Ewiges Vergessen - Katharina Kuntzer - E-Book

Ewiges Vergessen E-Book

Katharina Kuntzer

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Beschreibung

Tinas Leben verläuft sehr mysteriös. Erst verliert sie ihr Gedächtnis, dann gerät sie immerzu an die falschen Männer, nichtsahnend, dass sie von jemandem gesteuert wird, der offensichtlich über Leichen geht, um sie zu beschützen. Tina ist fünfundzwanzig. Die Geschichte beginnt an einem beliebigen Sommertag. An diesem Abend tritt Jörg in ihr Leben. Jörg hat etwas vor; sein Vorhaben bleibt jedoch im Dunkeln. Genauso Tinas Kindheit. Klar wird nur: da war mal was und das war nicht schön. Im Verlauf fügen sich immer mehr Puzzleteile zusammen und Tina kommt der Wahrheit gefährlich nahe. Aber da ist noch jemand, der das um jeden Preis verhindern will. Alle um Tina herum verheimlichen ihr etwas - nur was?

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Das Gedächtnis spielt uns manchmal seltsame Streiche

Vorwort

Tinas Leben verläuft sehr mysteriös. Erst verliert sie ihr Gedächtnis, dann gerät sie immerzu an die falschen Männer, nichtsahnend, daß sie von jemandem gesteuert wird, der offensichtlich über Leichen geht, um sie zu beschützen. Die Geschichte beginnt an einem beliebigen Sommertag, da ist Tina fünfundzwanzig Jahre alt. An diesem Abend tritt Jörg in ihr Leben. Jörg hat etwas vor; sein Vorhaben bleibt jedoch im Dunkeln. Genauso Tinas Kindheit. Klar wird nur: da war mal was und das war nicht schön. Im Verlauf fügen sich immer mehr Puzzelteile zusammen und Tina kommt der Wahrheit gefährlich nahe. Aber da ist noch jemand, der das um jeden Preis verhindern will. Alle um Tina herum verheimlichen ihr etwas - nur was? Das ist die große Frage.

Prolog

Es ist ein glasklarer Wintertag.

Der Himmel ist blau und wolkenlos. Die Bäume sind mit unzähligen glitzernden Eiskristallen überzogen. Es herrscht „Winterwonderland“. Tina liebt solche Tage: kalt und trocken. Seit fast drei Wochen ist es nun schon so eisig. „Nur gut, daß es zuvor schon so viel geschneit hat und die Schneemänner schon gebaut sind“, denkt sie. Mit diesem Eisschnee konnte man nichts mehr bauen; der zerbröselte sofort. Dafür würde sie aber bald auf dem See Schlittschuhlaufen können. Bestimmt war das Eis spiegelglatt und durchsichtig. Tinas großer Bruder Tom ging jedes Jahr mit ihr zum See runter und passte auf, damit sie sich nicht zu weit hinaus wagte. Wenn sie Eisprinzessin spielte, wurde sie vor lauter Pirouetten drehen nur allzu leicht unaufmerksam. Und das Eis war tückisch. Ihr Bruder kannte die Stellen, an denen sich Strömungen befanden und wo das Eis dünner war. Voller Vorfreude hopste Tina die Treppe hinunter und in die Küche, wo sie ihren Bruder anzutreffen hoffte, um ihn zu fragen, wann er sie dieses Jahr zum See begleiten würde. Aber als sie in die Küche kam, war nur ihre Mutter da. „Wo ist Tom?“ „ Dir auch einen schönen Guten Morgen.“ „ Entschuldige, Mama. Guten Morgen. Wo ist Tom?“ „Tom ist arbeiten.“ Ach ja. Das hatte Tina ganz vergessen. Tom war ja jetzt Azubi. Er hatte keine Schulferien mehr, so wie sie. Sie überlegte kurz: heute war Donnerstag. Dann würde er frühestens Samstag Zeit haben. Das war eindeutig eine zu lange Wartezeit für Tina. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte: „ du-u, Mama, ich bin ja nun schon fünfzehn Jahre alt. Meinst Du nicht auch, das ist alt genug, um allein zum See zu gehen?“ Ihre Mutter überlegte kurz und entgegnete:

„Ich denke schon. Du mußt mir aber versprechen, daß du nicht zu weit mit deinen Schlittschuhen rausfährst!“ Tina legte ihre linke Hand aufs Herz, hob ihre Rechte und sprach mit verstellter tiefer Stimme: „ ich gelobe feierlich, mich nicht mehr als zwei Meter vom Ufer zu entfernen.“ Ihre Mutter lachte, wurde aber sofort wieder ernst und meinte, es wäre ihr doch lieber, wenn sie nicht ganz alleine loszöge. „Gut, dann rufe ich Trixi an.“

Gleich nach dem Mittagessen zogen die beiden Mädchen los in Richtung See. Und tatsächlich, das Eis war fast wie ein Spiegel. Den wollten sie auf keinen Fall mit ihren Schlittschuhen zerkratzen. Aber testen wollten sie schon, ob es denn schon trug. Tom hatte, wenn er sie begleitete, immer so ein Messgerät dabei. Das hatten die beiden Mädels jetzt natürlich nicht. Tina schlug vor, zuerst zu gehen. Das war Trixi nur recht. Schritt um Schritt wagte sich Tina weiter aufs Eis. Sie sah vereinzelte, im Eis eingeschlossene, Luftblasen und sogar einen Fisch, aufgrund dessen sie die Dicke des Eises auf zehn Zentimeter schätzte. Sie wusste, daß fünf Zentimeter für sie allein ausreichten und für Gruppen brauchte es zehn Zentimeter, die Stärke war also ausreichend, das Eis würde sie sicher tragen. Daher winkte sie Trixi zu, ihr zu folgen. Zaghaft kam ihre Freundin heran. Jetzt hopste Tina ein wenig. Das Eis gab ein hohles Geräusch von sich, hielt aber stand. Deshalb wollte sie sich noch weiter hinauswagen. Trixi wollte lieber warten. Und dann ging alles ganz schnell. Zumindest für Trixi. Sie erzählte später, Tina wäre den einen Augenblick noch dagewesen und im nächsten hätte das Eis sie regelrecht verschluckt. Einfach so.

