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Andrea Aufgewachsen mitten im Kapitalismus. Terror, Krieg, Habgier und diffuse, von Machthabern gezielt geschürte Ängste beherrschen die Welt. Das Geld regiert die Welt. Es herrscht modernes Sklaventum. Dann kommt der große Knall: Über Nacht verschwindet das Geld und die damit verknüpfte Macht. Eine neue Welt entsteht: Eine Welt ohne Geld
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Seitenzahl: 336
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Gewidmet, all jenen, die genug vom Geld und dem Kapitalismus haben
Alle Personen, Orte, Handlungen und Begebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Überweinstimmungen mit noch lebenden oder schon verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Vorwort
Prolog
Kapitel 1 Fortschritt und Wachstum
Kapitel 2 Alles ganz normal
Kapitel 3 Der Anfang vom Ende
Kapitel 4 Einbahnstraße
Kapitel 5 Die Erde dreht sich noch
Kapitel 6 Mittendrin
Kapitel 7 Opfer müssen gebracht werden
Kapitel 8 Drei Generationen
Kapitel 9 Alles neu
Kapitel 10 Alte Zeit – Neue Zeit
Kapitel 11 Weniger ist mehr
Kapitel 12 Der Kreis schließt sich
Epilog
Nachwort
Danke
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es im deutschen Grundgesetz. Alle Menschen sind frei und gleich. So steht es in der amerikanischen Verfassung. Aber ist das wirklich so? Sind wir wirklich alle frei und gleich? Oder sind wir nicht vielmehr ständig auf der Suche nach Freiheit, nach dem eigenem ICH, nach einem selbstbestimmten Leben, dem Sinn des Lebens oder einfach nur nach innere Ruhe? Wir lesen darüber entsprechende Bücher, besuchen Kurse, Seminare und Workshops und merken dabei gar nicht, dass sich ein ganzer Industriezweig um diese Suche entwickelt hat und davon lebt. Und versprochen, keiner wird fündig werden, zumindest nicht auf Dauer, weil dann wäre ja die Lebensgrundlage dieser Industrie verloren. Und das ist nur ein Beispiel, dafür, dass sich alles letztendlich nur um eine Sache dreht: GELD.
Jeder will es und auch noch möglichst viel davon. Aber was ist „Geld“ eigentlich genau. Wo kommt es her? Wer bestimmt seinen Wert? Und vor allem, mit welchem Recht bestimmen einige wenige über den Wert? Wer hat damit angefangen, über andere Menschen zu bestimmen, sie zu unterdrücken, gegen sie Krieg zu führen? Mit welchem Recht gebieten Menschen über Menschen? Darf einer nur weil er reich ist, anderen befehlen, was sie zu tun und zu lassen haben? Wie kann es sein, dass sich einige wenige über alle anderen erheben und über diese auch noch bestimmen? Es wird bestimmt, was wir essen, wann wir essen und wie viel. Wer bestimmt das eigentlich und mit welchem Recht? Wie konnten wir dorthin gelangen, wo wir heute sind und wie kommen wir da wieder heraus?
Es hat viele Geschichtsdokumentationen und Bücher gebraucht. Aber egal, was ich auch gelesen, gehört oder gesehen habe, ich kam immer zu demselben Ergebnis:
Es ist heute noch genauso wie damals bei den Römern, nur mit Fernsehen und Internet. Und das Grundübel ist und bleibt das Geld und die damit verbundene Macht. Und beides funktioniert nur, weil wir dem Geld Wert beimessen, der in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Der Wert ist nur in unserem Kopf. Und weil wir uns von Menschen, die wir gar nicht kennen, diktieren lassen, wie wir zu leben haben. Freiheit sieht anders aus. Macht kann nur ausgeübt werden, wenn es auch Menschen gibt, die sie an sich ausüben lassen. Da ist der Mensch irgendwie komisch gestrickt. Da trifft sich eine Gruppe von Kindern um zu spielen. Jetzt kann es sein, dass einer dabei ist, der sehr bestimmt auftritt und sagt „wir spielen Verstecken“ und alle anderen machen mit, weil sie es wirklich auch wollen, einige würden vielleicht lieber etwas anderes spielen, trauen sich aber nicht etwas zu sagen und einer wird wohl sagen „das mag ich nicht“, und gehen. Es mag auch Gruppen geben, die ausgeglichen sind und die darüber abstimmen, was gespielt werden soll. Aber in der Mehrheit wird es so ablaufen, wie in der ersten Gruppe. Weil so läuft es in der ganzen Welt. Es gibt „Bestimmer“ und „Mitläufer“ und einige wenige „Aussteiger“. Aber wann hat dieses System angefangen und wie? Spätestens seit Pispers „die Lüge des Kapitalismus“, Lesch: “Zinseszins, das perfekte Verbrechen“, Hörmann: „wie Geld entsteht“, Geißler, Hawking, Brodbeck und wie sie alle heißen, ist vielen durchaus bewusst, dass sich daran etwas ändern muss; dass es so nicht weitergehen kann. Aber die Einen haben eigentlich keine Lust etwas zu ändern, weil es ihnen zu gut geht. Die Anderen haben Lust, aber es fehlt ihnen der Mut dazu, und dann gibt es noch diejenigen, die schon resigniert haben und denken eine Veränderung wäre eh nicht mehr möglich. Und dann ist da ja auch noch die große Frage wie und was kann überhaupt verändert werden? Denn jeder große Umbruch hatte bisher auch immer irgendwie mit Krieg zu tun oder zumindest mit Gemetzel. Also wie verändere ich die Welt ohne großes Blutvergießen und ohne allzu große Verluste, welcher Art auch immer?
Es wurden ja schon so einige Variationen des Zusammenlebens durchprobiert. Zum Beispiel: Sozialismus, Kapitalismus, Kommunismus. Sie wurden auf verschiedene Weise durchgesetzt: durch Diktatur oder Demokratie oder durch Religionsgründungen.
Aber auf Dauer hat nichts so richtig für alle funktioniert, weil es am Ende immer zu Ungerechtigkeiten geführt hat. Und diese Ungerechtigkeiten kamen zustande, weil Geld und Macht mit im Spiel waren und immer noch sind. Daher konnte auch der „Liberalismus“ nicht funktionieren.
