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Die Geschichte einer Familie "aus dem Osten" wird in diesem Roman ohne aufdringliches Symbolisieren zum Spiegelbild der Nachkriegsgeschichte unserer Gesellschaft. Ein ehemaliger Exerzierplatz, auf dem einst Angriff, Abwehr und Rückzug geprobt wurden, wandelt sich zu einer blühenden Baum- und Pflanzschule, zum Schauplatz von Neubeginn und gewagter Lebensgründung. Doch nach vollbrachter Leistung folgt der Abstieg: Die Kräfte des Gründers lassen nach, die Familie zerfällt, unabweisbar stellt sich die Frage nach dem Wert eines Lebens unter dem Vorzeichen drohender Entmündigung. Diese E-Book-Ausgabe von "Exerzierplatz" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.
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Seitenzahl: 742
Siegfried Lenz
Exerzierplatz
Roman
Literatur
Hoffmann und Campe Verlag
Sie haben ihn entmündigt. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber Magda hat gesagt, daß sie ihm einen Vormund bestellt haben, ihm, der eine Million Bäume und Pflanzen besitzt, die er wie kein anderer zum Wachsen bringt, hier, in den milden Ostseewinden. Solange ich denken kann, hat er dafür gesorgt, daß ich zu essen bekam, und er hat es bestimmt gewußt – wenn nicht sogar befürwortet –, daß Magda mir oft spät in der Dunkelheit Reste aus der Küche brachte, Brotenden und Wurst- und Käsescheiben für den Nachthunger. Er hat alles über mich gewußt, nicht nur über meinen ewigen Hunger, und vermutlich empfand er soviel für mich, daß er mich einmal seinen Freund genannt hat, seinen einzigen Freund; das war, als er mir die Aufsicht über alle Messer und Scheren anvertraute, über die schönen Okulier- und Stecklingsmesser, über die Schnelläugler und Schwunghippen. Wenn ich’s richtig bedenke, Bruno, hat er damals gesagt, bist du mein einziger Freund. Danach hat er sich hingesetzt, in unserem alten kleinen Geräteschuppen, den er für mich zur Wohnung hat ausbauen und mit Sicherheitsschlössern versehen lassen, hat sich hingesetzt und mich lange grüblerisch angesehen.
Wenn Magda nicht gesagt hätte, daß sie ihn entmündigt haben, hätte ich mir gewisse Veränderungen gar nicht erklären können, jetzt aber weiß ich, woher sein besserwisserisches Lächeln kommt und die Mattigkeit und diese Scheu, die ich nie zuvor an ihm festgestellt habe. Er ertappte mich, als ich in der Abenddämmerung die jungen Nadeln aus den Fichten riß und aus ihrem harzigen Ende die Süße saugte, die den Hunger besänftigt und gegen die Gicht schützt. Früher hätte er sich erregt und wäre rot angelaufen unter seinem struppigen Stoppelhaar, jetzt aber lächelte er nur besserwisserisch und blickte auf seinen Hund hinab, scheu, als riskierte er nicht, mich zur Rede zu stellen. Ach, Bruno, sagte er, und das war schon alles. Da beeilte ich mich, zu dem neuen Geräteschuppen zu kommen, um noch vor der Dunkelheit die Rillenscheibe zu reinigen und vielleicht auch noch die Zapfegge und die Pflüge.
Bei Dunkelheit bin ich am liebsten bei mir zuhause, liege auf meinem Lager oder sitze auf dem braunen Sessel, den der Chef mir vor vielen Jahren geschenkt hat, zur Belohnung für einen Dienst, den ich ihm erwiesen haben soll. Licht mache ich selten, auf die beiden Sicherheitsschlösser kann ich mich verlassen. Die Quartiere der Jungpflanzen, die endlosen Spaliere der Koniferen und Buschbäume liegen dann verlassen da, alle Kulturen scheinen sich zu ducken in Erwartung des Hakenmannes, den ich so oft im Traum gesehen habe; es ist ein kleiner, barfüßiger Mann mit einem Haken, der still durch unsere Pflanzungen geht und nach einem Plan, den nur er kennt, die jungen Stämme knickt. Meist warte ich bis zum Pfeifen der Lokomotive, die weit hinter unserer Baumschule einen Zug durch hügeliges Land schleppt, nach Schleswig, und ich nehme mir dann vor, eines Tages auch aufzubrechen, um eine Stadt kennenzulernen.
In besserer Zeit brachte Magda mir Brötchen und Schinkenscheiben, die als angetrocknet galten; obwohl ich beobachten konnte, wie Magdas Schatten sich vom großen Haus löste, ließ ich sie siebenmal klopfen und öffnete erst, nachdem sie sich am Fenster gezeigt hatte. Es hat ihr Freude bereitet, mir beim Essen zuzusehen, und sie hat mich bewundert, wie schnell ich mit allem fertig wurde. Wie oft hat sie danach meine offene Hand unters Licht gezogen, um in den Linien zu lesen, doch an einer bestimmten Stelle seufzte sie immer und schüttelte ärgerlich den Kopf, weil da angeblich ein Planetenberg fehlte und ein Kreuzweg in die Irre führte. Das, hat sie gemeint, sei schon ein Grund, um mir gegenüber vorsichtig zu sein; dennoch ist sie manchmal bei mir geblieben bis zum Morgen, hat ihre Hand auf meine Brust gelegt und gegen meinen Hals geatmet. Ich weiß nicht, warum sie mich immer wieder nach meinen Eltern fragte, ich hab ihr doch mehr als einmal gesagt, daß sie nach dem Untergang des großen Landungsprahms auf einem gelben Floß davontrieben, während ich zwischen Soldaten und Pferden schwamm, so lange, bis sich der alte Raddampfer herangeschaufelt hatte, die »Stradaune«.
Ob ich fortgehen muß nach der Entmündigung des Chefs, konnte Magda auch nicht sagen; obwohl sie drüben im großen Haus ist, in der Festung, wie wir es nennen, hat sie noch nichts erfahren, was mich beunruhigen müßte. Er, der immer gut zu mir war, der mich einmal seinen einzigen Freund genannt hat, sitzt nach wie vor am Kopfende des Tisches, schluckt vor jeder Mahlzeit seinen doppelten Wacholder, den sein Sohn ihm serviert, schneidet aus Tradition das Fleisch und führt das Wort, dem, wenn es sein muß, nur einer widerspricht, Dorothea Zeller, seine Frau. Wenn Magda nur nicht vergißt, mir die neuesten Nachrichten aus der Festung zu bringen; seit dieser Serbe hier bei uns arbeitet, ist sie nur noch selten zu mir gekommen, dieser rotäugige Mirko, der mir immer eine Hand auf die Schulter legt, wenn er mit mir spricht. Vielleicht sollte ich mir ein Herz fassen und den Chef selbst fragen, er könnte mir eher als jeder andere sagen, ob ich nun fort muß aus Hollenhusen, fort von meinem Lieblingsquartier, den veredelten Blaufichten, die ich alle selbst gestäbt habe. So, wie wir miteinander stehen, ist es nicht ausgeschlossen, daß er mir sogar erzählt, warum sie ihn entmündigt haben – ihn, dem hier jeder etwas verdankt –, und was das alles für ihn bedeutet. Wenn ich nur in seiner Nähe bleiben darf.
Nach seinen Anweisungen arbeite ich am liebsten; sagt er mir, daß ich unsere Windschutzpflanzung auslichten soll, dann zwitschert und schnappt und singt mein Werkzeug nur so im Thujagehölz, und die Hecke dankt uns bald mit ihrer Dichte und Schnellwüchsigkeit. Fast genau so gern lasse ich mir die Arbeit von Ewaldsen zuteilen, unserm Vorarbeiter, der auch im Sommer mit geflickten Gummistiefeln herumläuft, mir jeden Satz mehrmals wiederholt und noch jedesmal erstaunt war über die Menge der Pflanzen, die ich umtopfen konnte. Mit Joachim, dem Sohn des Chefs, hab ich meine Schwierigkeiten; gibt der mir Anweisungen, dann taucht er mehrmals unerwartet auf, kontrolliert, sieht auf die Uhr, überschlägt die Leistung; meist geht er kopfschüttelnd weg in seinen lederbesetzten Kniehosen. Wenn’s nach ihm ginge, dürfte ich wohl kaum hierbleiben; dabei hab ich ihn heranwachsen sehn und hab so manches Mal auf mich genommen, was er verschuldet hatte. Aufgeregt bin ich immer, wenn die Frau des Chefs mich rufen läßt; einmal soll ich ihr Kaminholz sägen und spalten, ein anderes Mal wünscht sie, daß ich die Kartoffeln in ihrem Keller verlese; sie bleibt dann immer dabei, nicht, um mich zu beaufsichtigen, sondern um mit anzufassen. Ihr helles Gesicht, das ich bei der Arbeit heimlich anschaue, beweist schon ihre Unabhängigkeit.