Für Tina lief alles wie in Zeitlupe ab: Sie hatte sich ungefähr zehn Schritte von Trixi entfernt, da war es, als verlöre sie den Boden unter ihren Füssen. Es muss wohl ein Loch im Eis gewesen sein. Als sie ins Wasser eintauchte, fühlte es sich an, wie tausend Nadelstiche, obwohl sie so dick angezogen war. Bevor sie ganz untertauchte, holte sie instinktiv noch einmal tief Luft. Sie hatte das Gefühl, als würde jemand sie an ihren Füssen nach unten ziehen. Aber sie ging nicht tief unter; sie glitt unter der Eisdecke entlang, mit ihrem Gesicht nach oben. Trixi sah sie unter sich hindurchgleiten und sprang vor Schreck zur Seite. Scheisse! Was sollte sie nun tun? Sie hatte gelernt, wie man einen Menschen, der eingebrochen ist, wieder herauszieht, aber nicht, wie man jemanden unter dem Eis wieder hervorholt. Während Trixi noch wie im Schock dastand und überlegte, ließ Tina langsam ein Luftbläschen nach dem anderen aus ihrem Mund entweichen. Sie fühlte Kälte und Hitze zugleich und dann - nichts mehr. Träumte sie oder war sie schon tot? Sie meinte den Himmel durch das Eis zu sehen. Eigentlich wusste sie nicht, wo oben oder unten war. Sie wusste, daß ihr Hirn spätestens nach fünf Minuten ohne Sauerstoff damit beginnen würde, abzusterben. Wie viel Zeit war schon verstrichen? Und wieder ließ sie eine kleine Luftblase entweichen. Es war so heiß hier. Das konnte aber doch gar nicht sein. Die Wassertemperatur war maximal 4°C. Noch eine Luftblase. Bald würde ihre Lunge leer sein. Und dann würde dieser Reflex einsetzen, der sie dazu zwingen würde, Wasser einzuatmen. Oder war das bei so kaltem Wasser anders? Drei weitere Bläschen entschwanden. Uups. Was war das? Jemand lief über sie hinweg. War das Trixi? Wieder zwei Bläschen. Viel war nicht mehr übrig. Obwohl ihre Lunge nun nahezu leer war, fühlte es sich paradoxerweise so an, als würde sie gleich platzen. „Wie schön der Himmel aussieht“, denkt sie. Kleine Lichtkügelchen beginnen vor ihren Augen zu tanzen, wie Glühwürmchen. „Aber im Winter gibt es doch gar keine Glühwürmchen.“ Blub. Das einzelne Luftbläschen gleitet aus ihrem Mund und wäre fast wieder in ihr Nasenloch geschlüpft, schlich sich aber daran vorbei und blieb eine Weile unter der Eisdecke hängen, bevor es abtrieb. Blub. Blub. „Scheisse. Gleich zwei auf einmal. Ich muß doch sparsam sein, mit meiner Luft.“ Es wird immer schwerer, die Luft anzuhalten, ein Schwindelgefühl beginnt sich anzubahnen. Jetzt meint sie, aus großer Höhe in die Tiefe zu fallen, obwohl sie immer noch unverändert direkt unter der Eisdecke hängt. Sie fragt sich, warum sie nicht untergeht, freut sich aber gleichzeitig über diesen Umstand, sofern das überhaupt noch möglich war. Wirklich fühlen konnte sie eigentlich nichts, weder körperlich noch emotional. Das war alles eingefroren. Und dann blub, blub, blub, entwichen auch noch die allerletzten Bläschen durch ihre nun farblosen Lippen. Jetzt war ihre Lunge vollkommen leer. Sie kniff ihren Mund zu, so fest sie es vermochte. Auch ihre Augen. Dann schoss ein helles Licht durch ihren Kopf und dann – Finsternis.

„So also fühlt sich sterben an. Gar nicht mal so schlimm.“

Fünf vor zehn. Tina sperrt ihren Laden auf. Sie betreibt eine kleine Änderungsschneiderei und verkauft nebenher ihre Kreationen. Sie näht alles Mögliche. Ihre Stofftiere sind der wahre Renner. Bären aus Cord oder Samt, aber auch mal aus Jeansstoff und gemustert. Phantasietiere, deren Namen nur die Kinder kennen, für die sie gemacht sind. Nur leider kann sie davon nicht leben. Als sie vor zwei Jahren den Mut gefasst und diesen Laden eröffnet hatte, lief es wirklich gut. Aber nicht für lange. Sie hatte von Anfang an viel zu wenig verlangt für ihre Arbeiten. Sie konnte nähen und war kreativ, aber von kaufmännischen Dingen hatte sie wenig Ahnung. Sie wusste wohl den Unterschied zwischen Soll und Haben und ihre Buchführung bekam sie auch hin soweit. Aber sie konnte sich selbst nicht gut verkaufen. Sie hielt sich selbst für zu gering und das merkten die Kunden und drückten sie jedes Mal im Preis. Dennoch wollte das Finanzamt seine Steuern und das Existenzgründungsdarlehen musste auch zurückbezahlt werden. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde sie ihren Laden über kurz oder lang wieder schließen müssen.