Nur einmal angenommen, alle Soldaten legten ihre Waffen einfach nieder und weigerten sich fortan zu schießen? Der Diktator oder Präsident oder König oder wie auch immer der jeweilige Machtinhaber sich gerade nennen mag, könnte einen Kopfstand machen und mit den Füssen wackeln. Mehr aber auch nicht. Er könnte hüpfen, wie einst das HB-Männchen, keiner würde mehr seinen Befehlen folgen. Aber die Menschen schaffen es ja nicht einmal, die Uhren nicht mehr auf Sommerzeit zu stellen, obwohl sie diese Zeitumstellerei gar nicht mehr wollen. Die Erde würde sich trotzdem weiter drehen, aber auch bei so etwas Banalem geht es nur um das Eine – das Geld. Genauso wie die Einführung der Zeitumstellung würde die Abschaffung ja erst einmal wieder Geld kosten.
Was geschähe nun, gäbe es das Geld- die Grundlage aller Macht und die Grundlage allen Übels- nicht mehr?
Ich habe diese Frage in meinem Bekannten- und Freundeskreis gestellt und sehr unterschiedliche Reaktionen erhalten. Von nachdenklich bis „das geht ja mal überhaupt gar nicht“ war alles mit dabei. Keiner konnte sich eine Welt ohne Geld auch nur im Entferntesten vorstellen. Das hat mich zu diesem Buch inspiriert. Manches mag vielleicht etwas utopisch anmuten, aber „geht nicht“ gibt es bei mir nicht. Schließlich hat unsere Gattung es geschafft, sich buchstäblich weltweit auszubreiten. Es gibt Menschen, die leben im Eis und andere in der Wüste. Alles eine Frage der Anpassung. Und diese Anpassungsfähigkeit wird es auch möglich machen, in einer Welt ohne Geld zu leben.
Luzie streift mit ihrer Gruppe durch die Steppen Afrikas. Alles ist noch grün. Das Wetter ist schön und es gibt Nahrung im Überfluss. Es lauern viele Gefahren auf Luzie. Löwen und andere Raubtiere zum Beispiel. Den Löwen kann sie ganz einfach aus dem Weg gehen. Sie weiß, dass diese fast nur in der Dämmerung oder nachts jagen. Also geht sie tagsüber auf Nahrungssuche, wenn die Gefahr schläft. Sie ist noch kein richtiger Mensch, aber doch schon schlau genug. Auch wenn sie bei vielem noch instinktiv handelt, schlägt sie sich ganz wacker durchs Leben.
Viele Jahrhunderte später entdeckt ein Nachfahre, wie man Feuer macht. Er zeigt es den anderen und die zeigen es wiederum anderen, so lange, bis alle Hominiden diese Technik beherrschen. Das war ein wirklicher Fortschritt für die Menschheit gewesen. Die erste und einzige wirkliche Innovation. Alles was danach kam, hat die Menschheit nur scheinbar voran gebracht, weil sie mit allem, was sie auch taten, gleichzeitig ein Stück vom Paradies zerstörten.
Wir lesen darüber in der Bibel: die Vertreibung aus dem Paradies. Aber nicht Gabriel hat mit seinem Flammenschwert die Menschen daraus vertrieben. Nein. Das haben wir ganz alleine geschafft, indem wir Waffen erfunden haben um uns damit gegenseitig daraus zu vertreiben. Aber warum? Liegt es wirklich in der Natur des Menschen, anderen nichts zu gönnen? Ist Neid und Mißgunst angeboren? Werden wir es schaffen, diese negativen Eigenschaften abzulegen? Werden wir unser Paradies jemals wieder zurück erlangen?
„Fortschritt ist die Quersumme aus Moderner Technik plus billige Rohstoffe plus längerer Arbeitszeit plus billige Lohnsklaven. Oder wie sonst ist es möglich, dass man trotz modernster Maschinen und Fertigungsanlagen doppelt so viel arbeiten muss um gerade einmal die Hälfte von dem zu verdienen, was die Menschen vor der Modernisierung verdient haben? Wie ist es möglich, dass Menschen einen zweiten Job annehmen müssen, um ihre Familie ernähren zu können? Fortschritt dient nur einer Elite und ist das kalorienlose Brot der Armen.“
So oder so ähnlich schrieb einmal ein Facebook User. Aber es hat nichts genützt. Ein paar Likes gab es für diesen Beitrag, aber geändert hat sich nichts. Keine Menschenmassen sind auf die Straßen gegangen und haben gegen diese Eliten demonstriert. Manche wurden sentimental und dachten an „Früher“. Auch Andrea. Sie dachte an das Dorf in welchem sie aufgewachsen war, damals in den Siebzigern. Es gab drei Gaststätten, zwei davon mit eigener Metzgerei nebst Verkaufsladen.
Ihre Mutter achtete stets darauf, dass immer abwechselnd bei beiden eigekauft wurde, weil selbstverständlich kannte jeder jeden und es hätte sich herumgesprochen, hätte man einen von beiden vernachlässigt. Dasselbe galt für den Bäcker, der auch einen kleinen Lebensmittelladen betrieb und den Tante Emma Laden, der hier in Wahrheit ein
„Onkel-Huber-Laden“ war. Beim „Huber“ gab es keine Selbstbedienung. Aber man konnte Dinge, die er nicht da hatte, bestellen. Andrea hatte sich einmal Feinstrumpfhosen bestellt. Er hatte zwar welche dagehabt, aber nicht in ihrer Größe. Und als sie noch kleiner war, da gab es immer diese kleinen roten Kirschlutscher oder ein Kaubonbon als Geschenk und manchmal auch einen Kaugummi oder so einen Glückskleetraubenzuckerlutscher. Es gab auch noch eine Raiffeisenbank und einen Raiffeisenhandel, eine Post und einen Friseur, der „Bader-Max“ genannt wurde, weil dort wie früher beim Bader auch Kopfschmerztabletten und einige Salben erworben werden konnten. Eine BP-Tankstelle lag in Sichtweite des Reiheneckhauses, in welchem sie zu der Zeit wohnten. Und der Hauptgrund, warum sich ihre Eltern dazu entscheiden hatten, in diesem Dorf zu wohnen, war die Grundschule gewesen. Dreimal am Tag fuhren Busse in drei Richtungen. Der eine zur S-Bahn Station, welche ca. 5km entfernt in einem Marktort lag, der andere fuhr in die Kreisstadt, und der dritte war eigentlich nur ein Schulbus, der in den Ort fuhr, wo sich die nächste Hauptschule befand. Alle anderen weiterführenden Schulen befanden sich in der Kreisstadt und im Marktort. Es war alles in allem ein recht beschaulicher Ort, wo die Welt noch in Ordnung war. Selbst als die erste Energiekrise oder Ölkrise stattfand. Andrea bekam das nur insofern mit, als ihre Mutter die Drehventile von den Heizkörpern in den Kinderzimmern entfernte, damit sie und ihre Schwester diese nicht mehr unkontrolliert andrehen konnten.
