Haare. Er holt ein paarmal tief Luft und schließt die Augen. Als er sie wieder aufmacht, steht blanke Wut darin.
»Ella«, fährt er mich an, »was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Du hättest sterben können. Richtig sterben. Und wenn ich jetzt nicht da gewesen wäre, wenn ich dich nicht beobachtet hätte? Mann, Scheiße!«
»Und? Warum hast du?« Ich brauche eine Weile, bis mir klar wird, dass ich das gerade laut gesagt habe.
»Wie bitte?« Er stutzt und sieht mich verwirrt an.
»Warum hast du mich beobachtet?« Ich muss schlucken. »Und warum hast du mich eigentlich gerettet?« Tränen schießen mir in die Augen. Ich kann nicht mehr so tun, als würde es mir gut gehen.
Sawyer wird blass. Die Wut in seinen Augen verschwindet, und das, was ich gerade gesagt habe, scheint ihn mehr zu treffen als mein Beinahe-Unfall. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippe und macht den Mund auf, aber es kommt kein Ton heraus.
Ich will seine Antwort hören. Ein mikroskopisch kleines Gefühl der Hoffnung in meinem Magen fleht mich an, zu bleiben, mir anzuhören, was er zu sagen hat.
Aber ich tue es nicht. Ich kann nicht.
Ich kenne die Antwort schon. Und irgendetwas Nettes von ihm wäre nur Mitleid, das ich nicht verdient habe. Ich drehe mich um und gehe.
Er ruft mir nichts nach. Das kleine bisschen Hoffnung in mir will mich dazu zwingen, einen Blick über die Schulter zu werfen, nur einen. Aber ich tue es nicht.
Und ich schwöre, dass ich nie wieder mit Sawyer reden werde.
Als ich im Bus nach Hause sitze und die Stirn an das schmutzige Fenster lehne, muss ich immer wieder an den Moment denken, in dem ich fast gestorben wäre. Die Scheinwerfer, der Geruch nach verbranntem Gummi und Benzin. Keine Zeit zum Schreien, keine Zeit dafür, an irgendetwas zu denken als an die Tassen im Karton, die jetzt leise auf meinen Schoß klirren.
Hayley, hattest du Zeit zum Denken?
So, wie ich Hayley kenne, hat sie vermutlich ihre Knöchel knacken lassen und gesagt: Na, dann zeig mal, was du zu bieten hast.
Ich verstehe immer noch nicht, warum sie gestorben ist und ich überlebt habe.
Und Sawyer versteht es offenbar auch nicht.
Was hätte er geantwortet, wenn ich gewartet hätte? Hätte er mir gesagt, was er wirklich denkt?
Ich kenne Sawyer. Er ist kein Monster. Natürlich hätte er gesagt: Ella, ich bin so froh, dass dich der Bus nicht vor meinen Augen plattgemacht hat. Auch wenn er eigentlich der Meinung ist, dass nicht Hayley, sondern ich bei dem Unfall hätte sterben sollen.
Ich wäre tatsächlich fast gestorben. Jedenfalls haben sie das im Krankenhaus zu mir gesagt, als ich dort mit gebrochenen Rippen, einer Gehirnerschütterung und ohne Erinnerung an die letzten vierundzwanzig Stunden aufgewacht bin.
Eine »Trauma-Reaktion«, haben die Ärzte gesagt. »Ganz normal.« Als wäre irgendetwas davon normal. Sie haben gesagt, dass meine Erinnerungen zurückkommen werden, aber bis jetzt … nichts. Und angesichts dessen, was die Polizeibeamten mir erzählt haben, weiß ich nicht, ob ich sie überhaupt zurückhaben will.
Es ist im Frühjahr passiert, nach einer Party in Scotts Haus, nur ein paar Wochen vor Beginn der Sommerferien. Laut Aussagen von Zeugen habe ich ein Bier gekippt und dann Hayley, die betrunken und völlig außer sich gewesen ist, in mein Auto verfrachtet und mich ans Steuer gesetzt. Wir sind auf dem Weg nach Hause gewesen, als ich kurz vor der Brücke über den Silver River die Leitplanke durchbrochen habe und gegen einen großen Felsen auf der Böschung geprallt bin. Mich haben sie auf dem Fahrersitz gefunden, nur wenige Meter vom Ufer entfernt.
Hayley wurde vom aufgewühlten Wasser des Flusses mitgerissen.
Von ihr blieb nur ein großes Loch in der Windschutzscheibe, durch das sie aus dem Wagen geschleudert wurde, und ihr Blut auf dem gesprungenen Glas. Sie war nicht angeschnallt, und wenn der Aufprall sie nicht getötet hat, dann mit Sicherheit der Fluss. Er hat eine starke Strömung und ein abruptes Gefälle und ist mit zerklüfteten Felsen durchsetzt. Jeder in Cedarbrook weiß, wie tückisch er ist. Selbst die besten Polizeitaucher haben gezögert, in den Fluss zu steigen. Als es nach einer Woche keine Ergebnisse gab und einer der Taucher fast ertrunken wäre, wurde die Suche nach ihr für beendet erklärt.
Hayley ist tot, und es ist alles meine Schuld. Ich habe das Bier getrunken. Ich bin gefahren. Ich habe sie getötet.
Der Bus hält mit einem lauten Ächzen an, und ich bin endlich zu Hause.
Als ich in der Einfahrt stehe, wirft die goldene Nachmittagssonne lange Schatten auf den Rasen. Es wird zwar langsam dunkler, doch die drückende Schwüle hat nicht nachgelassen.
