Exit this City - Lisa-Marie Reuter - E-Book

Exit this City E-Book

Lisa-Marie Reuter

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Beschreibung

Climate Fiction aus Deutschland: »Exit This City« ist ein Science-Fiction-Thriller über die Zukunft der Ernährung. Deutschland im Jahr 2158: Auf den Reisplantagen des verarmten Agrarlands braut sich eine Rebellion zusammen. Genmanipulierte Bienen sollen die Felderträge steigern, doch ihr Stich ist tödlich. Tausende Menschen wurden mit dem Gift infiziert, alle starben – bis auf die charismatische Veeru, die seitdem wie eine Göttin verehrt wird. Die Plantagenarbeiter folgen ihr auf einem Feldzug gegen die Landbesitzer. Ihr Ziel ist die Europazentrale des skrupellosen Konzerns FinalFood Inc. Doch Veerus wahre Absichten bleiben dunkel, und vieles deutet darauf hin, dass sie insgeheim ihre eigenen Pläne verfolgt. Am anderen Ende der Welt irrt Marti ohne Erinnerung durch Delhi. Er ist allein und er wird verfolgt. Als ein radioaktiv verseuchter Staubsturm Kurs auf die Millionenmetroploe hält, gibt es für die Bevölkerung nur noch eines: Raus aus der Stadt! Doch Marti kann erst fliehen, wenn er weiß, warum es die unbekannten Feinde auf ihn abgesehen haben. Seine Suche nach der Wahrheit führt ihn mitten hinein in die Machenschaften eines Konzerns, der in Deutschland ein skrupelloses Spiel um Macht und Einfluss spielt. Für Science-Fiction-Fans und Leser*innen von Zoë Beck, Andreas Eschbach, Tom Hillenbrandt, Theresa Hannig und Andreas Brandhorst.

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Seitenzahl: 558

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Lisa-Marie Reuter

Exit this City

Roman

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Leave this place

Exit this city

Now it belongs to the royalty

 

Wolf Parade, Artificial Life

Vor 57 Tagen

Ghunghru – [ghũghrū] m1. Glöckchen n, Schelle f 2. Schellenband n (wird während des Tanzens um den Fußknöchel getragen)

 

Reglos lauschte Paksha auf die Schritte im Korridor.

Sswsch, sswsch, sswsch.

Sie kannte das Geräusch. Sonnys Hauspantoffeln schlurften über den kalten, grauen Marmorboden. Sonny war unterwegs zu ihr. Paksha wollte nicht, dass er in ihr Zimmer kam, aber was konnte sie schon dagegen tun?

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er die Tür öffnete. Sie drehte sich nicht zu ihm um. Hier, im Innern der Sync-Sphäre, zerfetzte der Taifun stumm und gleichgültig die Mangrovenwälder, in denen Paksha früher bei gutem Wetter Krabben fürs Abendessen gesammelt hatte.

Auf der Türschwelle räusperte sich Sonny.

»Du bekommst gar nicht genug von der Show, was?«

Paksha presste die Lippen zusammen. Ein bunt bemaltes Fischerboot segelte über ihr vorbei und zerschellte lautlos an den Uferfelsen.

»Ich gönn dir den Ruhm«, fuhr Sonny jovial fort. »Du hast eine super Performance abgeliefert. Schade, dass euer Dorf nicht zu retten war. Aber jetzt bist du ja hier bei mir. Darf ich?«

Seine Finger huschten über den Control-Screen und schalteten das Video ab. Brechende Wellen und peitschende Palmwedel erstarrten mitten in der Bewegung, ehe sie zu harmlosem Pixelstaub zerfielen. Paksha blinzelte. Ihre Heimat war verschwunden. Zurück blieben die kantigen Möbel ihres neuen Zimmers, das ungemachte Bett und darüber an der Wand der kitschige Kunstdruck, auf dem Krishna eine Schar Hirtenmädchen mit seinem Flötenspiel bezirzte. Sie alle waren ihm restlos verfallen, seiner blauen Haut, dem schelmischen Lachen und den Pfauenfedern, die er im Haar trug. Welche Wahl blieb ihnen schon, wenn ein Gott sie zum Tanzen aufforderte?

»Falls ich dir einen Rat geben darf: Denk nicht zu viel an dein altes Zuhause«, sagte Sonny. »Die Andamanischen Inseln sind Geschichte, und die Zuschauer wollten, dass du zu mir nach Europa kommst. Wird Zeit, dass wir uns besser kennenlernen, was meinst du, Kind?«

Kind.

Als ob sie nicht beide wussten, dass Paksha in Sonnys Augen längst kein Kind mehr war. Das Beben seines dichten, schwarzen Schnurrbarts hatte es ihr verraten, schon ganz zu Beginn der Show, als er mit honigsüßen Worten um die Gunst des Publikums geworben hatte. Der allzu feste Griff um ihren Arm, mit dem er ihr beim Aussteigen aus dem Autocopter geholfen hatte. Die Blicke der anderen Frauen auf der Plantage, blaue Augen voller Neid und Mitleid. Mit ihren fünfzehn Jahren war Paksha alt genug, um die Zeichen zu deuten. Sie wusste sehr wohl, warum Sonny heute in ihr Schlafzimmer gekommen war, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, blieben nur Gleichgültigkeit und Resignation.

Sonny schritt den Raum ab wie ein Raubtier sein Revier. Aufmerksam, selbstsicher. Paksha ließ sich weder von seinem Teddybärengesicht täuschen noch von seinem Wohlstandsbauch, oder dem gemütlichen Doppelkinn. Er würde sie nicht umwerben wie Krishna seine Auserwählten. Wenn Sonny etwas wollte, dann nahm er es sich.

Das letzte Kamerateam war gestern abgereist, Sektor Main-4/ME gehörte nun wieder Sonny allein. Ihm gehörten die Reisfelder und der Ertrag, den die einheimischen Arbeiter erwirtschafteten. Ihm gehörten der Autocopter, der Paksha hergebracht hatte, und die Villa am Hang über dem Fluss. Ihm gehörten das Zimmer, in dem Paksha seit ihrer Ankunft lebte, und jedes einzelne Kleidungsstück, das sie am Leib trug, sogar die Unterwäsche.

»Wie war deine erste Woche bei uns? Ich hab dich vernachlässigt, aber das wird sich jetzt ändern.« Während er sprach, besah er sich Pakshas offen stehende Reisetaschen, die wenigen Habseligkeiten, die sie herausgezerrt und dann planlos auf dem Schreibtisch, dem Fensterbrett, dem Fußboden verteilt hatte. Sein Blick fiel auf die leeren Schrankfächer, dann auf die zerfledderte Ausgabe von Tausendundeine Nacht, die aufgeschlagen auf dem Nachtkästchen lag. »Hast du dich schon eingelebt? Bist auf Entdeckungstour gegangen?«

Paksha schüttelte den Kopf und beobachtete Sonny zwischen zwei Strähnen ihrer Dreadlocks hindurch. Die eingeflochtenen Moodwires schimmerten eisblau. »Es hat ja ständig geregnet.«

Sein Lachen klang immer noch so sympathisch wie in der Show. Sonny-ji, der Wohltäter. Der nette Onkel, der das gestrandete Waisenkind bei sich aufnahm. »Daran musst du dich gewöhnen. Zieh am besten Gummistiefel an, wenn du rausgehst.« Er setzte sich auf die Bettkante und holte ein Kunststoff-Etui aus der Hosentasche. »Na, komm her und lass uns deinen Einstand feiern.«

Paksha blieb stehen. Sie war noch nicht so weit, nur ein kleiner Aufschub noch.

Lenk ihn ab, funkten ihre erschöpften Synapsen. Mach es wie Scheherazade. Denk dir was aus, das besser ist als die Wirklichkeit.

Tausendundeine Nacht lang hatte die geschickteste Geschichtenerzählerin aller Zeiten den bösen König in ihren Bann geschlagen. Pakshas Repertoire war nicht ganz so umfangreich wie das ihres Vorbilds, aber erzählen, das konnte sie. Von Noe, ihrer Großmutter, hatte Paksha die Kunst ihrer Vorfahren gelernt, kaum dass sie sprechen konnte. Sie musste lediglich herausfinden, welche Art von Zuhörer Sonny war.

»In Safe Town hat es auch oft geregnet«, hob sie beiläufig an. »Aber das war eine ganz andere Art von Regen, kurz und heftig, und danach kam die Sonne gleich wieder raus. Hier nieselt es den ganzen Tag, es ist immer nass.«

Sonny gluckste gutmütig. »Da hast du recht, Kind. Ich weiß schon, dass du gehofft hattest, ein Kandidat aus Indien würde das Rennen machen. Aber glaub mir, du hättest es bereut. Indien ist eine Wüste, Paksha. Hier in Europa lässt es sich besser leben.«

»Hast du nicht manchmal Heimweh?«

»Nach Indien?« Sonny rümpfte die Nase. »Da gibt’s nur noch Staubstürme und Gigastädte. Ich fliege ab und an hin, im Winter, wenn die Temperaturen unter vierzig Grad fallen. Aber am liebsten bin ich auf der Plantage.« Mit dem linken Arm beschrieb er einen ausladenden Kreis. »Uns fehlt es doch an nichts. Wir haben unseren indischen Lebensstandard, alles vom Feinsten, alles auf dem neusten Stand. Ein Haus wie dieses«, er klopfte an den Bettpfosten, »hätte ich mir in Delhi oder Bengaluru im Leben nicht leisten können. Dreihundertdreißig Quadratmeter, Neomogulischer Stil, bis unters Dach vollgestopft mit Tata-Technologie. Und von dem Geld, das übrig bleibt«, grinsend klappte er das Etui auf, »hab ich uns was Nettes besorgt. Weißt du, was das ist?«

Auf den ersten Blick hielt Paksha die beiden milchigen Kristalle, die er sich auf die Handfläche rollen ließ, für ein Paar Ohrringe. Erst als sie näher heranging, sah sie, wie im Innern der Steine elektrische Funken entlang eines haarfeinen Drahtgeflechts zuckten. An einem Punkt nahe der Oberfläche vereinten sich die Metallfäden und ragten als kupferne Nadelspitze ins Freie.