Man hielt sich in der beheizten Wohnküche auf. Nachdem zum ersten Mal, wegen zu viel Schnee der Strom für mehrere Tage ausgefallen war, hatte der Vater einen Beistellherd besorgt. Der wurde mit allem befeuert, was nur irgendwie brannte. Außer Autoreifen. Aber ansonsten wurde da wirklich von Zeitungspapier bis zu Milchtüten alles reingesteckt. Im Winter, wenn der Dorfweiher zugefroren war, konnten die Kinder darauf Schlittschuh laufen. Andrea konnte ihre schon zu Hause anziehen, weil sie direkt daneben wohnten und da die Gehwege damals noch nicht so akribisch von Eis befreit werden mussten, konnte sie über diesen fast direkt auf den Weiher rutschen. Ein kleines Stück Wiese lag noch dazwischen. Neben dem Weiher befand sich die Dorfwiese, darauf wuchsen noch viele verschiedene Blumen.
Heute muss man solche Blumen als Wildblumensamen im Handel kaufen. Die wachsen nicht mehr so in der Wildnis. Ein paarmal im Jahr wurde diese Wiese von einem älteren Herrn mit der Sense gemäht, der Hasen züchtete. Der schimpfte die Kinder immer, wenn sie im hohen Gras verstecken spielten und dabei die Wiese zertrampelten. Das war den Kindern aber egal, weil sie wussten, dass die Wiese Gemeindeeigentum war und nicht diesem grantigen Mann gehörte. Und eigentlich war er ja sonst ganz lieb. Samstags fuhr die ganze Familie zum Großeinkauf in den nächsten Supermarkt. Damals gab es noch nicht so viele und sie lagen auch noch verstreuter. Vor dem Supermarkt gab es ein kleines Areal, wo die Kinder spielen konnten, mit kleinen Elektroautos. Die waren fast wie die im Autoskooter auf dem Volksfest.
Nur ohne diese langen Stäbe oder Antennen. Diese hier hatten einen Elektromotor. Ihr Papa kaufte drinnen im Supermarkt ein paar Chips, die man dann in die Autos steckte und schon konnte es losgehen. Wenn die Chips aufgebraucht waren, bevor die Eltern vom Einkauf zurück waren, dann ging man eben zur Schaukel rüber oder in den Sandkasten. Es gab keine Aufsicht. Das war auch nicht notwendig. Keines der Kinder wäre auch nur im Traum auf die Idee gekommen, den Spielplatz zu verlassen. Und es musste auch noch keiner Angst davor haben, ein Pädophiler könnte ein Kind stehlen. Und nachher gab es dann Softeis und vielleicht noch eine Runde auf dem Pferd reiten oder im Hubschrauber fliegen. Das kostete 10 oder 20 Pfennig. Auf keinen Fall mehr. Überhaupt kostete alles viel weniger. Andreas Familie wohnte direkt gegenüber einem der drei Gasthäuser.
Dort gab es die Kugel Eis für 25 Pfennige, meist im Becher, manchmal hatten sie auch Waffeln. Die schmeckten aber nicht so besonders. Ein wenig wie Pappe. Einen Sommer lang aß Andrea nur Waldmeister Eis. Davon wurde die Zunge so schön grün. Seit damals hat sie nie wieder so leckeres Waldmeistereis gegessen. Das Wasser schien auch nicht viel gekostet zu haben. Jeden Tag wurde der Garten gründlich mit Leitungswasser getränkt. Eine Regentonne aufzustellen, hielten die meisten damals noch für unnötig. Andrea erinnerte sich nur an zwei Sommer, die so heiß und trocken waren, dass der Bürgermeister des Ortes ein Gartengießverbot aussprach. Sogar der Weiher war fast ausgetrocknet und stank, zur Freude ihres Hundes, ganz fürchterlich. Der Hund hieß „Bazi“ und ein solcher war er auch. Damals mussten Hunde noch nicht an der Leine ausgeführt werden. Die meisten liefen frei im Ort herum und verrichteten zum Leidwesen des Hasenzüchters, ihr Geschäft mit
Vorliebe auf dem Dorfanger. Die Hundesteuer wurde noch in bar von einem Gemeinderatsmitglied, vermutlich der Kassenwart, eingesammelt. Dieser kam mehrmals im Jahr und sammelte jedes Mal für irgendwas anderes Geld ein. Eine schöne Zeit war auch der Fasching. Der Rektor der Grundschule organisierte für die Kinder immer einen Umzug. Die Kinder zogen dann von Laden zu Laden und jeder Ladenbesitzer kam heraus und warf Bonbons. Am Schluss gab es beim Alten Wirt eine Kinderfaschingsfeier, wo ein Krapfen (Berliner) auch nur 50 Pfennige kostete, und als warme Speise gab es Wiener mit Breze oder Semmel. Mehr brauchte es nicht. Und Spezi. Den gab es zu Hause nämlich nicht. Überhaupt waren Kinder damals noch viel leichter zufrieden zu stellen. Das lag vielleicht auch daran, dass sie im Grunde nicht viel brauchten. Sie hatten ja sich selbst und konnten noch draußen miteinander spielen. Als Spielplatz diente das ganze Dorf. Wobei die Hauptstraße meist als Grenze fungierte. So war es nicht selten, dass Kinder, die auf der selben Straßenseite wohnten befreundet waren und bei Dorffeiern dann gegen die von der anderen Seite kämpften. Aber nie ernstlich. Am Ende saßen sie dann bei dem ein oder anderen hinten auf der Terrasse und erzählten sich so lange Horrorgeschichten, bis sich alle vor Angst fast in die Hosen machten und sich nicht mehr alleine Heim zu gehen trauten. Es gab auch diverse Vereine am Ort.