Ich betrete das Haus, alles ist ruhig. Noch vor einem Jahr hätte mich meine Mutter bereits an der Tür überfallen. Lass uns deinen Stundenplan durchgehen, ist das Programm für den Schwimmwettbewerb schon verteilt worden, hat Mrs Prescott meine E-Mail bekommen? Meine jüngere Schwester Jess hätte mitleidig die Augen verdreht, und kurze Zeit später wäre mein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen und hätte mich mit einem kleinen Scherz gerettet. Meine Mutter hätte ihm einen Klaps auf den Arm gegeben und lachen müssen.
Die Hälfte der Zeit ist Hayley bei mir zu Hause gewesen, und dann hat sich Mom immer auf sie konzentriert und sich um sie gekümmert wie eine Glucke um ihr Küken, obwohl sie gar nicht ihre Tochter war. Hayley hat es genossen. Sogar dann, wenn meine Mutter mit ihr geschimpft hat, weil sie wieder einmal nur acht Punkte bekommen hatte.
Vor meinen Füßen miaut etwas, und dann reibt sich eine kleine, graue Katze an meinem Bein. Sie starrt mich mit ihren grünen Augen an und maunzt noch einmal.
»Midna, wo ist dein Halsband? Du bist ja schon wieder ohne.« Ich balanciere den Karton mit den Tassen auf der Hüfte, beuge mich vor und hebe Midna mit einer Hand hoch. Sie schnurrt, als ich mein Gesicht an ihr Fell drücke und sie nach oben zu meinem Zimmer trage. Ich drücke die Tür mit der Schulter auf, und Midna springt von meinem Arm herunter auf meinen Schreibtisch. Die Bewegung bringt die Tassen zum Klirren. Während ich den Karton auf den Boden stelle und unter mein Bett schiebe, spüre ich ein schmerzhaftes Stechen in meinem Herzen.
Und dann fällt mir auf, was Midna auf meinem Schreibtisch mit ihren Pfoten berührt. Ich nehme das mit Eselsohren versehene Exemplar von Die Geheimnisse des Hexenzirkels in die Hand, der zweite Band von Die Königreiche der Wunder. Eine meiner Lieblingsserien.
»Du hast es noch nicht gelesen, hab ich recht?« Jess lehnt sich an den Türrahmen. Grüner Lidschatten und dunkles Lipgloss betonen ihr hübsches Gesicht. Das Make-up stammt mit ziemlicher Sicherheit von ihrer besten Freundin Kelly, die bereits im zarten Alter von vierzehn ein Beauty-Guru ist. Ich unterdrücke einen Anfall von Neid, als ich mir vorstelle, wie eine kichernde Kelly mit dem Pinsel über die Augenlider meiner Schwester fährt.
Ich muss mich räuspern.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass es schon erschienen ist«, flüstere ich. Nach allem, was geschehen ist, habe ich es komplett vergessen. Ich hatte mir das Erscheinungsdatum schon vor einem Jahr in meinem Kalender notiert und dem Tag geradezu entgegengefiebert. Und jetzt weiß ich gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal daran gedacht habe, ein Buch zu lesen.
»Ich will nicht spoilern, aber es ist gut.« Jess zuckt mit den Schultern. »Ich dachte, es lenkt dich vielleicht ein bisschen ab.«
»Danke.« Ich bin gerührt. Mehr als dieses eine Wort bringe ich nicht über die Lippen, aber ich hoffe, sie weiß, wie sehr ich mich über das Buch freue.
Jess nickt. »Da wäre noch etwas.« Sie hebt die Hand hoch. An ihrem Finger baumelt ein abgetragenes, dunkelrotes Halsband, dessen Glöckchen klingelt. »Es war in Moms Monstera. Die Blätter sind alle zerdrückt. Sie wird nicht gerade begeistert sein.«
»Jess? Ella?«, ertönt die Stimme meiner Mutter, die vom Öffnen und Schließen der Hintertür begleitet wird. Jess und ich legen einer sich heftig sträubenden Midna das Halsband an. Sie ist schon weggelaufen (vermutlich will sie wieder ein Schläfchen in Moms Pflanzen machen), als meine Mutter ins Zimmer kommt. Sie hat im Garten gearbeitet. Schweißtropfen stehen ihr auf der Stirn, und sie riecht nach Sonne. Trotzdem ist kein einziger Fleck auf ihrer pfirsichfarbenen Bluse zu sehen, und an ihren Fingernägeln hängt kein bisschen Erde.
Meine perfekte Mutter. Plötzlich spüre ich sie ganz deutlich: Die Kluft zwischen dem Mädchen, das ich heute bin, und dem Mädchen, das ich früher einmal war – ihre perfekte Tochter.
Und als sie mich mit ihren dunklen Augen ansieht, wird mir klar, dass sie es wohl auch spürt. Ob sie der Vergangenheit nachtrauert, enttäuscht von mir ist? Okay, ich habe es verdient.
Die verlegene Stille zieht sich eine Sekunde hin, dann räuspert sich Jess.
Das scheint Mom aus ihren Gedanken zu reißen. »Könnt ihr nach unten kommen und mir beim Abendessen helfen? Euer Dad wird bald zu Hause sein.«
Als wir in der Küche stehen, holt Mom Kartoffeln aus der Speisekammer und gibt sie Jess. Ich gehe zum Becken, um das Geschirr zu spülen.
»Und?«, sagt Mom und sieht mich an. »Wie ist es heute gelaufen?«
Ich habe mit der Frage gerechnet. Und keine Ahnung, wie ich sie beantworten soll. Zum Glück muss ich das nicht.
»Gut«, redet Jess dazwischen. »Alle haben gesagt, dass die zehnte Klasse viel schwieriger ist, aber ich glaube, sie wollten uns nur Angst machen. Und Kelly ist in zwei von meinen Kursen. Genau genommen …«
Ich schicke schnell ein Dankgebet in Richtung Jess, die einfach weiterplappert, während sie Kartoffeln schält. Dann nehme ich einen Schwamm und fange mit dem Abwasch an. Doch Jess ist zu schnell fertig, und schon liegt Moms Blick wieder auf mir. In dem Moment geht die Haustür auf, und ich werde erneut gerettet.