Eine ungute Ahnung regte sich in ihr, aber Paksha schüttelte stumm den Kopf.

Sonny kicherte. »Das hätte mich auch gewundert. Kleine Leute wie wir bekommen sowas normalerweise nicht zu Gesicht. Schon mal von Brain-Sparks gehört?«

Widerwillig nickte Paksha. »Die pfuschen dir ins Gehirn, oder? Bringen deine B-Waves durcheinander. Aber ich dachte, das ist total gefährlich …«

»Noch in der Testphase trifft es besser«, entgegnete Sonny lächelnd. »Die winzige Ladung hier reicht gerade mal für einen kurzen Ausflug ins Nirwana. Der Effekt greift direkt an den Hirnströmen, lässt dich für ein paar Stunden alles vergessen.« Er musterte sie unverhohlen, jede Kurve, jeden Zentimeter nackter Haut. »Was meinst du, machen wir uns einen schönen Abend?«

Pakshas Fußzehen gruben sich in den Plüschteppich. Wenn sie gewusst hätte, dass Sonny heute zu ihr käme, hätte sie sich mehr angezogen als das dünne Maxishirt, dessen Saum ihr gerade bis zum Knie reichte. Verflucht, sie hätte damit rechnen müssen! Fünf ganze Tage hatte er ihr Zeit gegeben, um sich zu sortieren, um anzukommen und sich von ihrem alten Leben zu verabschieden. Ein fairer Deal, oder nicht? Es war ihre eigene Schuld, dass ihre Taschen noch immer nicht ausgepackt waren, dass sie es vorgezogen hatte, die Zeit in der Sync-Sphäre zu verplempern und einem Zuhause nachzutrauern, das nicht mehr existierte. Sektor Main-4/ME war jetzt ihr Zuhause und Sonny ihre Zukunft.

»Du machst mir ein schlechtes Gewissen.« Paksha deutete auf die Brain-Sparks. »Du hast doch für die Show schon so viele Shells ausgegeben. Dann die ganzen neuen Kleider, der Flug mit dem Autocopter …«

Sonny winkte ab. »Ich musste den Zuschauern natürlich was bieten, damit sie für mich stimmen. Aber, unter uns, FinalFood hat mich ordentlich gesponsert. In der Show warst du der absolute Sympathieträger, Paksha. Dich rauszuholen hat der Firma sagenhafte Image-Werte beschert. Dann noch dieses bombastische Finale, Evakuierung im Taifun, euer Dorf in Trümmern – Paradise Lost war die Sync-Show des Jahres, des Jahrzehnts. Und wir waren dabei.«

Der Boden unter Pakshas Füßen schwankte, als sie an Safe Town dachte; daran, wie Orkanböen erst das Dach ihres Hauses fortgerissen und dann die Wände wie Spielkarten weggefegt hatten. Die Bilder der Zerstörung kannte sie nur aus der Sync-Sphäre. Paksha selbst hatte da bereits im Flieger nach Europa gesessen. Der Taifun war weitergezogen, die Andamanischen Inseln ragten weiterhin trotzig über den Meeresspiegel, doch diesmal würde niemand zurückkehren, um Safe Town wieder aufzubauen. Zu teuer, hatte der indische Staat entschieden.

Ein Knall draußen vor dem Fenster ließ Paksha zusammenfahren. Vielstimmiges Grölen in einer fremden Sprache schallte vom Rand des Grundstücks herüber.

Sonny verdrehte die Augen. »Die Arbeiter feiern heute Karneval. Aber denk jetzt bloß nicht an Rio.« Er schüttelte den Oberkörper wie ein Sambatänzer. Unter dem Hemd schwabbelten Bauch und Brust. »Knackige Frauen in Bikinis gibt’s keine. Hier in der Gegend heißt es Fasching und die Leute nutzen den Blödsinn als Vorwand, um nicht zur Arbeit zu kommen und sich volllaufen zu lassen.«

Die Gesänge vor dem Zaun klangen hitzig und aggressiv. Eine schrille Tröte mischte sich unter das Stimmengewirr.

Die Härchen auf Pakshas Unterarmen richteten sich auf. »Verstehst du, was sie sagen?«

Sonny rollte die Brain-Sparks zwischen den Fingern. »Ich spreche ein paar Sätze Deutsch, ja. Aber ich habe mir nie die Mühe gemacht, den Dialekt im Main-Sektor zu lernen. Das reinste Kauderwelsch. Die Vorarbeiter können sowieso alle Hindi.«

Der Tumult ebbte ab. Die Meute zog weiter.

»Das geht heute noch den ganzen Tag so«, erklärte Sonny. »Wir können später rausgehen und es uns ansehen. Ein bisschen Folklore schnuppern.«

Paksha ergriff die Gelegenheit. »Karneval ist wie Holi, stimmt’s? Kennst du die Geschichte von Holika?«

»Ewig nicht gehört«, seufzte Sonny. »Erzähl nur, Kind. Vielleicht packt mich ja doch noch das Heimweh.«

Gewaltsam schüttelte Paksha die Erinnerung an ihr letztes Holi-Fest in Safe Town ab. An die Lieder, die Wolken aus buntem Farbpulver, die sirupsüßen Laddus. Damals, vor einem Jahr, als Noe noch am Leben gewesen war und die Legende in alter Tradition selbst erzählt hatte.

»Holika war die Schwester eines unbesiegbaren Königs.« Automatisch fiel Paksha in den Singsang, mit dem sie in Safe Town die Touristen unterhalten hatte. Ob Scheherazade ihre Märchen auf ähnliche Weise vorgetragen hatte? »Kein Mensch oder Tier war stark genug, ihn zu bezwingen. Weder Pfeil noch Schwert konnten ihm gefährlich werden.«

»Ah, ich sehe schon, das wird eine lange Geschichte.« Sonny lehnte sich zurück und klopfte neben sich auf das Polster. »Setz dich zu mir, Kind. Kein Grund, dort rumzustehen wie eine Heilige auf dem Scheiterhaufen.«

Paksha hatte Bilder von Scheherazade gesehen. Demütig und furchtlos kniete sie zu Füßen des bösen Königs und hielt ihn mit ihren Erzählungen in Atem, Nacht um Nacht, bis sie sein kaltes Herz erweicht hatte.

»Holikas Bruder«, fuhr Paksha fort, während sie sich Sonny mit kleinen Schritten näherte, »konnte weder im Freien sterben noch in geschlossenen Räumen.«

Sonnys Schnurrbart zog sich über den grinsenden Lippen in die Länge. Er rutschte zur Seite, doch Paksha ließ sich neben ihm auf den Teppich gleiten.

»Weder bei Tag noch bei Nacht.«

Ein Stirnrunzeln huschte über sein Gesicht, aber fürs Erste schien er damit zufrieden, sie zumindest in Reichweite zu haben.

»Weder an Land noch im Wasser, noch in der Luft«, schloss Paksha und drapierte ihren rechten Arm auf der Matratze.

»Muss ein smarter Bursche gewesen sein«, bemerkte Sonny.

»Seine Macht ließ ihn arrogant werden«, sagte Paksha. »Er verlangte, dass die Menschen den Göttern abschworen und stattdessen nur noch ihm huldigten. Alle gehorchten, bis auf einen.«

»Nun wird’s spannend«, gluckste Sonny. »Das wäre doch der passende Zeitpunkt für unsere Belohnung, hm?« Auf seiner ausgestreckten Handfläche präsentierte er ihr die blitzenden Steine.

Pakshas Hals wurde trocken. »Das ist … großzügig von dir. Aber nimm du nur. Ich bleibe heute lieber nüchtern.«

Sonny lachte, wie nette Onkels über altkluge Nichten lachen. »Hast wohl schon reichlich Erfahrung mit Rauschmitteln, was? Habt ihr euch auf den Andamanen damit die Zeit zwischen den Taifunen vertrieben?«

»Naja, hin und wieder gab es was zu rauchen.« Paksha spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Und die Touris haben oft Pillen mitgebracht. Ich hab’s ein paarmal versucht, aber mir wurde immer richtig übel davon.«

Sonny drehte einen der Kristalle, bis sich das schräg einfallende Sonnenlicht in den Facetten verfing wie ein schillernder Schmetterling in einem Spinnennetz. »Das hier ist ein anderes Kaliber, Kind. Pures Glücksgefühl, keine Nebenwirkungen, viel sauberer als irgendwelche Pillen. Ich hab achteinhalbtausend Shells dafür hingeblättert. So eine Chance bekommst du vielleicht nie wieder.«

Paksha schluckte. »Wie funktioniert es?«

»Ein kleiner Piks, nichts weiter.« Sonny demonstrierte das Vorgehen, indem er sich die kupferne Nadelspitze zwischen den Augenbrauen an die Stirn hielt. »Die Ladung muss in deine Nervenbahnen gelangen, der Rest geht ganz von allein.«

»Aber es verändert deine B-Waves«, beharrte Paksha. »Ich hab von Leuten gehört, die aus ihren eigenen Ego-Streams rausgeworfen wurden. Der Nexus hat sie einfach nicht mehr erkannt.«

Sie brach ab, weil die Vorstellung zu grotesk war, um sie in Worte zu fassen. Menschen ohne Ego-Streams, waren das überhaupt noch Menschen?

»Auf solche Horrormeldungen darfst du nichts geben«, winkte Sonny ab. »Aber wenn du dich dann besser fühlst, mache ich den Anfang. Und deinen Spark heben wir fürs nächste Mal auf, hm?«

Paksha nickte steif. Fürs nächste Mal.

»Soll ich weitererzählen?«

Sonny drehte den Kristall im Licht und schmunzelte. »Nur zu. Bin gespannt, wer unseren unbesiegbaren Herrscher noch stoppen kann.«

Als Paksha mit der Geschichte fortfuhr, klang ihre Stimme eine Oktave schriller. »Der Einzige, der dem König nicht huldigen wollte, war dessen eigener Sohn. Unerschütterlich hielt der Prinz an seiner Verehrung für Gott Vishnu fest, dem Bewahrer der kosmischen Ordnung.«

Mit den dicken Fingern der linken Hand tastete Sonny nach der Stelle zwischen seinen Augenbrauen. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss halb die Augen und drückte sich die Kupferspitze ins Fleisch. Ein hellroter Blutstropfen quoll hervor. »Mach nur weiter, Paksha. Bin ganz bei dir.«

Draußen schwollen die Sprechchöre der fremden Menschenmenge an und ab. An den Fenstern im Erdgeschoss setzte ein neues Geräusch ein: Fausthiebe auf Glas.