Ding dong. Eine Kundin betritt den Laden. Das heißt eigentlich „betrampelt“ sie ihn. Tina hasste sie jetzt schon. Sie sah die Einkaufstüten und wusste schon, was kommen würde. Es war immer das Gleiche. Die Kundin schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. Ihr fettiges, aschblondes Haar, dessen Ansatz schon wieder dunkel hervortrat, klebte ihr am Kopf. Und sie hatte Mundgeruch. „Das auch noch“. Die Kundin wuchtet ihre Tüten auf die Ladentheke und atmet dabei noch kräftig aus. Tina findet sich in einer Wolke aus undefinierbaren üblen Gerüchen wieder. Knoblauch ist auf alle Fälle mit dabei, und eventuell ein fauler Zahn? Egal, sie war eine Kundin und brachte Geld ins Haus. Also setzt Tina ihr schönstes Lächeln auf und fragt höflich, wie sie helfen könne. Und wie schon vorausgeahnt, hatte die Kundin ihre Kleidung in so einem Billigladen gekauft. Sie hätte die Sachen schon anprobiert und sie hätten auch gepasst gehabt, sonst hätte sie sie ja nicht gekauft. Aber zu Hause hatte sie dann festgestellt, daß dem doch nicht so war. „Wissen sie, das hängt alles wie ein alter Sack an mir dran, können sie da was machen“? „Natürlich, lassen sie mal sehen“, sagt Tina freundlich während sie im Geheimen dachte „oh, mein Gott, was für ein Schund“. Die Stoffe waren dünn und labberig und mit viel zu viel Elastan, wie so oft bei Übergrößen. Eine Stunde später öffnet Tina erst einmal die Ladentür und versprühte großzügig Raumspray. Die Anprobe und das Abstecken und Abmessen hatten die Kundin ins Schwitzen gebracht. Zum Mundgeruch hatte sich dann noch der Schweißgeruch gesellt. Die beiden Düfte harmonierten sehr miteinander, wirkten aber weit weniger harmonisch in Tinas Nase. Nur gut, daß die Kleidung noch neu war. Sie hatte auch schon gebrauchte Sachen ändern müssen, die Leute auf dem Flohmarkt erstanden hatten. Nicht immer waren die Kleidungsstücke vor dem Verkauf gewaschen worden. Oder sie bekam zerrissene Sachen zur Reparatur. Die waren auch ganz oft ungewaschen, weil die Leute Angst hatten, durch das Waschen noch mehr zu beschädigen. Tina hätte nie gedacht, daß Näherin ein so unhygienischer Beruf sein würde. Jetzt musste sie sich aber langsam an die Arbeit machen. Übermorgen wollte die Kundin ihre Sachen schon wiederhaben. Doch ihre anfängliche Eile war gar nicht nötig gewesen. Es kam keine weitere Kundschaft mehr an diesem Tag und so war sie bereits nach vier Stunden damit fertig. Sie sieht auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis Ladenschluss. Es ist fast unerträglich schwül an diesem Tag. Die Sonne brennt auf ihre Schaufenster. Eine ordentliche Beschattung hatte das Darlehen nicht mehr hergegeben. Sie hätte innen ihre Vorhänge vorziehen können, aber sie dachte, wenn die Leute sie dann nicht mehr sehen, würden sie erst recht vorbeigehen. Wieder fällt ihr Blick auf die Uhr, deren Zeiger regelrecht festzukleben scheinen. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seit sie zuletzt darauf gesehen hatte. Sie geht unruhig in ihrem Laden umher, zupft mal hier mal da etwas zurecht, drapiert dieses oder jenes um, aber die Zeit schleicht trotzdem nur so dahin. Endlich, der Ladenschluss rückt in greifbare Nähe. Schon ist es Zeit, den Schlüssel zu holen. Sie geht nach hinten und als sie wieder nach vorne kommt, steht er da. „Wow“. Sie hält unvermittelt in ihrem Schritt inne und starrt ihn mit offenem Mund an, bis ihr aufgeht, wie dämlich sie aussehen muss. Doch er lächelt nur. Er sagt etwas, doch sie versteht kein Wort, so fasziniert ist sie von seiner Stimme. Sie klingt tief und sonor und bahnt sich ihren Weg direkt in ihren Bauch. Das war kein Flattern von Schmetterlingen, das vibrierte schon förmlich. Sie wusste, er hatte etwas gefragt und sie sollte antworten. Aber was? Jetzt stolpert sie auch noch – direkt in seine Arme. Er fängt sie auf, sie schaut zu ihm hoch, ihre Blicke treffe sich und sie taucht ein, in seine tiefblauen Augen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch blaue Augen gesehen. Dann, auf einmal, wird sie sich seiner Arme bewusst, die sie immer noch umfangen. Erschrocken löst sie sich daraus und sagt brüsker, als sie es beabsichtigt hatte: „ich schließe gleich zu.“ „Ich weiß“, sagt der Unbekannte und fügt hinzu: „deshalb bin ich hier.“