Viel gäbe ich dafür, wenn Inas Kinder mir nichts zu sagen hätten, doch sie ist die Tochter des Chefs und lebt auch nach dem Unglück bei uns, und obwohl ich weiß, daß es ihre Söhne sind, die mir aus einem Versteck Erdklumpen oder Hölzer oder sogar Steine nachschmeißen, helfe ich ihnen beim Aufschlagen eines Zelts, wenn sie es wünschen, bringe ihnen ihre Schaukel an oder gehe zur Holle hinab, um in dem lichtarmen Flüßchen Kaulquappen für ihr Aquarium zu fangen.
Ich bin mir doch nicht sicher, ob ich den Chef ansprechen soll; vielleicht war er an dem Abend, als er mich beim Kauen der Fichtennadeln überraschte, nur deshalb so einsilbig, weil er mir noch immer den Verzicht auf sein Geschenk nachträgt. Auch wenn ich einiges von ihm gewohnt bin, erschrockener war ich nie. Er ist einfach zu mir hereingekommen an einem Sonntag, hat sich hingesetzt und mich lange angesehen mit seinen eisblauen Augen, und dann hat er angefangen, sich zu erinnern: wie wir gemeinsam dieses Land ausschritten, das durch viele Jahre, bis zum Ende des Krieges, ein Exerzierplatz gewesen war; wie wir uns der mineralischen Beschaffenheit des Bodens durch Knet- und Fingerproben versicherten; wie wir uns sorgten, ob die von weither aus dem Osten mitgebrachten Samen keimen würden. Und plötzlich hat er seine Taschenuhr herausgezogen und sie mir mit geöffnetem Sprungdeckel zugeschoben, und da ich zögerte, die goldene Uhr zu berühren, sagte er: Damit du etwas hast, das dich an unsere Anfänge erinnert; doch ich wagte es immer noch nicht, die Uhr in die Hand zu nehmen, denn auf dem Sprungdeckel war etwas eingraviert. Soviel er auch nickte und drängte, ich rührte die Uhr nicht an, weil ich mit ihr sofort aufgefallen wäre oder mich sofort einem Verdacht ausgesetzt hätte, und wenn ich etwas zu vermeiden versuche, dann ist es dies: aufzufallen. Ich habe starr auf die Gravur gedeutet, bis er sie endlich las; er schien nur ein wenig verblüfft und hat den Sprungdeckel zugedrückt und ist ohne ein weiteres Wort gegangen.
Einen wüßte ich, der mir offen sagen würde, worauf ich jetzt gefaßt sein muß, und wenn er nur hier wäre, würde ich ihn mit Freude aufsuchen, weil er immer gut zu mir war, weil er mir angeboten hat, zu ihm zu kommen, wenn mich etwas bedrückt – aber Max, unser Krauskopf, ist fort, der älteste Sohn des Chefs ist in der Stadt und spricht da zu tausend Studenten, und wenn ich ihm schriebe, würde es ihn nur belasten. Magda hat gesagt, daß in den Zeitungen, die in der Festung herumliegen, manchmal sein Bild zu sehen ist. Bescheidener als er hat keiner hier gelebt, doch er wollte es nicht anders haben, nur Stuhl, Bett und Tisch; die Ziegelsteine und die Bretter, aus denen er seine Bücherregale machte, hab ich ihm in Hollenhusen besorgt. Er kommt nur selten zu Besuch, kommt nicht einmal zu allen großen Festen, doch wenn er seinen Besuch angekündigt hat, bin ich schon früh auf unserem öden Bahnhof, um ihn abzuholen und seine Sachen zu tragen und neben ihm herzugehen und mit ihm zu sprechen: das allein lohnt sich schon. Unterläuft es mir einmal, daß ich ihn mit seinem Titel anspreche, dann verwarnt er mich spaßhaft und erinnert mich daran, wieviel Vergangenheit wir teilen – und er sagte sogar: welch einen Reichtum an Vergangenheit wir teilen –, und wenn ich’s auch umgehe, ihn direkt anzusprechen: in Gedanken nenne ich ihn Max, so, wie er es will.
Weil keiner damit gerechnet hat, daß sie den Chef entmündigen lassen könnten, hab ich mir auch kein Verzeichnis der Verstecke angelegt, in denen ich aufbewahre, was niemanden etwas angeht und was mir einmal helfen soll, unabhängig zu sein und alles, worauf ich Wert lege, noch einmal zu erleben. Das Geld jedenfalls, oder doch den Teil, den sie mir auszahlen, hab ich hinten beim Wacholder vergraben; da ist es sicher, weil sie nur jeden zweiten Winter dort herumtrampeln, wenn sie mit dem Mähnenkamm die Früchte ernten, auskämmen, ja. Was das Land hergab, all die Fundstücke, die an Generationen von Soldaten erinnern, hab ich auf mindestens drei Verstecke aufgeteilt, die Patronen und Hülsen und Splitter liegen am Rand der Grube, aus der wir früher den Sand zum Vorkeimen holten, die metallenen Knöpfe, die Münzen, die Kokarden und das Seitengewehr müssen bei den Schmucktannen vergraben sein, desgleichen die Handgranate und das Koppelschloß, nur die beiden Trillerpfeifen an geflochtener Schnur, die hab ich hier unterm Kopfkissen. Wo das Quartier der hochstämmigen Linden endet, hab ich alles in der Erde verwahrt, was Max mir einst schenkte und was Joachim und Ina mir zusteckten – damals, als ich bei ihnen war. Es sind fast ausnahmslos Geschenke des schlechten Gewissens, mit denen sie sich loszukaufen versuchten, wenn sie etwas auf mich abgewälzt hatten; ah, ich weiß noch, wofür ich die Mundharmonika bekam und das Messer mit Korkenzieher und von Ina den kleinen Kasten mit Buntstiften, ich weiß es noch und kenne die Anlässe. Wenn ich gehen muß, werde ich alle Verstecke räumen, nichts soll zurückbleiben, denn eines Tages möchte ich alles um mich herum ausbreiten, und ich möchte jedes Ding einzeln in die Hand nehmen, es einfach reden lassen und mich dabei erinnern. Vorsicht, jetzt ist Vorsicht geraten: was Magda mir anvertraut hat, darf nicht unter die Leute kommen, nicht unter die aus Hollenhusen, die jetzt gern bei uns zur Arbeit erscheinen – manche aus dem Nest leben heute nur vom Chef, all diese Knurrhähne, die ihn in den ersten Jahren nur mit Mißtrauen und ihrem bedächtigen Spott begleitet haben –, und auch unter die Fremden nicht, für die der Chef ein schönes hölzernes Wohnhaus hat bauen lassen. Ich werde mir jedes Wort verkneifen, denn es läßt sich wohl absehen, was an Gerücht und Nachrede umlaufen wird, wenn die Leute aus Hollenhusen es erst einmal erfahren haben, und dann lassen sich auch die Bestürzung und die Furcht voraussagen, die sich unter Elef und seinen Leuten verbreiten wird, denn der Chef selbst war es, der ihnen den Weg aus ihrer Heimat zu uns geebnet hat. Elef ist der einzige, der seine Schirmmütze abnimmt, wenn er mit mir spricht, und wenn ich ihn in seinen verbeulten Röhrenhosen von weitem sehe, umgeben von ein paar anderen Schirmmützen und übergroßen Kopftüchern, dann entsteht immer in mir der Wunsch, einmal von ihm eingeladen zu werden.
Am liebsten möchte ich Magda noch einmal rufen und mir wiederholen lassen, was sie gesagt hat, denn es will und will mir nicht gelingen, ihre Nachricht zu glauben und mich mit ihr abzufinden. Zahlreich sind ja die Möglichkeiten für Mißverständnisse: ein verstümmelter Satz, die Ungenauigkeit, mit der einer in der Erregung hört, ein gewisser Blick und ein absichtsloses Schweigen können schon für einen Irrtum sorgen; so hab ich mich auch schon selbst geirrt, viele Male. Ich kann es einfach nicht glauben, daß man dem Chef einen Vormund bestellt hat, der nun für ihn denkt und unterschreibt; denn selbst wenn sie einen Vormund für ihn in Schleswig finden sollten, wird der nicht in der Lage sein, dem Chef das Wasser zu reichen, ihm, der mehr im kleinen Finger hat als alle Vormunde zusammen in ihren Händen. Keiner weiß mehr als er, der nur ein Blatt, einen Ast in die Hand zu nehmen braucht, um schon alles durchschaut zu haben, niemand kennt wie er die Geheimnisse der Bäume und Pflanzen.