»Der … der König war außer sich vor Wut. Er wollte den Prinzen für diese Dreistigkeit bestrafen, ihn vom Angesicht der Erde tilgen, aber all seine Mordversuche scheiterten. Denn Vishnu beschützt die, die an ihn glauben.«

Ein winziger Blitz zuckte im Innern des Kristalls. Sonny ließ die Luft in einem langgezogenen Seufzer entweichen. Sein Einatmen vermischte sich mit einem Laut reinster Verzückung. Der zweite Stein rollte ihm aus den Fingern und blieb auf dem Fußboden liegen.

»In seiner Raserei rief der König seine Schwester Holika zu Hilfe. Sie besaß einen goldenen Sari, mit dem sie unbeschadet durchs Feuer gehen konnte. Diese Fähigkeit wollte sie nutzen, um den Prinzen zu töten.«

Sonny riss die Augen auf und betrachtete Paksha, als sei sie selbst in Kleider aus purem Gold gehüllt. Seine Pupillen schienen das Tageslicht aufzusaugen wie Schwarze Löcher.

»Weiter«, keuchte er. »Erzähl nur weiter.«

Fieberhaft überlegte Paksha, wie ihre Fluchtchancen stünden, wenn sie jetzt wegrannte. Gut möglich, dass sie bereits im Erdgeschoss einem Angestellten in die Arme lief – der Köchin, dem Hausmädchen, dem Fahrer. Und selbst wenn Paksha es nach draußen schaffte, zog dort der feiernde Mob umher. Noch immer brandete das Johlen gegen die Fensterscheiben, näher denn je. Wenn sie hierblieb, hätte sie es bald hinter sich.

Unstet fuhr sie fort. »Ein Scheiterhaufen wurde aufgeschichtet. Holika nahm in der Mitte Platz und gebot ihrem Neffen, sich auf ihren Schoß zu setzen. Der Prinz gehorchte, weil er wusste, dass Vishnu ihn vor allem Übel bewahren würde. Der König selbst steckte das Reisig in Brand.«

»Ahhh, ich sehe es«, hauchte Sonny. Im Innern des Brain-Sparks sprühten Funken. Eine dünne Blutspur zog sich zwischen den Augen hindurch zur Nasenwurzel. »Das Feuer. Du loderst so hell, Holika. Komm her. Setz du dich auf meinen Schoß.«

Instinktiv wich Paksha zurück. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Fußballen und schielte über die Schulter zur Tür.

Vor dem Haus gellten jetzt Befehle in Hindi.

»Bleibt, wo ihr seid!«

»Zurück! Zurück, hab ich gesagt!«

»Ruf den Sahab! Ruf die Security!«

Die Antwortschreie in der fremden Sprache waren lauter. Glas splitterte, eine Sirene heulte los.

»S-Sonny-ji, da ist was passiert. Du musst nachsehen …«

Aber Sonny war bereits Teil einer ganz anderen Geschichte.

»Wer wird dich jetzt retten?«, lallte er, während seine Hand an Pakshas Arm entlangwanderte, vom Ellenbogen zur Schulter über das Schlüsselbein. »Bete zu mir. Bete!«

»L-lass mich erst zu Ende erzählen.« Pakshas Stimme überschlug sich. »Als die F-Flammen Holika und dem Prinzen gefährlich nah kamen, erschien Vishnu in der Gestalt des Narasimha – halb Mensch und halb Löwe. Er streckte die Arme aus …«

Das tat auch Sonny. Er packte Paksha oberhalb der Taille und zog sie zu sich heran. »Du hast mich gerufen. Jetzt lass mich dich erlösen.«

Im Erdgeschoss splitterten Glas und Kunststoff. Schläge dröhnten durchs Treppenhaus, Schmerzensschreie, die Sirene jaulte unerbittlich.

»Hörst du das nicht?«, flehte Paksha. »Wir müssen weg, wir müssen …«

Die Eindringlinge polterten über die Treppenstufen, traten die Türen am Ende des Flurs ein, brüllten, lachten, kamen näher. Paksha riss sich los und krachte schmerzhaft mit dem Knie auf den Fußboden. Sie robbte unters Bett, nur Sekunden bevor die Angreifer ins Schlafzimmer stürmten. Von ihrem Versteck aus konnte sie lediglich Schuhe erkennen. Drei Paar klobige Arbeiterstiefel. Ihnen gegenüber zwei fahrig tapsende Pantoffeln.

»Wer seid ihr? Verneigt euch vor eurem Gebieter!«

»Dein Haus ist umstellt, Sonny Sahab«, rief eine Männerstimme mit schwerem Akzent. Das zugehörige Stiefelpaar trat einen großen Schritt in den Raum hinein.

»Wir übernehmen das Kommando«, fügte eine Frau hinzu und wie um die Worte zu unterstreichen, riss das Sirenengeheul urplötzlich ab.

»Ihr Ungläubigen! Verbrennt zu Asche!«, röhrte Sonny und stürzte vor.

Paksha hörte ein elektrisches Knistern, einen abgehackten Schrei. Sonny sackte in sich zusammen und blieb schlaff neben dem Bett liegen. Seine Augen waren so stark verdreht, dass nur noch rot geädertes Weiß unter den Lidern hervorschaute. Aber er atmete.

Die drei Eindringlinge berieten sich in ihrer fremden Sprache. Schnelle Wortfolgen, angespannte Stimmen.

Dann hörte Paksha ein ganz neues Geräusch.

Prrram, prrram.

Ein dunkles, metallisches Klimpern, das dem Takt maßvoller Schritte folgte.

Prrram, prrram.

Unbeirrt hielten die Schritte auf Pakshas Schlafzimmer zu. Die drei Arbeiter unterbrachen ihre Diskussion.

Prrram, prrram. Prrram, prrram.

Die Stiefel wichen nach rechts und links aus, um jemandem Platz zu machen.

»Veeru«, murmelten die Arbeiter ehrfürchtig.

Veeru.

Das vertraute Wort bewirkte beinah, dass Paksha unter dem Bett hervorkroch und sich der fremden Person um den Hals warf. In Safe Town hatte es einen streitlustigen Kater gegeben, den alle Veeru gerufen hatten. Kleiner Held. Das Tier war lang vor dem großen Taifun gestorben, und der Name war Paksha seitdem nicht mehr zu Ohren gekommen. In diesem Moment, unter einem Bett achttausend Kilometer von Safe Town entfernt, wurde Paksha zum ersten Mal glasklar bewusst, dass ihre Heimat für immer verloren war. Ihre Sicht verschwamm, aber sie ließ die Füße nicht aus den Augen.

Veeru trug keine Schuhe. Die Haut, die sich straff über Fußknochen und Sehnen spannte, war weder blassrosa wie die der Einheimischen noch braun wie Pakshas oder Sonnys. Sie war schiefergrau und von blauen Adern durchzogen. Lebendig gewordener Stein, Marmor und Asche. Die Hautfarbe der Götter. Ohne ihr Zutun formten Pakshas Lippen den Namen Vishnu. Sie zitterte am ganzen Körper.

Während die Arbeiter Bericht erstatteten, ging Veeru um den bewusstlosen Sonny herum und blieb so dicht vor der Bettkante stehen, dass Paksha die orange lackierten Fußnägel hätte berühren können. Breite, glockenbesetzte Stoffbänder schlangen sich in vier, fünf übereinanderliegenden Reihen um Veerus Knöchel und verursachten bei jedem Schritt ein vielstimmiges Klingeln. Prrram, prrram. Die Endstücke der Kordeln waren fest verknotet, damit sie beim Laufen nicht über den Boden schleiften. Oder beim Tanzen. Paksha kannte solche Glockenbänder. Ghunghrus hießen sie, und die Showgirls von Safe Town hatten sich ebenfalls welche umgebunden, wenn sie die Schrittfolgen für Kathak geübt hatten oder für Bharatnatyam.

So sehr schlug der Anblick Paksha in den Bann, dass sie erst mit einigen Sekunden Verspätung registrierte, dass Veeru den Arbeitern eine Frage auf Hindi gestellt hatte.

»Was ist mit ihm passiert?«

War das eine hohe Männerstimme oder eine tiefe Frauenstimme? Welcher Akzent schwang in diesen Worten mit? Paksha hatte unzählige Sprachen, Dialekte und Färbungen gehört im Lauf ihres Lebens, aber dennoch gelang es ihr nicht, Veerus knappe Sätze einzuordnen.

Die Arbeiter antworteten auf Kauderwelsch.

Veeru erteilte Anweisungen. Ruhig, höflich und mit ausreichend Hindi durchsetzt, dass Paksha der Konversation folgen konnte.

Helfen – draußen – alles im Griff.

Die Arbeiter murmelten erleichtert und räumten das Feld.

Veeru zog die Tür zu. Gebannt beobachtete Paksha die Marmorfüße bei ihrem Rundgang durch das Zimmer. Prrram, prrram, bis zum Schreibtisch. Schubladen öffneten und schlossen sich. Wenn Veeru die Arme bewegte, mischte sich ein feineres, helleres Klimpern in die Geräuschkulisse. Prrrim, prrrim.

Knarrende Schranktüren, raschelnde Regenkleidung.

Ein unvollständiges prrram, prrr…, als ein Fußzeh den Brain-Spark streifte, den Sonny im Rausch hatte fallen lassen. Veeru trat einen Schritt zurück. Eine Hand erschien in Pakshas Gesichtsfeld und griff nach dem Kristall. Lange Finger, kräftige Gelenke und dieselbe graublaue Haut, derselbe orangefarbene Nagellack. Schmale Glasarmreife, vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Stück in Gelb, Gold und Grün klirrten und klimperten bei jeder Drehung, mit der Veeru das Objekt untersuchte.