Etwas später, als sie gemeinsam draußen vor einem Eiscafé saßen, erzählte er ihr, daß er sie schon, seit sie hier in den Laden gezogen war, beobachtet hatte, aber erst heute den Mut gefunden hätte, sie einzuladen. Er war sehr charmant. Das gefiel ihr. Aber ganz tief drinnen fühlte sie auch Gefahr. Sie unterdrückte es. Sie wollte endlich glücklich sein. Glücklich mit einem Mann. Sie war gerade einmal 25 Jahre alt und hatte noch nie eine Beziehung gehabt. Irgendwie hatte sie sich auch nie zu Männern hingezogen gefühlt. Auch nicht zu Frauen. Sie hatte es einmal ausprobiert, weil sie dachte, sie wäre lesbisch. Die Zeit zwischen ihrem 18. Geburtstag, an dem sie einfach von zu Hause abgehauen war, bis heute, hatte sie geglaubt, nicht für eine Partnerschaft geschaffen zu sein. Sie hegte bisher auch immer sehr zwiespältige Gefühle Männern gegenüber. Wiederholt riss Jörg sie aus ihren Gedanken. Irgendwie bekam sie nur die Hälfte mit, von dem was er sprach. Sie war so verwirrt. War das Liebe? War sie doch zur Liebe fähig? Auf einmal stand Jörg auf, nahm sie bei der Hand und sagte: „komm, es ist schon spät. Ich bringe dich nach Hause“. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie er bezahlt hatte. Wie hypnotisiert stand sie auf und folgte ihm. Dann standen sie auf einmal vor dem Wohnblock in dem sie hauste. Was Besseres hatte sie sich nicht leisten können. „Oh, Gott“, denkt sie erschrocken, „was jetzt? Bestimmt will er noch mit hoch!“ Nein, wollte er nicht. Also, er wollte schon, aber er wusste, sie war anders als all die Huren, die er vor ihr gehabt hatte. Sie war etwas Besonderes. Das hatte er sofort bemerkt, als er sie vor zwei Jahren in diesen Laden einziehen sah. Jeden Tag war er Stunden lang davor gestanden und hatte sie durch ihr großes Fenster beobachtet. Oft war sie abends direkt an ihm vorbei gegangen, ohne ihn zu bemerken. Sie hatte auch nie bemerkt, wenn er ihr nach Hause gefolgt war. Sie wohnte ganz oben im fünften Stock. Leider. Keine Chance für ihn, sie hier auch durchs Fenster zu beobachten. Das Haus gegenüber war nicht so hoch, sonst wäre er glatt dort eingezogen. Er bemerkte, daß sie etwas unentschlossen dastand und wohl erwartete, daß er etwas sagte oder tat. Da nahm er galant ihre Hand, hauchte einen Kuß darauf, drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihre Hand glühte, obwohl seine Lippen sie kaum berührt hatten. Völlig verdattert blickte sie ihm nach. Das hatte sie nicht erwartet. Obwohl sie eigentlich keine Erfahrung mit Männern hatte, zumindest erinnerte sie sich an keine. Manchmal träumte sie von Männern, aber das waren keine wirklich schönen Träume. Sie war, wenn sie aus so einem Traum erwachte, immer total verunsichert und hatte sich daher angewöhnt, alles immer ganz schnell wieder zu verdrängen. Sie sah ihm noch nach, bis er um die Ecke verschwand, straffte schließlich ihre Schultern, drehte sich um und ging hinein. Der Aufzug war wieder einmal defekt. Aber das war egal. Die fünf Stockwerke schaffte sie leicht. Heute sogar noch lockerer, als sonst. Sie schwebte fast nach oben. Die Wohnung selbst war ja nicht so besonders. Zweckmäßig eben, aber sauber und ordentlich. Dafür hatte sie Zugang zum Dach und hatte sich da oben eine kleine Gartenoase geschaffen. Alles in Kübeln und Pflanztrögen, aber ihre Pflanzen gediehen prächtig, und ganz ohne Schnecken, sogar Tomaten und Paprika. Mit einem Glas Wein in der Hand setze sie sich in ihre Hollywoodschaukel, die noch von einem ihrer Vormieter stammte und schon recht quietschte, und hing ihren Gedanken nach. Ganz kurz wunderte sie sich dann doch, woher er wusste, wo sie wohnte. Aber sie war so lange alleine gewesen und nun zu glücklich, um diesem Gedanken mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schnell weg damit, in die hinterste Ecke ihres Gehirns. Im Verdrängen war sie eine Meisterin. Nur weil sie diese Kunst bestens beherrschte, lebte sie noch. Andernfalls hätte sie sich wohl längst schon von diesem Dach gestürzt. Sie versuchte sich zu erinnern, was dieser Jörg ihr vorhin so alles erzählt hatte. Sie schaffte es nicht. Aber sie erinnerte sich an seine tiefgründigen Augen, seinen milden und gütigen Blick, seine vollen, für einen Mann schon fast zu vollen, Lippen. Sie mochte seine Lippen. Wie sie sich wohl anfühlten, wenn sie mit ihren eigenen Lippen in Berührung kamen? Bestimmt so weich und sanft, wie sie aussahen. Wieder vibrierte es in ihr. Aber diesmal nicht in ihrem Bauch, sondern tiefer. Ihre Hand glitt zwischen ihre Beine, sie schloß die Augen und streichelte sich selbst. Es kribbelte noch mehr und dann geschah etwas, was noch nie geschehen war, wenn sie das getan hatte. Sie wurde so heftig von einem Orgasmus überrollt, daß sie fast laut aufgeschrien hätte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder zu Atem kam.

Die halbe Nacht bleibt sie draußen in ihrer Hollywoodschaukel sitzen und gibt sich diesem immer noch wohligen Gefühl hin. Als sie dann doch irgendwann ins Bett geht, ist sie sicher, sie will diesen Mann unbedingt wiedersehen, und zwar bald.

Ihm schien es ähnlich zu ergehen, denn in den folgenden Wochen holte er sie täglich nach Ladenschluss ab. Aber niemals kam er zu ihr in die Wohnung mit. Warum nicht? Sie wagte nicht, ihn zu fragen. Aber langsam begann sie ungeduldig zu werden. Sie wollte mehr als nur reden. Er hatte ein Begehren in ihr geweckt, welches sie so noch nicht kannte. Er hatte das wohl bemerkt und fand dann endlich, nach drei Monaten, daß es an der Zeit war, für den nächsten Schritt. Den ersten Kuss. Wie üblich standen sie wieder unten vor ihrem Wohnblock, sie hatte ihm schon ihre Hand entgegen gestreckt, er ergriff sie auch, aber dieses Mal zog er Tina ganz zu sich heran. Er spürte, wie sie in seinen Armen erzitterte, als sein Gesicht sich dem ihren näherte. Er musste grinsen. Das sah sie aber nicht, weil sie ihre Augen schon in freudiger Erwartung seines Kusses, geschlossen hatte. Anhand ihrer Vorgeschichte hätte er nicht gedacht, daß es so einfach sein würde, sie zu erobern. Trotzdem durfte er jetzt nicht voreilig werden.