Der Vormund sollte den Chef nur einmal durch unsere Kulturen begleiten, er sollte mit ihm durch die Quartiere gehen wie ich, und einem gesprächsbereiten Chef zuhören, der ihm nachweist, daß alles, was wächst, seinen vorbestimmten Feind hat, den anderen, der eigens für ihn gemacht ist, der wartet und zustößt und dann für das Sterben sorgt. Zuerst wollte ich es dem Chef kaum abnehmen, doch er bewies mir, daß jede, aber auch jede Pflanzengattung ihren ureigensten, intimen Feind hat, und da wir bei den Kiefern waren, sagte er: Nimm nur die Kiefern, Bruno; und dann sprach er vom Kieferntriebwickler, vom Kiefernknospenwickler oder vom Kiefernquirlwickler, unersättlichen Raupen, die in Harzgehäusen leben und junge Triebe und Knospen anfallen. Er zählte mir alle Schädlinge auf, die sich nur an die Kiefer halten, von den Kiefernzweigläusen bis zur Kiefernbuschhorn-Blattwespe, er kennt alle Feinde der Kiefer, er weiß aber genau so gut, was den Laubgehölzen droht, jeder einzelnen Art, jeder. Wohin wir auch kamen bei unserem gemeinsamen Gang über das Land, und worauf ich auch – mitunter in prüfender Absicht – zeigte: die innigsten Feinde jeder Gattung fielen ihm ohne Anstrengung ein, und während es in meinem Kopf schon nachhallte von den Namen, die er nannte, erwähnte er immer neue, sprach vom Eschenrüßler und der Fliedermotte. Hundert Namen hat er zumindest genannt, das regnete nur so auf mich herunter, Birnblattsauger, Pappelbock und Eichenwickler, und weil ich zuletzt nur noch versucht war, mir die Namen einzuprägen, bekam ich nicht mehr mit, für welche Schadbilder diese Rüßler und Wickler verantwortlich sind, was sie verspinnen oder welken lassen oder skelettieren. Jedenfalls, das würde mich schon interessieren: wie lange ein Vormund noch Vormund sein möchte nach einem Gang mit dem Chef, nach einem Gespräch über intime tödliche Feindschaft, mich würde das schon interessieren.
Ich muß den Riegel vorlegen, obwohl ich mich auf die beiden Sicherheitsschlösser verlassen kann, ist es wohl besser, heute zusätzlich den eisernen Riegel vorzulegen, denn die Spuren, die wie immer aus dem Birkenquartier kommen, führen auf mein Fenster zu, Spuren von nackten Füßen, deren Herkunft keiner enträtseln, deren Ziel keiner bestimmen wird. Sie beginnen plötzlich und enden plötzlich, gerade so, als ob der, der sie hinterlassen hat, sich an einem Seil herabließ und, wenn er es für richtig hielt, an einem Seil wieder emporzog, hoch in die Lüfte. So oft ich die Spuren auch verfolgte: am Ende wußte ich nur soviel, daß dem, der uns seine Spuren hinterließ, am rechten Fuß die große Zehe fehlte, der Abdruck der Ferse ist allemal genauer und aufschlußreicher.
Ich hab dem Chef nicht erzählt, daß die Spuren mehrmals von meinem Fenster zur Festung hinüberführten, nach leichtem Regen habe ich’s entdeckt, aber auch wenn der Tau den Sommerstaub auf der Terrasse befiel, die Spuren führten jedesmal über den Grashügel an den Rosenbeeten vorbei zu den drei Linden, von wo aus man in die Zimmer sehen kann, in denen Ina mit den Kindern wohnt. Selbst wenn ich dem Chef die Spuren zeigen könnte, würde er doch nur sagen, was er immer sagt: Du denkst zuviel, Bruno, und dein Denken bringt dir nichts ein als Unruhe. Und wie ich ihn kenne, würde er mir freundlich mit einer wischenden Bewegung über den Kopf fahren, so als könnte er dadurch mein Denken besänftigen und mich von der Unruhe heilen.
Es war nicht der Pfiff der Lokomotive, der die Saatkrähen im Schlaf gestört hat, es muß etwas anderes gewesen sein, das sie in ihren zerzausten alten Kiefern am Bahndamm erschreckt hat; warnend schwangen sie von ihren lieblosen Nestern ab, und jetzt kreisen sie über den Kulturen, über der Versandhalle und dem neuen Geräteschuppen, sie dehnen ihre Kreise bis zur Festung aus, wo immer noch Licht brennt, wo die ganze Familie wohl um einen Tisch herumsitzt und beratschlagt, wie alles weitergehen soll, mit dem Kleinen, mit dem Großen. Mehr als schattenhafte Bewegungen kann ich nicht erkennen, aber ich stelle mir vor, wie sie Papiere wandern lassen und sich gemeinsam über ein Dokument beugen und es so lange studieren und auslegen, bis sie zufrieden sind, bis ihre Blicke sich finden und sie einander erleichtert zunicken, vielleicht über den hinweg, den alles betrifft und der still unter ihnen sitzt, still und bereitwillig.
Er wird mich nicht fortgehen lassen, selbst wenn sein Sohn Joachim es verlangt, er wird darauf verweisen, daß ich ihm vom ersten Tag an geholfen habe, dies Land in Besitz zu nehmen und zu bearbeiten und zu verwandeln, und daß wir gemeinsam den Hügel bestimmten, auf dem einmal das Haus stehen sollte, seine Festung. An diesen Augenblick wird er sich ja wohl noch erinnern: wir standen auf dem alten, vernarbten Soldatenland und suchten nach einem Platz für das Haus, alles ging in einem Flimmern auf, die Übungsbunker, die Attrappen und der Übungspanzer, die Stille pulste, sie klopfte, und dann gingen wir, ohne uns verständigt zu haben, durch versprengt stehende Fichten einen Hügel hinauf und setzten uns hin und aßen unser Brot. Hier, Bruno, hat der Chef gesagt, hier bauen wir einmal unsere Festung, hier bleiben wir. Aus Spaß hat er sich auf den Bauch gelegt und das Eisenrohr, das wir in den Boden trieben, um Erdproben zu nehmen, wie ein Gewehr in die Schulter eingezogen und hierhin gezielt und dorthin gezielt, und zum Schluß hat er lächelnd gesagt, daß sich ein besseres Schußfeld nicht finden ließe.
Schon wieder höre ich hinter mir die Stimme, ich hab schon wieder zu sprechen angefangen, bin schon wieder dabei, mir selbst zuzuhören. Nein, es steht keiner hinter mir, ich bin allein hier, kann den Sicherheitsschlössern und dem Riegel vertrauen. Ich weiß, daß diese Unruhe nur von meinem ewigen Hunger kommt, ein Stück roher Wruke kann mich schon beruhigen, aber noch mehr beruhigt mich Schwarzbrot, wenn es in Sauermilch hineingebrockt ist. Es ist nicht oft geschehen, daß ich so satt war, wie ich’s mir immer zu sein wünschte, auch als Magda noch in der Dunkelheit zu mir kam mit den vielen guten Resten, war mein Hunger nur vorübergehend beschwichtigt, nicht vollkommen gestillt. Magda hat gesagt, daß der Chef in der letzten Zeit immer weniger ißt, manchmal genügt ihm ein einziges Stück Fleisch, manchmal gibt er sich auch mit zwei Äpfeln zufrieden, und am Morgen reicht ihm sein Milchkaffee; da kann man wohl annehmen, daß er nicht von seinem Hunger geweckt wird, so wie ich es werde. Mich weckt jeden Morgen ein Ziehen in den Eingeweiden, ich spüre es sogar im Traum, und nach dem Aufwachen taste ich dann gleich das Fensterbrett ab auf der Suche nach etwas Eßbarem, das ich mir nach Möglichkeit bereitlege. Vor dir, hat Magda einmal gesagt, müßte man wohl alles wegschließen, was man zwischen die Zähne nehmen kann.
Wenn der alte Lauritzen noch lebte, unser krummer, eigensinniger Nachbar, der in den ersten Jahren nur Verachtung für uns übrig hatte, dann wüßte ich, wohin ich gehen könnte: überall, wo ich ihn traf, machte er mir ein Angebot, zu ihm zu kommen, überall – auf dem Hollenhuser Bahnhof, während ich auf Max gewartet hab, bei den einjährigen Schattenmorellen am Großen Teich und mehrmals im sogenannten Dänenwäldchen, um dessen Besitz er und der Chef lange Krieg gegeneinander führten. Wann trittst du bei mir ein, Bruno, fragte er immer, und wenn ich die Achseln zuckte, grummelte er: Wirst es noch bereuen, Schwachkopf. Zwei Männer hat er überreden können, vom Chef weg und zu ihm zu gehen, mich nicht, obwohl er mir eine Arbeit versprach, bei der ich nichts zu tun haben sollte mit seinen Pferden. Ist gut, ist gut, sagte er, als ich ihn darauf hinwies, daß ich niemals mit Pferden arbeiten könnte, wir werden etwas anderes für dich finden, Arbeit gibt’s genug. Vielleicht wäre er gut zu mir gewesen, ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß etwas nicht gestimmt hat zwischen uns beiden, denn die Blumen, die ich ihm bei seinem Begräbnis nachtrug, verwelkten und verdorrten schon auf dem kurzen Weg vom Friedhofstor bis zu seinem Grab.