Mit zwei Schritten eilte Veeru zu Sonnys reglosem Körper. Paksha robbte tiefer unters Bett, atmete Staub und feuchten Moder ein und presste sich die Hand auf die Nase, damit sie nicht niesen musste. Veeru kniete zwischen ihr und Sonny, die langen Beine angewinkelt, Fingerspitzen am Hals des Bewusstlosen, tastend, lauschend. Enge, filigran gemusterte Leggings in Beige und Grün reichten Veeru bis zu den Fußknöcheln und verschwanden dort unter dem glänzenden Reigen der Ghunghrus. Ein Vorhang aus schwarzem Haar fiel über den Spalt zwischen Bettkante und Boden.

Veeru fand den zweiten Spark in Sonnys Stirn, zog seine Augenlider nach oben, klatschte ihm mit der flachen Hand auf die Wange. Manikürte Fingernägel strichen das Haar an der Schläfe beiseite und legten eine kreuzförmige Narbe neben Sonnys linkem Auge frei – zwei feine, längst verheilte Schnitte, die rechtwinklig wie ein Pluszeichen übereinanderlagen.

Paksha hörte einen gedämpften Fluch, dann ein Seufzen. Sie klebte am Boden wie ein Gecko. Sonnys Speichel sickerte in den Teppich. Veeru lehnte an der Bettkante und klopfte mit der Ferse einen aggressiven Takt, den die Ghunghrus in scheppernde Töne verwandelten. Das Poltern im Erdgeschoss war abgeebbt. Paksha glaubte, die tiefe Stimme von vorhin zu erkennen, wie sie Fragen beantwortete und Anweisungen erteilte.

Als Sonnys Augenlider flatterten und ein Japsen aus seinem Mund kam, rückte Veeru von der Bettkante ab und beugte sich nach vorn. Die grauen Finger entknoteten eines der Schellenbänder. Sonnys Kopf rollte hin und her, er murmelte Unverständliches. Veeru legte ihm eine Hand ins Genick, schob das lose Band darunter hindurch und zurrte die Schlinge fest. Aus dem Murmeln wurde ein Röcheln.

Paksha hielt den Atem an.

Unter den geschlossenen Lidern gerieten Sonnys Augäpfel in panische Bewegung. Seine linke Hand krallte sich in den Teppich, mit der rechten schlug er unkoordiniert um sich, bis Veeru den Arm mit beiden Knien zu Boden drückte. Die Ghunghrus schnitten in den weichen Hals. Bebende Fäuste zogen die Kordel unbarmherzig zu.

Paksha presste die Augen zusammen, bis sie leuchtende Schlieren sah, aber gegen die Geräusche konnte sie sich nicht abschotten. Das hohe Pfeifen, das Sonnys Kehle entwich. Veerus tiefe, kontrollierte Atemzüge. Das muntere Klimpern der Armreife. Das Trommeln zappelnder Füße.

Dann wurde es still.

Paksha blinzelte. Sonnys erschlafftes Gesicht starrte sie aus toten Augen an.

Veeru rollte den Leichnam auf die Seite, stöhnte erschöpft und ließ sich zu Boden sinken, genau auf einer Länge mit Paksha.

Paksha sah Veerus Rücken.

Bitte dreh dich nicht um, flehte sie stumm.

Vielleicht war das der geeignete Moment zur Flucht. Bis zur Zimmertür wäre es nur ein beherzter Satz. Aber Paksha war wie hypnotisiert.

Über den Leggings trug Veeru eine knielange Baumwoll-Kurti mit weitem Saum und einem tiefen Rückenausschnitt. Noch mehr Marmorhaut kam darunter zum Vorschein, spitze Schulterblätter und die pechschwarzen Linien eines Tattoos. Ein Löwengesicht mit orangeroten Augen, umrahmt von einer wilden Mähne.

Narasimha. Halb Löwe, halb Mensch.

Ehe Paksha ihre Fassung zurückgewinnen konnte, drehte sich Veeru auf die andere Seite und griff nach der Kordel, die verknäult neben dem Bett lag.

Ihre Blicke trafen sich.

Paksha sah graue Haut, dunkle Augen und blaue Lippen. Veeru stolperte fluchend auf die Füße, ging drei schnelle Schritte zurück und blieb stehen. Paksha rührte sich nicht.

»Komm raus«, forderte Veeru, nachdem sie beide zu Atem gekommen waren.

In größtmöglichem Abstand zu Sonny schlängelte sich Paksha unter dem Bett hervor. Staub und Spinnweben klebten in ihren Dreadlocks. Sie zog das Maxishirt über die Knie und starrte auf ihre eigenen nackten Füße.

»Du hast alles mitbekommen«, stellte Veeru sachlich fest. »Dann weißt du, dass ich diejenige bin, die ab sofort das Sagen auf der Plantage hat.« Sie sprach lupenreines Hindi und Paksha blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. »Schau mich an, Kind. Oder sehe ich etwa so schrecklich aus?«

Ein winziger Tropfen Wehmut lag in diesen Worten. Das verlieh Paksha den Mut aufzusehen.

»Du siehst aus wie eine Göttin«, hörte sie sich flüstern.

Veerus Augenbrauen hoben sich zu perfekten Bögen. Sie waren schwarz und dicht wie ihr Haar. Alles an ihr war lang. Die Beine, die Arme, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die steile, gerade Nase. Und dünn. Und flach.

»Ich bin keine. Enttäuscht?« Im rechten Mundwinkel balancierte sie ein Lächeln.

Paksha verschränkte die Arme. »Was bist du dann?«

In Safe Town hatte sie Touristen aus allen Teilen der Erde kennengelernt, Menschen mit dunkler Haut, heller Haut und in jeder erdenklichen Schattierung dazwischen. Jemand wie Veeru war ihr noch nie begegnet. Paksha gefiel die Vorstellung, dass sie mit ihrer Erzählkunst ein übersinnliches Wesen heraufbeschworen hatte. Wenn schon keine Göttin, dann vielleicht ein Dschinn aus Tausendundeiner Nacht?

»Ich bin Veeru. Und ich könnte dir jetzt alles erklären. Werde ich aber nicht. Nur so viel: Es war nötig.« Veerus Blick huschte zu Sonnys Leiche, dann fügte sie hinzu: »Kanntest du ihn … gut?«

Paksha vermied es, den toten Körper anzusehen. »Er war nicht mein Onkel, wenn du das meinst.«

Ein knappes Nicken. »Das dachte ich mir.«

Nachdenklich ging Veeru um den Leichnam herum. Der Klang des verbliebenen Ghunghru-Bandes beruhigte Paksha. Sie fragte sich, ob Veeru wirklich eine Tänzerin war. Ihr sehniger Körper und die aufrechte Haltung sprachen dafür.

»Hast du eine Idee, was wir jetzt mit ihm machen?« Ein Anflug von Ratlosigkeit schwang in dieser Frage mit. Offenbar hatte Veeru wenig Erfahrung im Fortschaffen von Toten. Damit waren sie allerdings zu zweit.

»Wir könnten ihn … in den Teppich wickeln?«

»Besser als nichts.«

Während Paksha den plüschigen Läufer heranzog, packte Veeru Sonny beherzt unter den Armen. Sie war stärker, als ihre schmale Statur vermuten ließ. Paksha versuchte, ihr Alter zu schätzen, doch Veerus bizarre Hautfarbe erlaubte lediglich die grobe Vermutung, dass sie deutlich älter als Paksha sein musste, aber definitiv jünger als Sonny.

»Nimm du seine Beine.«

Zusammen hievten sie den leblosen Körper auf den Teppich und rollten ihn unter gedämpftem Ächzen darin ein.

»Wie heißt du?«, fragte Veeru, als sie das morbide Paket mit vereinten Kräften an die Wand geschoben hatten. Sie lehnten nebeneinander am Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen.

»Paksha. Du könntest mich kennen. Ich bin ziemlich berühmt.«

Schon seit sie unter dem Bett hervorgekrochen war, hatte Paksha nach Anzeichen dafür gesucht, dass Veeru sie mit Paradise Lost in Verbindung brachte. Unbeteiligt zupfte sie sich den Dreck aus den Haaren, während Veeru sie prüfend von der Seite musterte.

Nach ein paar Sekunden schüttelte Veeru den Kopf. »Muss dich enttäuschen. Ich war in letzter Zeit … mit anderen Dingen beschäftigt. Wofür bist du berühmt?«

Paksha schaute auf die fremde, neue Welt vor dem Fenster. Bei ihrer Ankunft waren die Bäume, die das Grundstück säumten, noch gespenstisch kahl gewesen. Jetzt sprossen zarte, hellgrüne Blätter an den Ästen. Vögel in bescheidenen Schattierungen von Braun und Grau zwitscherten unbekannte Melodien. Es regnete.

»Fürs Überleben.«

Ein paar gedankenverlorene Atemzüge lang schwieg Veeru.

»Was für ein Zufall«, fuhr sie schließlich fort. »Genau dafür bin ich auch berühmt.«

Unten eilten die Einheimischen vorbei, die vor kurzem als johlender Mob das Gelände gestürmt hatten. Von Karnevalsstimmung herrschte keine Spur mehr. Die Revolte hatte ihre Maske abgelegt. Diszipliniert sicherten die Männer und Frauen ihre Eroberung, trieben Sonnys Wachleute bei einem Nebengebäude zusammen, steckten hilflos piepsende Security-Dummys in Brand und errichteten Barrikaden an den Zufahrtswegen. Ein Arbeiter entdeckte Veeru am Fenster und rief ihr etwas zu. Veeru antwortete knapp auf Kauderwelsch, und der Mann zog weiter.

»Führst du die Arbeiter an? Was hast du jetzt vor?«, fragte Paksha.

Veeru seufzte tief und wandte sich zu Paksha um. »Das entscheide ich morgen.«

»Kann ich hierbleiben?« Paksha gab sich Mühe, nicht hilfsbedürftig zu klingen. Sie war kein Sozialfall, sie brauchte einfach etwas Zeit. Bedenkzeit.

Auf der überdachten Veranda loderte ein Siegesfeuer. Rauchschwaden zogen vorbei und Veerus Haar glänzte im Schein der Flammen. Sie sah aus, als wisse sie, wo sie hinwolle. Vielleicht konnte sie auch Paksha den Weg zeigen.