Vom Heimatverein war Andras Vater der Vorstand. Und auch vom Fischerverein. Ihr Vater hatte demnach viel zu tun. Wenn er nicht als Handelsvertreter unterwegs war, hatte er mit einem von den Vereinen zu tun. Aber auf diese Weise kam Andrea auch viel herum, weil jeder Verein damals noch einen Jahresausflug machte. Einen Bus zu mieten kostete noch nicht die Welt und die Leute hatten auch noch genug Geld für solche Ausflüge übrig. Und auch die Zeit. Damals ahnte noch niemand, dass sich das einmal so drastisch ändern würde. Wer hätte je gedacht, dass einmal eine Zeit kommt, wo Menschen zwei Jobs ausüben würden müssen, um ihre Familie auch nur ernähren zu können. Twix hieß noch Raider und Milky Way schwamm auf der Milch und schmeckte noch lecker, bevor sie die Rezeptur „verbesserten“. Das Telefon war grau mit einer Wählscheibe und stand im Flur. Das Kabel reichte gerade bis zur Mitte der Treppe nach oben. Der Eintritt ins Freibad kostete für Kinder in den Sommerferien 50 Pfennige. Dann brauchte man nochmal 50 Pf. Für eine Portion Pommes und nochmal maximal 1 DM für ein großes Eis. Andrea nahm meist zwei kleine Eis, die zusammen nur 80 Pfennige kosteten und große Pommes für 1 Mark. Für nicht einmal 2 DM konnte ein Kind damals einen ganzen Nachmittag verbringen. Andrea und ihre Schwester fuhren immer mit der Nachbarin im Auto zum Freibad. Das war möglich, weil in dem Reihenhaus, welches sie zur Miete bewohnten, waren alle miteinander befreundet, Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Man unternahm zusammen Radausflüge und veranstaltete Grillabende. Und es war auch die einzige Möglichkeit, weil ihre Mutter mit Heimarbeit beschäftigt war und ihr Vater so gut wie nie zu Hause. Mit dem Bus wäre das eine Weltreise gewesen. Einmal hatten sie sich zu elft in den kleinen Opel Kadett der Nachbarin gestapelt. Auf dem Beifahrersitz „saßen“ drei Kinder, die restlichen sieben hinten. Es war sehr heiß gewesen, an diesem Tag und die Fahrt zum Freibad kam Andrea ewig vor. Fast hätte sie gekotzt. Die Rückfahrt war dann nicht mehr ganz so eng, weil von den anderen Eltern noch wer nachgekommen war. Die Nachbarin war immer zu Hause und sie zog sich manchmal fünf Mal am Tag um. Sie war eine Avonberaterin gewesen. Andrea hat immer noch diese kleinen Lippenstiftpröbchen. Aber ob die Nachbarin wirklich je etwas davon verkauft hatte? Wohl eher nicht, weil sie wie gesagt ja immer daheim war. Auch ihr Mann war Handelsvertreter, wie Andreas Vater, nur für Karten Geschenkpapier. Von damals ausgemusterten Karten und Geschenkpapier war auch immer noch etwas vorhanden. Andreas Vater verkaufte Briefkästen, und um sich ein kleines Zubrot zu verdienen, ging er auch hin und wieder auf Montagen. Ihre Urlaube verbrachten sie immer in Österreich in einem ehemaligen hundert Jahre alten Bauernhof. Es hatten sich mehrere Familien zusammengetan und diesen nach und nach ihren Bedürfnissen angepasst. Als erstes wurde aus dem Plumpsklo ein Wasserklosett gemacht. Nach und nach kamen dann eine Dusche, Waschbecken, neue Fußböden, neue Fenster, ein neues Dach usw. hinzu. Jede Familie schlief gemeinsam mit den Kindern in einem eigenen Zimmer.
Es gab eine Gemeinschaftsküche und eine Gemeinschaftsstube. Und ganz wichtig: keinen Fernseher.
Den brauchte es auch nicht, weil die Eltern da immer Zeit hatten und daher spielten sie ganz oft gemeinsam Brettspiele oder Kartenspiele. Ansonsten konnten sich die Kinder hinten in der ehemaligen Scheune ein Matratzenlager bauen. Und im Sommer bauten sie ihre Lager im Wald. Der Bereich, in dem sie sich aufhalten durften, war durch Waldwege abgegrenzt. Und nur ein einziges Mal hatten sie sich auf Erkundung außerhalb dieses Bereiches begeben. Ansonsten waren sie in Hörweite und wenn die große Kuhglocke, die im Flur gleich hinter der Haustüre hing, angeschlagen wurde, dann hieß das, Essen kommen, und die Kinder strömten aus allen Winkeln herbei um nach dem Essen sogleich wieder zu verschwinden, bis es dunkel wurde. Sie gingen auch viel in den Bergen wandern. Schön fand Andrea es, wenn sie Pilze suchen gingen. Da mussten sie schon bei Sonnenaufgang aufstehen, also so ca. halb fünf, um den anderen Pilzsammlern zuvor zu kommen. Wobei Andrea und auch die meisten der anderen Kinder eher auf Blaubeeren aus waren. Damals war vom Fuchsbandwurm noch keine Rede und man konnte sich den Bauch so richtig schön mit sonnenwarmen Beeren vollschlagen. Am Ende wurde dann geschaut, wessen Zunge am schwärzesten war. Solch leckere Baubeeren gibt es heute gar nicht mehr. Oder auch der Käse von der „Kasalm“. Da gab es auch diese riesen Milka Schokotafeln. Die schmeckte immer viel besser, als die kleinere aus dem Laden. Damals wurde halt noch Wert auf Qualität und vor allem auf Geschmack gelegt. Alles, egal was, ob nun Brot, Fleisch, Joghurt oder Schokolade, es schmeckte besser. Wenn man mal in ein Restaurant ging, bekam man keine in der Mikrowelle aufgetaute Tiefkühlkost vorgesetzt. Ja, Andreas Kindheit war noch in Ordnung. Nur die letzten beiden Schuljahre verliefen nicht so toll. Es wurde für die Jugend noch nicht so viel getan. Schnupperpraktika oder Veranstaltungen wie „go future“ gab es noch nicht. Statt dessen bekam Andrea , und auch alle anderen, ein Buch vom Arbeitsamt (damals hieß das noch so. heute heißt es Arbeitsagentur, aber benehmen tun sich alle immer noch so, als wäre es ein Amt) in die Hand gedrückt, worin sämtliche Lehrberufe und freien Lehrstellen in ganz Deutschland (ohne DDR) aufgelistet waren. Das war‘s.