Er musste sie weiterhin äußerst behutsam behandeln. Er wusste, sie war im Grunde sehr zerbrechlich und eigentlich scheu, wie ein Reh. Endlich trafen sich ihre Lippen. Jetzt war er es, der erstaunt war. Er fühlte sich wie elektrisiert. Ihre Lippen waren weich und doch auch fest und sie waren hungrig. Sie fraßen ihn auf. Ihre Zungen suchten und fanden sich und bald wusste keiner von beiden mehr welche Zunge zu wem gehörte. Sie verschmolzen ineinander. Plötzlich löste er sich von ihr, murmelte eine Entschuldigung und ging schnellen Schrittes davon. Noch völlig außer Atem blickte sie ihm nach. „Was war das denn jetzt?“ Hatte sie etwas falsch gemacht? Niedergedrückt schleppte sie sich zu ihrer Wohnung hoch, der Aufzug würde wohl nie mehr repariert werden. Jörg war in der Zwischenzeit umgedreht und stand jetzt unten, einen Finger nur wenige Millimeter von ihrem Klingelknopf entfernt. Er zögerte noch. Er wusste, wenn er nach oben ging, würde der nächste Schritt folgen. Doch dafür war es noch zu früh. Er musste sich zwingen, nicht zu klingeln. Seine linke Hand umfasste seine rechte und zog sie förmlich weg. Es kostete ihn unbeschreiblich viel Kraft, einen Schritt nach hinten zu tun, sich umzudrehen und endgültig nach Hause zu gehen. Tina hingegen weinte sich oben die Augen aus. Nur gut, daß der folgende Tag ein Sonntag war. Sie stand nur kurz auf um aufs Klo zu gehen, trank ein Glas Wasser und verkroch sich gleich wieder in ihr Bett. Fast war sie wieder eingeschlafen, als es klingelte. Sie schreckte hoch und wusste erst nicht so recht ob sie richtig gehört hatte. Wie spät war es? Und was war heute überhaupt für ein Tag? Hatte sie womöglich verschlafen? Bevor sie sich all diese Fragen beantworten konnte, klingelte es erneut. Mühsam krabbelte sie aus dem Bett und schlurfte zur Gegensprechanlage: „ja?“ krächzte sie hinein. „Ich bin es, Jörg“, kam ihr als Antwort entgegen. Ihr Herz tat einen Luftsprung. „Oh, Gott, er ist hier!“ Sie sah auf die Uhr. Fast schon Mittag. Sie musste wohl doch nochmal eingeschlafen sein. Hatte sich gar nicht so angefühlt. „Bist du noch da?“ ertönte es aus dem Lautsprecher und „hab ich dich etwa geweckt?“ „Ja“, sagte sie. Mehr brachte sie nicht heraus. „Lass dir Zeit, ich warte im Café um die Ecke, okay?“ „ Ja, gut, ich beeil mich.“ Ihre Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen. Hüpfend und tanzend machte sie sich schick und hätte das Treppenhaus ein Geländer gehabt, wäre sie wohl daran hinunter gerutscht. Wobei nach fünf Stockwerken wäre ihr da wohl das Höschen durchgebrannt. Sie musste fast laut lachen, bei diesem Gedanken. Sie sah ihn schon von weitem sitzen. Er hatte sich so platziert, daß er sehen konnte, wenn sie kam, tat aber erst so, als würde er sie nicht bemerken. Im ersten Moment kam dann auch die Befürchtung in ihr hoch, er könnte doch böse auf sie sein, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab. Doch dann blickte er auf und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Wie gut er doch aussah. Sie fragte sich erneut, was er eigentlich an ihr fand. Sie selbst war zwar ganz zufrieden mit sich, aber sie hielt sich doch eher für durchschnittlich. Nicht hässlich aber auch nicht gerade hübsch. Jörg hingegen dachte bei sich, daß wenn er nicht aufpasste, er sich noch wirklich ernsthaft in diese Frau verlieben würde. Sie hatte absolut keine Ahnung, wie schön sie war und wie sie auf Männer wirkte. Ihre Schönheit strahlte von innen heraus. Sie war manchmal kindlich unschuldig und ließ gleichzeitig erahnen, daß da doch noch viel mehr in ihr steckte. Dieser Kuß gestern hatte das bewiesen. Er hatte bewirkt, daß er sie besitzen wollte. Aber das durfte er nicht. Noch nicht. Das würde sie verschrecken. Es würde Erinnerungen in ihr wecken, an eine Zeit, die sie doch vergessen wollte. Mit Schrecken fiel ihm sein erster Fehler ein: er hatte sie nach Hause gebracht, damals, nach ihrem ersten Rendezvous. Aber sie hatte nie danach gefragt, woher er ihre Adresse wusste. Er war nochmal davon gekommen. Aber erneut durfte ihm so etwas nicht passieren. Sie hatte sich zu ihm gesetzt und sah ihn fragend an. Scheinbar hatte sie etwas zu ihm gesagt. Er räusperte sich verlegen und sagte: „ entschuldige bitte, ich war gerade so hingerissen von deinem Guten Morgen. Obwohl Mahlzeit inzwischen wohl angebrachter wäre“, antwortete er, immer noch lächelnd. Der Kellner kam und sie bestellten sich beide ein großes Frühstück. Er plauderte mit ihr, als wäre nichts gewesen und langsam löste sich ihre innere Spannung. Nach dem Frühstück schlug er vor, einen kleinen Ausflug zu machen. Und zum ersten Mal nahm er sie mit zu sich, führte sie aber nicht in sein Haus hinein, sondernd bedeutete ihr, kurz zu warten, er käme gleich wieder. Dann verschwand er im Haus und etwa eine viertel Stunde später, als sie schon glaubte, er hätte es sich anders überlegt, öffnete sich wie von Geisterhand das Garagentor. Ein großer Mercedes fuhr heraus, die einzige Automarke, die Tina auf Anhieb und schon von weitem erkannte. Er hielt neben ihr an und sie stieg ein. Der Wagen roch neu. Das Haus sah auch ziemlich neu aus. Er schien wohl Geld zu haben. Ihr fiel auf, daß sie trotz der häufigen Treffen noch viel zu wenig, eigentlich nichts, über diesen Mann, in dessen Auto sie gerade gestiegen war, wusste. Obwohl er immer viel geredet hatte, hatte er nie wirklich etwas gesagt. Und sie hatte auch nicht gefragt. Andererseits wusste er auch nicht viel über sie, so dachte sie zumindest. Auch sie hatte nicht über sich selbst geredet. Sie konnte nicht ahnen, daß er in Wahrheit alles über sie wusste, oder zumindest zu wissen glaubte. Und sie konnte ebenso wenig ahnen, daß alles was er tat, wohl durchdacht und geplant war. Sie fuhren aus der Stadt. Es wurde grüner. Auf der Fahrt sprachen sie kaum. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Jörg blickte immer wieder verstohlen auf ihre wohl geformten Beine. Der Saum ihres Kleides war hochgerutscht. Sie schien es nicht bemerkt zu haben, denn sie zog ihn nicht wieder hinunter. Sie schien ihn aber auch nicht mit Absicht so zu lassen. Sie war so kindlich, so unbefangen. Das war gefährlich für ihn. Denn das machte sie liebenswert. Und wenn er sie liebte, dann konnte er nicht tun, was er zu tun gedachte. Er musste geduldig sein. Musste sich zügeln. „Verdammt!“ Dieses Picknick allein mit ihr im Grünen würde es ihm nicht leichter machen. Aber wieder umkehren ging jetzt nicht mehr, obwohl sie ja noch gar nichts davon wusste. Er wollte sie überraschen. Wie gerne würde er jetzt eine Hand auf ihren Oberschenkel legen. Vielleicht auf der Rückfahrt? Würde er es dann wagen können? Tina sah aus dem Seitenfenster und betrachtete die fast schon herbstliche Landschaft. Es war ein schöner Septembertag. Sie erwacht aus ihrem Tagtraum, als die Fahrt auf einmal holpriger wird. Er war in einen Feldweg eingebogen. Sie sagt aber immer noch nichts. Sie fühlt, daß das Ziel eine Überraschung sein soll. Endlich hält er an. Sie parken vor einem kleinen Hain, mitten zwischen den Feldern. Lächelnd sagt er: „da sind wir.“ Sie antwortet ihm nicht, sondern steigt einfach aus und sieht sich um. Viel gibt es jedoch nicht zu sehen, weil die Maisfelder um sie herum die Sicht versperren. Als sie sich darüber klar wird, daß sie hier niemand sehen konnte, wird ihr doch etwas mulmig. Dann sieht sie, wie er einen Picknickkorb und eine Decke aus dem Kofferraum nimmt. Es freute sie einerseits, aber das mulmige Gefühl in ihr wird dadurch nicht verscheucht. Jörg ging auf sie zu, nahm ihre Hand und führte sie auf einem fast unsichtbaren Trampelpfad in den Hain hinein. Blätter raschelten unter ihren Füssen. Über ihnen zwitscherten fröhlich die letzten Vögel, die sich noch nicht in den Süden aufgemacht hatten. Wahrscheinlich würden sie sogar den Winter über hier bleiben. Es war ein schöner Ort. Er hatte ihre Hand inzwischen los gelassen, damit er Zweige und Gestrüpp beiseiteschieben konnte. Das ging eher schlecht als recht, weil er ja nur eine Hand frei hatte. In der anderen trug er den Korb. Die Decke hatte Tina übernommen. Sie kam sich langsam vor, als wären sie im tiefsten Wald, weil sie so schlecht vorankamen. Aber dann blieb Jörg auf einmal stehen. Sie hatte es gar nicht gleich gemerkt, weil sie nur auf den Boden gesehen hatte, aus Angst auf eine Schlange zu treten. Ihre Mutter hatte ihr als Kind eingebläut, niemals in einen Wald zu gehen, weil es da Unmengen an Schlangen gäbe. Inzwischen wohl auch noch Wölfe und weiß Gott noch für Ungeheuer. Dann hob sie den Kopf und was sie sah, ließ sie all ihre Ängste, Zweifel und das mulmige Gefühl vergessen. Vor ihnen war ein kleiner Teich. Eine winzige Hütte, nur wenig größer als ein Gartenhäuschen, stand am Ufer. Vor der Hütte befand sich eine kleine Veranda mit angebautem Steg zum Teich. Sie sah ihn fragend an. „Ja, dieses kleine Stückchen Paradies ist mein. Ich habe es vor Jahren schon gepachtet. Gefällt es dir?“ „Ob es mir gefällt? Ich liebe diesen Ort jetzt schon. Wie hast du ihn gefunden?“ Er antwortete nicht, sondern führte sie nun auf die Veranda. Sie setzte sich in einen der Stühle, ohne zu bemerken, wie sauber er war. Die Sonne beleuchtete ihr Gesicht und sie wirkte auf ihn noch schöner und strahlender. Er sah schnell weg, weil er fühlte, daß wieder Gefahr für ihn bestand, sich zu verlieben. Er stellte den Korb auf den Tisch, dann sperrte er die Hütte auf. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß jemand sie entdecken könnte gering war, hatte er ein Vorhängeschloss angebracht. Tina genoss derweil die Aussicht und die Stille. Kein Stadtlärm. Nur die Geräusche der Natur. Sie bewunderte die Seerosen auf dem Teich. Auch um den Teich blühten noch allerlei Blumen. Weil es so schön warm war, summten sogar noch Bienen um sie herum. Nach einer Weile merkte sie, daß Jörg immer noch in der Hütte drin war. Was mochte er so lange da drin machen? Sie wollte gerade aufstehen und nach ihm sehen, da kam er auch schon wieder heraus. Sie fragte nicht, was er gemacht hatte. War auch besser so. Er hätte ihr schlecht sagen können, daß er sich gerade einen runter geholt hatte, weil er sich sonst auf sie gestürzt hätte. Gott, diese Frau hatte keine Ahnung, wie sexy sie in diesem Kleid aussah. Das Kleid war nichts Besonderes, aber der Stoff umschmeichelte ihren wohlgeformten Körper in einer Weise, die einen Mann einfach verrückt machen musste. Es betonte gewisse Stellen an ihr so sehr, daß es ihm selbst jetzt noch seine ganze Selbstbeherrschung abverlangte, die es aufbringen konnte. Lange würde er das nicht aushalten, so viel war sicher. Um auf andere Gedanken zu kommen, riss er seinen Blick von ihr los und begann den Korb auszupacken. Gespannt, sah sie zu, was da so alles für Leckereien zum Vorschein kamen. Antipasti, Trauben, Weißbrot, Wein, Trüffelpralinen; ihre Lieblingssorte. Als sie das sah, stutzte sie kurz. „Bestimmt nur Zufall“, dachte sie. Aber Jörg überließ nie etwas dem Zufall. Doch das konnte sie jetzt noch nicht wissen. Endlich war der Tisch gedeckt und er setzte sich in den Stuhl gegenüber. Nicht neben sie. Nur nicht zu viel Nähe. Seine Hose spannte sich auch so schon wieder, weil er jetzt genau auf ihre Brüste blickte. Rund und fest zeichneten sie sich unter dem dünnen Stoff ab. Sie trug keinen BH. Unbewusst leckte er sich über die Lippen. „Gott, reiß dich zusammen“, tadelte er sich in Gedanken. Fast hätte er angefangen zu sabbern. Tina schien nichts von alldem zu bemerken. Fröhlich