Veeru kratzte Lacksplitter von ihren Fingernägeln. »Überleg’s dir gut. Das wird hier bald kein Ort mehr für Kinder sein.«

Paksha lachte humorlos. »Das war es auch vorher nicht.«

Jetzt

Jalebi – [jalebī] f1. Dschalebi f (brezelförmige, in Öl gebackene Süßigkeit)

 

»Du solltest nicht hier sein«, belehrt mich der Hund, nachdem er mit gefletschten Zähnen und gesträubtem Nackenfell eine Horde Affen vom Eingang zum alten Gewürzmarkt vertrieben hat. »Stell dir mal vor, ich wäre gerade nicht da gewesen, um dich aus der Patsche zu hauen.«

»Ich komm schon klar, keine Sorge«, entgegne ich, während ich meine E-Rikscha abschließe. Morgens um halb fünf sind die Gassen in Delhis Altstadt dämmrig und menschenleer, trotzdem will ich kein Risiko eingehen. Leichtsinnig genug, dass ich mein Raumschiff unbewacht zurücklasse, wenn ich für einen Auftrag unterwegs bin. Aber ohne Aufträge kein Geld und ohne Geld keine Ersatzteile.

Der Hund stupst mich mit der Schnauze an. »Wie wär’s mit einem Dankeschön, Bruder?«

Daher weht der Wind also. Vermutlich lungert er oft hier herum und weiß, dass ich den Gewürzmarkt regelmäßig mit leeren Händen betrete und mit einer Box voller Realfood wieder rauskomme. Die Affen sind mir schon mehrmals unangenehm auf die Pelle gerückt und von Mal zu Mal wurden sie dreister. Mit seinem Freundschaftsdienst hat mir der Hund zumindest die üblichen Scherereien erspart. Eine kleine Belohnung kann ich der heutigen Lieferung bestimmt abzwacken.

»Worauf hast du’s denn abgesehen?«, seufze ich.

»Jalebi«, verlangt er sofort. »Frisch frittiert und mit richtig viel Zucker.«

»Jalebi?« Meine Überraschung ist nicht gespielt. Zieht er diese fettigen, pappsüßen Teigkringel wirklich einem echten Stück Fleisch vor? »Weißt du, was das kostet, Kumpel?«

»Nur einen kleinen Happen?« Eine rosa Zunge schleckt über die Lefzen. Der dünne Schweif wedelt hoffnungsvoll.

Wie er so vor mir steht, kommt er mir vage bekannt vor. In Old Delhi wimmelt es vor Streunern, aber dieser Knabe sticht aus der kläffenden Meute heraus mit seinen zu groß geratenen Fledermausohren und einem Fell, so schmutzig weiß wie die kolonialen Arkaden am Connaught Place.

Außerdem ist er der Einzige, der spricht.

Kurz nach dem Absturz hätte ich diese Tatsache noch schulterzuckend hingenommen, lediglich ein sonderbares Detail in einer Welt voller fremdartiger Widersprüche. Doch allmählich kenne ich meinen Exilplaneten gut genug, um die vielen Facetten des Wahnsinns voneinander unterscheiden zu können.

Affen, die Schutzgeld erpressen: alltäglicher Wahnsinn.

Sprechende Hunde: außerordentlicher Wahnsinn.

Besser, ich bleibe auf der Hut.

»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«

Der Hund kratzt sich hinter dem Ohr, wo die Räude ein paar Zentimeter gerötete Haut freigelegt hat. »Die Müllsammlerin nennt mich Gora. Bei den Chai-Verkäufern in Kinari Bazar bin ich Chappu. Die Mädels bei Haldiram’s, naja, die sagen Jalebi zu mir. Gefällt mir nicht so. Am liebsten mag ich Ray.« Rollendes »R« und ein langgezogenes »aay«.

Ich nicke. »Dann also Ray.«

»Wie sieht’s jetzt aus mit der Belohnung?« Den Hundeblick beherrscht er perfekt. »Komm schon, yaar! Eine Hand wäscht die andere, eh?«

»Lass mich erst mal den Job dort drin erledigen, okay? Um die Jalebi kümmere ich mich danach.«

Noch vor Sonnenaufgang der erste Gläubiger auf meiner Liste. Das wird heute wieder ein langer Tag.

»Ich warte hier«, ruft Ray mir nach, während ich die Straße überquere und auf den Eingang des verlassenen Gewürzmarkts zusteure.

Als ich durch den Türrahmen trete, springt der HC-Sensor an meinem Handgelenk von Gelb auf Orange, und die Mikroporen in meinem Thermosuit schließen sich knisternd. Das Gebäude gleicht einem riesigen Lehmofen. Das Mauerwerk speichert die infernalische Hitze des Tages und bringt die Luft im Innern auf Gartemperatur. Izmat scherzt manchmal, dass wir das Tandoori-Hühnchen gleich hier drin zubereiten sollten, anstatt das rohe Fleisch in Kühlboxen quer durch die Stadt zu schmuggeln. Die anderen Zutaten seien schließlich auch alle vorhanden. Damit hat sie nicht ganz unrecht. Obwohl der Markt seit Jahren geschlossen ist, wirbeln die geisterhaften Dämpfe von Chilischoten, von Ingwerpulver und Pfefferkörnern bei jedem Schritt vom Boden auf. Schon nach wenigen Sekunden läuft mir die Nase, und meine Augen brennen. Ich atme pures Curry.

Immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, steige ich hinauf in den vierten Stock. Zu schnell, würde Izmat warnen. Du musst dir deine Kräfte einteilen. Mit Überhitzung ist nicht zu spaßen. Schuldbewusst werfe ich einen Blick auf den Sensor. 37,9 Grad Körpertemperatur. Die Treppe zum Dach erklimme ich langsamer. Hier oben hat sich auch die beißende Gewürzwolke verflüchtigt, die Luft schmeckt nur noch nach Staub und Ozon.

Ich blinzle ein paarmal, bis sich mein Blick wieder klärt. In Delhi wird es nie richtig dunkel. Selbst in der halb verlassenen Altstadt strahlen genügend Ad-Screens und Holoreklamen in den Nachthimmel, dass ich das Flachdach bis zum Ende überblicken kann. Izmats Streetcopter parkt nah bei der Brüstung. Sie selbst entdecke ich erst, als der Scheinwerferkegel vom Nachbardach ihren metallisch glänzenden Thermosuit streift. Lässig lehnt sie an der Cockpittür und scrollt über den implantierten Screen auf ihrem Unterarm. Als sie meine Schritte auf dem Beton hört, schaut sie auf.

»Du bist spät dran, Marti.« Ein paar dunkelbraune Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht, der Rest ihrer Mähne kringelt sich wild in alle Richtungen.

»Die Affen werden da unten langsam zum Problem.« Mein Gespräch mit Ray erwähne ich lieber nicht. »Wir sollten uns in Zukunft woanders treffen.«

Izmat stößt sich von der Tür ab. »Ich überleg mir was. Jetzt hilf mir erst mal beim Ausladen.«

Ihre Beinprothese klickt, als sie in die Knie geht, um die Seitenklappe des Copters zu öffnen. Bei unserer ersten Begegnung hat Izmat mir erzählt, dass sie den schnittigen Zweisitzer mit der Prämie für den verlorenen Unterschenkel finanziert hat. »Laufen gegen Fliegen. Kein schlechter Deal«, lachte sie damals. Den Pilotenschein hat sie in der Armee gemacht. Sie war dort ein hohes Tier und flog massenhaft Einsätze im Persischen Golf. »Mein Bein liegt irgendwo vor der Küste von Katar. Auf der Intensivstation hab ich dann erfahren, dass die Saudis gar kein Öl mehr bei sich bunkerten. Alles Bluff, alles umsonst. Danach fiel mir der Abschied von der Truppe nicht mehr schwer.«

Izmat wuchtet eine silberne Kühlbox aus der Ladeklappe und reicht sie an mich weiter. Behutsam lege ich sie auf dem breiten Geländer ab. Manche Realfood-Items sind empfindlich. »Ich hab eine Bestellung über drei Kilo Tomaten. Der Kunde zahlt mir einen super Preis.«

Izmat kneift ihre Rehkitzaugen zusammen und drückt mir die zweite Kühlbox gegen die Brust. »Tomaten? Träum weiter. Ich kann dir Steckrüben anbieten. Weißkohl hab ich auch genug auf Lager.«

»Das wird schwierig. Wie sieht’s mit Fleisch aus? Lamm wäre ideal. Oder wenigstens Hammel.«

»Junge, von welchem Planeten kommst du?«

Ich zucke zusammen, aber Izmat ist noch mit der dritten Box beschäftigt, die sich im Seitenfach verkeilt hat.

»Momentan gibt es nicht mal Schwein und Huhn.« Sie lässt eine leere Kühlbox auf den Boden scheppern und richtet sich zu ihren vollen einsdreiundfünfzig auf. Damit ist sie immer noch fast einen Kopf kleiner als ich. »Solange die Lage in Europa so unberechenbar ist, solltest du hier echt keine Ansprüche stellen.«

»Du meinst den Aufstand? Auf den Plantagen?«

»Glückwunsch, Herr Professor. Wo soll das ganze Realfood denn herkommen, wenn bei denen nicht mehr produziert wird? Ich hätte gute Lust, da ein kleines Manöver zu fliegen, das kannst du mir glauben.«

Als ich den Job als Kurierfahrer angenommen habe, war mir nicht klar, dass ich in einen Krieg eintrete. Wasser und fruchtbare Erde werden von Jahr zu Jahr knapper auf diesem Planeten. Indien mangelt es an beidem, aber selbst die Milliardensummen, die in der Softwareindustrie erwirtschaftet werden, können die Dekkan-Wüste nicht in Agrarland zurückverwandeln. Izmat sagt, dass die Smartfood-Items, die in Algenfabriken, Insektenfarmen und Nährstoffreaktoren produziert werden, problemlos reichen, um jeden Menschen satt zu bekommen. Trotzdem ist alle Welt scharf auf echte, organisch gewachsene Lebensmittel – Realfood ist selten, wertvoll, extravagant. Realfood ist Macht.