Andrea hätte eigentlich gern Goldschmied gelernt (die Bezeichnung Goldschmiedin gab es noch nicht), aber dafür gab es Deutschlandweit nur zwei Lehrstellen. Sie wagte nicht, ihre Eltern um Hilfe zu bitten. Sie erinnerte sich daran, dass alle immer gesagt hatten, sie könne gut mit kleinen Kindern umgehen. Da wäre Kindergärtnerin in Frage gekommen. Aber da hätte sie ewig weit und ganz kompliziert mit dem Bus fahren müssen oder weg ziehen. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Irgendwie war sie nicht wirklich zur Selbstständigkeit erzogen worden. Damals mussten Kinder brav sein und den Mund halten, wenn sich Erwachsene unterhielten. Die eigene Meinung war nie gefragt gewesen. Und mit 18 sollte man dann plötzlich einen eigene Meinung haben und wählen gehen. Aber egal. Kindergärtnerin kam also auch nicht infrage. Dann las sie „Säuglingsschwester“ und dachte „genau, dass ist es“. Sie schrieb eine Bewerbung an das Rote Kreuz Krankenhaus in der Landeshauptstadt. Aber die wollten sie nicht nehmen, weil ihnen ein Notendurchschnitt von 3,0 zu schlecht gewesen war. Nur ein paar Jahre später kamen dann die Schwestern aus dem damaligen Jugoslawien, die waren zwar nicht besser, aber billiger. Wochen später, Andrea kam auf dem Weg zum Bahnhof an der Apotheke vorbei, da kam ihr die Erleuchtung. Warum nicht in einer Apotheke arbeiten. Kranke Menschen würde es wohl immer geben. Es schien ihr ein sicherer Beruf. Und dieses Mal würde sie sich nicht lange mit Bewerbungen schreiben aufhalten, sie würde gleich direkt um eine Lehrstelle fragen. Gedachtgetan. Also nicht gleich. Es brauchte ein paar Tage, bis sie sich wirklich einmal hinein traute. Aber dann lief alles wie am Schnürchen. Sie bekam die Lehrstelle. Und auch als sie dann fertig war und gehen musste, bekam sie die Anschlußstelle ganz leicht. In der Berufsschule hatte eine der Lehrerinnen einen Zettel dabei, mit der Adresse einer neu zu eröffnenden Apotheke nur knapp 20 km von ihrem Wohnort entfernt. Keine der anderen Mitschülerinnen meldete sich, also griff Andrea zu. Ein Telefonat und ein Gespräch später hatte sie die Stelle. Leider nicht für lange, weil das Ärztehaus, in welchem sich die neue Apotheke befand, erst mit einem Arzt besetzt war. Zu wenig für den Apotheker um sich einen Helferin leisten zu können. Aber er sagte ihr wenigstens zu, dass sie so lange bleiben könne, bis sie was Neues hätte. Am Ende fand sie die neue Stelle schneller als gedacht und konnte von heute auf morgen dort anfangen. Nur war diese Apotheke in der Stadt und auch noch im Untergrund. Im Winter sah sie praktisch kein Tageslicht. Daher machte sie sich an ihren freien Tagen in der Kreisstadt auf die Suche. Sie ging so lange von Apotheke zu Apotheke, bis sie fündig wurde. Und wieder ging es ganz ohne zu schreiben. Doch langsam merkte sie, dass sie auf Dauer von ihrem Gehalt nicht würde leben können. 1200 DM brutto bekam sie damals im sechsten Berufsjahr. Wesentliche Steigerungen waren nicht zu erwarten. Fast die Hälfte ging für die Miete drauf. Dann kamen noch das Auto, Vorsorge, Versicherungen. Wirklich viel blieb da nicht mehr übrig. Und dann musste sie auch noch samstags vormittags arbeiten und daher zählten Samstage als Werktage bei den Urlauben. Durch Zufall fragte sie dann eines Tages ein Bekannter, der damals stellvertretender Geschäftsstellenleiter einer Sparkassenfiliale gewesen war, ob sie nicht Lust hätte, in der Sparkasse anzufangen. Sie meinte erst, das ginge nicht, weil sie in Mathe immer eine fünf gehabt hätte, da könne man doch unmöglich bei einer Bank anfangen. Aber sie konnte. Knapp ein Jahr später fing sie dort an. Sie bekam mehr Gehalt für weniger Stunden und Samstag zählen nicht mehr als Urlaubstag, was ihr zwei Wochen mehr Urlaub einbrachte. Daher machte sie zwei Jahre später Nägel mit Köpfen und absolvierte den Abschluss zur Sparkassenkauffrau. Es war nicht immer einfach gewesen als 25-Jährige nochmal einen komplett neuen Beruf zu erlernen. Und auch noch abends nach der Arbeit. Alle vier Wochen musste sie in die Hauptstelle um dort eine Klausur zu schreiben und die Abschlussprüfung war dann in der IHK-Zentrale in der Stadt. Das alles hatte sie nur schaffen können weil die Mitarbeiter in der Zweigstelle noch wie eine Familie waren. Man unternahm auch privat noch viel zusammen. Man half sich gegenseitig egal ob beruflich oder privat. Damals dachte niemand auch nur im Traum daran, wie radikal sich das alles einmal ändern würde. Niemand dachte daran, dass Kunden, egal wie alt sie auch sein mochten, ihre Überweisungen einmal selber würden ausfüllen müssen. Es gab noch zwei Kassen und mehrmals am Tag kam einer vom benachbarten Autohaus und zahle bar tausende von DM ein. Bis dann der Einzahlungsautomat über Nacht aufgestellt wurde. Aber den musste der Herr der das Geld immer brachte, nicht mehr lange benutzen; es war ein Opel-Händler gewesen. Und Opel zeigte schon damals erste Anzeichen, des kommenden Untergangs. Andrea erinnerte sich noch gut an eine alte Frau, wie diese weinend mit ihrer neuen Kundenkarte vor den ganzen Automaten stand, und nicht wusste, wie sie diese bedienen sollte. Aber den Mitarbeitern war es streng untersagt, zu helfen und wenn, dann sollte eine Gebühr dafür erhoben werden. Das machten natürlich nicht alle mit. Vor allem nicht die, die langjährige Kunden betreuten. Also wurden die Kunden nicht mehr nach A-K und L-Z getrennt, sondern nach Kontonummern und völlig neu zugeordnet. Mitarbeiter wurden versetzt und so langjährige Kundenbindungen zerstört. Nicht mehr der Kunde stand im Mittelpunkt sondern nur noch der Profit der Sparkasse. Der neue Vorstand hatte die einstmals Kundenfreundliche Sparkasse zu Vertriebssparkasse umgemodelt.