plapperte sie, wie schön und romantisch es hier wäre und wie ruhig und… er hörte gar nicht richtig hin. Erst als sie aufhörte zu reden, wurde ihm klar, wie unhöflich sein Verhalten auf sie wirken musste. Doch was sollte er sagen? Hatte sie ihn was gefragt? Wieder zog er sich mit einem Lächeln und der Bemerkung, daß er so hingerissen von ihr sei, aus dieser peinlichen Situation. Und wieder fiel sie darauf herein und lächelte verzückt zurück. Dann stand sie auf und fragte, wo sie sich hier in der Wildnis die Nase pudern könne. Er verstand nicht sofort, was sie meinte, doch dann fiel der Groschen und er sagte, sie müsse sich wohl oder übel hinter einen Busch begeben; was sie dann auch tat. Er nutze die Gelegenheit um sich selbst den Kopf zurechtzurücken und seinen Plan nochmal im Geiste durchzugehen. Schon am Vortag hatte er diesen Platz hier vorbereitet, von Spinnweben und sonstigem Schmutz gereinigt, ja sogar Bettwäsche hatte er dabeigehabt, diese dann aber doch nicht aufgezogen. Das hätte zu sehr nach Plan gerochen. Und eigentlich wollte er das ja noch gar nicht. Doch dann kam sie wieder um die Ecke gebogen. Ihr Gang war jetzt anders als vorhin. Lasziver. Sie steuerte geradewegs auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. Er kam nicht dazu, dagegen zu protestieren, weil sie ihm als Nächstes eine Olive in den Mund schob. Er war so darauf bedacht, seinen Ständer vor ihr verborgen zu halten, daß er darüber ganz zu kauen vergaß. Sie lachte, als sie sah, wie er die Olive lutschte. Sie schob sich selbst eine Traube in den Mund. Er schluckte seine Olive im Ganzen hinunter. Ihre Augen tauchten ineinander und wie von selbst näherten sich ihre Münder. Seine Hand wanderte zu ihrer Brust. Sein Daumen streichelte über ihre Brustwarze. Er begehrte sie. Er wollte sie. Und sie wollte ihn. Jetzt. Sofort. Hier draußen in diesem Hain, wo niemand sie sehen und hören konnte. Er hatte gar nicht gemerkt, daß er ihr Kleid geöffnet hatte. Seine Hände arbeiteten völlig selbstständig. „Ich liebe dich“ murmelte er zwischen ihren Lippen. „Aber du kennst mich doch gar nicht!“ rief sie plötzlich und sprang auf. Gott sei Dank. Der Bann war gebrochen. Noch eine Sekunde länger und er hätte sich mitreißen lassen. Geistesgegenwärtig ergriff er ihre Hände, sah ihr tief in ihre schönen, großen, braunen Rehaugen und sagte sanft: „aber es ist, als würde ich dich schon ein Leben lang kennen.“ Und während er das sagte, wurde ihm klar, daß er es dieses Mal auch so meinte. Ob sie ihm glaubte? Es schien so, denn sie setzte sich wieder auf seinen Schoß. Doch nun hob er sie wieder hoch, drehte sie um und schloss ihr Kleid. Sie ließ es wortlos geschehen, als wäre sie froh, daß sie nicht bis zum Äußersten gegangen waren. Etwas verschämt setze sie sich in den Stuhl neben ihm. Keiner von beiden wusste was er nun sagen sollte. Da nahm er einfach die Weinflasche, öffnete sie und schenkte zwei Gläser voll. Sie stießen an und nach ein paar Schlucken lockerte sich ihre Stimmung wieder etwas auf. Als sie die Flasche geleert hatten, waren sie beide nur noch am Kichern. Tina hatte gar nicht gewusst, daß Männer auch kichern können. Eigentlich hätten sie zurückfahren müssen, weil morgen ja Montag war. Aber Jörg war nicht mehr fahrtauglich. Das war so nicht geplant gewesen. Hier mit Tina zu übernachten, war das Gefährlichste, was er je getan hatte. Gefährlich deshalb, weil er echte Gefühle für sie hegte. Bisher war es ihm gelungen, diese zu unterdrücken. Aber nach diesem Kuss heute Nachmittag? Fieberhaft überlegte er, wie er die Situation entschärfen könnte. Er konnte auf gar keinen Fall alleine mit ihr in dieser Hütte schlafen. Sie würde bestimmt ihr Kleid ausziehen, damit es nicht verknitterte. Dann gäbe es kein Halten mehr für ihn. Es gab eigentlich nur eine Lösung. Er schlug also vor, sie solle sich in die Hütte begeben und er würde hier draußen Wache schieben. Sie wirkte erst etwas enttäuscht, nahm den Vorschlag dann doch dankend an und verschwand umgehend in der Hütte. Die Tür ließ sie allerdings offen. Wohl weil das kleine Fenster nicht zu öffnen war, bestimmt nicht, um ihn zu locken. Er hörte ihr Kleid rascheln, als sie es auszog. Er ahnte nicht, daß Tina es absichtlich so geräuschvoll auszog. Sie wollte ihn so sehr, wie noch nie einen Mann zuvor. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihr Leben alleine, ohne Mann, zu verbringen. Vor Männern hatte ihr bisher nur gegraut. Wie sie da so in dieser Hütte lag, dachte sie nach, warum eigentlich. Sie begab sich in die Tiefen ihres Gehirns, bis sie vor der Tür ihrer schlimmsten Geheimnisse stand. Sie hatte diese Tür versperrt. Dahinter lag ihre Vergangenheit. Nein. Sie wollte nicht daran rütteln. Sie hatte so erfolgreich alles verdrängt und es war so schön heute. Das wollte sie sich auf keinen Fall verderben, dadurch, daß sie ausgerechnet jetzt ihre Vergangenheit ausgrub. Irgendwann würde sie sich damit befassen müssen, das wusste sie wohl. Aber nicht heute und nicht hier. Sie dachte auch nicht darüber nach, wieso Jörg diese Decke mitgenommen hatte, unter der sie nun lag. Nicht einmal im Traum dachte sie daran, daß Jörg etwas Böses im Schilde führen könnte. Jörg saß draußen, die Füße auf jenem Stuhl in dem Tina zuvor noch gesessen hatte. Er meinte, ihre Wärme noch zu fühlen. Er hörte sie atmen. Wie sollte er diese Nacht überleben? Jetzt, wo er sich eingestanden hatte, daß er sie wirklich liebte, konnte er nicht mehr das mit ihr tun, was er geplant gehabt hatte. Andererseits, vielleicht musste er das ja gar nicht mehr tun. Vielleicht war sie ja die Richtige. Womöglich war sie nicht so eine Hure, wie alle anderen, allen voran seine Mutter. Aber war er auch der Richtige für sie? Würde sie bei ihm bleiben?