»Na schön, dann also keine Tomaten«, lenke ich ein. »Aber Steckrüben nimmt mir auch niemand ab, Izmat.«

»Die kann man wie Kartoffeln verwenden. Hast du das deinen Kunden schon erklärt? Ich hab noch ein paar getrocknete Datteln, die packe ich obendrauf.«

Ich winke ab, und Izmat macht sich daran, die Lieferung zusammenzustellen. Im Kopf überschlage ich, wie viele Shells für das dürftige Sortiment rausspringen werden. Abzüglich der Provision für Izmat und der Rate für den Vorschuss, den sie mir neulich gewährt hat, kann ich damit vermutlich nicht mal den Einkaufspreis wieder reinholen.

Ich schlendere um den Copter herum und spähe durch die Frontscheibe. Diffuses grünes Licht strahlt vom Radardisplay ab und verleiht den unerreichbaren Schätzen im Cockpit einen überirdischen Glanz. Luftdruck- und Höhensensoren blinken verheißungsvoll. Die Steuerkonsole sieht aus wie ein Standardmodell, das ich mit ein paar einfachen Umbaumaßnahmen in mein Schiff einpassen könnte. Schwieriger wird es beim Navigationssystem, und damit steht und fällt das ganze Unternehmen. Wenn der Softwaretransfer schiefgeht, muss ich wieder bei null anfangen …

»Erde an Marti. Hörst du mir überhaupt zu?« Izmat knufft mich in die Seite. »Mein blauäugiger Träumer. Manchmal glaub ich echt, du bist nicht von dieser Welt.«

Ein letztes Mal zuckt mein Blick zum Radarschirm, folgt den einsamen Kreisen der Antennenlinie. »Sorry. Bin noch nicht ganz wach.«

»Lange Nacht gehabt?« Ihre Hand wandert wie beiläufig über mein Schlüsselbein, ehe sie mich am Kragen zupft und zurück zu den Kühlboxen dirigiert. »Lass uns kurz Pause machen. Ich hab dir was mitgebracht.«

Die Ladeklappe des Copters steht offen, und wir setzen uns in den Einstieg, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte. Izmat öffnet den Reißverschluss ihres Thermosuits, als ob das die Hitze mildern könnte. Schweißtropfen glänzen auf ihrem Dekolletee. »Erfrischung gefällig?«

Sie greift unter die Suitmembran und zieht eine silbrige Schatulle aus der Innentasche. Der Mechanismus scheint auf ihre B-Waves zu reagieren, denn der Deckel schnappt auf, ohne dass Izmat einen Finger rühren muss. Ein kalter Luftschwall entweicht und haucht mir eine flüchtige Gänsehaut ins Gesicht.

»Mein Bonus für diesen Monat.« Izmat präsentiert mir zwei rosafarbene Würfel. »Unverkäuflich und unbezahlbar. Such dir eines aus.«

Ein klebrig süßer Duft hüllt uns ein. »Wassermelone?«

Izmat nickt, als sei das keine große Sache, aber ich sehe, wie sich ihre Lippen millimeterweit öffnen, um das Aroma mit allen Sinnen auszukosten. Zögernd greife ich nach dem kleineren Stück. Feucht und nachgiebig schmiegt sich die verbotene Frucht an meine Fingerkuppen. Was jetzt? Izmat beobachtet mich. Ein Safttropfen läuft an meinem Daumen entlang zum Handgelenk. Ehe er zu Boden fallen und verdunsten kann, stecke ich mir den Würfel in den Mund und lecke den Finger ab. Der intensive Geschmack der Melone dringt in jede Pore, zuckrig, prickelnd, gärend, lebendig.

Izmat genießt ihren Anteil in winzigen Bissen. »In Mall Nagar hat eine neue Realfood-Bar aufgemacht. Was hältst du davon, wenn ich uns dort nen Tisch buche? Unsere Dates hier in der Ladeklappe sind ja nicht gerade romantisch.«

Ich schlucke und spüre, wie das kühle Fruchtfleisch meinen Hals hinabgleitet. »Hm, vielleicht.«

»Ich lade dich ein. Sag mir einfach, wo ich dich abholen soll.«

»Das ist es nicht. Ich meine …«

Izmat schließt die Schatulle mit einem Klack. »Im Ernst, Marti, wo treibst du dich rum, wenn gerade kein Job ansteht? Und erzähl mir bloß nicht, dass du in dieser schrottreifen Rikscha pennst. Du weißt ja, mein Angebot …«

»Ich komme zurecht«, behaupte ich zum zweiten Mal an diesem Morgen und stehe abrupt auf. »Hab doch gesagt, ich bin nur auf der Durchreise.«

»Seit dreieinhalb Monaten?«

Ich wuchte eine Box in die Höhe. Weißkohl und Steckrüben, die magerste Ausbeute seit Langem. »Glaub mir, ich bin so gut wie weg.«

Izmat schaut mit schiefgelegtem Kopf zu mir auf. Aus diesem Winkel kann ich die kreuzförmige Narbe an ihrer Schläfe sehen. Sie hat mir nie erzählt, woher sie die hat. »Verstehe. Und wo soll’s hingehen?«

Im Innern des Copters pulsiert das grüne Licht.

»Nach Hause.« Mehr wird sie nicht aus mir rausbekommen. Wir haben das Spiel oft genug gespielt. »Ich muss jetzt los.«

»Wie du meinst.« Izmat erhebt sich ebenfalls und setzt eine geschäftsmäßige Miene auf. »Ich schick dir die neuen Koordinaten. Funktioniert der vLink noch, den ich dir gegeben habe?«

»Deine Nachrichten kommen an, aber ich kriege nach wie vor keinen Zugang zum Nexus.«

»Verstehe. Ich recherchiere das noch mal. Kann ein paar Tage dauern, je nachdem, wie sich die Sache mit dem Staubsturm entwickelt.«

Ein Schweißtropfen läuft mir über die Stirn, aber ich brauche beide Hände, um die Box festzuhalten. »Kommt wieder einer?«

Delhi und seine Staubstürme: alltäglicher Wahnsinn.

»Braut sich gerade über dem Panjab zusammen. Riesending diesmal – Hashtag ›Jahrhundertsturm Taimur‹ oder so.« Sie drückt die Ladeklappe ins Schloss. »Es gibt noch keine zuverlässigen Berechnungen, aber der Katastrophenschutz ist in Habachtstellung.«

»Hm«, murmle ich, während ich im Kopf meine Kundendatei nach potenziellen Abnehmern für die mickrige Lieferung durchforste. »Also, bis dann.«

»Bis dann.«

Izmat schwingt sich ins Cockpit, und ich mache mich auf den Weg zur Treppe. Warme Luftwellen schwappen über mich hinweg, als die Rotorblätter Fahrt aufnehmen und der Copter schaukelnd abhebt. Über den Dächern der Altstadt geht die Sonne auf, lässt den Horizont flimmern und bringt die Flachdächer, die Kuppeln der Moscheen, die ornamentverzierten Tempelspitzen zum Glühen. Ich ziehe den Gesichtsschutz an meinem Thermosuit hoch. Der HC-Sensor zeigt 38,2 Grad.

 

Ray fläzt auf der Rückbank meiner E-Rikscha und begrüßt mich schwanzwedelnd.

»Jetzt geht’s los, eh? Mission Jalebi!«

Ich verstaue die Thermobox im Fußraum. »Vorher brauchen wir Geld. Unser erster Kunde wohnt in Sundar Nagar.«

»Accha, dann lass uns abdüsen.«

»Immer mit der Ruhe«, murmle ich, während ich die Rikscha zurück auf die Hauptstraße schiebe. Allmählich füllen sich die Gassen mit Leben. Auch wenn die meisten Häuser in Old Delhi seit dem Erdbeben von ’45 unbewohnbar sind, hält das dichte Netz aus Tempeln, Märkten und Sehenswürdigkeiten den Besucherstrom am Laufen. Ich ziehe ein paar neugierige Blicke auf mich, aber daran bin ich gewöhnt.

»Ich mag dich, yaar«, hechelt Ray auf der Rückbank. »Du bist ein Gora wie ich. Wir sind hier was Besonderes.«

»Du meinst, weil wir beide weiß sind?«

»Naja, bei dir ist es mehr eine Art Rosa. Und deine Haare sind ziemlich gelb.«

»Du könntest auch mal wieder baden.«

»Dreck hält das Ungeziefer ab.«

»Und dein Geruch zieht es an.«

»Ayyo, sei nicht so gemein.«

Ich lasse mich auf den Fahrersitz fallen und wische mir den Schweiß von der Stirn. Ein sinnloser Reflex. Sirrend kommt der Motor auf Touren. Die Batterieanzeige scheint wieder einen Wackelkontakt zu haben, aber wenigstens das Navi meldet sich gehorsam zum Dienst. Daneben hängt Izmats ausrangierter vLink schief in seiner Halterung – eine spröde Standardversion der endlos konfigurierbaren Allzweckgeräte, ohne die das Leben auf diesem Planeten nicht denkbar ist. Wäre ich ein Mensch wie alle anderen, dann wäre der vLink meine persönliche Schnittstelle mit dem Nexus. Mit meiner B-Wave-Frequenz scheint jedoch irgendetwas nicht zu stimmen, denn der Zugang zur virtuellen Welt bleibt mir verwehrt. Lediglich die Verbindung zu Izmat stellt der vLink anstandslos her – wenn auch nur in eine Richtung.

Ich werfe einen Blick über die Schulter und trete leicht aufs Gas. Im Schritttempo holpern wir über den welligen Asphalt. Am Rückspiegel schaukelt das Nazar-Amulett, das Izmat mir bei einem unserer ersten Treffen geschenkt hat – eine Glasperle bestehend aus drei Farbringen, dunkelblau, weiß und hellblau, mit einem schwarzen Pupillenpunkt in der Mitte. »Blaue Augen kann man nie genug haben«, sagte sie zwinkernd. »Das hier schützt vor bösen Blicken.« An den Rändern der Windschutzscheibe kleben Sticker mit verblichenen Götterabbildungen – der tanzende Shiva, Durga auf dem Rücken eines Tigers sitzend. Der größte von ihnen, direkt über dem Lenker, zeigt eine gewitterblaue Kali mit spitzen Zähnen, herausgestreckter Zunge und einer Halskette aus Totenschädeln. Manchmal irritiert mich ihr aufdringliches Starren, aber ich werde mich hüten, das Bild abzukratzen. Solange ich in dieser Stadt auf mich selbst gestellt bin, muss ich jeden Beistand annehmen, den ich kriegen kann.