So zufrieden und ausgeglichen hab ich den Chef nur selten erlebt wie damals, als der alte Lauritzen ihm das Dänenwäldchen überließ mit allen Rechten, diesen düsteren, vom Windbruch entstellten und von Fremden kaum begangenen Forst. Weil man bei seltenem Nordwind die schwachen Klagen verwundeter dänischer Soldaten hören konnte, die sich vor hundert Jahren hier verborgen hatten, ging ich oft da hinunter und saß auf einem Stubben oder lag im Gras und wartete auf das Gestöhn, das Ächzen. Als mich der Hund des Chefs in einer Kuhle aufspürte, hab ich mich auf wer weiß was gefaßt gemacht, doch der Chef hat mich nur freundlich am Ärmel gezogen und zu einer gestürzten Fichte geführt. Wir haben uns da hingesetzt und ein bißchen aus seiner Flasche getrunken, und dann erschrak ich ein wenig, weil er mich plötzlich fragte, ob ich zufrieden sei. Nie zuvor hat er mich so etwas gefragt, er, dem ich alles verdanke, die erste Rettung nach dem Untergang des großen Landungsprahms und die zweite Rettung nach dem Unglück des Raddampfers »Stradaune«. Ich muß ihn wohl verwirrt angesehen haben, denn er winkte lächelnd ab und lenkte meinen Blick auf das wilde Wachstum des Dänenwäldchens und sagte: Siehst du, Bruno, die Natur vergißt nie, daß sie einmal Wildnis war; wir müssen aber verhindern, daß sie sich allzu oft daran erinnert.
Und dann hat er wieder einmal von den unübersehbaren Kulturen im Osten erzählt, die einst seinem Vater gehört hatten, von dem kargen Land am Rand der Rominter Heide, auf dem sie die widerstandsfähigsten Nadelgehölze zogen; karge Böden sind manchmal gute Böden. Ich könnte ihm tagelang zuhören, wenn er von dieser Zeit erzählt, von den Wintern dort, von den Pflanzplänen, von dem Wolf, den er erlegte. Manchmal habe ich das Gefühl, schon damals bei ihm gewesen zu sein, obwohl ich genau weiß, daß ich von noch weiter her komme, vom Memelfluß, der alles lautlos in sich hineinzog, alles, was ich vom Ufer aus hineinwarf. Wir saßen lange auf der gestürzten Fichte, der Chef und ich, und als er fand, daß er genug erzählt hätte, schlug er mir auf den Rücken, und dann gingen wir nebeneinander durch das Dänenwäldchen, das ihm bei bestimmter Gelegenheit zugeschrieben wurde, als Versöhnungsgeschenk. Er war sehr froh. Hin und wieder stieß er mit der Fußspitze mutwillig in den Boden. Bevor wir aus dem Wäldchen traten, ließ er mich noch einmal ein wenig trinken, und als ich ihm die schmale Flasche zurückreichte, sagte er: Glaub mir, Bruno, wer auf Sicherheit aus ist, der muß sich ausdehnen.
Heute wird wohl keiner mehr hierher kommen, um mir Neuigkeiten zu bringen, ich kann mich wohl ausziehen, alles fertigmachen für die Nacht. Die grüne Joppe, die der Chef mir geschenkt hat, ist mit den Jahren immer schwerer geworden, die Ärmel, scheint mir, sind noch mehr eingelaufen, und der Saum ist schon abgeschabt – dennoch trage ich sie gern, so gern wie die Rohlederstiefel, die mir Max zu Ostern mitbrachte. Einmal, als ich den Kragen der Joppe hochgeschlagen hatte – ich stand im Schatten der jungen Zedern –, haben mich Elefs Leute mit dem Chef verwechselt und schickten mir einen entgegen, der mir eine Bitte vortragen sollte; ich begriff nicht, warum sie sich über ihren Irrtum so freuen konnten. Was ich ins Futter eingenäht habe, geht keinen etwas an, die leere Schrotpatronenhülse wird nie einer zu sehen bekommen. Meine Hosen; ich weiß nicht, warum ich mehr Hosen als Jacken auftrage, auch die dunkle, die die Frau des Chefs mir geschenkt hat, ist schon wieder ausgefranst, wirft Beutel über den Knien und ist so dünngescheuert, daß ich bald Flicken aufsetzen muß. Mit Strümpfen komme ich noch am besten aus, weil ich den ganzen Sommer hindurch keine trage.
Das ist Joachim: der Schein seiner Taschenlampe wandert über Beete und Kulturen, ruht auf den Wegen, schwenkt zu den Gebäuden hinüber, die, seit er das Sagen hat, geschlossen werden müssen. Er ist auf seinem letzten Kontrollgang, wie fast jeden Abend. Nicht zu Max, der immer beiseite stand, faßte der Chef Zutrauen, sondern zu Joachim, der wohl schon unzufrieden auf die Welt kam, und der mich nur immer kopfschüttelnd stehen läßt, als ob mit mir gar nichts anzufangen wäre. Selbst an solch einem Tag möchte er auf seinen Kontrollgang nicht verzichten; wenn es nach ihm ginge, würde er uns allen hier wohl gern das Kommando zum Einschlafen geben, ein leises Kommando, denn er ist kein Mann der lauten Worte. Mitunter kann er mich so lange schweigend ansehen, bis ich ganz unsicher werde beim Umtopfen oder Ausschneiden, ganz zittrig. Gösselchen haben sie ihn früher genannt, weil er so zart war und eine so empfindliche Haut hatte. Er wäre gewiß froh, wenn ich fortginge.
Es lohnt sich wohl nicht, auf den Schlaf zu warten, erst muß der Nachtzug vorbei; erst wenn ich den Pfiff seiner Lokomotive gehört habe, werde ich einschlafen können. Am leichtesten schlafe ich ein, wenn ich an den Wind in den Tannen denke, wie er da sacht hindurchgeht, oder wenn ich an den stillen Exerzierplatz denke, über dem zwei Bussarde kreisen in der warmen Luft, ohne Flügelschlag. Oft gelingt es mir gar nicht, zu denken, jetzt schlafe ich ein, weil ich bereits eingeschlafen bin und vielleicht schon träume, daß ich am Grund des Memelflusses liege und hoch über mir langsame, gedrungene Wolken sehe, prall wie Kartoffelsäcke. Es kann nicht mehr lange dauern bis zum Pfiff der Lokomotive.
Wenn unser Vorarbeiter Ewaldsen sieht, wie ich mir schnell ein paar Samen in den Mund stecke, dann droht er mir, oder er verzieht das Gesicht und wendet sich ab. Er droht mir nur spaßhaft, denn er ist gutmütig und nachsichtig wie kaum ein anderer, und er verzieht sein Gesicht, weil er wohl glaubt, daß die Samen bitter oder faulig schmecken, einige gärig. Er meint, ich müßte einen Drosselmagen haben, weil bei mir alles folgenlos bleibt; kein Schaum platzt mir aus den Mundwinkeln, meine Pupille wird nicht starr, und ich wälze mich auch nicht in Krämpfen. Ich, Bruno, hat er gesagt, wäre schon längst krepiert, wenn ich all die Schoten und Kapseln geschluckt hätte, die du geschluckt hast. Zugegeben, einige Samen machen schwindlig, andere verursachen ein Brennen auf der Haut, und wenn ich den Fruchtfleischsamen von Liguster, Taxus und Berberis esse, den wir immer leicht anrotten lassen, dann zirpt und tickt es in meinem Kopf wie von hundert Zikaden. Geschadet hat mir aber noch nichts. Gern esse ich den Samen aus den Nadelholzzapfen, solange er noch nicht entflügelt ist; ich habe dann manchmal das Gefühl, daß meine Stimme sich stärkt und schwillt und immer mehr Wörter zu meiner Verfügung sind, während ich nach dem Genuß von Spirea und Magnolie, deren Samen vor der Saat ja nicht trocken werden darf, einfach ruhig in einem Boot zu gleiten glaube, an bekannten Ufern vorbei. Bruno, Bruno, sagt unser Vorarbeiter Ewaldsen, halt dich nur ein bißchen zurück, damit noch etwas für die Saatbeete übrigbleibt.
Hier von den Saatbeeten aus habe ich die Festung immer im Auge, doch noch ist keiner erschienen, auf den Wegen nicht und nicht auf der Terrasse, der Dunst hat sich schon ganz gehoben, und in den oberen Fenstern glänzt die Sonne. An einem gewöhnlichen Tag wäre der Chef längst bei uns gewesen, hätte mir über den Kopf gewischt, hätte uns etwas vorgemacht im Saatbeet, hätte sich bestimmt nach Ewaldsens kranker Frau erkundigt und wäre nach einem Lob für uns beide weitergegangen, fortgezogen von seinem Bedürfnis, überall dabei zu sein. Jetzt aber will und will er nicht kommen, vielleicht hält ihn der Vormund zurück, den sie für ihn bestellt haben, ich weiß es nicht.