Auf einmal wusste er, daß er wollte, daß sie seine Frau wurde. Er wollte sie heiraten. Ja, er liebte sie wirklich. Tina lag drinnen in der kleinen Koje und wollte nur eins: ficken. Sie war über sich selbst erschrocken, als sie genau das dachte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas gedacht, und schon gar nicht hatte sie es gewollt. Sie war schon drauf und dran gewesen, sich für frigide zu halten. Bis zu dem Tag, wo er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Und heute, als er ihre Brust berührt hatte. Noch nie hatte sie so gefühlt. War das jetzt Liebe oder nur Lust? Sie wusste es nicht. Woher auch. Er hörte, wie sie sich unruhig hin und her wälzte. Abrupt stand er auf und entfernte sich ein paar Meter. Dies würde eine lange Nacht werden. Länger als jemals eine Nacht gewesen ist und es je wieder sein würde. Das war beiden klar. Nichts desto trotz musste er ein paar Stunden schlafen, um wenigstens etwas von dem Alkohol abzubauen. Er begab sich zum Auto, legte sich auf den Rücksitz und schlief, da er nun etwas Abstand von ihr hatte, augenblicklich ein. Auch Tina wurde letztendlich vom Schlaf übermannt. Als sie erwachte, saß Jörg schon wieder in seinem Stuhl und wartete. Sie zog ihr Kleid über und trat hinaus in die Morgensonne. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, daß es schon fast neun Uhr war. Sie würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen, ihren Laden heute zu öffnen. Egal. Dann blieb er eben mal zu. Es kamen ja eh kaum Kunden zu ihr. Jörg starrte sie nur an. Sie meinte, er täte dies, weil sie bestimmt schrecklich aussah. Doch dann sagte er: „ Oh mein Gott, du bist so wunderschön.“ Sie fühlte sich geschmeichelt aber auch verlegen. Wie konnte er sie schön finden, wo sie doch nicht einmal ihre Haare hatte kämmen können? Und wahrscheinlich war ihr Gesicht ganz zerknautscht. Er hingegen sah trotz oder vielleicht gerade wegen seines zerknitterten Hemdes, geradezu blendend aus. Er stand auf, und gab ihr einen Gute-Morgen-Kuss. Der Zauber von gestern war immer noch da. Er war, als er erwachte, so blauäugig gewesen, zu denken, er hätte sich wieder im Griff. Aber kaum daß seine Lippen die ihren berührten, schwanden ihm schon fast wieder die Sinne. Er hatte die Reste vom Picknick schon wieder in den Korb gepackt, während sie noch geschlafen hatte, und so drängte er jetzt zur Rückfahrt. Er könne zwar etwas später im Büro erscheinen, meinte er, aber nicht einfach so ganz weg bleiben. „Oh“ sagte sie nur und setzte sich