Ich manövriere die Rikscha an einigen kreuz und quer parkenden E-Scootern vorbei, während ich gleichzeitig darauf achte, nicht mit den Reifen im Rinnstein hängenzubleiben. Fußgänger schieben sich durch die handbreite Lücke zwischen Karosserie und Hauswand oder überqueren die Straße, ohne sich umzusehen. Hinter mir hupt ein Lieferwagen.

»Hey! Was ist mit denen da? Gehören die auch zu dir?« Kläffend reckt sich Ray aus dem Fenster. Unter den bröckelnden Ornamenten eines Torbogens beugen sich zwei Europäer über eine vMap. Als sie Rays Gebell hören, rucken ihre Köpfe herum. Unsere Blicke treffen sich. Die Frau packt den Mann am Oberarm und redet hitzig auf ihn ein.

Ich schaue wieder geradeaus und drücke aufs Gas. »Das ist Zufall. Beruhig dich.«

Es muss Zufall sein. Bisher ist schließlich alles gutgegangen; niemand hat meinen Körper als vermisst gemeldet, nirgends habe ich Hinweise darauf gefunden, wer der schlaksige, blonde Typ war, dem ich diese Verkleidung verdanke.

An den eigentlichen Körpertausch kann ich mich kaum erinnern. Vermutlich bin ich nach dem Absturz mit letzter Kraft aus meinem Schiff getorkelt und habe mir die erste Lebensform geschnappt, die mir auf diesem Wüstenplaneten begegnet ist. Es war einfach Pech, dass der Mensch selbst nicht richtig hierhergehörte. Aus Izmats Kommentaren habe ich mir zusammengereimt, dass der Körper vermutlich aus Europa stammt, jenem fernen Wunderland, in dem das Realfood an den Bäumen wächst. Wie er nach Delhi kam, ob er eine Familie hatte, ob ihn jemand vermisst – ich weiß es nicht. Zur Sicherheit habe ich die Haare ein gutes Stück wachsen lassen, den Bart abrasiert und die Markenklamotten gegen einen Secondhandthermosuit getauscht. Bisher hat mich – ihn – niemand erkannt. Aber die Reaktion der beiden Weißen macht mich nervös.

»Du kannst nicht einfach irgendwelche Leute anbellen, Ray.« Der rüde Tonfall hilft mir, den Schreck zu verarbeiten, auch wenn sich sofort mein schlechtes Gewissen meldet. Etwas versöhnlicher fahre ich fort: »Wenn du mitkommen willst, musst du dich benehmen.«

Wir biegen ins Getümmel des Chandni Chowk ein und schieben uns in einer hupenden, surrenden Kolonne aufs Rote Fort zu. Nach und nach öffnen die Souvenirläden, und die Besitzer rollen ihr quietschbuntes Arsenal an Ethno-Schmuck und Taj-Mahal-Replikaten auf den Fußweg. In den Snackbuden wird das Öl von gestern Abend wieder auf Siedetemperatur gebracht.

Sobald wir aus der Altstadt raus sind, kommen wir zügiger vorwärts. Rechts und links fliegen monumentale Häuserblocks vorbei, selten höher als zehn, fünfzehn Stockwerke, aber langgestreckt wie Gebirgsketten. Klein und zerbrechlich wirken dagegen die Ruinen aus vergangenen Zeiten, die überall in der Stadt in ihren Nischen und Enklaven auf den endgültigen Verfall warten. Freistehende, zinnengekrönte Torbögen, die nirgends mehr hinführen; halb verschüttete Mausoleen; Paläste für Tauben, Affen und Eidechsen. Delhi sei in Wahrheit eine Stadt-aus-sieben-Städten, ließ Izmat mich irgendwann beiläufig wissen. Sieben große Dynastien erklärten diesen Grund und Boden in den vergangenen Jahrtausenden zum Mittelpunkt ihrer Welt. Die Königreiche zerfielen eines nach dem anderen, aber die Monumente überdauerten und verwuchsen zu einem Ort, an dem sich die Epochen ineinanderschieben wie wandernde Sedimentschichten.

Ich biege auf die Mathura Road ab und reihe mich zwischen die breiten Motorhauben der Limousinen, Taxibusse und Transporter ein. Meine E-Rikscha hat zwar schon drei oder vier Jahrzehnte auf dem Buckel, aber sie wurde mit Magnetzellen nachgerüstet und kann auf den breiten Straßen von Süd-Delhi mühelos mithalten.

»Whohoo!«, jubelt Ray, als wir an die Mag-Line andocken und die Reifen Bodenkontakt verlieren. Ich schalte auf Autopilot, und das Magnetfeld zieht uns vorwärts. Ein strammer Luftzug weht mir die Haare aus dem Gesicht, Rays Ohren flattern im Wind. Die Fahrzeuge vor, hinter und neben uns folgen ihrer Bahn wie Asteroiden im Gravitationsfeld eines unsichtbaren Himmelskörpers.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich beinah sehen, wie sich das flache Relief der Stadt in andere Dimensionen fortsetzt. All den Irrwegen liegt ein Muster zugrunde, dessen bin ich mir sicher, und mit genügend Abstand kann ich es entziffern. Fast fühlt es sich an, als sei ich noch immer irgendwo dort oben unterwegs, nur ich und mein Schiff und die Sterne. Fern, so unendlich fern der Heimat. Ich treibe ziellos durchs Nichts. Ich bin Marti, so viel weiß ich. Erinnerungen ballen sich im Vakuum zusammen wie irisierende Gaswolken. Sie wollen sich zu festen Gebilden formen, aber ein unerbittlicher Sog reißt die Partikel auseinander, verschluckt sie, verschluckt mich, schleudert mein Schiff durch Raum und Zeit, geradewegs in die Umlaufbahn dieser blauen Welt, so viel Wasser denke ich muss bremsen muss ausweichen das Schiff dreht sich immer schneller Himmel Wasser Himmel Wasser zu spät wir prallen auf ich muss

Der Autopilot piept schrill, als ich den Lenker herumreiße, und die E-Rikscha schlingert in ihrer Magnetbahn, aber die blinden Kräfte, die das Chaos verwalten, halten uns auf Kurs. Ringsum aggressives Hupen.

»Aaraam se!«, schreit Ray. »Nicht so stürmisch, Taxi Driver. Trainierst du für den Rikscha-Rallye-Contest, oder wie?«

Ich fahre mir übers Gesicht, atme Staub und Hitze. »Sorry. Tut mir echt leid.« Diese Aussetzer häufen sich, und ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn ich das Raumschiff nicht bald flottkriege. »Alles klar da hinten?«

»Wenn ich meine Jalebi schon bekommen hätte«, antwortet Ray, »müsstest du die jetzt vom Sitz wischen.«

Meine Hände zittern immer noch leicht, als uns der Autopilot auf Höhe von Sundar Nagar aus der Mag-Line ausklinkt und die Rikscha mit einem Ruck wieder auf dem Boden landet. Im Schritttempo navigiere ich durch das sterile Wohngebiet. Ordentliche Hausklötzchen reihen sich entlang der schnurgeraden Straßen aneinander. Von Delhis Bäumen – Banyan und immergrüner Jambul, Niem, rot blühender Semul und Pipal und all den anderen – sind heute nur noch tote Gerippe übrig, die keinen Schatten mehr spenden. In den Vorgärten der Besserbetuchten wie-gen sich virtuelle Grünpflanzen in einem Luftzug, den es in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Ein paar Angestellte in Thermosuits huschen zwischen den hermetisch abgeriegelten Klimaoasen hin und her. Acht Uhr morgens und die Außentemperatur kriecht unaufhaltsam auf die Vierzig-Grad-Marke zu.

Wir tuckern in eine Seitenstraße. Ray streckt die Nase in die Luft und schnuppert. »Das riecht nach Fett und Zucker«, verkündet er mit leuchtenden Augen. »Hast du uns ins Schlaraffenland bugsiert, yaar?«

Ich lenke die Rikscha um einen der Hauswürfel herum. Mit seinen sonnengelben Wänden und den roten Simsen wirkt das Gebäude in dem weißgrauen Einerlei so deplatziert wie ein Paradiesvogel in einer Legebatterie. Auf der Rückseite stelle ich den Motor ab. »Versprechen kann ich nichts«, warne ich meinen hechelnden Fahrgast, während ich die Kühlbox aus dem Fußraum ziehe. »Bleib im Wagen und verhalt dich ruhig, okay?«

»Was immer du sagst, Boss.«

Auch ich kann das Duftgemisch aus Gewürzen, Sirup und Frittiertem jetzt riechen. Sofort knurrt mein Magen, aber eine Mahlzeit ist für mich noch nicht in Sicht. Wenn ich auf den Steckrüben sitzenbleibe, gibt es die heute Abend als Curry. Das ist in letzter Zeit leider häufiger passiert.

Ich stelle mich vor den B-Wave-Scanner neben der Hintertür und irgendwo im Innern verkündet das System meine Ankunft. Nathuram öffnet mir höchstpersönlich. Er ist beinahe so breit wie hoch. Zuckriger Staub schimmert in seinen Augenbrauen und seinem Schnurrbart. Auf einer rotgelben Schürze prangt das Firmenlogo. Real Sweets since 1939.

»Ah, du bist’s, Bhai Sahab«, stellt er fest und klopft dann stirnrunzelnd auf die Scannerabdeckung. »Das Ding zeigt immer ›Unbekannte Person‹ an, wenn du kommst. Dabei war letzten Monat erst die Wartungsfirma hier.«

Er winkt mich in den achtzehn Grad kühlen Flur. Sofort beginnen die Thermozellen an meinem Anzug mit dem Luftaustausch. Der HC-Sensor springt zum ersten Mal seit den frühen Morgenstunden auf Grün.

Nathu geht voraus, streckt im Vorbeilaufen den Kopf in die Küche, ruft »Eh, Rani, bring mal ein Glas Wasser für den Kurierfahrer!« und biegt dann in den Vorratsraum ab.