Genützt hat es wenig. Dem Outsourcing einzelner Abteilungen war letztendlich doch eine Fusion mit zwei anderen Banken gefolgt. Die weltweite wirtschaftliche Talfahrt hatte unausweichlich begonnen. Die Fusion und die damit einhergehenden Versetzungen und Kündigungen (natürlich musste dieses Kreditinstitut von sich aus keine Mitarbeiter entlassen. Da gingen die subtiler vor) musste Andrea allerdings nicht mehr miterleben, weil sie zuvor rausgemobbt worden war. Das ging nicht anders, weil sie schon die Unkündbarkeit erreicht hatte. Andererseits hätten sie sie gleich gefragt, ob sie gehen will und ihr eine ordentliche Abfindung geboten, wäre ihr viel Leid erspart geblieben. Leid, an dem sie heute noch zu knabbern hatte. Die 1980er und Anfang bis Mitte der 1990 Jahre waren noch dem Aufschwung beschieden. Aber es zeichnete sich bereits ab, dass dieser zu teuer erkauft sein würde. Und dass dieser Aufschwung längst nicht für alle galt. Und Andrea, die nie gelernt hatte zu kämpfen, der aber andererseits vieles in den Schoß gefallen war, musste nun in dieser Neuen Welt klar kommen. Sie, die selbst nach der Geburt ihrer beiden Kinder nach der Stillzeit wieder angefangen hat, zumindest in Teilzeit zu arbeiten, musste nun mit ihrer Arbeitslosigkeit klar kommen. Wieder in ein Kreditinstitut oder eine Versicherung wollte sie nicht mehr. Mit den Apotheken ging es auch begab und sie war auch schon zu lange draußen. Die Berufsbezeichnung „Apothekenhelferin“ gab es schon nicht mehr. Das hieß jetzt Pharmazeutisch-Kaufmännische Angestellte. Wobei, sie konnte noch „zu-Fuß-rechnen“. Also ohne Taschenrechner und auch im Kopf.
Schon ihre Kinder hatten Kopfrechnen nicht mehr wirklich gelernt. Auch nicht mehr das große“ Ein mal Eins“, nur noch das kleine. Andrea erinnerte sich mit Grauen an die Zeit, wo sie die Quadratzahlen auswendig lernen hatte müssen. Ihr damaliger Mathelehrer hatte gesagt, wenn er des Nachts in ihr Fenster einsteige und sie wecke und frage was ist 122dann müsse sie ihm wie aus der Pistole geschossen antworten können. 144. Wer wusste das denn heute noch? Wer von den jungen Leuten war sich eigentlich bewusst, dass die angezeigten 1,12 € an der Tankstelle in Wirklichkeit 1,13€ bedeuteten und 1,99 eher 2€ sind. Aber die sehen alle nur die Ziffer vor dem Komma. Und keiner rechnet nach, dass 1,75€ für eine Tüte Chips mit oft nicht mal mehr 200gr. Inhalt umgerechnet ca. 3,50 DM sind. Eine große Cola in der Gaststätte sind keine 500ml mehr, sondern nur noch 400ml, mancherorts sogar nur 0,3l. Keiner scheint zu bemerken, dass die Preise zwar gleich bleiben, der Inhalt der Packungen aber immer kleiner wird. Aus ehemals 500 Gramm werden schleichend 400 Gramm. Zum ersten Mal fiel Andrea das bei Schokolade auf. Auf einmal waren da 80 Gramm Tafeln zum Preis von 100 Gramm. Und wenn sie dann diese Aufsteller mit den Sonderangeboten „plus 2 Riegel gratis“ sah, da kam ihr schon wieder die Galle hoch. Wer nachrechnete, wieviel Gramm Inhalt in der Packung war, der kam ganz schnell drauf, das zwei kleine Packungen dieser Riegel billiger waren, als eine Packung mit den 2 Gratis-Riegeln. Es gibt auf dieser Welt absolut nichts Gratis und umsonst. Umsonst ist der Tod - und der kostet das Leben. Aber sie wollen es einfach nicht begreifen. Oder sie konnten es gar nicht mehr begreifen. Was lernten die Kinder denn heute überhaupt noch? Wie sah diese sogenannte Bildung denn aus? Irgendwie hatte Andrea den Eindruck, dass die Menschheit nur noch auf Konsum und Geld machen konditioniert wurde. Die Werbung suggeriert, dass wenn irgendwie „Gratis“ draufsteht oder „Bio“ oder „Umweltfreundlich“ dann ist das was ganz Tolles und Gutes und dann wird es blindlings gekauft. Den Menschen geht es so gut, dass sie sogar zerrissene Kleidung kaufen und Pullis mit Pillings drauf und dafür auch noch ein Vermögen ausgeben. Alt und getragen sollen die Klamotten aussehen. Das ist doch bescheuert! Andrea hätte sich als Kind zu Tode geschämt, hätte sie so etwas tragen müssen. Es war schon