Unser Vorarbeiter Ewaldsen hat nur erstaunt zu mir herübergesehen, als ich ihn fragte, wozu man einen Vormund braucht; er mußte erst nachdenken, und auch dann sagte er nicht mehr als: Du stellst vielleicht Fragen, Bruno. Aber plötzlich, als hätte er sich an einen bestimmten Fall aus Hollenhusen erinnert, fiel ihm doch eine Antwort ein, und er sagte, daß sie einem bei Geistesschwäche oder Trunksucht oder gewissen Gebrechen einen Vormund bestellen können; da muß sich erst allerhand aufsummen, hat er außerdem gesagt. Ich bin jetzt noch ratloser, denn ich weiß genau, daß man dem Chef nichts davon nachsagen kann; der ist immer noch sein bester Vormund und steckt alle hier in die Tasche. Wenn ich unserm Vorarbeiter Ewaldsen auftischte, was Magda mir erzählt hat, dann würde er wohl nur eine wegwerfende Handbewegung machen und weiterarbeiten, seit siebenundzwanzig Jahren ist er beim Chef, nur vier Jahre weniger als ich, und darum wird er nur das glauben, was seine Erfahrung zuläßt.
Nein, keiner ist länger beim Chef als ich, keiner hat es auf einunddreißig Jahre gebracht. Am Anfang hab ich noch für jedes Jahr eine Kerbe in meinen schönen Kaddikstock geschnitten, ich hatte ihn für meine Eltern gedacht, ich wollte ihnen den Stock an dem Tag schenken, an dem sie in Hollenhusen auftauchten, um mich abzuholen, doch sie kamen und kamen nicht, das gelbe Floß hat sie mitgenommen auf Nimmerwiedersehn. In jener Zeit, als ich die Jahre noch mit Kerben zählte, hab ich viel geweint, einfach weil ich dachte, das Weinen könnte es meinen Eltern erleichtern, mich in Hollenhusen zu finden. Was mir heute Mühe macht, gelang mir damals nach Wunsch: ich konnte immer und überall losweinen, nicht nur trocken schluchzen, sondern Gesicht und Hände nässend weinen; ich brauchte nur an den Untergang des großen Landungsprahms zu denken, wie die Bombe uns traf und alles schwamm, Soldaten, Zivilisten und Pferde. Ich brauchte nur an die Augen der Pferde zu denken und an das gelbe Floß, auf dem meine Eltern kauerten, dann spürte ich schon, wie es heiß wurde und die Tränen kamen – ganz gleich, ob ich im Bett lag oder draußen auf dem Land war. Wenn der Chef mich beim Weinen überraschte, hat er nie ein Wort zu mir gesagt, zeigte kein Verlangen, mich zu trösten, er hat mich nur angesehen und mir zugenickt, nicht aufmunternd, sondern so, als könnte er mich verstehen. Von ihm habe ich nicht erfahren, daß die Pferde mich unter Wasser gedrückt und mit ihren Hufen getroffen hatten; sie sind gute und rücksichtslose Schwimmer, sie schwimmen mit verdrehten Augen und geblecktem Gebiß, und aus ihren Nüstern faucht und schnaubt es unentwegt, während ihre Hufe das Wasser walken. Max hat es mir später erzählt, und von ihm weiß ich auch, daß der Chef nach mir tauchte und mich hochbrachte und so lange in seinem Griff hielt, bis er mich auf treibendes Bretterzeug heben konnte. Und dann blieb er bei mir, bis die »Stradaune« uns auffischte; ganz blau und grün soll ich gewesen sein. Obwohl Max nicht dabei gewesen war, wußte er alles, wußte jedenfalls mehr als ich, er war der einzige, der mich getröstet hat, und um das Weinen abzustellen, brauchte ich nur an ihn zu denken, an seine Zuneigung, die ich gleich am ersten Tag spürte, als er aus dem Krieg zurückkam, in einer blauen Uniform.
Ich dreh mich nicht um, ich beuge mich noch tiefer über das Saatbeet, obwohl ich längst das schabende Geräusch hinter mir gehört habe, dies zischende Geräusch, das von Joachims lederbesetzten Hosen kommt. Er soll ruhig denken, daß er mich überrascht, und um ihm meine Überraschung anzuzeigen, werde ich gleich dreimal ausspucken, um den Schreck zu überwinden. Vermutlich macht er seinen ersten Gang als neuer Chef; es sollte mich nicht wundern, wenn er mir und unserm Vorarbeiter Ewaldsen erklären würde, daß sich etwas verändert hat an entscheidender Stelle, schließlich sind wir hier die Ältesten, die Gehilfen der ersten Stunde. Er sieht aus wie sonst, sein Gruß ist kurz und freundlich wie immer, dem schmalen Gesicht läßt sich nichts ansehen, kein heimliches Leiden, keine Verlegenheit, keine Trauer, nichts. Wie ruhig er mich ins Auge faßt, nicht mehr lange, und ich werde unsicher. Meine Mutter erwartet dich, Bruno. Ich nicke und höre mich schon fragen: Ist was mit dem Chef? Er stutzt, er sieht mich verwundert an, und sein Kopfschütteln soll nur besagen, wie unangebracht meine Frage ist, sein Kopfschütteln enthält bereits die Antwort. Ach, Bruno. Auch im Weggehen ist ihm nichts anzumerken, er geht nicht gebeugter als sonst, kein zusätzliches Gewicht hemmt seinen Schritt, doch ich weiß, daß alles nur Selbstbeherrschung ist, seine Kontrolle über sich selbst reicht so weit, daß er seine Hand mitten im Schlag anhalten kann – wie damals, als ich ihm einen Grund gab, mich zu schlagen: seine Hand war schon über mir, ich duckte mich schon, da rief er im letzten Augenblick den Schlag zurück, preßte die Lippen zusammen und ließ mich stehen.
Sehe ich von weither auf das große Haus, das sie hier nur die Festung nennen, dann erkenne ich deutlich den ehemaligen Kommandohügel des Exerzierplatzes, die Rosenbeete, die geschwungenen Wege, die Linden sind plötzlich weg, und an ihrer Stelle sehe ich hartes Gras und zähe Kräuter, eine zerwühlte und spurenreiche Erde, die das Haus wie in trotzigem Anspruch besetzt hält. Es ist das geräumigste Haus in Hollenhusen, die Fußböden sind aus geschliffenem Stein, an den Wänden hängen bräunliche Photographien, viele Stühle und Sessel sind auf den Fluren, und in der Diele steht eine große Schüssel mit Obst, die die Frau des Chefs immer selbst nachfüllt.
Jetzt werde ich weiter an der Windschutzhecke entlanggehen, da entdecken sie mich nicht gleich, und wenn ich hinter der Versandhalle auf den Hauptweg trete, bin ich fast da, und Inas Kinder haben keine Zeit mehr, sich etwas auszudenken. Einmal haben sie mich mit einem Lehmbrocken über dem Auge getroffen, es blutete ein wenig, ohne daß ich es merkte, der Chef hat von mir nicht erfahren, woher die kleine Wunde stammte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte auch ich in der Festung wohnen sollen, in der gemütlichen trockenen Kellerwohnung, die er eigens für mich gedacht hat – sogar eine eigene Treppe hat er bauen lassen, die von Rhododendron beschattet wird –, doch ich hielt es nicht aus, ich blieb gerade einen Monat da unten. Ich konnte machen, was ich wollte; jeden Abend, wenn ich zu mir hinabstieg, begegnete ich meinen Eltern, meist kauerten sie schon hinter dem vergitterten Fenster und riefen mich leise an, pochten zuerst an die Scheibe und riefen mich dann an und gaben mir Zeichen, langsam, wie erschöpft; ihre Zeichen konnte ich nicht deuten. Sie trugen schäbige Kleidung, sie schienen weither gekommen zu sein, manchmal fand ich den Abdruck eines Körpers auf meinem Bett, so daß ich annehmen mußte, einer von ihnen habe sich dort ausgeruht; ab und zu stand auch die Tür des Schranks offen. So laut ich auch sprach und rief, sie verstanden mich nicht; sie verstanden mich einfach nicht und gingen enttäuscht fort in ihrer abgetragenen Kleidung. Es war ein Monat der Schlaflosigkeit. Der Chef war schnell einverstanden, als ich ihn darum bat, mir wieder die alte Wohnung zu geben neben dem Gewächshaus; er versuchte erst gar nicht, mich zum Bleiben zu überreden.