»Hallo! Ich bin da!«, ruft mein Vater.
Er kommt mit einem breiten Lächeln im Gesicht in die Küche und breitet die Arme aus. »Da sind ja meine schönen Frauen!« Er umarmt Jess und küsst meine Mutter auf den Scheitel. Dann dreht er sich zu mir, und der Blick in seinen braunen Augen wird ganz weich. »Wie geht’s dir, Schätzchen?«
»Hm«, sage ich, während ich mir auf die Lippe beiße und fast weinen muss, weil seine Stimme so sanft klingt.
»Hast du heute mit Coach Carter reden können?« Mom stellt sich neben mich ans Becken, um Wasser in den Topf mit dem Reis fürs Abendessen zu geben.
Ich schließe die Augen. Coach Carter, unsere Schwimmtrainerin. Ich habe gehofft, diesem Gespräch noch für mindestens eine weitere Woche aus dem Weg gehen zu können. Ich überlege, ob ich lügen soll, aber warum eigentlich? Dafür habe ich keine Energie.
»Nein«, sage ich.
Jess hört mit dem Kartoffelschälen auf, und Dad tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Ist sie krank?« Die Hand meiner Mutter rührt den Reis im Topf um und lässt das Wasser milchig weiß werden.
»Mom«, sage ich, während ich ihrem Blick ausweiche. »Ich habe nicht mit Coach Carter geredet, weil ich nicht wieder ins Schwimmteam gehe.«
Ihre Hand hält inne. Ihre Schultern verkrampfen sich. Sie trägt den schweren Topf zum Reiskocher, während ihr drei Augenpaare dabei zusehen. Alle drei von uns warten darauf, dass sie mir heftige Vorwürfe macht.
»Aber du schwimmst doch so gern«, ist alles, was sie sagt. Ich bin fassungslos. Sie bleibt mit dem Rücken zu uns stehen, und ihre Stimme klingt eigentlich ganz normal. »Schon als Kind. Und letztes Jahr hast du den Schulrekord gebrochen.« Als sie sich umdreht und mich ansieht, erschrecke ich, weil in ihrem Gesicht so viel Schmerz steht, so viel Angst. »Was ist mit deiner Zukunft, Ella? Coach Carter hat letztes Jahr gesagt, dass sie schon E-Mails von Talentscouts der besten Colleges bekommen hat. Denk doch mal nach, Ella. Denk doch mal nach, was –«
Dad legt ihr die Hand auf die Schulter. »Michelle, sie ist doch erst seit einem Tag wieder in der Schule«, murmelt er.
Für einen kurzen Moment blitzt etwas Vertrautes, Rasiermesserscharfes in Moms braunen Augen auf. Wir spüren es alle, Jess und mein Vater erstarren. Doch es ist gleich wieder verschwunden. Meine Mutter nickt kurz, dann dreht sie sich wortlos zum Reiskocher um.
Jess verzieht das Gesicht und macht mit Kartoffelschälen weiter, Dad gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Bin gleich wieder da. Ich muss mir nur schnell was anderes anziehen.« Er zerrt mit einem schiefen Grinsen an seiner Krawatte und versucht, die Stimmung aufzulockern. Es funktioniert nur ein bisschen. Dann wirft er mir ein trauriges Lächeln zu und geht nach oben.
Ich starre den Rücken meiner Mutter an und kann es einfach nicht glauben.
Meine Mutter stammt aus einer Familie mit kämpferischen, Machete schwingenden Frauen. Einmal hat sie uns erzählt, wie ihre Lola (auf Tagalog bedeutet das »Großmutter«, also die Großmutter meiner Mom) auf den Philippinen meine Lola und ihre Geschwister im Zweiten Weltkrieg in Zuckerrohrfelder geschleppt hat, um sie vor feindlichen Truppen zu verstecken. Meine Lola hat immer noch Splitter von einer Kugel im linken Fuß.
Ich bin froh, dass Mom ihre Guerilla-Kampfkünste noch nie anwenden musste, aber sie ist eine Frau, die einen Soldaten zum Weinen bringen könnte. Sie hat den Mut aufgebracht, Freunde und Familie zu verlassen, um sich in einem fremden Land aus dem Nichts ein neues Leben aufzubauen.
Diese toughe Frau steht gerade in unserer Küche und bricht zusammen. Sie lässt die Schultern hängen und sagt kein Wort.
Und ich habe ihr das angetan. Ich habe es uns allen angetan. Einen kurzen Moment lang würde ich alles geben, um den schrillen Tonfall einer klassischen Mom-Standpauke zu hören. Ich würde alles tun, damit sie mir mit lauter Stimme Vorwürfe macht, weil ich bei einem Test in Geschichte nur vierzehn Punkte bekommen habe. Denn das würde bedeuten, dass ich trotz allem, was geschehen ist, nicht auch noch meine Familie kaputt gemacht habe.
Jess schneidet schweigend die restlichen Kartoffeln in Stücke und geht nach oben, um sich umzuziehen. Ich spüle weiter das Geschirr ab, und die Stille zwischen mir und meiner Mutter zieht sich immer mehr in die Länge, bis sie sagt:
»Vorhin hat Hayleys Mom angerufen.«
Ich lasse den Teller, den ich in der Hand halte, ins Becken fallen, wo er mit einem lauten Klirren zerbricht. Meine Mutter runzelt die Stirn wegen des kaputten Tellers, ermahnt mich aber nicht, vorsichtiger zu sein.
»Was hat sie gewollt?« Mit zitternden Fingern hole ich die Scherben aus dem Becken, während mir das Herz bis zum Hals klopft.