schlimm genug, wenn sie Kleidungsstücke ihrer Cousine hatte auftragen müssen. Und diese Stücke waren wirklich noch gut gewesen. Da ging es auch eher darum, dass ihre Schwester nicht ihre abgetragenen Sachen tragen musste, weil sie eine völlig andere Figur hatte und da einfach nicht hinein gepasst hatte. Die Ansprüche hatten sich vollkommen gewandelt. Alles ging immer schneller. Andrea war in einer Zeit aufgewachsen, in der alles noch gemächlicher ging und es war alles wenn nicht besser so doch zumindest menschlicher gewesen. Und die Leute waren noch zufriedener. Vor allem die Kinder. Niemals hätte Andrea mit dem Flugzeug irgendwohin fliegen wollen. Wenn sie über fremde Länder etwas wissen wollte, holte sie sich Bildbände und Bücher aus der Bücherei. Es wurde auch keiner deswegen gemobbt, weil er nicht irgendwo weit weg im Urlaub gewesen war. Abgesehen davon, dass es das Wort „Mobbing“ noch gar nicht gab. Die Tat an sich allerdings schon. Nur war das damals noch nicht so drastisch. Obwohl in ihrer Klasse hatte sie einen Mitschüler, den nannte der Lehrer immer „Flegel“. Warum, wusste keiner so wirklich. Dennoch nannten ihn dann alle auf einmal nur noch „Flegel“ obwohl er eigentlich Robert hieß. Andrea dachte später oft an diese Zeit zurück und an den Jungen, zu dem alle so ungerecht gewesen waren. Was wohl aus ihm geworden war? Andrea würde sich gerne bei ihm für damals entschuldigen. Nicht weil sie selbst auch gemein zu ihm gewesen wäre, das war sie zu niemandem gewesen, aber weil sie es zugelassen hatte und nicht für ihn eingetreten war. Obwohl sie damals noch viel zu klein dafür gewesen war. Und Lehrer galten noch als Respektspersonen. Offiziell war auch die Prügelstrafe noch nicht abgeschafft worden. Der Rektor selbst zog noch den ein oder anderen Jungen an den Haaren und der Pfarrer hatte einmal einem Jungen gleich zwei solche Ohrfeigen verpasst, dass man die Handabrücke an beiden Wangen deutlich hatte sehen können. Und dann gab es zwei Wochen lang keinen Religionsunterricht. Der Pfarrer kam einfach nicht. Ob aus Scham oder weil er sich immer noch so sehr ärgerte wusste niemand. Es fragte auch keiner danach. Genauso störte sich auch keiner daran, dass die Lehrer in den Pausen rauchten. Drinnen! Und zum Ärger der Hausmeisterin steckten sie die Kippen oft noch in die Blumentöpfe. Andreas Eltern rauchten auch. Beide. Auch im Auto; und wunderten sich dann, daß den Kindern während der Fahrt immer schlecht wurde. Also was solche Dinge betraf, hatte sich einiges im Laufe der Jahre gebessert. Andrea atmete buchstäblich auf, als endlich das Rauchverbot am Arbeitsplatz durchgesetzt worden war. Ein Kollege hatte ihr sogar während ihrer Schwangerschaft oft direkt ins Gesicht geraucht. Es gab aber auch einmal eine Lustige Begebenheit, bezüglich eines kettenrauchenden Kollegen. Der hatte seinen Schreibtisch hinter einem Schrank stehen, damit er von der Kundentheke etwas abgeschirmt war. Und wenn man auf der anderen Seite stand, sah man hinter dem Schrank immer eine dicke Rauchsäule aufsteigen. Andrea hat ihn dann mal gefragt: „ worüber denkst du denn gerade nach, dir raucht ja schon der Kopf?“ Ja, das war noch in einer Zeit, als in der Arbeit noch gelacht werden durfte. Oft hatte sie ihren Kolleginnen und Kollegen kleine Streiche gespielt. Das ging noch und war auch erwünscht, weil es den Zusammenhalt stärkte und zu einem guten Betriebsklima beitrug. Und wer in einem guten Klima arbeitet, geht gerne zur Arbeit und leistet auch mehr. Dann wurde einen neue „Unternehmenskultur“ eingeführt und von da ab war Schluß mit Lustig. Aber noch ahnte keiner, dass ihnen allen das Lachen bald endgültig vergehen würde.
Als es dann schließlich so weit war, ging alles auf einmal ganz schnell. Überall wurden immer mehr Menschen durch Maschinen ersetzt. Der Kunde wird nicht mehr als Mensch gesehen, sondern nur noch als Geldgeber. Sein Geld soll er rausrücken und zwar möglichst schnell und möglichst viel davon. Mit einem Mal war sie vorbei die „Gute alte Zeit“.