Vielleicht wird die Frau des Chefs mir erzählen, was geschehen ist und worauf ich mich gefaßt machen muß, auch wenn sie hier und da Ungeduld mit mir zeigte, war sie immer gut zu mir, sie sorgte, daß ich meinen Teil bekam, und hat mir so manches Mal gesagt, daß ich zu ihnen gehöre. Ich komme einfach nicht von ihrem hellen Gesicht los, es ist so schön und ebenmäßig, am liebsten möchte ich es berühren, doch das wird sie nie erfahren, auch mit all ihrer Klugheit nicht. Es ist schwer, Wünsche zu verbergen, vielleicht ist es das schwerste in der Welt. Für mich nenne ich sie Dorothea. Wenn ich sie heimlich ansehe, muß ich oft daran denken, daß sie mich einmal geküßt hat, in einem Winter vor langer Zeit, als wir alle noch in der Baracke lebten, in einem einzigen Raum, den wir mit Hilfe einer Zeltplane und einer Decke geteilt hatten. Ich war im Schneetreiben von einem fahrenden Güterzug gefallen; ich hatte ihn bei der langen Kurve hinter dem Exerzierplatz abgepaßt, war aufgesprungen, hatte in aller Hast ein paar mächtige Kohlebrocken hinabgeworfen, die Max und der Chef einsammelten; dann war ich ausgerutscht und gefallen. Sie betteten mich dicht beim gußeisernen Ofen, ein alter Arzt kam, der in einer Nachbarbaracke wohnte, ich glaubte, daß ich nun sterben müßte. Dorothea saß länger bei mir als alle anderen, sie trocknete mein schweißnasses Gesicht ab und lächelte mir zu, sie brachte mir Milch, Kamillentee, einmal einen Riegel Schokolade, den ich gleich aufessen mußte. Winternebel hing zwischen den Baracken, ließ den Tarnanstrich verblassen; jeden Morgen war das Fenster von Frostblumen beschlagen, die ich zu bestimmen versuchte, bevor sie in der allmählich aufkommenden Wärme wegschmolzen. Der alte Arzt sprach nie mit mir, er unterhielt sich nur flüsternd an der Tür mit Dorothea und entfernte sich mit Trippelschritten über den hellhörigen Gang, der an manchen Stellen, besonders am Eingang, ganz ausgetreten und abgewetzt war von den Stiefeln der Soldaten. Und als ich ihn an einem Abend fragte, ob ich bald sterben würde, kniff er mich nur in die Wange, und nachdem er gegangen war, setzte sich Dorothea auf den Rand meines Lagers und küßte mich auf beide Augen. Du wirst bald aufstehn, Bruno, hat sie gesagt, bald.
Am liebsten möchte ich mir gleich zwei Äpfel aus der Schüssel nehmen, aber von der Wand sieht aus dunkel glänzendem Rahmen der Vater des Chefs herab, er scheint die Äpfel zu bewachen, er scheint den Ein- und Ausgang zu kontrollieren. Wie gern hätte ich ihn hier in Hollenhusen erlebt, nach allem, was ich weiß, muß er ein wortarmer, gütiger Mann gewesen sein, ein Einzelgänger auf seinem Feld.
Sie weist Ina zurecht, das ist die Stimme von Dorothea, die ihre Tochter zurechtweist; ich darf nicht zuhören, jetzt muß ich mich bemerkbar machen, mich melden, auch wenn ich etwas erfahren könnte, was vielleicht wichtig ist für mich. Es geht um eine Zeitungsanzeige, soviel ist sicher, um eine Bekanntmachung, von der Dorothea glaubt, daß sie etwas Gewöhnliches hat, gewöhnlich lautet, ich weiß nicht, was das Gewöhnliche ist, ob es wahr ist oder unwahr, über das Gewöhnliche hab ich noch niemals nachgedacht.
Da bist du ja, Bruno, sagt sie und kommt mir schon entgegen, ihr Gesicht verrät nichts, Müdigkeit vielleicht, eine kleine Nervosität, doch nichts, was auf eine große Entscheidung schließen läßt. Ina nickt mir nur einmal zu und wendet sich gleich ab zum Fenster, zeigt mir ihren mageren Rücken. Geht es dir nicht gut, Bruno, fragt Dorothea, du siehst so abgespannt aus. Ich kann nur den Kopf schütteln, es gelingt mir nicht, viel zu sagen in ihrer Nähe. Max kommt also, er kommt mit dem Mittagszug, wie immer wird er in seinem ehemaligen Zimmer schlafen, auf dem Feldbett, nur ein paar Tage. Ich weiß schon Bescheid, und sie sieht mir wohl die Freude an über den angekündigten Besuch, denn sie sagt nur: Auch wir freuen uns auf ihn.
Wenn Max sich aufrichtet auf seinem Feldbett, kann er weithin über unsere Quartiere sehen, bis zu der Stelle, an der früher die Baracken der Soldaten standen, acht hölzerne Baracken mit Teerpappdach und Tarnanstrich, und wenn er aufsteht und ans andere Fenster geht, kann er das Dänenwäldchen erkennen und den Großen Teich. Jetzt sind sie weg; die alten Kiefern, in denen die Krähen nisten, sind noch da, aber die Baracken sind weg, und nichts erinnert mehr daran, daß wir dort einmal lebten mit tausend anderen, die ankamen von irgendwoher und einen Raum besetzten und lebten und warteten.
Der Chef zog mich einfach da hinein; er, der alles erfährt, hatte herausbekommen, daß Dorothea mit Joachim und Ina dort schon wohnten, und er zog mich in ihren Raum, als ob ich bereits zu ihnen gehörte, und ließ mich die Begrüßung erleben und das Weinen und Trösten und alles. Dann sagte er: Ich hab euch noch jemanden mitgebracht, der erst einmal bei uns bleiben wird. Das hat er gesagt, und das war für den ersten Tag schon alles. Ina wußte, wo es einen Strohsack zu holen gab, wir haben ihn zusammen in der Dunkelheit weggetragen, und als alles gut gegangen war, haben wir nebeneinandergesessen und uns gemeinsam gefreut. Der Chef wollte an der Wand schlafen, ich schlief zwischen ihm und Joachim, und Dorothea und Ina schliefen hinter der Zeltplane und der Decke.
Bestimmt haben sie Max gerufen, weil seine Stimme im Rat nicht fehlen darf, vermutlich brauchen sie sogar seine Hilfe; ich kann mir denken, daß sie jetzt angewiesen sind auf ihn. Obwohl ich immer zu ihm kommen kann, wenn mich etwas bedrückt, möchte ich ihn nicht gleich mit meinen Fragen bedrängen, und wenn ich es später tue, muß ich aufpassen, daß ich Magda nicht verrate. Wenn du mich verrätst, Bruno, hat Magda gesagt, wird es mir um jedes Stück Brot leid tun, das ich dir gebracht habe.
Vielleicht lädt Max mich ein, ihn wie so oft zu begleiten, immer an der Holle entlang, zur Gerichtslinde und zu den beiden Hünengräbern, ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Male ich mit ihm auf den Steinen saß und ihm zuhörte. Dort könnte ich ihn fragen, vor der morschen, ausgehöhlten Gerichtslinde, an die ich einmal gefesselt war mit Stricken, kreuzweis, stramm gefesselt, und es dennoch eine ganze Nacht aushielt, ohne um Hilfe zu rufen, ohne einen Namen preiszugeben. Dort könnte ich ihn fragen, weil das der alte Platz ist, an dem er auch mir unzählige Fragen gestellt hat, nach meinen frühesten Erinnerungen zum Beispiel, nach meinen Bedürfnissen und Enttäuschungen und nach sogenannten Zielen, von denen ich mich leiten lasse.
Solche Fragen hat Joachim mir nie gestellt, der wollte anfangs immer nur erzählt bekommen, was alles sein Vater riskiert hat, um mich zu retten, zuerst beim Untergang des großen Landungsprahms und dann, als die gutmütige »Stradaune«, die uns an Bord genommen hatte, im Morgengrauen auf ein Wrack lief und in der Länge ihres ganzen Vorschiffs aufgeschlitzt wurde, wie mit einem Messer aufgeschlitzt. Er unterbrach mich nur selten, er hörte mir so nachdenklich zu, als ob er da ständig etwas verglich und erwog, und ich hab schließlich darauf geachtet, daß ich immer dieselben Worte gebrauchte. Mir entging nicht, wie aufmerksam er sich die Narben auf meiner Wange ansah, diesen rotblauen Narbenkelch unter meinem leckenden Auge – so hat er es selbst einmal genannt: Leckauge –, und er nickte nur, wenn ich ihm erzählte, daß es sein Vater war, der Chef, der mir die ersten Verbände anlegte, schon auf der »Stradaune«, auf dem alten Raddampfer, der nicht dazu bestimmt war, unterzugehen, sondern nur voll Wasser lief und sich auf das unbekannte Wrack setzte. Ließ ich mal etwas in meiner Erzählung aus, dann wußte Joachim gleich, was ich ausgelassen hatte, und ich sagte dann pflichtschuldig: Ja, ja, ach richtig, und flickte also ein, wie der Chef mich das letzte Stück durch hüfthohes Wasser trug, nachdem das überbesetzte Schlauchboot der »Stradaune« in der Brandung gekentert war. Ich konnte das alles schon rückwärts erzählen, und wenn er es gewünscht hätte, hätte ich leicht mit dem Satz anfangen können, den der Chef zu mir sagte, als er mich in den Sand legte und sich über mich beugte: Mal sehn, Junge, was mit uns beiden das dritte Mal passiert. Das sagte er am letzten Tag des Krieges.