»Du sollst am Freitag nach der Schule zu ihr kommen. Sie braucht deine Hilfe.« Mom seufzt. »Sie hat sich furchtbar angehört.«
Mir wird schlagartig übel. »Mom, was könnte ich denn …? Wie sollte ich ihr helfen können?«
»Du sollst Hayleys Zimmer ausräumen.«
Mir wird erst bewusst, dass ich meine Hand zur Faust balle, als ich einen stechenden Schmerz spüre. Während ich auf die Scherben in meiner Hand starre, füllt sich meine Handfläche mit Blut.
»Mom. Bitte zwing mich nicht dazu. Bitte nicht.«
Ich werde bald wieder mit dem Schwimmteam trainieren, will ich ihr sagen. Ich werde auf das College gehen, das du für mich ausgesucht hast, aber bitte, bitte schick mich nicht in das Zimmer mit den Erinnerungen meiner toten Freundin.
Meine Mutter, die am Ofen steht, dreht sich um und sieht mich an. Das leichte Bedauern in ihrem Blick überrascht mich. »Ella, sie hat gesagt, dass sie es nicht mal über sich bringt, Hayleys Zimmer zu betreten.« Aus ihren Lippen wird ein schmaler Strich. »Sie ist jetzt ganz allein in dem Haus. Sie hat sonst niemanden. Und niemand hat Hayley so gut gekannt wie du. Du weißt doch bestimmt, was sie gewollt hätte.«
Ich bekomme keine Luft mehr. Woher zum Teufel soll ich denn wissen, was Hayley gewollt hätte? Keine Siebzehnjährige redet über ihren eigenen Tod und trifft Vorkehrungen dafür!, will ich schreien.
»Ich kann nicht«, sage ich nur.
Meine Mutter sieht mich an. »Ella, ich weiß, dass du nicht willst. Es tut mir leid. Aber du hast keine andere Wahl.« Sie nimmt den Deckel vom Reiskocher. Der Geruch nach gedämpftem Reis, den ich sonst immer mag, dreht mir den Magen um.
»Freitagnachmittag. Du gehst gleich nach der Schule hin. Sie erwartet dich.«
»Niemand? Überhaupt niemand? Das glaube ich jetzt nicht.« Wenn Mr Moss frustriert ist, schiebt er seine Brille immer mit dem Mittelfinger nach oben. In der letzten Minute hat er es schon drei Mal gemacht. »Anscheinend habt ihr während des ganzen Sommers überhaupt nicht an euren armen Lateinlehrer gedacht.«
Understatement des Jahres.
»Aber kann sich denn niemand mehr an den Unterschied zwischen Nominativ und Genitiv erinnern? Wirklich niemand mehr?«
Ich schon. Ich kann mich daran erinnern. Die alte Ella hätte dem Rest der Klasse eine Chance zum Antworten gegeben, aber nur ein oder zwei Sekunden lang. Und dann hätte sie Mr Moss die richtige Antwort gegeben und sich über sein Lob gefreut.
Doch jetzt hoffe ich inständig, dass Mr Moss mich nicht sehen kann, weil ich in der letzten Reihe sitze und die wild abstehenden roten Locken von Thomas Jones direkt vor mir sind.
Mr Moss seufzt, schiebt schon wieder seine Brille hoch und dreht sich zum Whiteboard um. Er schreibt die Antwort an die Tafel, und bis auf das vorwurfsvolle Quietschen des Markers ist es mucksmäuschenstill.
Vor Erleichterung wird jeder einzelne Muskel in meinem Körper schlaff, und ich atme heftig aus. Dann lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Niemand sieht in meine Richtung. Die anderen machen sich Notizen, blättern durch das Lehrbuch Ecce Romani oder scrollen unter dem Tisch durch ihre Handys.
Rachael ist auch in meinem Lateinkurs. Vorhin hat sie mir zugewunken, damit ich mich neben sie setze, aber es ist mir nicht entgangen, dass sich ihre Schultern entspannt haben, als ich abgelehnt habe. Ich mache ihr keinen Vorwurf. Wie soll sie wissen, was sie zu mir sagen soll, wenn meine eigene Familie keine Worte findet? Wenn ich keine Worte finde?
Ich rutsche tiefer in meinen Stuhl und denke: Noch zehn Minuten. Dann stelle ich ein paar Berechnungen an und kritzle Zahlen auf eine leere Seite meines Notizbuchs. Mich graust es, als ich das Ergebnis sehe. Dieses Schuljahr hat noch über dreiundsiebzigtausend Minuten Unterricht. Irgendwie muss ich eine Möglichkeit finden, um in diesen dreiundsiebzigtausend Minuten unsichtbar und gefühllos zu bleiben.
Plötzlich knistert es in der Lautsprecheranlage. Wir zucken alle zusammen.
»Mr Moss, bitte sagen Sie Ella Graham, dass sie ins Sekretariat kommen soll.« Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt gelangweilt.
Mr Moss starrt verwirrt in meine Richtung, als hätte er vergessen, dass ich da bin. Stühle scharren über den Boden, als die anderen mich ansehen. Rachael wirft mir einen mitleidigen Blick zu.
Das war’s dann wohl mit unsichtbar.
Ich habe keine Ahnung, warum jemand vom Schulsekretariat mit mir sprechen will. Aber es kann nur einen Grund dafür geben: Das, was mit Hayley passiert ist. Ich habe mich schon gefragt, ob es Konsequenzen geben würde, irgendeine Strafe dafür, dass ich getrunken habe. Letztes Jahr hat mir Dr. Cantrell, unser Direktor, dazu gratuliert, dass ich einen Schwimmrekord von Georgia gebrochen habe. Jetzt würde er mich vermutlich von der Schule werfen.