Ich kenne die Prozedur. Umringt von Kisten voller Smartfood-Items lege ich mein exklusives Köfferchen auf den Tisch. Packungen mit Nährstoffpräparaten, Bug-Mehl und Flavour-Apps scheinen das Schauspiel von ihren Regalplätzen aus verächtlich zu beäugen.

Nathu reibt sich die Hände. »Hast du die Tomaten?«

»Die waren heute nicht in der Lieferung. Dafür gab’s aber A-Klasse-Weißkohl …«

»Arré«, braust Nathu auf. »Wir beliefern morgen eine Hochzeitsgesellschaft mit zweihundert Gästen. Der Shahi Panir war als Hauptgericht fest zugesagt. Wie steh ich denn jetzt da? Das ist absolute Upper Class, die schmecken den Unterschied sofort.«

Ein Päckchen Toma-Flavour-App auf Algen-und-Bakterienbasis winkt hämisch zu uns herab.

»Die Steckrüben sehen super aus. Wusstest du, dass man die wie Kartoffeln verwenden kann?«

Ehe Nathu vollends die Fassung verliert, spitzt Rani herein, reicht mir ein Glas Wasser, wirft ihren langen, dunklen Zopf über die Schulter und lässt uns mit einem koketten Augenaufschlag wieder allein.

»Tomaten sind einfach nicht mehr zu bekommen, solange sich die Lage in Europa nicht bessert«, füge ich hinzu, als Nathu sich wieder beruhigt hat.

»Das ging alles mit den verdammten Frankenstein-Bienen los«, grummelt er. »So ist es doch immer. Die Konzerne bauen Mist, und wir einfachen Leute haben das Nachsehen.« Wie ein kleines Gewitter ballen sich die Augenbrauen auf seiner Stirn zusammen. Zwischen meinen Ohren erhebt sich ein Summen. »Aber so was taucht natürlich in keinem News-Stream auf, o nein! Dein Vorgänger hat uns das gesteckt, ein paar Wochen, bevor du die Kurierfahrten übernommen hast. Weißt du, wie das läuft? Die Viecher werden in Europa ausgesetzt, um den Ernteertrag zu steigern, schön und gut. Nur leider hat keiner der klugen Forscher bemerkt, dass das verpfuschte Bienengift die Feldarbeiter reihenweise krepieren lässt. Ist doch klar, dass die den Aufstand proben.« Der Schwarm in meinem Kopf brummt immer lauter. Schwarze Punkte zucken durch meine Augäpfel. Kopfschüttelnd trommelt Nathu mit den Fingern auf die Kühlbox. »Das System funktionierte wunderbar. Wir hatten Tomaten, wir hatten Kartoffeln. Ab und zu mal eine Aubergine. Wozu da diese Gen-Bienen?«

»Z.O.M.Bees«, spuckt mein geborgtes Hirn urplötzlich aus und schiebt es mir auf die Zunge. »Zoologically Optimized Mutant Bees.«

»Mir doch egal, wie die heißen«, winkt Nathu ab, während ich blinzelnd wieder zu mir komme. In meinem Mund klebt der Geschmack von Honig. Nathu hat den Aussetzer nicht bemerkt. »Weißkohl und Steckrüben, das ist alles, was du hast, ja?«

»Ein bisschen Fleisch«, bringe ich mühsam hervor. »Vielleicht Schwein. Ziemlich sicher sogar. Nathu-ji, sag mal …«

»Hm, nur raus damit, Junge.«

»Habt ihr heute Jalebi auf dem Menü? Die aus Bug-Mehl sind total okay.«

»Jalebi, eh? Man riecht’s wohl im ganzen Erdgeschoss. Aber die sind genau abgewogen. Auftragslieferung.«

»Nur ein, zwei Kringel, Nathu-ji. Ich verrechne es dir auch mit dem Realfood.«

»Ah.« Nathu wirft einen abfälligen Blick auf die Kühlbox. »Davon kann ich nichts gebrauchen. Dann gibt’s den Shahi Panir eben mit Flavour-App.«

Mir wird eiskalt. Keine Jalebi, kein Geld, Ray im Auto und Izmat, die …

»Aber ich hab nen Vorschlag für dich, Bhai Sahab.« Nathu klopft mir grinsend auf die Schulter. »In der Küche warten hundertfünfzig Samosas darauf, nach Airport Niwas kutschiert zu werden. Kamala Madam schmeißt dort ’ne Dinner-Party. Du bringst ihr die Bestellung, zweigst dir fünf Prozent vom Gewinn ab und kommst anschließend hier vorbei, um dir deine Jalebi abzuholen. Rani kocht eine Extraportion nur für dich. Was meinst du?«

Ich nicke, ohne lang zu überlegen.

»So gefällt mir das«, lächelt Nathu. »Eine Hand wäscht die andere. Und du schuldest mir was, weil du mich mit den Tomaten im Staubsturm hast stehen lassen.«

Ray stellt die Ohren auf, als ich mit der vollen Kühlbox und einer fast identischen Warmhaltebox zurück zur Rikscha komme.

»Alles voller Jalebi?«, winselt er hoffnungsvoll.

Ich quetsche die beiden Kästen auf die Rückbank. »Rutsch mal rüber. Und behalt deine Nase, wo sie hingehört. Wenn wir das abgeliefert haben, gibt’s Jalebi.«

»Wohin düsen wir als Nächstes, Käpt’n?«

Trotz der Aussicht auf eine Rundfahrt in der Mittagshitze muss ich lachen. »Schnall dich an und stell die Rückenlehne gerade. Es geht nach Airport Niwas.«

 

In der Aurobindo Marg ist mal wieder der Straßenbelag aufgeplatzt. Die Polizei regelt den Verkehr. Theoretisch.

Ich schlängle mich zwischen hupenden Bussen und Sammeltaxis hindurch, entdecke eine Lücke, gebe Gas – und muss im letzten Moment einer wuchtigen, vollverglasten Mag-Rikscha ausweichen, die mir dreist den Platz wegschnappt. Knirschend schrappen unsere Kotflügel aneinander. Die Schimpftirade des anderen Fahrers bleibt im klimatisierten Wageninneren. Auf der Außenverkleidung der Rikscha pappen schrille Sticker, von denen mir die Visagen angesagter Bollywood-Stars zuzwinkern. Die Heckscheibe wirbt großflächig für den neusten Streifen Yaad Karo, Mera Jaan.

Ich lege den Rückwärtsgang ein, um den Ignoranten vorbeiziehen zu lassen. Dabei fällt mir das Gesicht des Fahrgastes auf der Rückbank ins Auge. Helle Haut, Vollbart. Der Mann dreht geistesgegenwärtig den Kopf zur Seite, aber die Millisekunde Blickkontakt hat mir gereicht. Das ist der Typ von heute Morgen, und neben ihm erkenne ich auch den hellbraunen Bob der Frau.

»Hast du die gesehen?«, rufe ich Ray zu. »Das waren doch die aus Old Delhi.«

Der Hund hebt träge den Kopf von der Thermobox. »Ja. Die folgen uns schon die ganze Zeit.«

»Was? Wie haben die …? Warum hast du nichts gesagt?«

»›Benimm dich. Bell niemanden an‹«, erinnert mich Ray. »Und du meintest doch, du kennst die nicht.«

»Ja schon. Aber das kann kein Zufall sein. Hast du bemerkt, wie er sich ertappt gefühlt hat?«

Auch das noch. Sind mir etwa die berüchtigten Realfood-Piraten auf die Schliche gekommen? Ich kenne die traurige Geschichte über meinen Vorgänger. Das muss ich dringend mit Izmat besprechen. Als wir die verstopfte Stelle passiert haben, recke ich den Hals, um nach der Mag-Rikscha Ausschau zu halten, kann den Wagen aber nirgends entdecken.

Statt den direkten Weg nach Airport Niwas einzuschlagen, kurve ich kreuz und quer durch Chanakya Puri und Vasant Vihar. Jede Straße, jeder Kreisverkehr sieht gleich aus. Schwarz-gelbe Bordsteinkanten, diskrete Grundstücksmauern und dahinter die glänzenden Designerfassaden der Diplomatenvillen und Botschaftsgebäude. Ray klagt wieder über Übelkeit, und auch mir wird irgendwann schwummrig. Abgesehen von den paar Schlucken Wasser bei Nathu habe ich heute noch nichts getrunken. Trotzdem nähern wir uns unserem Ziel weiterhin nur in Schlangenlinien. Ich will kein Risiko eingehen und selbst, wenn die Warmhaltebox versagt, ist es ja nicht so, dass die Samosas kalt werden können.

Gegen Mittag holpern wir über die Bremsschwellen, die die Einfahrt zu Airport Niwas kennzeichnen. Trotz des Namens wird hier schon lang nicht mehr geflogen. In den historischen Terminals befinden sich Luxusapartments und exklusive Einkaufsstraßen.

Ich steure eines der Wachhäuschen an und lasse Nathus Thermobox scannen. Eine gelangweilte Pförtnerin winkt mich durch. Die sachliche Stimme des Navis lotst uns auf eine Überführung, die sich zur ehemaligen Abflughalle hinaufschwingt, und von dort zur Rückseite des Gebäudes. Zusammen mit einem Strom aus Transportfahrzeugen und Limousinen überqueren wir eine Rollbahn und tuckern schließlich an einem schlauchförmigen Anbau entlang, der allem Anschein nach einzelne Wohneinheiten enthält. Die Eingangsfronten aus abgedunkeltem Glas sind mit altmodischen blauen Buchstaben gekennzeichnet: Gate 9, Gate 11, Gate 13.

»Wo wohnt deine Madam noch mal?«, meldet sich Ray aus dem Mittagsschlaf zurück.

»Gate 4. Das müsste auf der anderen Seite sein.«

Wir umrunden das kurze Ende des Gate-Bungalows und fahren die geraden Hausnummern in umgekehrter Reihenfolge ab, bis wir Kamalas Apartment gefunden haben. Ich parke im spärlichen Schatten einer Metalltreppe, die zur Haustür im Obergeschoss führt.

»Ich muss mal«, verkündet Ray und springt ins Freie.

»Bleib in der Nähe«, rufe ich ihm nach, während ich mir eine der silbernen Boxen unter den Arm klemme. »Es dauert nicht lang.«