Einschlafen könnte ich nicht auf diesem Feldbett, ich brauche nur eine Weile zur Probe zu liegen, dann summt es schon in meinem Kopf, summt wie von unruhigen Wespen, die raus wollen, und in den Armen fängt es an zu kribbeln. Daß Max so liegen und lesen und nachdenken konnte, tagelang, in diesem bescheidenen Zimmer. Seinen guten Schlaf hat er wohl vom Chef geerbt, diesen tiefen unbekümmerten Schlaf, der überall gelingt, selbst unter den Kuschelfichten auf dem Exerzierplatz. Wenn ich an unsere Barackenzeit denke, sehe ich den Chef immer nur auf seinem Strohsack liegen, gekrümmt, das Gesicht zur Wand, niemals ärgerlich oder wütend, wenn irgendwo gehämmert wurde, gestritten, er lag wie nach einem sanften Tod da in seiner Uniform, von der er die Rangabzeichen abgeschnitten hatte. Weckten wir ihn zum Essen, dann löffelte er sein Geschirr leer, legte sich gegen die Wand und starrte vor sich hin. Manchmal, wenn sein Blick auf mich fiel, lächelte er schwach, und er konnte dann sagen: Na, Junge, wir kommen wohl nicht voneinander los. Er nahm es Ina nicht übel, wenn sie ihn im Schlaf kitzelte, er brummte nur versöhnlich; auch wenn man auf ihn trat oder etwas auf ihn fallen ließ, brummte er nur versöhnlich. Die einzige, die auf seinen Schlaf Rücksicht nahm, war Dorothea, sie hantierte behutsam, trat leise auf, zischte uns Ermahnungen zu, sie wußte, daß es irgendwann ein endgültiges Erwachen geben würde – nach einer Ruhe, die er damals wohl nötig hatte. Nichts wurde auf entschiedene Dauer geplant; was uns wichtig erschien, wurde verschoben auf den Tag seines endgültigen Erwachens, und als Joachim mich einmal fragte: Wie lange willst du noch bei uns bleiben, antwortete Dorothea für ihn: Wart nur, bis Papa aufgestanden ist, dann wird alles geregelt.
Bis zum Mittagszug ist noch Zeit, es lohnt sich nicht mehr, etwas anzufangen, ich werde durch die Nadelholzquartiere gehen bis zur Sandgrube, auf den Bahndamm steigen und an den Gleisen horchen und dann zwischen den Gleisen entlanggehen zum Bahnhof. Ich kann nicht früh genug auf dem Bahnhof sein; selbst hier in Hollenhusen, wo die Züge nur selten halten und wo nur immer dann etwas los ist, wenn wir eine größere Sendung Bäume und Pflanzen auf den Weg bringen, bin ich gern zu früh da, sehe mich um, lese die Bekanntmachungen und überlege mir, wohin die wenigen sonntäglich gekleideten Reisenden fahren könnten.
Eines Tages werde auch ich in die Stadt fahren, vielleicht mit dem Mittagszug, und vielleicht werde ich wie Max im letzten Waggon reisen und beim Einlaufen in einen Bahnhof das Fenster herunterlassen und mein Gesicht in den Fahrtwind halten; das kann schon sein. Wenn ich mich nach seinem Gepäck bücke, wird er gewiß wieder sagen: Nicht so eifrig, Bruno, zuerst muß ich sehen, ob du dich verändert hast; und er wird mir beide Hände auf die Schultern legen und feststellen, daß ich immer noch der alte bin. Ich aber werde sehen, daß er immer noch ein heimliches Leiden mit sich herumträgt, sein Lächeln wird die Bitternis nicht ganz verdrängen, diese ruhige Bitternis, die wohl kommt, wenn einer soviel versteht wie er. Wer weiß, wie alles jetzt wäre bei uns, wenn er die Hoffnungen des Chefs erfüllt hätte; daß der Chef zuerst auf ihn setzte und seine großen Pläne mit ihm hatte, konnte damals jeder erkennen, das zeigte sich bereits an dem Tag, an dem Max heimkehrte in seiner blauen Uniform. Weg waren der Schlaf, die Müdigkeit, die Schwermut; der Chef, der eben noch im Traum gesprochen hatte, war endgültig erwacht, er umarmte, beklopfte Max vor Freude und besann sich, daß er für diesen Augenblick eine kleine Dose Kaffee verborgen hatte, die fischte er aus der knisternden Tiefe seines Strohsacks. Endlich, Max, endlich, hat der Chef einmal zu ihm gesagt, und Max darauf: Ja, endlich, Vater, und danach haben sie sich kopfschüttelnd und ungläubig und glücklich angesehen. Und später ist er mitten im Erzählen aufgestanden und hat seinen Seesack herangeschleppt, aus dem er mehrere gefütterte Etuis herausholte, in jedem Etui sechs Obstmesser aus Sterlingsilber, schöne Messer mit geschwungener, breiter Klinge. Jeder bekam eines der Etuis geschenkt, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte, aus der Offiziersmesse, in die sie ihn als Steward kommandiert hatten.
Hoffentlich stürzt die Apfelpyramide nicht zusammen, wenn ich mir im Vorübergehen ein paar schnappe, Dorothea hat mir zwar erlaubt, aus allen Fruchtschalen zu nehmen, die in der Festung herumstehen, doch sie weiß nicht, wie oft ich mich schon bedient habe. Dorothea spricht leise auf Ina ein, die in einem Ledersessel sitzt und vor sich hinweint, ich werde nichts sagen und einfach vorbeigehen, und wenn sie mich hören, werden sie schon denken, daß ich es gewesen bin, der da vorbeigegangen ist.
In unserer Barackenzeit hat Ina mir einmal gezeigt, wie man einen Schmerz aushält; sie hat sich eine Stopfnadel – eine große, wie man sie zum Nähen von Säcken braucht – in die Hand getrieben, in den Handballen, ganz langsam hat sie die Nadel hineingedrückt, und ich habe in ihr mageres, wachsames Gesicht gesehen und mußte ihr bestätigen, daß nicht eine einzige Träne kam. Meistens war sie gut zu mir damals, wie oft schob sie mir heimlich zu, was sie nicht mehr essen wollte oder konnte; wir saßen nebeneinander am Tisch, und sobald sie eine angebissene Brotscheibe wie absichtslos auf ihren Schoß senkte, wußte ich bereits, daß die für mich bestimmt war. Aber sie hat mich auch traurig gemacht, besonders an einem Sonntag im Winter, als ich sie auf ihrem selbstgemachten Schlitten durch glitzernden Schnee zog und wir bei der Rückkehr vom verschneiten Dänenwäldchen ihren beiden Freundinnen begegneten. Die Freundinnen fragten sie, wer ich sei, und Ina nannte mich ihr neues Pferd, ihr Pferd Bruno, das alle Gangarten beherrschte; um es ihnen gleich zu beweisen, lud sie ihre Freundinnen ein, sich auf den Schlitten zu setzen, und obwohl ich müde war und meine Schulter weh tat, zog ich sie durch den Schnee, trabte, wie Ina es verlangte, machte kleine Galoppsprünge, zerrte und schnaufte, schwer war es die Hügel hinauf, hügelabwärts fuhr der Schlitten mir mit Wucht in die Kniekehlen, alles zu ihrer Freude. Ina hat behauptet, daß ich später, als wir allein waren, versucht haben soll, ihr den Hals zuzudrücken; unter den alten Kiefern soll es gewesen sein, wo wir uns nach ihrem Wunsch mit Schnee »einseiften«; aber davon weiß ich nichts, das muß sie erfunden haben. Zuhause hat sie es jedenfalls erzählt; ich lag auf meinem Strohsack und hörte ihre flüsternde Unterhaltung, trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht einschlafen, und ich bekam mit, wie Dorothea sie beruhigte und der Chef ihr behutsame Vorwürfe machte und sie zu Schonung und Nachsicht mir gegenüber ermahnte.