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen, als Mr Moss die Tür des Klassenzimmers für mich aufhält. Ich lasse den Kopf hängen, damit mir meine Haare ins Gesicht fallen, ziehe die Schultern hoch und würde mich am liebsten aus dem Raum beamen lassen, um nicht vor aller Augen nach vorn gehen zu müssen. Die Blicke der anderen treffen mich wie die Blitze von Paparazzi-Kameras.
Auf dem Weg zum Sekretariat sage ich mir, dass ich damit leben kann. Ich werde meinen Abschluss an einer anderen Schule machen. Irgendwo aufs College gehen, wo mich niemand kennt. Meinen zweiten Vornamen verwenden.
Als ich die Tür mit der Schulter aufstoße, stelle ich mir vor, wie es sein wird, auf »Anna« zu reagieren.
»Dr. Cantrell hat mich ausrufen lassen«, sage ich zu Ms Bertram, der Sekretärin.
»Ella?« Ich drehe mich um und sehe Mr Wilkens, der den Kopf um die Ecke steckt. »Würden Sie bitte mitkommen?«
Ich zögere verwirrt. »Ich dachte, Dr. Cantrell will mit mir reden. Ich dachte, er will …« Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, weil es mir plötzlich peinlich ist. »Ich dachte, er will mich von der Schule werfen.«
»Ella, es tut mir leid, dass Sie sich Sorgen gemacht haben«, sagt Mr Wilkens, während er sich den Nacken reibt. »Ich habe Sie ausrufen lassen, nicht Dr. Cantrell. Kommen Sie mit in mein Büro, dann erkläre ich es Ihnen.«
»Oh« ist alles, was ich sagen kann. Ich komme mir so dumm vor, während ich ihm folge.
Mr Wilkens’ Büro ist eigentlich kein Büro, sondern ein Konferenzraum. An der Wand stehen Bücherregale, und mitten im Raum sind mehrere Sessel und ein Sofa in einem lockeren Kreis aufgestellt.
Und auf jedem Platz sitzt jemand.
Na ja, nicht auf jedem. Auf dem Sofa ist noch ein Platz frei, der wohl für mich gedacht ist.
Und direkt daneben entdecke ich Sawyer Hawkins.
Okay … Er sieht mich nicht an, als ich hereinkomme, und scheint nicht mal zu bemerken, dass jemand den Raum betreten hat. Sawyer hat die Arme vor sich verschränkt und wippt mit dem Bein, was mich ganz nervös macht. In mir zieht sich alles zusammen.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagt Mr Wilkens zu den anderen und zeigt auf die Stelle neben Sawyer. »Aber Ella ist jetzt da, und wir können anfangen.«
Als Sawyer meinen Namen hört, hebt er ruckartig den Kopf. Ich gehe zum Sofa und lasse mich auf den freien Platz zwischen ihm und Mary Collins fallen, während ich verzweifelt versuche, ihn nicht zu berühren.
»Ich danke allen fürs Kommen«, sagt Mr Wilkens, während er sich an seinen Schreibtisch lehnt und ein Bein über das andere schlägt. »Sie fragen sich sicher, warum Sie hier sind.« Seine Stimme wird weich. »Hayley Miller.«
Mein Körper reagiert auf den Klang ihres Namens, Schuld und Kummer zucken durch mich hindurch. Ich frage mich, ob es Sawyer neben mir genauso geht.
»Es ist für uns alle ein großer Verlust, und Trauer kommt in Wellen. Jetzt, nachdem die Schule wieder angefangen hat, wird vielen von Ihnen sicher schmerzhaft bewusst, dass Hayley nicht mehr da ist«, fährt Mr Wilkens fort. »Der Direktor hat mich gebeten, Gruppensitzungen mit allen Schülern der zwölften Klasse abzuhalten, um Ihnen einen Ort zu geben, an dem Sie ihre Trauer verarbeiten können, an dem man Ihnen zuhört. Möchte jemand anfangen und darüber reden, was ihm oder ihr gerade durch den Kopf geht? Scott, wie wäre es mit Ihnen?«
Ich habe mich derart auf Sawyer konzentriert, dass ich Scott gar nicht bemerkt habe. Seine hellbraunen Haare sind so künstlich zerzaust wie immer, und er trägt wie immer coole Freizeitklamotten. Allerdings weiß ich ganz genau, was seine weißen Leder-Sneaker und seine Uhr kosten – er hat nämlich selbst dafür gesorgt, dass es alle wissen. Scott ist erst reich geworden, nachdem seine Mutter einen Mann geheiratet hat, der eine erfolgreiche Marketing-Agentur in Atlanta leitet, und er tut alles, damit es ja niemand vergisst. Hayley hat immer die Augen verdreht und gesagt: »Er nervt, aber das lässt man ihm durchgehen, weil er immer Witze macht. Er benimmt sich absichtlich daneben, aber irgendwo, ganz tief in ihm drin, steckt ein gutes Herz. Glaube ich jedenfalls.«
Scott reibt sich die Hände und hat sein übliches Grinsen aufgesetzt. »Super, Mr W, jetzt kann das mit dem Heilungsprozess endlich losgehen. Mal sehen …« Er fängt an, an seinen Fingern abzuzählen, und seine Stimme trieft vor gespielter Ernsthaftigkeit. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Hayley gestorben ist, sie war eine richtige Naturgewalt. Mann, das ist so krass, ich bin so wütend, dass sie tot ist. Wenn meine Mutter und mein Stiefvater nicht ständig unterwegs wären, hätte ich diese phantastische Party vielleicht gar nicht gegeben, und dann wäre sie vielleicht noch am Leben. Ich fasse es einfach nicht, wie unglaublich traurig ich bin, und –«
»Scott …«, unterbricht ihn Mr Wilkens, der sich missbilligend anhört.