Andrea erinnerte sich mit Wehmut an die Zeit, wo sie gebaut hatten. Die Handwerker stammten alle aus der Umgebung. Ihre Möbel kauften sie in einem kleinen Möbelhaus, welches noch ein Familienbetrieb gewesen war. Wo sie nur konnten, unterstützten sie die heimischen kleinen Händler. Sie wurden dort mit ihren Namen angesprochen, wenn sie den Laden betraten. Ihr Optiker kannte sogar die Namen und das Alter ihrer Kinder. Es war immer Zeit für einen privaten Plausch. Erzähl mal heute, bei Apollo oder Fielmann deine Lebensgeschichte. Das interessiert den Verkäufer nicht im Geringsten. Der will dir nur eine möglichst teure Brille verkaufen. Ob die dann auch wirklich zu dir passt, ist egal. Wenn Andrea nur daran dachte, geriet sie fast schon in Rage. Und dann kamen ein Möbelriese und Mediamarkt und nach und nach verschwanden all die kleinen gemütlichen Familienbetriebe. Und zwar wirklich alle. Kein Elektrofachhandel mehr, kein kleines Möbelgeschäft mehr. Es herrschen die Großmärkte in denen der Kunde nur noch über seine Kreditkarte identifiziert wird. Sie waren dann einmal gezwungen gewesen, zu diesem Möbelgroßmarkt zu fahren, weil es „ihren“ Händler ja nicht mehr gab. Und trotz der riesen Auswahl fanden sie nicht das passende. Der Verkäufer war zwar freundlich, aber er kannte sie nicht. Er wusste nichts von ihrem neuen Haus, wusste nichts über ihren Geschmack und auch nichts über ihre finanzielle Lage. Ihr alter Händler hatte das alles gewusst und konnte demzufolge auch gleich passende Stücke vorzeigen. Und weil noch eine eigene Schreinerei dabei war, wurde notfalls eigens ein passender Schrank gezimmert. Das ging auch. Heute ist alles genormt und man muss die Möbel auch noch selber zusammen bauen. Diese Idee ist auch nur für den Erfinder toll. Komischer Weise rennen trotzdem Millionen von Menschen zu diesem schwedischen Möbelhaus, kaufen sich Sachen mit unaussprechlichen Namen und basteln die auch noch selber zusammen. Inzwischen gibt es da nicht einmal mehr Kassenkräfte. Der Kunde muss seine Waren selber scannen. Was für ein Fortschritt. Fragt sich nur für wen. Für den Kunden bestimmt nicht. Es gab einmal eine Zeit, da war der Kunde König gewesen. Mittlerweile gibt es immer mehr Hotelbetriebe, die für die Urlauber Kaffeeautomaten aufstellen, wo sich diese dann erst ewig anstellen müssen, um sich dann , im Urlaub wohlgemerkt, ihren Kaffee selber zu holen. Ja geht’s noch?! Und die Leute lassen sich das gefallen. „Do it your self „ist die Devise, wo es möglich ist. Wo es nicht geht, da stellt man notgerungen noch Personal ein. Allerdings nur auf 450€ Basis, sonst kosten die zu viel. Also diese Richtung kann doch nicht richtig sein, oder?
Auch wenn früher nicht alles perfekt lief so gab es noch mehr „miteinander“ und nicht so viel „nebeneinander“ und noch weniger „gegeneinander“. Aber inzwischen war die Menschlichkeit dabei, verloren zu gehen. Und das war kein Fortschritt. Denn diese Menschlichkeit macht uns doch letztendlich aus. Wir sorgen uns darum dass Tiere „artgerecht“ gehalten werden. Wir sorgen uns um die Würde der Tiere. Aber was ist mit uns selbst?
Leben wir noch „artgerecht“?
Was ist mit unserer Würde - der Menschenwürde?
Wir Menschen lassen uns von anderen Menschen leiten, lenken, bevormunden und manipulieren, als wären wir Schafe. So dachte jedenfalls Andra darüber. Sie hoffte sie war nicht die Einzige, die so dachte. Und sie hoffte noch mehr, dass sich bald daran etwas ändern würde, bevor es zu spät sein würde.
Vor lauter Klimarettung, Regenwaldrettung, Rettung bedrohter Tierarten und Bankenrettung vergaßen die Menschen sich selbst zu retten.
Neulich war Andrea in der Nähe der örtlichen Wärmestube gewesen. Dort konnten sich Obdachlose verköstigen. Durch Zufall bekam sie ein Gespräch zwischen einer der ehrenamtlichen Helferinnen und einer anderen Frau mit. Die Helferin erzählte, daß zu Beginn vor ca. drei Jahren täglich fünf Menschen gekommen wären und inzwischen versorgten sie an manchen Tagen bis zu fünfzig. Sie erzählte das ganz stolz, als wäre das was Tolles. Diese Menschen zu versorgen, war ja an sich auch was Gutes. Aber fragte sich denn niemand, woher diese fünfzig Menschen auf einmal kamen? Man versorgte sie mit Suppe anstatt dafür zu sorgen, dass sie wieder Arbeit und Wohnung bekamen. Da lief doch auch was völlig verkehrt? Das Problem war wohl, daß die Wärmestube Zuschüsse bekam, die an der Anzahl der Bedürftigen bemessen wurden. Es ging also wieder einmal nur ums Geld und nicht um die Menschen. Nur so konnte sich Andrea den Enthusiasmus dieser Helferin bezüglich der Steigerung der Bedürftigen erklären. Das Geld machte die Menschen blind für die wirklich wichtigen Dinge und Probleme.
Der Wecker klingelt pünktlich wie jeden Morgen um sechs Uhr. Und wie jeden Morgen schaltet Andrea ihn missmutig aus, wälzt sich aus dem Bett und tapst mit noch halb geschlossenen Lidern ins Bad. Ihr Mann, Peter, ist schon fast auf dem Weg zur Arbeit. Er ruft noch schnell ein „tschüs, bis heute Abend, Schatz“, nach oben, da fällt auch schon die Haustür ins Schloss. Noch zwanzig Minuten, dann würden auch die Kids aufstehen. Sie beeilt sich, um vorher noch ihren Kaffee in Ruhe trinken zu können. Sie liebte diese Stille am Morgen und stand dafür gerne etwas früher auf, als sie eigentlich gemusst hätte. Sie geht runter in die Küche, lässt sich einen Latte aus dem obligatorischen Automaten (alle Bekannten, Freunde und Nachbarn hatten so einen), und setzt sich noch im Bademantel auf die Terrasse. Keiner sieht sie da, wegen der Hecken, aber sie sieht den Sonnenaufgang. Die Vögel zwitschern um die Wette, ansonsten herrscht Stille – noch. Sie genießt es bis zur letzten Minute. Da hört sie auch schon die Wecker ihrer beiden Kinder. Lisa die gerade dreizehn geworden war und ihr zwei Jahre älterer Bruder Tom, sind fast immer am Streiten, kaum dass sie aufgestanden sind. Gott sei Dank hatte das Haus zwei Badezimmer. Wobei das zweite war eigentlich nur ein etwas größeres Gäste WC mit Dusche. Lisa erklärte sich dann bereit, dieses für sich zu nutzen, wenn das große Bad besetzt war, was fast täglich der Fall war. Andrea seufzte kurz und ging dann hinein um das Frühstück und die Pausenbrote für die beiden zu bereiten. Komischerweise liebten die beiden im Gegensatz zu den meisten