Kann sein, daß er jetzt am Fenster steht und mich beobachtet, wie ich den Hauptweg hinabgehe, ich will mich nicht umsehen, obwohl ich ihm gern zuwinken möchte, ja, er beobachtet mich bestimmt, denn meine Beine versteifen sich und die Hand beginnt zu zucken und die Haut rauht sich auf wie von einem Schauer. Ich kann mir vorstellen, daß er sich eingeschlossen hat, um ungestört nachzudenken, über sich und uns alle, ganz besonders aber über das, was man ihm angetan hat. Vielleicht wird er sich auch daran erinnern, wie wir beide hier über das Land gingen, über dies zermahlene Soldatenland, er mit Hammer und Eisenrohr voran, das ihm einen richtigen Erdbohrstock ersetzte, und ich hinter ihm mit dem Beutel, in dem die Blechdosen schepperten.
Nach seinem endgültigen Erwachen zog es ihn jeden Tag auf den verlassenen Exerzierplatz hinaus, er schritt ihn aus, er streifte durch Gebüsch und Kuschelfichten, ich sah ihn allein lange auf dem Hügel sitzen, fand ihn, wie er ganz alte Panzerspuren untersuchte, erkannte von weitem, wie er geborstenen, metallenen Krempel zusammentrug, das aber schon planvoll. Mit uns sprach er nicht über seine täglichen Gänge, er hätte sich wohl nur gefreut, wenn Max ihn begleitet hätte, bei jedem Aufbruch fragte er ihn, ob er nicht mit hinauskommen wolle, oft bat er ihn sogar darum, doch Max hatte immer dringende Arbeiten vor, Max bedauerte und blieb vor seiner selbstgemachten Schreibplatte sitzen, die er aufs Fensterbrett legte und mit einer Latte abstützte. Ich weiß nicht, warum er Joachim niemals bat, ihn zu begleiten, denn man konnte ihm anmerken, daß er den Wunsch hatte, begleitet zu werden; zuviel hatte sich in ihm angesammelt, aber vielleicht versprach er sich nichts von Joachims Begleitung, weil der so zart war und so stockbeinig wie ein Fohlen. So ging er zuerst allein, ohne zu wissen, daß ich ihm mitunter folgte und ihn im Auge behielt, so lange, bis er mich einmal im Haselgebüsch ertappte. Als er mich an den Beinen aus dem Haselgebüsch zog, hatte ich Angst, daß er mich schlagen würde, aber der Chef hat mich niemals geschlagen, in all den Jahren nicht; und damals lachte er nur triumphierend und sagte: Siehst du, Bruno, man muß auch nach hinten sichern. Und am nächsten Morgen war ich es, den er vor allen aufforderte, ihn zu begleiten.
Ich war glücklich, ich trug gern den Stoffbeutel mit den Blechdosen, und ich hätte auch den Hammer und das Eisenrohr getragen, wenn er es nur zugelassen hätte. Mit ihm, da gab es überall etwas zu sehen; er zeigte mir seltene Vögel und eine Blindschleiche, einmal sogar zwei spielende Dachse; er brauchte nur plötzlich auf eine gewisse Art stehenzubleiben, dann wußte ich schon, daß es etwas zu sehen gab. Ich wunderte mich zuletzt nicht mehr, daß er alles mit Namen kannte und überall etwas herauslas, aus der Farbe der Gräser, aus der Farbe der Erde. Er schlug das Eisenrohr einen Meter tief in den Boden, lockerte es, hob es sachte heraus mit den verschiedenen Erdschichten, die es barg; ich drückte sie vorsichtig mit einem Stöckchen in seine Hand, er rieb die kleinen Proben, knetete sie, füllte sie auf die Blechschachteln ab und konnte zu jeder etwas sagen.
Einmal wollte er, daß ich es ihm nachmachte, ich mußte die Augen schließen, und er legte mir allerlei Erdproben in die Hand, klebrige, körnige, stumpfe, rauhe und fettige, aber es gelang mir nicht, den Boden zu bestimmen, zu dem sie gehörten, nur den sandigen Boden, den erriet ich. Am meisten freute er sich über die Streifen grauschwarzer Erde, er sagte, wenn er ein Baum wäre und sich einen Platz zum Wachsen aussuchen dürfte, dann würde er nicht auf gelber oder brauner, sondern auf grauschwarzer Erde stehen wollen, denn hier ist der Boden am besten durchlüftet und das Wasser kann bei Trockenheit leichter aufsteigen, und bei langem Regen kann das Überschußwasser rascher versickern.
Wir untersuchten den ganzen Exerzierplatz, schlugen das Eisenrohr in den Boden, wo früher Verteidigungsnester gewesen waren, nahmen Erdproben in der Senke, wo die Soldaten sich vielleicht zum Überraschungsangriff gesammelt hatten, und was er zusätzlich wissen wollte, das ließ sich der Chef von den Pflanzengesellschaften sagen, von der Golddistel, vom Knäuelgras und, wo es zum Flüßchen Holle hinabging, vom Moor-Labkraut. Und eines Tages – wir saßen im Schatten des eingesackten Übungspanzers und aßen unser Brot – sagte er zu mir: Wir werden etwas machen aus diesem Land, auch die Gutachten sprechen dafür; ja, Bruno, wir werden etwas machen aus dem Soldatenland. Er dachte noch ein wenig nach, dann sind wir sehr schnell nach Hause gegangen und haben unterwegs nicht mehr gesprochen.
Jetzt tue ich einfach so, als sähe ich Mirko nicht auf seinem neuen Stallmiststreuer, er pfeift schon, doch ich werde es nicht gehört haben. Er will mir ja doch nur zeigen, wie wendig seine Maschine ist zwischen den Quartieren, und wie leicht er sie beherrscht, und damit will er mich nur daran erinnern, daß ich keine Maschine bedienen darf, seinen Miststreuer nicht und nicht die Rodemaschine. Aus seiner Flasche werde ich nie mehr trinken, weil man danach immer hinfällt, aber ich werde mich gleich neben ihn setzen, wenn er von seinem Dorf erzählt, von den Bergen und den Tänzen und dem Piff-Paff der Jäger in den herbstlichen Wäldern. Vielleicht geht Magda nur so oft zu ihm, weil auch sie ihm gern zuhört, wenn er von seinem Dorf erzählt. Dort bei den Schmucktannen habe ich die Münzen vergraben und die Knöpfe und Kokarden, ich muß eine Liste mit allen Verstecken anlegen, eine Liste und eine Skizze, die ich ins Futter der Jacke einnähen werde, wie ich es mit dem anderen getan habe, mit der Patronenhülse. Wenn ich sterbe und die Verstecke nicht selbst räumen kann, dann soll alles gefunden werden.
Eine Zeitlang macht es Spaß, zwischen den Schienen zu gehen, alle Schritte sind gleich lang, die Schwellen dulden kein Ausruhen, treiben einen voran, auf einer Schwelle mag ich nicht stehenbleiben; doch schon nach einer Weile werde ich müde, möchte den Schritt wechseln oder schlendern oder traben, und dann springe ich aus den Schienen auf den Schotterweg. Die Schienen melden noch nichts, nur ein fernes Singen und Knistern – der rhythmische Schlag, mit dem sich der Zug ankündigt, ist noch nicht zu hören. Aber lange wird es nicht mehr dauern, eine bepackte Karre wartet schon auf dem Bahnsteig, und vor dem großen Schild »Hollenhusen« steht ein alter Mann in Schwarz, der den Stationsnamen liest und nicht wegfindet; vielleicht fragt er sich, wie er hierher gekommen ist. Ich werde gleich zum Ende des Bahnsteigs gehen, denn wie immer wird Max im letzten Wagen sitzen. Diesmal wird er mir wohl kein Geschenk mitbringen, ich kann mir vorstellen, daß ihm keine Zeit blieb in der Eile des Aufbruchs; doch was er mir nicht mitbringt, das kann ich auch nicht verlieren, und es waren ja oft seine Geschenke, die ich verloren habe, die Mütze, die schönen Taschentücher. Fragt mich einer, wo ein Geschenk geblieben ist, dann muß ich schon damit rechnen, es verloren zu haben; manchmal denke ich schon, daß die Sachen bei mir nicht bleiben wollen, nicht einmal Dorotheas Geschenke.
Hollenhusen wächst und wächst, früher gab es nur eine Straße, und die führte hinein und hinaus, und jetzt haben sie Querwege und Ringwege und sogar einen Wanderweg; ich trau mich da kaum mehr hinein. Früher kannte ich auch fast jeden in Hollenhusen, jeder erwiderte meinen Gruß; jetzt gibt es zu viele hier, die ich nicht kenne, fremde Leute, die sich anstoßen, wenn ich vorbeigehe, und die mir schweigend nachgucken, als könnten sie mit meinem Gruß nichts anfangen. Das neue Gemeindehaus, das sie gebaut haben, hat so viele Zimmer, daß sich nicht einmal der Chef zurechtfand, als er meinetwegen dorthin bestellt wurde; wir mußten uns erst die Zimmernummer sagen lassen, und auch danach mußten wir noch auf Stühlen sitzen und warten.