»Moment, ich hab’s gleich, nur noch ein Satz: Obwohl ich Hayley unglaublich vermisse, bin ich mir sicher, dass ich lernen werde, das Leben wieder zu lieben.« Scotts Gesicht verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen. »Das wär’s. Fertig. Fünf Phasen der Trauer in Rekordzeit.«
Mr Wilkens hat sein Kinn in die Hand gestützt und starrt Scott an. »Manchmal, wenn unsere Gefühle sehr schmerzhaft sind, kann Humor ein Abwehrmechanismus sein. Eine Möglichkeit, nicht zu fühlen. Das verstehe ich gut, Scott.«
In Scotts Augen blitzt etwas auf, doch bevor er etwas sagen kann, fällt ihm Jackie Nevins ins Wort.
»Mr Wilkens«, schluchzt sie. »Es ist so furchtbar! Ich muss die ganze Zeit an sie denken.«
Ich verdrehe die Augen. Jackie ist einmal für ungefähr drei Minuten mit Hayley zusammen über den Sportplatz gelaufen und hat vielleicht zweimal mit ihr geredet. Höchstens.
»Danke, dass Sie so offen sind, Jackie. Ich weiß, es ist nicht leicht. Aber Sie können uns alles sagen, was Sie bedrückt.« Mr Wilkens faltet die Hände und schenkt Jackie seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Als ich sehe, wie sie ihn mit großen Augen anstarrt, wird mir klar, dass es bei dieser Aktion vermutlich nur darum gegangen ist.
Okay, Mr Wilkens sieht ziemlich gut aus, für einen Lehrer jedenfalls. Er ist in Cedarbrook aufgewachsen und auf unsere Highschool gegangen. Während seiner Schulzeit war er Ballkönig, Abschlussbester und Star-Pitcher der Baseballmannschaft. Wenn er nicht so unkompliziert wäre, könnte man ihn nur schwer ertragen. Aber jeder weiß, dass Mr Wilkens eine Freundin hat, eine umwerfend aussehende Kunstlehrerin, die an der anderen Highschool von Cedarbrook unterrichtet. Dieser Mann ist natürlich nicht Single.
Pech gehabt, Jackie.
Als ich einen leichten Druck an meinem Bein spüre, wird mir klar, dass Sawyer mich anstupst. Er bewegt den Kopf ganz leicht in Richtung Jackie, die jetzt sämtliche Schleusen geöffnet hat und herzzerreißend weint. Aus irgendeinem Grund weiß ich ganz genau, was er mir sagen will: Wer zum Teufel ist das?
So unauffällig wie möglich hole ich einen Stift und einen Zettel aus meiner Tasche.
War mit H zusammen im Laufteam, sie haben sie nach einem halben Semester rausgeworfen, kritzle ich.
Sawyers Blick folgt meinen Fingern, und als er die Nachricht gelesen hat, zucken seine Mundwinkel. Er zieht eine Augenbraue hoch, die mit der Narbe, und schüttelt verstohlen grinsend den Kopf. Mir wird plötzlich ganz warm bei dem Gedanken daran, dass wir gerade einen Insiderwitz geteilt haben.
Nachdem Jackie mit ihrer Leidensgeschichte fertig ist, sind die anderen an der Reihe. Ein Junge namens Andrew, der Hayley in der neunten Klasse einmal um ein Date gebeten hat und höflich, aber bestimmt abgewiesen wurde. So, wie er das Ganze erzählt, hat allerdings sie von ihm einen Korb bekommen.
»Wenn wir doch nur mehr Zeit gehabt hätten«, seufzt Andrew.
Scott schnaubt vor Empörung und verschränkt die Arme vor sich. Ich versuche, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, weil er mich einfach nur nervt, aber er scheint vergessen zu haben, dass außer ihm noch jemand im Raum sitzt. Er starrt mit gerunzelter Stirn auf seine Schuhe, und die Leichtigkeit von eben ist komplett verschwunden. Wir sind wieder in der Realität, und in dieser Realität ist Hayley tot.
Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.
Als es läutet, ist die Erleichterung im Raum fast mit Händen zu greifen, und ich schließe die Augen. Die anderen setzen sich auf und strecken sich.
»Moment noch«, ruft Mr Wilkens, »es hatten noch nicht alle Gelegenheit, etwas zu sagen.« Er lächelt mir aufmunternd zu. »Ella, ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie gewesen sein muss. Kommen Sie klar?«
Großer Gott, nein.
Mein Herz beginnt zu rasen. Sawyer neben mir erstarrt, und Scott mustert mich interessiert. Die anderen zögern, lassen sich dann aber doch wieder in die Sessel sinken.
Mein Mund ist staubtrocken. Ich drücke meine Bücher an mich. »Ich bin sehr dankbar für diese Gelegenheit, wirklich.« Mir versagt die Stimme, ich kann vor lauter Panik nicht mehr sprechen. »Aber ich weiß nicht, was ich sagen soll … oder, ähm, wie ich es sagen soll …«
»Das ist schon in Ordnung«, erwidert Mr Wilkens leise. »Man kann eigentlich nichts falsch machen, wenn man über –«
»Genau das ist das Problem mit Seelenklempnern wie Ihnen«, wird er von Sawyer unterbrochen. »Ihr hört euch so gern reden und Ratschläge geben, dass ihr nie zuhört. Was ja eigentlich, und hier lasse ich mich gern von Ihnen korrigieren, eure einzige Aufgabe ist.« Er fährt sich mit der Hand übers Kinn und schüttelt mit gespieltem Mitleid den Kopf. »Ihr macht euren Master in Dasitzen und Mund halten, und selbst das könnt ihr echt schlecht.« Sawyers Gesichtsausdruck wird abweisend. Tödlich. »Sie hat doch gesagt, dass sie nicht reden will.«
Ich starre Sawyer mit offenem Mund an, während die anderen nach Luft schnappen. Sogar Scott sieht halb überrascht, halb beeindruckt aus. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, so mit einem Mitarbeiter der Schule zu reden.
Mr Wilkens richtet sich auf und verschränkt die Arme. »Okay, und jetzt beruhigen wir uns alle mal.« Er wirft Sawyer einen nachdenklichen Blick zu. »Wissen Sie, was? Er hat recht.«
Das Schweigen ist ohrenbetäubend. Sawyers dunkelbraune Augen funkeln, und um seinen Mund liegt ein harter Zug.
Mr Wilkens sieht sich im Raum um. »Sawyer hat recht. Ich habe nicht richtig zugehört.« Sein Blick fällt auf mich. »Ella, ich hätte Sie nicht dazu drängen sollen, mit uns zu reden, bevor Sie so weit sind. Dafür entschuldige ich mich.« Dann wird er ernst und starrt Sawyer an. »Mr Hawkins, normalerweise würde ich eine solche Ausdrucksweise nicht tolerieren. Doch Wut ist in Ihrem Fall absolut normal.« Er legt den Kopf leicht schief. »Und trotzdem deplatziert.«
Scott lacht laut. Sawyers Stimme wird leise und scharf. »Wow«, sagt er. Aus irgendeinem Grund macht es mir mehr Angst, als wenn er brüllen würde. »Was für eine irre Erkenntnis.«
Ich spüre, wie Sawyers geballte Fäuste zittern, wie sich jeder Muskel in seinem Körper verkrampft. Er steht ruckartig auf und stößt dabei die Bücher von meinem Schoß herunter. Dann stürmt er aus dem Raum und schlägt die Tür so fest hinter sich zu, dass Mr Wilkens’ gerahmte Diplom-Urkunde von der Wand fällt.
Kollektives Ausatmen. Sogar Mr Wilkens scheint erschrocken zu sein, seine Bewegungen wirken fahrig und unsicher. Meine Hände zittern, meine Gedanken überschlagen sich.
Was zur Hölle war das denn?
Als ich vor der Schule stehe, drücke ich mich mit dem Rücken an das Gebäude und lehne den Kopf an die Wand. Meine Haare verfangen sich in den rauen Ziegeln, ein leichter Schmerz, der mir guttut. Ich schließe die Augen.
Ich hätte nicht die Nerven verlieren sollen.
Aber … wer zum Teufel wäre in so einer Situation ruhig geblieben? Gefangen in einer Freakshow von Trauergruppe wie der eben? Mit Scott, der kompletten Schwachsinn von sich gibt? Und Wilkens, der sich auf Ella einschießt und sie zum Reden zwingen will?
Wer hätte einfach so dasitzen können, während ihre braunen Augen ganz weich und ängstlich werden? Während sie innerlich zusammenbricht und es vorzieht zu passen wie jemand, der schlechte Karten beim Poker hat? Wenn ihr Ella so gut kennen würdet wie ich (und als Hayleys bester Freund kenne ich sie verdammt gut), würdet ihr wissen, dass Ella – selbst wenn sie zwei Asse als Starthand hätte – nie auf sich selbst wetten würde.
Und deshalb habe ich die Beherrschung verloren. Hayley hat immer zu mir gesagt: »Ella hat etwas an sich, das mich dazu bringt, mich vor sie zu stellen und die Welt wie eine Löwin anzufauchen.« Damals habe ich sie damit aufgezogen und gefragt: »Ist sie deine beste Freundin oder dein Junges?«
Doch jetzt … nachdem ich Ella vor dem Bus gerettet habe, nachdem ich bemerkt habe, wie ihre Lippen gezuckt haben, als sie die Notiz für mich geschrieben hat, nachdem ich gesehen habe, wie sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr gestrichen hat, als Wilkens einfach nicht aufhören wollte … nachdem mir klar geworden ist, dass es jetzt nur noch mich gibt, nur mich, der sich vor sie stellen und die Welt anfauchen kann?
Natürlich bin ich aufgestanden und habe gebrüllt.
Trotzdem.
Dicker Fehler, Sawyer.
Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und schaffe es gerade so, mich zusammenzureißen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein Schulverweis, oder dass der Direktor, dass irgendjemand mich auf dem Schirm hat. Ich bin heilfroh, dass Wilkens mich nicht bei der Schulleitung anschwärzen will.
Aber angesichts der giftigen Brühe, die seit den letzten vier Monaten in mir gärt, habe ich Glück gehabt, dass mein Ausraster nicht noch schlimmer gewesen ist. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ohne das Gefühl von geschmolzener Lava in meinem Magen und dem Geschmack nach Asche in meinem Mund aufgewacht bin.
Gedankenverloren fahre ich mit dem Daumen über die Narbe an meinem linken Handballen, eine dünne, rosafarbene Linie, die immer noch geschwollen und empfindlich ist. Die meisten meiner Narben habe ich vergessen, aber die hier kann ich nicht ignorieren. Im Ernst: Versucht mal, eure Hände zu ignorieren. So was von unmöglich.
Ich bin jetzt ein bisschen ruhiger, nicht mehr ganz so unbeherrscht. Bis ich sie sehe.
Ella kommt direkt auf mich zu. Sie starrt auf den Boden, kaut auf ihrer Unterlippe herum und drückt ihre Bücher an sich. Es ist das erste Mal, dass ich Gelegenheit habe, sie anzusehen. Ich meine, sie richtig anzusehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer das alles für sie gewesen sein muss. Der Gedanke daran lässt mein schlechtes Gewissen aufflammen. Ich war so in meinem eigenen Schmerz gefangen, dass ich ganz vergessen habe, dass ich damit nicht der Einzige in dieser gottverdammten Schule bin. Unter ihren Augen sind tiefe Schatten. Anscheinend gibt es noch jemanden, der schlecht schläft.
Sobald ihr Blick auf mich fällt, bleibt sie abrupt stehen.
Wieder einmal bin ich derjenige, der ihr Angst macht, und das fühlt sich an wie ein Tritt in den Magen. Als hätte ich einem Welpen aus Versehen auf den Schwanz getreten.
Ich versuche immer noch, herauszufinden, was ich zu ihr sagen soll, als sie sich vorbeugt, den Kopf einzieht und langsam rückwärtsgeht. Genau das habe ich früher auch immer gemacht, wenn ich heimlich Oreos aus der Speisekammer geholt habe. Ich habe mich für so clever gehalten, während die ganze Zeit meine Mutter hinter mir gestanden und mich beobachtet hat.
Ich kann nicht anders. Ich muss lachen.
»Hey, Graham«, rufe ich, »ich seh dich. Aber wenn du willst, kann ich so tun, als wärst du unsichtbar.«
Ella wird steif wie ein Stock, und ich merke ihr an, dass es ihr peinlich ist. Sie wirft einen schnellen Blick über die Schulter, als würde sie trotzdem die Flucht ergreifen wollen. Aber dann scheint sie es sich doch anders zu überlegen. Sie richtet sich auf und starrt mich an.
Ich versuche, möglichst harmlos auszusehen, und hoffe, dass sie merkt, wie mies ich mich fühle. Doch Ella starrt mich immer noch so an, als würde ich mich gleich in einen Werwolf verwandeln. Es macht mich fertig, deshalb sage ich das, was mir als Erstes einfällt.
»Hey, wie geht’s deiner Katze?« Cool, Sawyer. Richtig cool.
»Meiner … Katze?« Ella blinzelt verwirrt.
»Ähm, ja, Edna? Wie geht’s ihr?« Ich reibe mir den Nacken und zucke innerlich zusammen.
Ella schnaubt verächtlich, was sie selbst zu überraschen scheint. Sie schüttelt den Kopf. »Du meinst Midna?« Ihre Mundwinkel zucken nervös. »Ähm … großartig. Wir haben ihr Futter umgestellt, und jetzt hat sie nicht mehr so viele Haarbälle.«
Ich glaub’s einfach nicht. Das soll unser erstes Gespräch seit Hayleys Beerdigung sein? Ellas Gesichtsausdruck nach zu urteilen, denkt sie gerade das Gleiche.
»Genau, Midna, das habe ich doch gemeint. Glückwunsch zu … weniger Haarbällen. Ist immer toll, wenn man … weniger davon hat.« Ich muss mich räuspern.
Und da ist es. Ellas Lächeln. Es ist nur ein kleines Lächeln, trotzdem lässt es ihr Gesicht aufleuchten. In dem Moment fällt mir auch auf, wie der Wind mit ihren langen, dunklen Haaren spielt, die im Licht der Sonne rotgolden glänzen. Warum habe ich das bis jetzt noch nie bemerkt?
Ja, klar. Weil es nicht okay war, es zu bemerken.
Ist es denn jetzt okay?
Oh Mann, wie lange ist es her, seit ich etwas gesagt habe?
Ella räuspert sich und tritt von einem Fuß auf den anderen.
Mist. Zu lange. Ich blinzle ein paarmal und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen.
»Ähm, wegen deiner Bücher.« Ich wende meinen Blick von ihr ab. »Ich … ich habe doch hoffentlich keins davon kaputtgemacht, oder?«
»Meine Bücher?« Sie runzelt die Stirn.
»Als ich aufgestanden bin und sie auf den Boden gefallen sind.« Ich reibe mir schon wieder den Nacken.
»Ach, das meinst du.«
»Es tut mir leid. Ich hätte sie ja wenigstens aufheben können.«
Sie legt den Kopf schief. »Du bist richtig wütend geworden.«
Ich stoße ruckartig die Luft aus meinen Lungen. Ganz ruhig. »Ja, aber diese Zicke hat sich doch benommen, als wäre Hayley ihr toter verbundener Zwilling.«
Ella schnaubt. »Ich glaube, sie hat nur versucht, Mr Wilkens dazu zu bringen, ihr in den Ausschnitt zu sehen. Zum Kotzen.«
Mein Daumen drückt sich in meine Narbe. »Die ganze Sache war zum Kotzen. Die anderen haben doch nur einen Grund gesucht, um nicht in die siebte Stunde zu müssen.« Plötzlich bin ich hundemüde.
»Aber ich hätte ihn nicht anschreien dürfen«, sage ich leise. Ich will unbedingt ehrlich zu ihr sein. »Mein Leben ist ein ziemlicher Albtraum geworden. Manchmal schaffe ich es, mich zusammenreißen. Und dann gibt es Tage, an denen ich mir den großen Zeh an einem Stuhl stoße und so wütend werde, dass ich mir wünsche, dass ich mir tatsächlich wünsche, der Stuhl wäre lebendig, damit ich ihn ganz langsam umbringen kann.«
Sie reißt die Augen auf. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen zu ehrlich. Ich räuspere mich. »Ähm, das sage ich jetzt nur, damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie wahnsinnig gut ich mit allem zurechtkomme.«
Ich gehe davon aus, dass sie jetzt noch mehr abblockt, aber als sich unsere Blicke treffen, sehe ich, dass sie heftig blinzelt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Wenn ich aufwache, drehe ich mich auf die Seite und suche nach meinem Handy, um Hayley zu schreiben, wie sonst auch«, sagt sie. »Aber dann fällt es mir wieder ein. Und ich will mich einfach nur in der Matratze verkriechen.« Sie schüttelt den Kopf. »Meistens liege ich nachts wach und starre auf den alten Wasserschaden an der Decke über mir. Ich habe gar nicht gewusst, wie ruhig es um drei Uhr morgens ist.«